DER AUSDRUCK DRANG NACH OSTEN -...
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Universiteit Gent
Academiejaar 2006-2007
DER AUSDRUCK DRANG NACH OSTEN
Auf der Suche nach der historischen und sprachlichen Funktion
Verhandeling voorgelegd aan de
Faculteit Letteren en Wijsbegeerte
voor het verkrijgen van de graad
van licentiaat in de taal- en
letterkunde: Germaanse talen, door
Promotor: Dr. Torsten Leuschner Sarah Vanparys
Universiteit Gent
Academiejaar 2006-2007
DER AUSDRUCK DRANG NACH OSTEN
Auf der Suche nach der historischen und sprachlichen Funktion
Verhandeling voorgelegd aan de
Faculteit Letteren en Wijsbegeerte
voor het verkrijgen van de graad
van licentiaat in de taal- en
letterkunde: Germaanse talen, door
Promotor: Dr. Torsten Leuschner Sarah Vanparys
Dankeswort
Zu Beginn möchte ich einigen Personen danken, die mich beim Verfassen der
vorliegenden Arbeit unterstützt haben. An erster Stelle geht mein herzlicher Dank
an Herrn Dr. Torsten Leuschner. Er hat nicht nur mein Interesse für dieses Thema
geweckt und somit unmittelbar Anstoß zu dieser Diplomarbeit gegeben, sondern er
hat mich auch in allen anderen Phasen der Untersuchung stets freundlich und
hilfsbereit unterstützt und fachkundig korrigiert.
Ein Wort des herzlichen Dankes gilt auch Herrn Prof. Dr. Luc De Grauwe und
Herrn Prof. Dr. Walter De Cubber, die mir auf begeisternde Weise die notwendigen
Deutschkenntnisse vermittelt und mir während der vier Studienjahre immer großes
Vertrauen entgegengebracht haben. Auch Frau Martine Rottier möchte ich für ihre
Hilfe in der Seminarbibliothek danken.
Besonderer Dank geht ebenfalls an Edgar, der diese Arbeit sorgfältig auf Fehler
nachgelesen und auch inhaltliche Vorschläge zur Verbesserung gegeben hat.
Nicht zuletzt möchte ich mich bei meiner Familie und bei meinen Freunden
bedanken: besonders meiner Mutter und Pierre, die mein Studium ermöglichten, bin
ich zu Dank verpflichtet. Meine Mutter hat mich während des ganzen Studiums
unterstützt und ermutigt, sowie darauf geachtet, dass ich den nötigen Abstand zu
meiner Arbeit bewahren konnte. Pierre möchte ich insbesondere danken für die
‘Krisenmomenten’, in denen er sich um mich gekümmert und mich beruhigt hat. Ich
möchte auch meinem Freund Diego für seine fortwährende Unterstützung, meinem
Bruder Wouter für die vielen ermutigenden Telefongespräche, meiner Tante Moniek
und Onkel Eric für die willkommene Ablenkung im Blumenladen und meinen
Freunden und Freundinnen für die entspannenden Online-Gespräche danken.
Schließlich danke ich auch meinem Vater.
Gent, den 18. Mai 2007
Inhalt
KAPITEL I: EINLEITUNG 1
1. DER AUSDRUCK DRANG NACH OSTEN 1
2. ZIEL UND METHODE 3
3. AUFBAU DIESER ARBEIT 4
KAPITEL II: DER DRANG NACH OSTEN ZWISCHEN IDEOLOGIE UND
WIRKLICHKEIT 6
1. BEDEUTUNG DES WORTES DRANG 6
2. HISTORISCHER GEHALT UND IDEOLOGISCHE FUNKTION DES AUSDRUCKS
DRANG NACH OSTEN 7
2.1 Mittelalterlicher Kontext 8
2.1.1 Die Ostsiedlung 8
2.1.2 Der Deutsche Ritterorden als Spezialfall 10
2.2 Die Teilungen Polens als Ausdruck der “negativen Polenpolitik” 11
3. ENTLARVUNG DES AUSDRUCKS DRANG NACH OSTEN IN DER FORSCHUNG
SEIT DEN FÜNFZIGER JAHREN 12
3.1 H.C. Meyer: Der “Drang nach Osten” in den Jahren 1860-1914 13
3.2 G. Labuda: A historiographic analysis of the German Drang nach Osten 13
3.3 H. Lemberg: Der “Drang nach Osten”. Schlagwort und Wirklichkeit 16
3.4 W. Wippermann: Der “deutsche Drang nach Osten”. Ideologie und
Wirklichkeit eines politischen Schlagwortes 17
3.5 H.C. Meyer: Drang nach Osten. Fortunes of a Slogan-concept in
German-Slavic Relations, 1849-1990 18
KAPITEL III: DRANG NACH OSTEN ALS INDIKATOR UND FAKTOR
EINER MISSLINGENDEN BEZIEHUNGSGESCHICHTE 19
1. METHODOLOGISCHER AUSGANGSPUNKT 19
1.1 Begriffsgeschichte 19
1.2 Drang nach Osten als Faktor und Indikator der geschichtlichen Erfahrung 21
2. ENTSTEHUNGSKONTEXT 21
2.1. Kristallisation des Ausdrucks Drang nach Osten 22
2.1.1 Wortfeldzugehörigkeit 22
2.1.2 Drang als Teil einer naturalisierenden Metaphorik 23
2.2 Zur Frage des Erstbelegs 24
2.2.1 Die deutschen Hegemonen. Offenes Sendschreiben an Herrn Georg
Gervinus 25
2.2.2 Jadwiga i Jagiełło 1374-1412 27
2.3 Drang nach Osten als Indikator einer misslingenden deutsch-polnischen
Beziehungsgeschichte 29
2.3.1 Gegensätzliche Wirkungen des Novemberaufstands 29
2.3.2 Stimmungsumschwung: Polendebatte der Paulskirche 30
3. VERBREITUNG DES AUSDRUCKS DRANG NACH OSTEN 33
3.1 Drang nach Osten im deutschbaltisch-russischen Kontext 33
3.1.1 Entstehung nationalistischer Gefühle 33
3.1.2 Drang nach Osten als Faktor: Rolle der Publizistik 34
3.1.3 Der Ausdruck Drang nach Osten bei den Deutschbalten 36
3.1.4 Erweiterung zu einem deutsch-russischen Konflikt 37
3.2 Von der Reichsgründung bis zum Ersten Weltkrieg 38
3.2.1 Einfluss der Reichsgründung auf die deutsch-polnischen Beziehungen 38
3.2.2 Betonung des spezifisch deutschen Drangs nach Osten in der russischen
Publizistik 40
3.2.3 Einführung in neue nicht-deutsche Kontexte 42
3.2.4 Verherrlichung des Drangs nach Osten in deutschen Veröffentlichungen 43
3.3 Erster Weltkrieg 45
3.4 Nachwirken des Ersten Weltkrieges in der Zwischenkriegszeit 47
3.4.1 Mythologisierung in Deutschland 47
3.4.2 Objektivierungs- und Mystifizierungstendenzen in Polen 48
3.4.3 Verschwinden des Ausdrucks Drang nach Osten in einigen Bereichen 50
3.5 Zweiter Weltkrieg 51
3.5.1 Deutschland im Bann des Nationalsozialismus 51
3.5.2 Wirkung des Nationalsozialismus in den anderen Ländern. 53
3.6 Nachkriegszeit 54
3.6.1 Weiterführen der ideologischen Analyse des Drangs nach Osten in Polen,
in der Sowjetunion und in der DDR 54
3.6.1.1 Schwanken in Polen 54
3.6.1.2 Sowjetunion 56
3.6.1.3 DDR 56
3.6.2 Kontinuität(sbruch?) in Westdeutschland und Verschwinden in den anderen
westlichen Ländern 56
4. FAZIT 57
KAPITEL IV: SPRACHFUNKTIONALE ANALYSE 60
1. VORBEMERKUNGEN 60
2. DER TERMINUS BEGRIFF 61
2.1. Der Terminus Begriff in den Geschichtlichen Grundbegriffen 62
2.2 Ist eine theoretische Abgrenzung notwendig? 63
2.3 Eigene praktische Lösung 64
2.3.1 Begriffe als kollektiv - kognitive Einheiten 66
2.3.2 Begriffe als ideologische Instrumente 67
2.3.3 Die zeitliche Binnenstruktur von Begriffen 68
2.3.4 Schlussfolgerung 69
3. DRANG NACH OSTEN ALS BEGRIFF 69
3.1 Begriffliche Aspekte des Ausdrucks Drang nach Osten 70
3.1.1 Bedeutung vs. Bezeichnung 70
3.1.2 Ideologisierbarkeit 72
3.1.3 Temporale Vielschichtigkeit 74
3.2 Drang nach Osten als zeitweiliger Begriff 75
3.3 Verlust des Begriffscharakters 76
4. DRANG NACH OSTEN ALS SCHLAGWORT 77
4.1 Allgemeine Merkmale eines Schlagwortes und Anwendung auf den
Ausdruck Drang nach Osten 78
4.2 Drang nach Osten als zeitweiliges Schlagwort 81
5. DRANG NACH OSTEN ALS WORTGRUPPENLEXEM 82
6. GEGENWÄRTIGER UMGANG MIT DEM AUSDRUCK DRANG NACH OSTEN 85
KAPITEL V: ZUM SCHLUSS … 87
1. DIE GESCHICHTLICHE UND SPRACHLICHE FUNKTION DES AUSDRUCKS
DRANG NACH OSTEN 87
2. FORSCHUNGSAUSBLICK: EINE DISKURSANALYTISCHE PERSPEKTIVE 88
LITERATURVERZEICHNIS 92
1
Kapitel I: Einleitung
1. Der Ausdruck Drang nach Osten
Schwarzes Kreuz auf weißen Mänteln: Symbol für den deutschen Drang nach
Osten, ewiger Feind des weißen Adlers auf dem Banner eines stolzen und oft
gequälten Polen.(Deutsche und Polen, 2002)
Mit diesen aus dem Off gesprochenen Worten beginnt die vierteilige
Filmdokumentation, Deutsche und Polen. Eine Chronik des Ostdeutschen Rundfunks
Brandenburg (ORB) aus dem Jahre 2002, die das historische Verhältnis von Deutschen
und Polen behandelt. Die Szene, die diese Worte begleitet, zeigt wie Kreuzritter des
deutschen Ritterordens und eine polnische Armee einander gewaltsam und aggressiv
zum Kampf entgegenreiten. Sowohl die Worte als auch die Bilder entsprechen dem
traditionellen Geschichtsbild Polens im Verhältnis zu Deutschland: Der deutsche Orden
wird als Symbol einer kontinuierlichen Aggression der Deutschen Richtung Osten
dargestellt und die Taten des Ritterordens werden an den Anfang einer
jahrhundertelangen Feindschaft zwischen Deutschen und Polen gestellt, für den ein
unbestimmter deutscher Drang nach Osten verantwortlich gemacht wird. Im weiteren
Verlauf der Dokumentation stellt sich jedoch bald heraus, dass sich die Autoren der
Klischeehaftigkeit dieser Vorstellungen völlig bewusst sind und dass sie eher
distanzierend die Gedanken wiedergeben, die den Polen bei diesen Bildern im Großen
und Ganzen durch den Kopf gehen. Damit geben die Autoren jedoch gleichzeitig an,
dass die vielen Ansätze zu einer objektiveren Darstellung der deutsch-polnischen
Beziehungen, die es vor allem in Polen aber in den letzten Jahren auch in Deutschland
innerhalb der Wissenschaft, Publizistik und Politik gegeben hat (vgl. Zernack 1991
[1976]: 23ff), offensichtlich noch nicht hinreichen, um das Geschichtsbild des gemeinen
Mannes vollkommen zu de-ideologisieren und die mit dem deutsch-polnischen
Verhältnis verbundenen “Stereotype der langen Dauer” (Übersetzung n. Orłowski 2003:
269 von Kula 2000) im öffentlichen Bewusstsein Polens auszulöschen.
Die Geschichtswissenschaft hat sich schon seit Jahrzehnten mit dem Ausdruck
Drang nach Osten und den damit verknüpften Vorstellungen auseinandergesetzt und es
hat sich gezeigt, dass der Drang nach Osten keiner eindeutigen Wirklichkeit entspricht,
sondern eher im Bereich der Ideologie anzusiedeln ist. In der heutigen Historiografie
lehnt man folglich den Ausdruck Drang nach Osten im Allgemeinen ab. Ein gutes
2
Beispiel für eine populärwissenschaftliche Darstellung, die den Anfang der deutsch-
polnischen Beziehungsgeschichte gemäß den aktuellen Forschungsergebnissen
präsentiert und folglich den Ausdruck Drang nach Osten und andere klischeehafte
Ausdrucksweisen konsequent vermeidet, ist der Artikel Besuch aus der Grauzone von
Manfred Ertel im Geschichte-Special der Wochenzeitschrift Der Spiegel vom
20.02.2007. Darin wird beschrieben wie das deutsche Reich im 10. Jahrhundert ein
“Multikulti-Gemisch” war: “Friesen und Franken zählten dazu, Alemannen, Thüringer
oder Bayern, Sachsen und eben auch Slawen” (Ertel 2007: 36). Es wird den ganzen
Aufsatz hindurch betont, dass die unterschiedlichen Stämme neben- und miteinander
lebten und dass sie von diesem multi-ethnischen Zusammenleben “gegenseitig
profitierte[n]” (Etler 2007: 38). Diese Beschreibungsweise wird auf die spätere Periode
der sogenannten deutschen Ostsiedlung ausgedehnt. So wird beispielsweise der
Kreuzzug Heinrichs des Löwen und Albrecht des Bären nicht als ein Zeichen der
Eroberungssucht des ganzen deutschen Volkes bezeichnet, sondern es wird eben betont,
dass viele Kreuzzügler mit diesen Verheerungen nicht einverstanden waren, da sie auf
einmal die Leute, mit denen sie schon seit Langem zusammenlebten, als Feinde
betrachten sollten.
Diese differenzierte Sicht auf die Anfänge der deutsch-slawischen Beziehungen
steht ganz deutlich im Kontrast zum Geschichtsklischee, das in der Anfangsszene der
Dokumentation Deutsche und Polen beschrieben wird. Es ist, als gäbe es heutzutage
zwei unterschiedliche, einander entgegengesetzte Betrachtungsweisen der deutsch-
polnischen Beziehungsgeschichte: Einerseits eine pessimistische, die die gegenseitigen
Beziehungen, die von Prinzipien wie dem eines unumkehrbaren und schicksalhaften
Drangs nach Osten bestimmt werden, als unveränderlich betrachtet und andererseits
eine optimistische, die vor allem den gegenseitigen Nutzen der Beziehungen betonen
will, damit die interkulturelle Zusammenarbeit der beiden Nationen auch in Zukunft
gewährleistet ist.
Drang nach Osten ist, wie angedeutet, ein Ausdruck der vor allem von den
Anhängern der pessimistischen Sicht benutzt wird. Es ist meiner Meinung nach eines
der Ausdrücke, die im stereotypen Denken über das deutsch-polnische Verhältnis eine
wichtige Rolle gespielt hat – und manchmal immer noch spielt. Eine Arbeit, die sich
mit dem ideologischen Gehalt, der historischen Verbreitung und der sprachlichen
3
Funktion des Ausdrucks auseinandersetzt, könnte m.E. zur De-Ideologisierung der
deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte beitragen.
2. Ziel und Methode
Die vorliegende Arbeit hat zwei Intentionen. Zum einen möchte ich anhand der wenigen
existierenden Arbeiten, die den Drang nach Osten zum Thema haben, den heutigen
Forschungsstand synthetisierend darstellen. Im Großen und Ganzen gibt es in der
Forschung zwei verschiedene Gesichtspunkte, unter denen der Drang nach Osten bisher
betrachtet worden ist: Einen “faktographische [n], [der] sich mit der Geschichte und
Verbreitung des Ausdrucks […] befasst” und einen “ideologiekritische[n], [der] sich mit
seiner semantischen und ideologischen Analyse […] beschäftigt.” (Leuschner 2002: 1).
In meiner Synthese möchte ich beide Gesichtspunkte zusammenbringen und zeigen,
dass die eine Tradition ohne Rücksicht der anderen in eine Sackgasse gelangt. Dies
zeigt sich beispielsweise im begriffsgeschichtlichen Werk Meyers (1996). Meyer
beschreibt den Ausdruck Drang nach Osten aus faktographischer Sicht und untersucht
seine Verbreitung in den unterschiedlichen historischen Kontexten ausführlich. Er
nimmt dabei jedoch keine Rücksicht auf die ideologische Dekonstrukion des Ausdrucks
Drang nach Osten, die seit den sechziger und siebziger Jahren sowohl in der polnischen
als auch in der deutschen Geschichtswissenschaft stattgefunden hat1 und vertritt am
Ende seines Werkes die Ansicht, dass Drang nach Osten ein gültiger Begriff sei, der
einen realen Grundzug der deutschen Geschichte korrekt auf den Punkt bringe. In dieser
Arbeit, in der auch ich begriffsgeschichtlich vorgehe, möchte ich zeigen, dass das
Ergebnis einer begriffsgeschichtlichen Untersuchung ganz anders aussieht, wenn man
schon die ideologiekritischen Forschungsergebnisse berücksichtigt.
Zum anderen möchte ich, indem ich als zukünftige Sprachwissenschaftlerin die
Funktionsweise des Ausdrucks Drang nach Osten linguistisch zu analysieren versuche,
das linguistische Interesse für die deutsch-polnischen Beziehungen im Allgemeinen
wecken. Anhand des Beispiels Drang nach Osten möchte ich die Aufmerksamkeit auf
die gegenseitigen sprachlichen Ideologisierungen und bewussten Manipulationen im
deutsch-polnischen Diskurs richten. Weitere begriffsgeschichtliche und
diskursanalytische Untersuchungen können meiner Meinung nach in Zukunft zu einem
1 Vgl. u.a. Labuda (1964), Zientara (1983 [1974]), Lemberg (1976), Wippermann (1981).
4
besseren Verständnis und zur Entschärfung des deutsch-polnischen Verhältnisses
beitragen.
3. Aufbau dieser Arbeit
In vorliegender Arbeit möchte ich im nachfolgenden zweiten Kapitel zunächst die
Bedeutung des Ausdrucks Drang nach Osten und die historischen Vorstellungen, die
hinter dem Ausdruck stecken, allgemein darstellen. Dabei werde ich vor allem den
Unterschied zwischen dem historischem Gehalt und der ideologischen Funktion dieses
Ausdrucks betonen und anhand einer Übersicht über die existierenden Studien zum
Thema kurz den heutigen Forschungsstand skizzieren. Im dritten Kapitel werde ich
mittels eines begriffsgeschichtlichen Verfahrens die Entstehung, die Verwendung und
die Verbreitung des Ausdrucks Drang nach Osten beschreiben und werde dabei
versuchen, die Ergebnisse unterschiedlicher Historiker zu einer Synthese
zusammenzufügen. Ansatzpunkt ist dabei die begriffsgeschichtliche These, dass die
Sprache sowohl als Indikator als auch als Faktor der Geschichte fungieren kann. Die
Aufmerksamkeit wird besonders auf den Zusammenhang zwischen historisch-
politischen Ereignissen und der zu- oder abnehmenden Verwendung des Ausdrucks
Drang nach Osten gerichtet. Auf diese Weise wird untersucht, ob die Sprache eine
beziehungsgeschichtliche Rolle gespielt hat und was diese Rolle beinhaltet hat.
Nach der Darstellung der Kontexte, in denen der Ausdruck Drang nach Osten
verwendet wurde, werde ich den Ausdruck im vierten Kapitel linguistisch zu bestimmen
versuchen. Dabei wird Meyers These, aus dem Schlagwort habe sich ein Begriff Drang
nach Osten entwickelt, der seitdem als gültiger Begriff der deutschen Geschichte
betrachtet werden könne, mittels der Ergebnisse des dritten Kapitels überprüft. Ich
werde zeigen, dass die These Meyers historisch zu relativieren ist, indem auf die im
dritten Kapitel beschriebene Entstehung des Ausdrucks in einer Zeit nationaler
Spannungen und auf die Ursachen der zeitweiligen politischen Attraktivität dieses
Ausdrucks hingewiesen wird. Ich werde dabei, die Kriterien, die Begriffe und
Schlagwörter auszeichnen, auf den Ausdruck Drang nach Osten anzuwenden
versuchen. Da mit diesen Bezeichnungen besondere funktionale Kriterien verbunden
sind, glaube ich, dass sie nicht auf die ganze Verwendungsgeschichte des Ausdrucks
Drang nach Osten anwendbar sind und deswegen werde ich nachgehen, inwieweit
5
Drang nach Osten aufgrund seiner Struktur und Bedeutung als Wortgruppenlexem
betrachtet werden kann. Der linguistische Terminus Wortgruppenlexem könnte m.E.
schon auf die ganze Geschichte des Ausdrucks zutreffen. Zum Schluss wird die
gegenwärtige Funktionsweise des Ausdrucks Drang nach Osten kurz betrachtet. Dies ist
deshalb von Interesse, da dieser Ausdruck, obwohl er von der Geschichtswissenschaft
abgelehnt wird, auch heute noch gelegentlich in den Schlagzeilen deutscher Zeitungen
und Zeitschriften benutzt wird, als wäre es von selbst klar, was mit ihm gemeint sein
soll2. Anhand der linguistischen Beschreibung des Ausdrucks Drang nach Osten werde
ich solche gegenwartssprachlichen Verwendungen zu erklären versuchen, und
abschließend die Empfehlung aussprechen, diesen Ausdruck nur dann einzusetzen,
wenn man sich seiner historischen Bedeutung und Konnotationen völlig bewusst ist und
in der Lage ist, ihn gewissermaßen kontrolliert, ohne die Gefahr historischer
Manipulation oder Stereotypisierung zu verwenden.
2 Auf der Website Deutscher Wortschatz findet man u.a. folgende Beispiele: “Republikaner : Drang nach
Osten” (Der Spiegel 29/1990), “Vom Drang nach Osten zur peripheren EU-Integration" (Neues
Deutschland 2002), “Liebesdrang nach Osten” (FAZ 02.02.2004).
6
Kapitel II: Der Drang nach Osten zwischen Ideologie und Wirklichkeit
Bevor ich mich mit der Verbreitung und Verwendung des Ausdrucks Drang nach Osten
befasse, möchte ich zunächst ganz allgemein darstellen, was dieser Ausdruck beinhaltet
und worauf er verweist. Eine Definition, die m.E. alle wesentlichen Elemente des
Ausdrucks Drang nach Osten umfasst, findet man bei Lemberg (2003). Wenn man den
Deutschen einen Drang nach Osten vorwerfe, dann drücke man damit eigentlich
Folgendes aus:
Aus dem deutschen Volk breche – das sei Teil seines Nationalcharakters -
dumpf und unerklärlich der Trieb hervor, erobernd und “germanisierend” im
Lauf seiner Geschichte sich nach Osten zu bewegen. (Lemberg 2003: 34)
Im ersten Abschnitt dieses Kapitels werde ich zeigen, dass dumpf, unerklärlich und
Trieb Bedeutungskomponenten des Wortes Drang sind. Im zweiten Teil werde ich
darstellen, worauf “im Lauf seiner Geschichte” sich bezieht und am Ende dieses
Kapitels werde ich anhand einer kurzen Übersicht über den heutigen Forschungsstand
nochmals deutlich machen, dass - wie auch Lemberg (2003) selbst meint - der Ausdruck
Drang nach Osten in einer wissenschaftlich verantwortbaren Darstellung der deutsch-
polnischen Beziehungsgeschichte keinen Platz hat.
1. Bedeutung des Wortes Drang
Auf der Website des Projektes Deutscher Wortschatz der Universität Leipzig kann man
sich leicht ein Bild vom Wortfeld machen, zu dem das Wort Drang gehört. Synonyme
wie Instinkt, Trieb, Impetus, Impuls usw. geben an, dass das Wort Drang ein
innerliches, unbewusstes Verlangen zum Ausdruck bringt. Die Liste der oft
vorkommenden Kollokationen, z.B. unwiderstehlich, zwanghaft, unbezwingbar usw.,
zeigt, dass dieses Verlangen nicht von der Vernunft unterdrückt oder kontrolliert
werden kann. Ins Auge springt auch, dass man unter den 21 signifikanten rechten
Nachbarn von Drang an fünfter Stelle nach Osten findet, während z.B. nach Süden erst
auf Platz 18 steht und die anderen Himmelsrichtungen in dieser Liste sogar nicht
vorkommen. Zusammenfassend kann man die Bedeutung des Wortes Drang als “starker
innerer Antrieb” (DUW 2003 auf Cd-Rom: Art.“Drang”) umschreiben.
Wenn man diese Bedeutungsumschreibung vergleicht mit denjenigen, denen
man in Wörterbüchern aus der Entstehungszeit des Ausdrucks Drang nach Osten oder
in etymologischen Wörterbüchern begegnet, so stellt man eigentlich keine auffallenden
7
Unterschiede fest. Man findet im Großen und Ganzen dieselben Synonyme und
Attribute vor. Nur im Wörterbuch der Deutschen Sprache (1876) von D. Sanders findet
man neben den Erklärungen “Gedränge” und “das Bedrängende” eine dritte Bedeutung,
die als “das zu etwas Drängende” (Sanders 1876: 311) umschrieben wird. Obwohl ein
Drang immer von einem Subjekt ausgeht, wird die Subjektbezogenheit durch diese
Formulierung besonders hervorgehoben. Auch Lemberg (1976) geht bei seiner
semantischen Analyse des Ausdrucks Drang nach Osten auf diesen Punkt ein. Er ist
nämlich der Meinung, dass bei einigen slavischen Übersetzungen des Drangs nach
Osten nicht das Subjekt, sondern das Objekt in den Mittelpunkt gerückt wird. Er nennt
beispielsweise die russische Übersetzung “natisk na Vostok” (Lemberg 1976: 3), wobei
natisk mit Andrang zu übersetzen sei. Während Drang eher das innere Streben des
Subjektes zum Ausdruck bringe, richte Andrang die Aufmerksamkeit viel mehr auf das
vom Drang bedrohte Objekt. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle wird im Ausland
jedoch die deutsche Fassung Drang nach Osten bevorzugt.
Wenn man sich der Bedeutung des Wortes Drang bewusst ist, kann man sich
fragen, ob es sich für die Beschreibung historischer Erscheinungen eignet. Insofern als
Drang einen naturwüchsigen, unbewussten und nicht steuerbaren Prozess bezeichnet,
stellt es historische Ereignisse und Vorgänge, die sich aufgrund dieses Dranges
vollziehen, als Notwendigkeiten und nicht als Entscheidungen einzelner historischer
Akteure dar.
2. Historischer Gehalt und ideologische Funktion des Ausdrucks
Drang nach Osten
In seiner Definition gibt Lemberg an, dass mit Drang nach Osten auf eine historische
Kontinuität in der Bewegung der Deutschen Richtung Osten verwiesen wird. Mit “im
Lauf seiner Geschichte” (Lemberg 2003: 34) sind m.E. im Grunde zwei
unterschiedliche Perioden gemeint, zwischen denen oft zu Unrecht eine Verbindung
hergestellt wird. Diese Verbindung bewirkt, dass man den Eindruck bekommt, dass „die
Deutschen‟ mit der Zeit eine kontinuierliche Bewegung Richtung Osten verfolgt haben.
Die erste Periode, auf die man mit dem Ausdruck Drang nach Osten verweist, ist das
Mittelalter. Drang nach Osten bezieht sich dabei vor allem auf Phänomene des Hoch-
und Spätmittelalters, nämlich die Ostsiedlung und die Rolle des Deutschen Ordens. Die
zweite Periode fängt mit den Teilungen Polens an und endet mit dem Ausgang des
8
Zweiten Weltkrieges. In dieser zweiten Periode hat sich der Ausdruck als solcher
gebildet und bereits beim ersten Beleg wurde auf die historische Kontinuität
hingewiesen. Dieser Kontinuitätsgedanke hat sich bis nach dem Zweiten Weltkrieg
halten können und führte nach dem Soziologen J.Majcherek “im polnischen
Bewusstsein [zu] eine[r] logische[n] Kette von historischen Ereignissen: die
mittelalterlichen Markgrafen, die Kreuzritter, die preußische Teilungsmacht, Bismarck,
Hitler” (Interview in Deutsche und Polen, 2002). Ich werde im Folgenden sowohl die
eine als auch die andere Periode beschreiben, weil sich im weiteren Verlauf der Arbeit
zeigen wird, dass Einsicht in diese Perioden für das Verständnis des Ausdrucks Drang
nach Osten wesentlich ist.
2.1 Mittelalterlicher Kontext
Obwohl der Ausdruck Drang nach Osten erst Jahrhunderte später gebildet wurde, wird
mit ihm oft auf einige Vorgänge der hoch- und spätmittelalterlichen Geschichte
verwiesen, nämlich die Ostsiedlung und die „Kreuzzüge‟ des Deutschen Ritterordens.
Der Ausdruck Drang nach Osten wurde zur Beschreibung beider Phänomene benutzt,
weil man diese somit fast als Naturereignisse darstellen konnte.
2.1.1 Die Ostsiedlung
Nach der Christianisierung, die die römisch-katholische Kultur seit dem 9. und 10.
Jahrhundert in verschiedenen Ländern Osteuropas einführte, gab es mit dem
Landesausbau zwischen dem 10. und 14. Jahrhundert einen zweiten großen
“Verwestlichungsimpuls” (Zernack 1992: 394). Die Ostsiedlung war dabei ein Teil
dieses von West nach Ost fortschreitenden Prozesses des Landesausbaus. Im
Wesentlichen verweist die Ostsiedlung auf die Phase des Landesausbaus, in der der
“west-östliche Akkulturationsprozess” (Zernack 1992: 398) sich seit dem 13.
Jahrhundert vom deutschen Reich aus als Siedlung “mit vornehmlich deutschem
Charakter” (Conze 1993: 66) in die Länder östlich des Reiches fortsetzte (vgl. Zernack
1977²: 51, Conze 1993: 62ff). Der Landesausbau beschränkte sich nicht auf die
Ansiedlung bestimmter Bevölkerungsgruppen, sondern umfasste auch allerhand
agrartechnische, wirtschaftliche, rechtliche und kulturelle Entwicklungen, die in den
besiedelten Ländern eingeführt wurden (vgl. Zernack 1977²: 52ff).
Nach Zernack (1991 [1980]) können vor allem die Unterschiede im
Kulturniveau, die Rechtsunterschiede und die demografischen Unterschiede zwischen
9
den “Auswanderungs- und Aufnahmegebieten” (Zernack 1991 [1980]: 191) die
Siedlung erklären. Die traditionelle Einteilung in ethnische Kategorien, wobei die
Deutschen als Kolonisatoren und die unterschiedlichen slavischen Völker als Opfer
dieser Kolonisation aufgefasst werden, ist dabei im Grunde unmöglich, zumal wenn
man beispielsweise die Neustammbildung in der Germania Slavica-Zone
berücksichtigt. Mit dem Terminus Germania Slavica wird auf die Gebiete östlich von
Elbe und Saale verwiesen, die im 7. und 8. Jahrhundert slawisch besiedelt worden
waren. Seit dem 8. Jahrhundert siedelten sich in diesen Gebieten jedoch zunehmend
deutsche Stämme wie die Franken und die Sachsen an (vgl. Lübke 2003). Aus dieser
Mischung unterschiedlicher Stämme entwickelten sich mit der Zeit neue Stämme, die
aber weder als „deutsch‟ noch als „slavisch‟ bezeichnet werden konnten. Bei der
Darstellung der Akkulturations- und Transformationsprozesse, die sich im Laufe des
hochmittelalterlichen Landesausbaus vollzogen haben, muss die Aufmerksamkeit somit
nicht auf die ethnische Zugehörigkeit der Siedler gerichtet werden. Es muss vielmehr
auf die gegenseitige Beeinflussung geachtet werden und auf die Art und Weise, wie die
gegenseitigen Berührungen und Beziehungen bestimmte regionale Eigenheiten
veranlasst haben. Im Fall Schlesiens plädiert Zernack (1991 [1980]) zum Beispiel für
die Anerkennung seines “Zwischenlandcharakters” (Zernack 1991 [1980]: 189). Man
solle nicht versuchen, Schlesien eindeutig zu der Geschichte Polens oder Deutschlands
zu zurechnen, sondern man solle Schlesien als ein “geschichtliche[s] Berührungsfeld
mehrerer Nationen” (Zernack 1991 [1980]: 189) betrachten.
Eine solche objektive und rationale Sicht auf die Ostsiedlung hat sich jedoch erst
seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts durchsetzen können. Bei der
„Entdeckung‟ des historischen Phänomens „mittelalterliche Ostsiedlung‟ zu Beginn des
19. Jahrhunderts (vgl. Wippermann 1981: 21) wollte man dieses Phänomen an erster
Stelle erklären und dazu eignete sich der Ausdruck Drang nach Osten. Anhand dieses
Ausdrucks konnte die Ostsiedlung, die man damals meistens als Ostkolonisation
bezeichnete, in den Ländern Osteuropas als das erste Zeichen der angeborenen
Aggressivität der Deutschen, gedeutet werden. In Deutschland wurde die Ostsiedlung
als Teil der Erfüllung einer deutschen Mission betrachtet, bei der barbarischen Völkern
die Kultur gebracht werden sollte. Trotz der entgegengesetzten Interpretation wurde die
Ostsiedlung sowohl im nicht-deutschen als im deutschen Kontext fast als ein
10
Naturereignis aufgefasst, d.h. sie wurde als ein natürlicher, nicht-steuerbarer und
unwiderstehlicher Prozess beschrieben.
Ähnliche Bewertungen gab es nach Piskorski (1991) bis nach dem Zweiten
Weltkrieg. Am Anfang eines Aufsatzes stellt Piskorski sich die Frage, welche
Vorstellungen “ein durchschnittlich gebildete[r] Pole oder Deutsche” in der
Zwischenkriegszeit von der Ostsiedlung gehabt hätte. Seiner Meinung nach hätten diese
wie folgt ausgesehen:
Von beiden Seiten hätten wir von dem ewigen deutschen Drang nach Osten
erfahren können, nur daß der Pole damals gemeint hätte, damit sei die
Plünderung der slawischen Gebiete und die unmenschliche Behandlung der
unterjochten Bevölkerung verbunden gewesen, während der Deutsche das
Heldentum seiner Nation hervorgehoben hätte, die im Osten einen neuen
Lebensraum zu finden vermutete, zugleich aber glaubte, unter den wenig
kultivierten Nachbarn […] höhere Kultur zu verbreiten. (Piskorski 1991: 203)
Wenn man diese Vorstellungen mit den aktuellen Forschungsergebnissen vergleicht, die
ich am Anfang dieses Abschnittes dargestellt habe, wird gleich klar, dass ein Ausdruck
wie Drang nach Osten perfekt die damaligen Vorstellungen der Ostsiedlung als
Naturereignis auf den Punkt bringt, mit dem heutigen Forschungsstand jedoch nicht
länger in Einklang zu bringen ist.
2.1.2 Der Deutsche Ritterorden als Spezialfall
Seit dem Anfang des 13. Jahrhunderts hat die Expansion des Deutschen Ritterordens im
Baltikum unter dem Vorwand der Heidenbekämpfung begonnen. Zwischen 1221 und
1223 hatte der piastische Fürst Konrad I. von Masowien unterschiedliche Kreuzzüge
gegen die heidnischen Prußen unternommen und dabei das Kulmer Land erobert. Die
Prußen unternahmen jedoch Gegenzüge und zur Unterdrückung dieser wurde der
Deutsche Ritterorden, der 1198 im Heiligen Land gegründet worden war, von Konrad I.
zu Hilfe gerufen. Es gelang dem Deutschen Ritterorden die Prußen zu unterwerfen und
demzufolge bekam der Orden das ihm im Tausch versprochene Kulmer Land. Der
Deutsche Ritterorden entwickelte sich in den folgenden Jahren zu einer eigenständigen
Militärmacht und gründete einen modern organisierten fast pre-absolutistischen
Territorialstaat. Von diesem Staat aus versuchte der Orden seine Position nicht nur in
den baltischen Gebieten, sondern auch in Polen zu verstärken (vgl. Jaworski et al. 2000:
76ff). Es kam dabei schon ab 1308 zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen
dem Orden und Polen.
11
Es gibt keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Deutschen Orden und
Deutschland, denn der Orden kämpfte nur im eigenen Interesse. Dennoch ist eine
Verknüpfung zwischen den beiden seit Anfang des 19. Jahrhunderts hergestellt worden.
Dabei wurde der Orden oft als ein Vertreter des deutschen Drangs nach Osten
aufgefasst und die Eroberungen der Kreuzritter wurden oftmals grundlos mit der
deutschen Ostsiedlung gleichgestellt.
2.2 Die Teilungen Polens als Ausdruck der “negativen Polenpolitik”
Eine zweite Periode, die für das Verständnis der Bedeutung und Verbreitung des
Ausdrucks Drang nach Osten äußerst wichtig ist, fängt mit den polnischen Teilungen an
und dauert bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Während dieser Periode entwickelte
sich als Folge der “negativen Polenpolitik” (Zernack) ein deutsch-polnischer
Antagonismus.
Die Teilungen Polens, die zwischen 1772 und 1795 vollzogen wurden, gelten als
der erste und bedeutsamste Ausdruck einer negativen Polenpolitik. Seit dem Ende des
letzten nordischen Krieges, in dem Russland auf Kosten Schwedens und Polens eine
Vormachtstellung im östlichen Europa gewann (vgl. Zernack 1992²), wurde “die
Ausnutzung der geopolitischen Zwischenlage Polens” (Zernack 1992: 418)
systematisch in die Politik der Großmächte (Preußen, Russland und Österreich)
einbezogen. Während in Preußen, Österreich und Russland der Absolutismus
vorherrschte, war Polen zu dieser Zeit formell ein Königreich, faktisch aber eine
Adelsrepublik ohne jegliche effektive zentrale Staatsverwaltung. Der Aufbau der
polnischen Adelsrepublik bewirkte, dass zentrale Entscheidungen nur unter größten
Schwierigkeiten getroffen werden konnten. Bereits 1732 gingen die Großmächte, die
sich der Vorteile der politischen Lage Polens bewusst waren, ein Bündnis zur
Aufrechterhaltung der polnischen Handlungsunfähigkeit ein (vgl. Zernack 1992: 418).
In den folgenden Jahrzehnten genügte dieses Bündnis den “Drei Adlern” nicht mehr,
und 1772 einigten sich die drei Großmächte auf die erste Teilung Polens, bei der Polen
an jede Teilungsmacht bestimmte Gebiete abtreten musste. Dieses Verfahren wurde
1792 und 1795 wiederholt, bis Polen von der Landkarte Europas verschwunden war.
Mit den Teilungen Polens verschwand nicht nur der einzige nicht-absolutistische
Staat Osteuropas, sondern änderten sich auch die europäischen Staatenbeziehungen
grundlegend. Es war ein Machtkomplex dreier Staaten entstanden dessen Stabilität und
12
Haltbarkeit mit der Aufrechterhaltung der Teilungen Polens stand oder fiel (vgl. Müller
1984: 8ff). Für Preußen war die negative Polenpolitik vollends unverzichtbar, denn nur
durch sie hatte Preußen seine Position als Großmacht erlangt und konnte es diese
sichern.
Entgegen den Erwartungen der drei Teilungsmächte hat der Verlust eines
eigenen Staates in Polen gerade das nationale Bewusstsein gesteigert statt unterdrückt.
Die “Resistenzfähigkeit der polnischen Gesellschaft” (Müller 1984: 63) bewirkte, dass
die Teilungsmächte die polnischen Gebiete niemals völlig unter Kontrolle halten
konnten (vgl. Zernack 1996: 124, Müller 1984: 63). Die unterschiedlichen preußischen
Versuche zur Integration und Assimilation der polnischen Bevölkerung scheiterten
jedes Mal an dem starken Widerstandswillen der Polen. Zwischen Preußen und den
Polen entwickelte sich auf diese Weise eine Konfliktsituation, die sich immer weiter
verschärfte und die sich seit der Reichsgründung sogar zu einem deutsch-polnischen
Antagonismus erweiterte (vgl. Lawaty 1986). Hierauf komme ich im dritten Kapitel
jedoch ausführlich zurück, denn die Entscheidung der Paulskirche zur Fortsetzung der
negativen Polenpolitik Preußens hat wahrscheinlich den ersten Gebrauch des Ausdrucks
Drang nach Osten veranlasst.
Bei der Verwendung des Ausdrucks Drang nach Osten im 19. und im 20.
Jahrhundert wurde, wie oben schon erwähnt, zwischen den Teilungen Polens und der
mittelalterlichen Ostsiedlung und Kreuzzüge eine Verbindung hergestellt. Man glaubte
dabei an eine Kontinuität der deutschen Aggressivität gegen den Osten und die
Teilungen Polens wurden dabei als eine erneute Phase des deutschen Drangs nach
Osten aufgefasst. Es wurde jedoch nicht berücksichtigt, dass die Ursachen und Folgen
der Teilungen Polens sich völlig von denjenigen der mittelalterlichen Ostsiedlung und
Kreuzzüge unterschieden.
3. Entlarvung des Ausdrucks Drang nach Osten in der Forschung seit den
fünfziger Jahren
Wie ich bereits angedeutet habe, sind sich die Forscher heutzutage im Allgemeinen
darüber einig, dass Drang nach Osten eher im Bereich der Ideologie als im Bereich der
Wirklichkeit anzusiedeln ist. Das hängt vor allem mit der Tatsache zusammen, dass mit
dem Ausdruck Drang nach Osten einem ganzen Volk, nämlich „den Deutschen‟, ein
bestimmter angeborener, identischer und gleichbleibender Charakterzug unterstellt
13
wird. Eine solche These kann aber nur vertreten werden, wenn man an die Existenz
eines bestimmten Volks- oder Nationalcharakters im Herderschen Sinne glaubt. Diese
Gedanken sind heutzutage jedoch längst überholt und demzufolge hat ein Ausdruck wie
Drang nach Osten keinen Sinn mehr.
In der Geschichtswissenschaft ist der Ausdruck Drang nach Osten schrittweise
als Ideologie entlarvt worden. Diese Entwicklung kann man den Werken, auf die ich
mich für diese Untersuchung gestützt habe, gut entnehmen. Die einzige Ausnahme
hierauf bildet das Werk Meyers, das ich trotzdem wegen seines begriffsgeschichtlichen
Ansatzes benutzt habe.
In diesem Abschnitt wird die Entwicklung der Ansichten in Bezug auf den
Ausdruck Drang nach Osten anhand der existierenden Arbeiten, die den Drang nach
Osten zum Thema haben, dargestellt. Im Zuge dieser Übersicht werde ich den weiteren
Inhalt der Werke, deren Bewertung anderer Forscher und meine eigene Kritik an ihnen
kurz beschreiben.
3.1 H.C. Meyer: Der “Drang nach Osten” in den Jahren 1860-1914
1957 erschien ein erster Aufsatz von Meyer, der den Ausdruck Drang nach Osten zum
Thema hatte. Die zentrale Frage dieses Aufsatzes war, wie man erklären könnte, dass
der Ausdruck Drang nach Osten sich gerade in der Zeit zwischen 1860 und 1914
verbreitet habe. Gerade in dieser Zeit habe es, Meyer (1957: 6) zufolge, wenig Spuren
eines deutschen Druckes gegen Osten gegeben. Meyers Schlusssatz war, dass man in
den anderen Ländern die zunehmende Macht des kaiserlichen Deutschlands fürchtete
und dass auch die zunehmenden nationalistischen Gefühle den Gebrauch des Drangs
nach Osten erklären könnten.
Obwohl dieser Aufsatz Meyers durch sein späteres Buch überholt worden ist
und obwohl sehr viel Kritik an ihm geübt wurde, ist dieser Aufsatz wichtig gewesen,
weil er die Aufmerksamkeit auf die Problematik gerichtet hat und weil die meisten
anderen Autoren sich für ihre eigene Arbeit auf Meyers Aufsatz basiert haben oder
wenigstens auf diesen Aufsatz hingewiesen haben.
3.2 G. Labuda: A historiographic analysis of the German Drang nach Osten
Die erste Arbeit, in der ein wichtiger Schritt zur Relativierung des Ausdrucks Drang
nach Osten gemacht wird, ist die 1964 veröffentlichte Abhandlung A historiographic
analysis of the German Drang nach Osten von G. Labuda. Darin stellt Labuda zunächst
14
dar, wie die slavische und die deutsche Geschichtsschreibung sich gegen Ende des 19.
Jahrhunderts voneinander entfernten, weil die Darstellung der Geschichte mehr und
mehr im Dienst der eigenen nationalistischen Politik stand. Labuda richtet dabei die
Aufmerksamkeit besonders auf die Art und Weise, wie die mittelalterliche Ostsiedlung
beschrieben wurde und welche Rolle der Ausdruck Drang nach Osten dabei spielte. Im
dritten Teil seines Aufsatzes präsentiert Labuda seine eigene Ansichten hinsichtlich der
zukünftigen Darstellungsweise des Drangs nach Osten. Dabei macht er einige
Verallgemeinerungen, die in Zukunft systematische Beschreibungen des Drangs nach
Osten ermöglichen sollen. Die deutsche Expansion in Zentral- und Osteuropa hatte
Labuda zufolge vier Hauptformen: wirtschaftlich, demografisch, politisch und
ideologisch (1964: 256). Diese vier Hauptformen seien in unterschiedlichen Varianten
aufgetreten und verschiedenartig realisiert worden, daher sei es schwierig, diese
Expansion auf einen gemeinsamen Nenner zurückzuführen (1964: 256). Dennoch gebe
es Kriterien, die eine objektive Bewertung der Expansion möglich machen. Nach diesen
Kriterien habe die deutsche Kultur in gewissen Bereichen einen positiven Beitrag zur
slavischen Kultur geliefert. Dieser positive Beitrag sei jedoch von der Historiografie
nicht wahrgenommen worden, denn die Zeit, in der die Geschichtsschreibung sich zu
entwickeln begann, sei von gesteigerten nationalistischen Gefühlen gekennzeichnet
worden, wodurch eine objektive Beschreibung der historischen Ereignisse unmöglich
gewesen sei:
The tragedy of the science of history is that the moment it started to record these
mutual relations coincided with growing waves of nationalism and chauvinism
on both sides, which did not allow of an objective evaluation of the relative
facts. (Labuda 1964: 257)
Neben diesem positiven und friedlichen kulturellen Beitrag unterscheidet Labuda in der
Periode des Feudalismus und Kapitalismus aber auch eine aggressive Form der
Expansion: den “sogenannten Drang nach Osten”(1964: 258). An diesem eigentlichen
Drang nach Osten seien nur diejenigen Schichten der Bevölkerung beteiligt gewesen,
die die ortsansässige Bevölkerung ausbeuteten. Diese Ausbeutung sei vor allem in
wirtschaftlichen und politischen Bereichen vorgekommen. Nach Labudas Vorstellung
war der Drang nach Osten also nicht nur auf eine bestimmte Periode beschränkt,
sondern bekam er auch einen Klassencharakter.
15
Labuda kann, insofern er den Gedanken der historischen Kontinuität zugunsten
einer differenzierteren Sicht aufgegeben hat, sicherlich zu der Gruppe der polnischen
Historiker gezählt werden, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Historiografie der
deutschen mittelalterlichen Geschichte vom mythischen Ballast befreien wollten. Es
fällt aber auf, dass er immer noch an einigen überholten Kategorien festhält und an die
realhistorische Existenz eines Drangs nach Osten glaubt3:
The historic Drang nach Osten is a reality and it would be difficult to deny its
existence; its diversity is also beyond any doubt. Of course, Drang nach Osten
as a historic phenomenon should be distinguished from the theory of Drang nach
Osten as a political ideology […]. (Labuda 1964: 254)
Autoren wie Zientara (1983 [1974]: 173ff) und Wippermann4 (1981: 79) haben bei
Labuda vor allem diese Aspekte kritisiert. Zientara (1983 [1974]: 175ff) stellt sich die
Frage - gesetzt es habe, wie Labuda behauptet, einen Drang nach Osten gegeben -,
worin dieser sich dann von der Expansion in andere Himmelsrichtungen unterscheide.
Das Argument Labudas (1964: 256), es handle sich beim Drang nach Osten nicht nur
um eine territorial-politische, sondern auch um eine demografische Expansion, wird von
Zientara (1983 [1974]: 175) zurückgewiesen, dadurch dass er darauf hinweist, dass
Labuda gerade die demografische Expansion aus seiner Definition des Drangs nach
Osten herausgenommen habe, weil er die Siedlung der Bauern und Handwerker davon
ausgeschlossen habe. Überdies fragt Zientara (1983 [1974]: 175) sich, ob man die Rolle
der Bauern überhaupt von der der Feudalherren trennen könne, denn ohne den
“Massenzustrom” (Zientara 1983 [1974]) deutscher Bauern wäre die Veränderung des
ethnischen Charakters der Gebiete unmöglich gewesen. Im Übrigen war der
Antagonismus zwischen den deutschen Bauern und der bodenständigen Bevölkerung
eher religiöser als nationaler Art. Zum Schluss verweist Zientara (1983 [1974]: 176f)
auf die damalige politische Lage im Reich und auf die Tatsache, dass diejenigen
deutschen Fürstentümer, die angeblich den Drang nach Osten vorantrieben, im eigenen
Interesse handelten und nicht für die des ganzen Reiches. Zientaras Schlussfolgerung
3 In seiner später veröffentlichten Abhandlung Les slaves et l‟Historiografie allemande du XIXe siècle
(1969) scheint Labuda diese These nicht mehr zu vertreten, denn in der Behandlung des Drangs nach
Osten fügt er ständig hinzu, dass es sich dabei um eine Ideologie handle (vgl. Labuda 1969: 234ff). Da er
sich in dieser Abhandlung nicht an erster Stelle mit dem Ausdruck Drang nach Osten beschäftigt,
verzichte ich hier auf eine ausführliche Beschreibung dieser Arbeit. 4 Da Wippermann (1981) sich in großem Maße den Thesen Zientaras (1983 [1974]) anschließt,
beschreibe ich im Folgenden lediglich die Kritik Zientaras (1983 [1974]).
16
ist, es habe im Mittelalter zwar eine Expansion der deutschen Fürstentümer in die
Gebiete östlich der Oder und Neiße gegeben, aber diese sei weder instinktiv oder
typisch deutsch, noch Teil einer planmäßigen Aggression der Deutschen Richtung
Osten gewesen. Nach Zientara bedarf diese Expansion dann auch keiner eigenen
Bezeichnung wie z.B. Drang nach Osten.
3.3 H. Lemberg: Der “Drang nach Osten”. Schlagwort und Wirklichkeit
1976 beschäftigt auch H. Lemberg sich mit der Frage, inwieweit der Ausdruck Drang
nach Osten einer historischen Wirklichkeit entspricht. Nach einer äußerst kurzen
Beschreibung der Verbreitung des Ausdrucks versucht Lemberg den Ausdruck
semantisch zu analysieren. Im dritten Teil seiner Arbeit stellt er fest, dass der Ausdruck
Drang nach Osten von der deutschen Historiografie kaum benutzt worden sei, da er
bereits von der anderen Seite, d.h. von denjenigen, die sich von diesem Drang bedroht
fühlten, besetzt worden sei. Nachdem Lemberg den Kontinuitätsgedanken und den
Glauben an bestimmte nationale Charakterzüge als falsch zurückgewiesen hat,
bezeichnet er den Ausdruck Drang nach Osten als ein Heterostereotyp. Anhand von
Heterostereotypen werden “einer anderen Gruppe oder Nation […] vorurteilhaft
bestimmte Eigenschaften zugeschrieben” (Lemberg 1976: 9). Mit dem Ausdruck Drang
nach Osten schreibe man den Deutschen “ein bestimmtes, undifferenziert-einfaches
Verhaltensmuster” (Lemberg 1976: 9) zu. Lemberg gesteht aber ein, dass der Begriff
Heterostereotyp, der aus der Sozialpsychologie stammt, sich für die
Geschichtswissenschaft nicht eigne, und schlägt somit die Bezeichnung “historischer
Mythos” (Lemberg 1976: 9) vor.
Lemberg distanziert sich in diesem Aufsatz deutlich von der These Labudas,
indem er behauptet, dass der Ausdruck Drang nach Osten überhaupt keinen
historischen “Wahrheitsgehalt” (Lemberg 1976: 13) habe. Auf diese Weise stellt seine
Arbeit einen weiteren Schritt in der Relativierung des Wertes eines Drangs nach Osten
dar. Trotz dieser weitgehenden Relativierung weist Lemberg (1976) am Anfang und am
Ende seines Aufsatzes kurz darauf hin, dass, dadurch dass so “viele Menschen an seine
Existenz glaubten” (Lemberg 1976: 13), der Ausdruck doch einen bestimmten “Grad
von Wirklichkeit” (Lemberg 1976: 1) erlangt habe. Diese These Lembergs werde ich im
dritten Kapitel überprüfen, denn auch ich glaube, dass der Ausdruck Drang nach Osten,
17
auch wenn er keiner Realität entspricht, doch die realhistorischen Beziehungen
unterschiedlicher Länder als Faktor hat beeinflussen können.
3.4 W. Wippermann: Der “deutsche Drang nach Osten”. Ideologie und Wirklichkeit
eines politischen Schlagwortes
In seinem 1981 veröffentlichten Werk Der „deutsche Drang nach Osten‟ will W.
Wippermann anhand einer Untersuchung des “Ursprung[s], [der] Genese und [der]
Funktion, [der] Träger und [der] Adressaten des Schlagwortes” (Wippermann 1981: 1)
zeigen, dass es sich beim Drang nach Osten “nicht um eine historische Realität, sondern
um eine Ideologie” (Wippermann 1981: 6) handle. Als Ideologie könne der Drang nach
Osten aber trotzdem “Faktor und Indikator von realhistorischen Entwicklungen”
(Wippermann 1981: 6) gewesen sein. Zur Unterstützung seiner These benutzt
Wippermann hauptsächlich Zitate aus der Historiografie.
Die Kritik, die man an diesem Werk üben kann, ist vor allem struktureller Art,
insofern als Wippermann die deutsche, russische und polnische Historiografie gesondert
betrachtet, geht der chronologische Zusammenhang, der – wie ich im dritten Kapitel
noch ausführlich zeigen werde - für den Ausdruck Drang nach Osten äußerst wichtig
ist, verloren. Die Historiografie war vor allem seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts in
den verschiedenen Ländern ein wesentlicher beziehungsgeschichtlicher Faktor, d.h. die
Geschichtsschreibung hat, indem sie die Geschichte anhand von Ausdrücken, wie
beispielsweise Drang nach Osten, beschrieb, die Beziehungen zwischen den
verschiedenen Nationen beeinflusst. Die Historiografie stand im Dienst der damaligen
nationalistischen Politik und sollte diese unterstützen und rechtfertigen. Gerade wegen
des beziehungsgeschichtlichen Zusammenhanges zwischen der Politik und der
Historiografie der unterschiedlichen Nationen, wäre eine gesamte chronologische
Beschreibung der Historiografie in Deutschland, Polen und Russland ergiebiger
gewesen. So wie Wippermann es jetzt darstellt, bleibt auch unklar, von welchen
historischen Ereignissen der Ausdruck Drang nach Osten Indikator und Faktor gewesen
sein könnte. Ich werde im nachfolgenden Kapitel zeigen, dass der Ausdruck Drang
nach Osten an erster Stelle Indikator der misslingenden deutsch-polnischen
Beziehungsgeschichte gewesen ist, dass die Rolle des Ausdrucks als Faktor hingegen
nicht so eindeutig festzulegen ist.
18
3.5 H.C. Meyer: Drang nach Osten. Fortunes of a Slogan-concept in German-
Slavic Relations, 1849-1990
Die bisher letzte Arbeit, die sich ausführlich mit dem Thema Drang nach Osten
auseinandergesetzt hat, ist Drang nach Osten (1996) von H.C. Meyer. Hauptthese
dieses Buches ist, dass der Ausdruck Drang nach Osten, der zunächst als publizistisches
Schlagwort (“slogan”) benutzt worden sei, sich im Laufe der Zeit zu einem
historiografischen Begriff (“concept”) entwickelt habe. Nach einer chronologischen
Beschreibung der Geschichte und Verbreitung des Ausdrucks, ist Meyer am Ende
seines Werkes der Meinung, dass Drang nach Osten ein gültiger historischer Begriff
sei, der in der Geschichtsschreibung als zutreffende Beschreibung einer Grundtendenz
der deutschen Geschichte verwendet werden dürfe und sollte.
In methodologischer Hinsicht bedeutet das Buch Meyers einen Rückschritt,
denn er scheint an der realhistorischen Existenz eines Drangs nach Osten nicht zu
zweifeln:
Under these combined historiographical and geographical initiatives the way
could be found finally to establish Drang nach Osten as a valid historical
concept, as a proper Begriff for German history. (Meyer 1996: 142)
An verschiedenen Stellen scheint er sogar zu bedauern, dass die gegenwärtige deutsche
Historiografie sich wegen einer “psycho-political blockage” (Meyer 1996: 141) immer
noch nicht mit der Realität eines Drangs nach Osten habe versöhnen können.
Ob die Verschiebung von Schlagwort zu Begriff tatsächlich zutrifft, werde ich
im vierten Kapitel ausführlich behandeln. Im jetzigen Zusammenhang ist vor allem
wichtig, dass Meyers These, der Ausdruck Drang nach Osten könne und sollte
legitimerweise in der Geschichtschreibung verwendet werden, einen Rückfall in den
Forschungsstand der Vorkriegszeit bedeutet. Dafür spricht auch die Tatsache, dass
Meyer sich kaum mit den aktuellen Forschungsergebnissen5 auseinandersetzt. Dennoch
ist seine Arbeit wegen der Unmenge von Zitaten, vor allem aus dem Bereich der
Publizistik, eine Bereicherung und eine Ergänzung zum Werk Wippermanns (1981),
denn dessen Zitate stammen fast alle aus historiografischen Veröffentlichungen.
Bedauernswert ist aber, dass Meyer dieser ausführlichen Quellenauswertung kein
Quellen- und Literaturverzeichnis hinzugefügt hat (vgl. Leuschner 2002).
5 Meyer (1996: 18f) erwähnt zwar das Werk Wippermanns (1981), weist aber dessen These ohne
wirkliche Argumentation zurück und erhält seine eigenen Thesen uneingeschränkt aufrecht.
19
Kapitel III: Drang nach Osten als Indikator und Faktor einer
misslingenden Beziehungsgeschichte
1. Methodologischer Ausgangspunkt
In diesem Kapitel stehen die Entstehung, die Entwicklung und die Verbreitung des
Ausdrucks Drang nach Osten im Mittelpunkt. Die Ausgangsfragen bei dieser
Darstellung sind, ob und inwieweit der Ausdruck als Indikator die Entwicklung der
deutsch-polnischen Beziehungen und im weiteren Sinne der Beziehungen Deutschlands
zu Osteuropa widergespiegelt hat und ob er als Faktor auf diese Beziehungen auch
einen Einfluss ausgeübt hat. Dies wird anhand des Zusammenhanges zwischen den
historisch-politischen Kontexten und der Verwendung des Ausdrucks Drang nach
Osten untersucht. Das Ziel dieses Überblickes ist ein zweifaches. Zum einen möchte ich
die bisherigen Forschungsergebnisse zu einer einheitlichen Darstellung
zusammenführen. Zum anderen möchte ich anhand des Ausdrucks Drang nach Osten
zeigen, dass auch die Sprache eine beziehungsgeschichtliche Rolle spielen kann.
Der Aufbau dieses Kapitels sieht wie folgt aus: Nach einer Beschreibung des
begriffsgeschichtlichen Ausgangspunktes wird der Entstehungskontext des Ausdrucks
Drang nach Osten ausführlich untersucht, und danach werden die weitere Verbreitung
und die Kontexte, in denen Drang nach Osten im Laufe der Zeit benutzt worden ist,
skizziert.
1.1 Begriffsgeschichte
Für diese Arbeit habe ich mich, wie erwähnt, von der Begriffsgeschichte inspirieren
lassen. Vor allem in den beiden folgenden Kapiteln werde ich mehrfach auf Thesen,
Ideen und Ergebnisse dieser Disziplin verweisen. Es scheint mir deswegen angebracht,
zunächst kurz Ziel und Methode der Begriffsgeschichte zu erläutern.
Die seit den fünfziger Jahren aufkommende Begriffsgeschichte forscht nach
zentralen, politisch oder sozial relevanten Ausdrücken und untersucht ihre Entwicklung
im Laufe der Zeit. Die Begriffsgeschichte kann somit als Teil der historischen Semantik
eingeordnet werden, denn Ziel der historischen Semantik ist es:
[...] mit Hilfe der Bedeutungsanalyse von sprachlicher Verständigung über
historische Erfahrung an die darin enthaltene Wirklichkeitskonstruktion
heranzukommen. (Busse 1987: 57)
20
Auch die Begriffsgeschichte geht davon aus, dass die geschichtliche Erfahrung der
Wirklichkeit und die sprachliche Gestaltung der Wirklichkeit engstens miteinander
verbunden sind. Der dahinter liegende Gedanke ist, dass die Sprache zum einen eine
Indikatorenfunktion hat, d.h. in der Sprache kommen die politischen und sozialen
Phänomene und ihre Veränderung zum Ausdruck, dass sie aber auch zum anderen als
Faktor wirksam ist, denn die Sprache übt einen Einfluss auf die Wahrnehmung und das
Bewusstsein dieser Phänomene aus (vgl. Koselleck 1972). Deshalb charakterisiert
Koselleck (1998) die Begriffsgeschichte als “Medium zwischen realer Geschichte und
Bewußtseinsgeschichte” (Koselleck und Dipper 1998: 188).
Das Eigentümliche der Begriffsgeschichte ist, dass sie die Vermittlung zwischen
Sprache und Geschichte anhand von Begriffen untersucht. Worin der spezifische Wert
eines Begriffes besteht, wird im vierten Kapitel ausführlich behandelt. Hier möchte ich
deswegen nur ganz kurz angeben, was in der Begriffsgeschichte allgemein als Begriff
gilt. Begriffe, z.B. Staat, Herrschaft, Kapital, Adel usw., vereinen in sich nach
Koselleck “die Fülle eines politisch-sozialen Bedeutungszusammenhanges” (1972:
XXII). Sie seien “Konzentrate vieler Bedeutungsgehalte” (Koselleck 1972: XXII) und
seien folglich immer vieldeutig. Der Begriff Demokratie kann beispielsweise auf einen
Staat, auf ein politisches System, auf ein Prinzip der Gleichberechtigung usw.
verweisen.
Die Aufgabe der Begriffsgeschichte besteht darin, zu untersuchen, wann, wo, von
wem und für wen welche Erfahrungen oder Ereignisse wie begriffen und sprachlich
kondensiert werden (vgl. Koselleck 2002: 41). Nachdem man die Begriffe als solche hat
destillieren können, wird ihre eigene Geschichte und ihre Vernetzung in eine
Gesamtheit von Gegenbegriffen, Ober- und Unterbegriffen, Begleit- und
Nebenbegriffen untersucht (vgl. Koselleck 2002: 43).
Dass diese Angaben zur Begriffsgeschichte ziemlich allgemein und abstrakt
bleiben, hat damit zu tun, dass je nach dem untersuchten Problem und dem spezifischen
Erkenntnisziel, Methode und Ergebnis recht verschieden ausfallen können. Sogar
innerhalb des Lexikons Geschichtliche Grundbegriffe (1972-1997), in dem der
Übergang von der alten zur modernen Welt anhand der sich ändernden Begriffe im
deutschen Sprachraum wiedergegeben wird, gibt es große Unterschiede zwischen den
verschiedenen Beiträgen. Die Unterschiede hängen nach Busse (1987: 61ff) u.a. mit
21
dem interdisziplinären Charakter der Begriffsgeschichte, mit der unterschiedlichen
theoretischen Herkunft der Autoren, mit der unterschiedlichen Betonung der Rolle des
Kontextes, mit der differenzierten Auffassungen von Begriffen, mit der verschiedenen
Quellenauswahl usw. zusammen. Diese Unbestimmtheit macht m.E. sowohl die Stärke
als auch die Schwäche der Begriffsgeschichte aus. Da sie methodologisch nicht
eindeutig festgelegt ist, kann sie von verschiedenen Wissenschaften (z.B. der
Geschichte, der Linguistik, der Soziologie) benutzt werden und ständig an das jeweilige
Erkenntnisziel angepasst werden. Andererseits bewirkt der Mangel an einer soliden
theoretischen Grundlage, dass sie als (Teil-) Disziplin nicht immer ernst genommen
wird und dass man in bestimmten Zweifelsfällen nicht auf eine theoretische Grundlage
zurückgreifen kann.
In dieser Arbeit werde ich vor allem die Stärke der Begriffsgeschichte, d.h. ihre
Flexibilität, ausnutzen und nachgehen inwieweit einige ihrer Grundgedanken auf den
Ausdruck Drang nach Osten zu übertragen sind.
1.2 Drang nach Osten als Faktor und Indikator der geschichtlichen Erfahrung
Mithilfe einiger Fragestellungen der Begriffsgeschichte wird im Folgenden die
Geschichte des Ausdrucks Drang nach Osten analysiert. Trotz meiner
begriffsgeschichtlichen Vorgehensweise glaube ich aber, dass es schwer zu entscheiden
ist, ob Drang nach Osten als Begriff betrachtet werden kann. Auf diese Problematik
werde ich im vierten Kapitel eingehen. Die Flexibilität der Begriffsgeschichte lässt es
aber zu, dass man ihre Fragestellungen auch auf andere sprachliche Phänomene
anwenden kann.
Die begriffsgeschichtliche Frage, wann, wo und für wen welche historischen
Ereignisse sich im Ausdruck Drang nach Osten sprachlich kondensierten, wird im
Laufe dieses Kapitels beantwortet. Außerdem glaube ich, dass Drang nach Osten ein
Indikator und Faktor der misslingenden Beziehungsgeschichte zwischen Deutschland
und Polen (und in weiterem Sinne Osteuropa) gewesen ist; diese These wird in diesem
Kapitel überprüft.
2. Entstehungskontext
Zunächst werde ich mich mit der Frage auseinandersetzen, unter welchen historischen
Umständen sich der Ausdruck Drang nach Osten hat bilden können. Dabei werde ich
22
die Kristallisation des Ausdrucks Drang nach Osten aus einem Wortfeld alternativer
Ausdrucksmöglichkeiten unter die Lupe nehmen, die Forschungsergebnisse zum ersten
Gebrauch des Drangs nach Osten darstellen und zum Schluss werde ich den historisch-
politischen Kontext, in dem sich der Ausdruck zunächst gebildet hat, genauer
untersuchen.
2.1. Kristallisation des Ausdrucks Drang nach Osten
2.1.1 Wortfeldzugehörigkeit
Der Ausdruck Drang nach Osten hat sich nicht auf einmal in dieser Formulierung im
Sprachgebrauch etabliert. Vielmehr wurde der Inhalt dieses Ausdrucks schon eine Zeit
lang anhand unterschiedlicher Substantive und Verben, die zum selben Wortfeld
gehörten, sprachlich zum Ausdruck gebracht. Aus dieser Menge alternativer
Ausdrucksweisen hat Drang nach Osten sich allmählich als verfestigte nominale
Kollokation in Form eines Wortgruppenlexems (vgl. unten IV, 5) herausbilden können.
In Texten, in denen die inhaltlichen Komponenten des Drangs nach Osten
anwesend waren, wurden zunächst allerhand andere Substantive und Verben benutzt. In
der deutschen Historiografie und Publizistik der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
findet Wippermann (1981: 38ff) neben den Verben dringen und drängen mit ihren
verschiedenen Präfixen wie z.B. ein-, vor-, zurück- usw. auch die Wortgruppe
drängendes Deutschtum und das Substantiv Vordringen. Nicht nur in deutschen
Veröffentlichungen, sondern beispielsweise auch im Werk des slovakischen Autors L.
Štúr Das Slaventhum und die Welt der Zukunft (1853) werden neben Drang die
Substantive Andrang und Vordringen benutzt (vgl. Wippermann 1981: 52ff). Neben
diesen Wörtern, die alle zur selben Wortfamilie gehören, wurden teilweise auch
Substantive wie z.B. Zug oder Beruf verwendet. Diese sind zwar anderer
etymologischer Herkunft, bringen dennoch einen ähnlichen Inhalt, nämlich das
Befolgen eines bestimmten Triebes, zum Ausdruck. Auf diese Weise wurde das
Substantiv Beruf u.a. von G. Waitz benutzt: “Wenn man erkennt, daß deutsche Cultur,
deutsche Bevölkerung den Beruf [meine Hervorhebung, SV] haben, sich gegen den
Osten hin auszubreiten, […]” (Waitz 1860: 14).
Von diesen unterschiedlichen Ausdrucksweisen haben sich mit der Zeit vor
allem die Kollokationen Drang nach Osten in nicht-deutschen Kontexten und Zug nach
(dem) Osten im deutschen Kontext durchsetzen können. Dazu könnte die Tatsache
23
beigetragen haben, dass Drang im 19. Jahrhundert ein sehr beliebtes Modewort war,
denn in schlagwortartigen Formulierungen werden öfters Modewörter verwendet.
Drang war ein Stichwort der romantischen Literatur, die es von Sturm-und-Drang-
Autoren übernommen hatte. Die romantischen Helden führten oft einen Kampf gegen
ihre inneren Dränge, die sie als tierisch, dunkel und geheimnisvoll erlebten. Auch in den
damaligen philosophischen Wortschatz wurde das Wort Drang mit Betonung derselben
inhaltlichen Komponenten übernommen. Nach dem Historischen Wörterbuch der
Philosophie (1972) benennt Drang ein “Antriebsgeschehen”, das von einem “inneren,
sehr intensiven Spannungserleben” und von der “Erlebnisqualität des Dunklen,
Dumpfen” (HWP 1972: 290) gekennzeichnet ist. Unter anderem A. Schopenhauer und
M. Scheler bezeichneten in ihrer Philosophie mit Drang die unterste Stufe des Willens
(vgl. HWP 1972: 290f). Die ersten Verwendungen des Ausdrucks Drang nach Osten in
nicht-deutschen Kontexten sind vor allem als Ironisierung des von deutschen Autoren
überbenutzten Wortes Drang zu verstehen. Die Tatsache, dass im deutschen Kontext
der Ausdruck Zug nach (dem) Osten bevorzugt wurde, kann man vor allem dadurch
erklären, dass Drang nach Osten als Teil der gegnerischen Ideologie aufgefasst wurde
(vgl. oben II, 3.3).
2.1.2 Drang als Teil einer naturalisierenden Metaphorik
Ich werde im Folgenden noch mehrmals darauf hinweisen, dass der Ausdruck Drang
nach Osten in Deutschland selber auffallend wenig benutzt wurde. Dies bedeutet aber
keineswegs, dass die inhaltlichen Komponenten fehlten, es fehlte lediglich der exakte
Ausdruck. Beim Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde in unterschiedlichen
deutschen Veröffentlichungen eine naturalisierende Metaphorik verwendet, bei der
anstatt des Wortes Drang andere Worte, die einen ähnlichen Inhalt zum Ausdruck
brachten, benutzt wurden. Anhand von Wörtern wie Ausbreiten, Ausdehnen, Ziehen,
Treiben, Strömen, Fließen und Drängen (Wippermann 1981: 95) wurde beschrieben,
wie der Lauf der Geschichte von “organisch-naturwüchsige[n] und daher
unaufhaltsame[n] Vorg[ä]ng[en]” (Wippermann 1981: 95) bestimmt werde.
Diese Metaphorik wurde nicht nur auf die deutsche Expansion Richtung Osten,
sondern auf jegliche Migration von Menschen angewandt. Einige deutsche Historiker
stellten sogar den ganzen Lauf der Geschichte anhand einer riesigen Flut-und-Ebbe-
Metaphorik dar:
24
[…] bis zum Gestade des Ärmelkanals hatte die Völkerflut die Germanen
getragen; in einer Hochwelle gleichsam war sie daran gebrandet. Die große
Oszillation nach Westen war vollendet […]. (Lamprecht 1913: 311)
So wie man sich einem Drang nur schwer widersetzen kann, kann man sich auch gegen
eine Flut oder Welle nur schwer wehren. Nicht nur K. Lamprecht, sondern u.a. auch A.
Wäber (“slavische Flut”), M. Beheim-Schwarzbach (“Wellen des Deutschtums”) und K.
Hampe (“slavische Flutwelle” alle zit.n. Wippermann 1981: 98ff) hatten eine Vorliebe
für Metaphern aus dem Bereich des Meeres. Auffallend ist, dass Wäber und Hampe
diese Metaphorik auch auf die Slaven anwandten: Nicht nur das deutsche Volk, sondern
auch die anderen Völker bewegten sich in der Geschichte wie Wellen. Eine derartige
Vorstellung der Geschichte findet man 1958 noch bei P.E. Schramm:
[…], dass es sich um zwei Flutbewegungen handelt, die so ineinander greifen,
dass jeweils einer Westflut eine Ostebbe und einer Ostflut eine Westebbe
entsprach. (Schramm 1958: 322 zit.n. Labuda 1964: 236)
Zu dieser Flut-und-Wellenmetaphorik passt auch das Verb dringen, zumal wenn man
bedenkt, dass dem Wort Drang im Historischen Wörterbuch der Philosophie ein
wellenartiger Charakter zugeschrieben wird. Ein Drang manifestiere sich “in Form
eines «Hinzu» und «Hinweg»” (HWP 1972: 291) und habe “einen phasischen,
wellenartigen Verlauf” (HWP 1972: 292). Auf diese Weise scheint es, als ob das Wort
Drang diese Flut-und-Welle-Metaphorik automatisch mit sich bringt.
2.2 Zur Frage des Erstbelegs
Wenn man weiß, dass der Ausdruck Drang nach Osten sich erst nach längerer Zeit aus
einer ganzen Menge gleichwertiger Ausdrücke hat herauskristallisieren können, kann
man sich auch leicht vorstellen, dass man bei der Suche nach dem ersten Gebrauch des
Ausdrucks Drang nach Osten in genau dieser Form mit unterschiedlichen Problemen
konfrontiert wird. Oftmals ist es so, dass alle inhaltlichen Komponenten vorliegen, dass
der Ausdruck als solcher jedoch fehlt. Manchmal begegnet man einer Ausdrucksweise,
die sich nur in einem Element vom Ausdruck Drang nach Osten unterscheidet, z.B.
“Drang nach Ostland” (Treitschke 1897: 234 zit.n. Meyer 1996: 61), oder der Ausdruck
steht in Anführungszeichen, oder er wird einem anderen Autor zugeschrieben. Daher
vermuten die unterschiedlichen Forscher übereinstimmend, dass der Erfinder und somit
der erste Beleg des Ausdrucks Drang nach Osten bis jetzt noch nicht gefunden worden
25
sei6. Trotzdem haben (fast) alle versucht, dem ersten Gebrauch auf die Spur zu
kommen. Diese Suche hat zu unterschiedlichen Ergebnissen geführt, allerdings ohne
dass die Autoren dabei viel Rücksicht auf die Ergebnisse anderer genommen hätten.
2.2.1 Die deutschen Hegemonen. Offenes Sendschreiben an Herrn Georg
Gervinus
Die Stelle, die auch heute noch als frühester Beleg des Ausdrucks Drang nach Osten
betrachtet wird, findet sich in einem Werk des polnischen Historikers und Publizisten J.
Klaczko aus dem Jahre 1849. In Die deutschen Hegemonen. Offenes Sendschreiben an
Herrn Georg Gervinus äußert Klaczko seine Enttäuschung über die Abkehr der
deutschen Nationalversammlung vom Ziel der Wiederherstellung Polens (vgl. unten III,
2.3.2). Er richtet sich dabei besonders an G. Gervinus, der Herausgeber der Deutschen
Zeitung war und der in den vorangehenden Jahren eine Artikelserie von Klaczko zur
polnischen Emigration in Form von Leitartikeln in seiner Zeitung veröffentlicht hat.
Obwohl Gervinus mehrmals deutlich machte, dass er für den Inhalt dieser Artikel keine
Verantwortung übernehmen wollte, hatte Klaczko das Gefühl, dass Gervinus ihn
bedingungslos unterstützte (vgl. Hahn 1979: 89f). Als Gervinus im Jahre 1848 seine
Haltung gegenüber Polen änderte, seine Sympathien für eine deutsche Expansion
äußerte und dabei die Polen dazu aufforderte, ihre Aufmerksamkeit nicht auf “das
polnische Preußen” (Meyer 1996: 41), sondern auf den Osten zu richten (vgl. Meyer
1996: 41), war dies für Klaczko unerwartet und fühlte er sich demzufolge persönlich
betrogen. Im offenen Sendschreiben geht ein emotionaler und enttäuschter Klaczko in
der deutschen Geschichte auf der Suche nach einer Erklärung für diese
Meinungsänderung. Dies alles bildete den Hintergrund für den ersten Gebrauch des
Ausdrucks Drang nach Osten.
Nach einer Darstellung der Ostsiedlung, die nur als Kreuzzug und nicht als
Siedlungsvorgang beschrieben wird, vergleicht Klaczko die Verbrechen des deutschen
Ritterordens mit dem nationalistischen Expansionismus des Frankfurter Parlaments.
Beide benutzten den Drang nach Osten als Mittel der Rechtfertigung:
[...] bei dem deutschen Orden damals, wie bei dem deutschen Parlament jetzt,
entschuldigte der “Drang nach dem Osten” alle Verbrechen. (Klaczko 1849: 30)
6 Vgl. u.a. Labuda (1969: 236), Lemberg (1973: 1), Zientara (1983 [1974]: 172).
26
Da diese Stelle bis heute noch als frühester Beleg für den Ausdruck Drang nach Osten
gilt, scheint es mir interessant, sie mit Rücksicht auf den Rest des Textes genauer zu
untersuchen. Erstens hat Meyer (1996) auf die Tatsache aufmerksam gemacht, dass
bereits beim ersten Gebrauch des Ausdrucks auf die historische Kontinuität in der
Aggression der Deutschen Richtung Osten hingewiesen wird. Klaczko macht keinen
Unterschied zwischen den Taten der Kreuzritter im Mittelalter – die er umstandslos als
Deutsche behandelt - und den Entscheidungen des Frankfurter Parlaments im 19.
Jahrhundert. Beide seien Exponenten des Drangs nach Osten.
Zweitens fällt auf, dass Klaczko durch die Verwendung von Anführungszeichen
die Wortgruppe als Zitat präsentiert und somit suggeriert, er habe diesen Ausdruck nicht
erfunden, sondern nur einer anderen, namentlich nicht genannten Quelle entnommen. Es
ist jedoch sonderbar, dass er im selben Text auch den Ausdruck Zug nach dem Osten
zweimal in Anführungszeichen verwendet und dabei doch seine jeweilige Quelle beim
Namen nennt: Die liberalen Politiker Gagern und Wuttke sollen diesen Ausdruck im
Frankfurter Parlament benutzt haben. Da Klaczko den Ausdruck Drang nach Osten
auch in Anführungszeichen, aber ohne Namensnennung erwähnt, könnte es also sein,
dass er den Ausdruck selbst geprägt hat und zugleich angeben möchte, dass er genauso
gut von einem Deutschen hätte stammen können. Ein weiteres Argument zugunsten
dieser Hypothese ist, dass Klaczko den mystischen, vagen und geheimnisvollen
Sprachgebrauch des Frankfurter Parlaments ironisiert, indem er Folgendes behauptet:
[…] uns [d.h. die Polen, meine Hinzufügung, SV] hat dieser “Zug nach dem
Osten”, wie Herr v. Gagern es nannte, dieser Drang nach Drängen [meine
Hervorhebung, SV], dieses allumfassende Weltgefühl immer gefehlt. (Klaczko
1849: 7)
Mit dem Ausdruck Drang nach Drängen ironisiert Klaczko die Überbenutzung des
Wortes Drang, das zu dieser Zeit in Deutschland ein sehr beliebtes Modewort war (vgl.
oben III, 2.1.1), und formuliert er den Ausdruck Zug nach dem Osten einige Seiten
später konsequenterweise als Drang nach dem Osten um.
Trotz dieser Ironisierung des mystifizierenden Sprachgebrauchs stellt man im
weiteren Verlauf des Textes fest, dass Klaczko im Grunde nicht über ein sehr ähnliches
Geschichtsbild hinauskommt und im Drang des “Germane[n] nach dem Osten”
(Klaczko 1849: 24) sogar eine historische Wahrheit sieht:
27
[…] von jenem dunkeln Dämonen getrieben, den schon Alarich in sich verspürt,
voll jenes politischen Mystizismus, der, wie sein religiöser oft, nur solchen
frivolen Egoimus barg, drang der Germane nach dem Osten und machte den
Slawen zum Sclaven. (Klaczko 1849: 24)
Klaczko schwankt also zwischen der Entlarvung des Ausdrucks Drang nach Osten als
einem “Rechtfertigungsbegriff” (Lemberg 1976: 12) der deutschen Expansion Richtung
Osten und der Annahme des Drangs nach Osten als einer realen Macht in der deutsch-
polnischen Beziehungsgeschichte. Die letztere Interpretation ist für den weiteren
Gebrauch des Ausdrucks entscheidend gewesen.
Ein letztes Element, das in Bezug auf Klaczkos Text auffällt, ist, dass sowohl bei
Zug nach dem Osten als auch bei Drang nach dem Osten, der Benennung der
Himmelsrichtung der bestimmte Artikel vorausgeht. Ten Cate et al. (2004) haben in
Bezug auf die Verwendung des Artikels bei Himmelsrichtungen in der deutschen
Gegenwartssprache Folgendes feststellen können: Wenn im Deutschen der bestimmte
Artikel vor der Bezeichnung der Himmelsrichtung verwendet wird, so ist mit der
Himmelsrichtung ein bestimmtes Gebiet gemeint, wie beispielweise im Satz „Im
Norden wird es kalt‟. Wenn der bestimmte Artikel jedoch fehlt, so wird lediglich eine
Richtung bezeichnet, wie im Satz „Das Gewitter kam von Norden‟ (vgl. Ten Cate et al.
2004: 183). Inwieweit diese sprachliche Regel schon im 19. Jahrhundert galt, muss in
sprachhistorischen Untersuchungen mithilfe von Korpusdaten noch erörtert werden.
Wenn wir im jetzigen Zusammenhang davon ausgehen, dass diese Regel auch damals
schon galt, ist in der Verwendungsgeschichte des Ausdrucks Drang nach Osten eine
Entwicklung erkennbar. Indem Klaczko, nach dem Vorbild des Frankfurter Parlaments,
konsequent den bestimmten Artikel hinzufügt, macht er m.E. klar, dass „mit dem Osten‟
an erster Stelle ein bestimmtes Gebiet, nämlich Polen, gemeint ist. Im Laufe seiner
Geschichte, wird der Ausdruck Drang nach Osten jedoch immer weniger
gebietsspezifisch verwendet, was dazu führte, dass der bestimmte Artikel
konsequenterweise wegfiel.
2.2.2 Jadwiga i Jagiełło 1374-1412
Bevor Lawaty (1986) auf das Werk Klaczkos aufmerksam machte, galt ein anderes Zitat
als früheste Belegstelle für den Ausdruck Drang nach Osten. Es handelt sich um ein
Zitat aus Jadwiga i Jagiełło 1374-1412 des polnischen Historikers K. Szajnocha. In
28
dieser Beschreibung des Jagiełłonenreiches aus dem Jahre 18617 kann man nach Labuda
(1964: 239) den Ausdruck Drang nach Osten in der polnischen Formulierung (parcie
na wschód) lesen. Szajnocha gibt dabei selber an, dass er diesen Ausdruck nicht
erfunden, sondern deutschen Quellen entnommen habe: “What the Germans of today
call in selfjustification the drive to the east” (Übersetzung n. Labuda 1964: 239f von
Szajnocha 1861: 10f). Auch Wippermann (1981: 48) hebt hervor, dass Szajnocha über
einen ungenannten deutschen Kollegen vom Drang nach Osten erfahren haben will.
Meiner meinung nach könnte er den Ausdruck aber auch von einem polnischen
Kollegen z.B. Klaczko übernommen haben.
Obwohl das Zitat seinen Wert als Erstbeleg verloren hat, scheint es mir aus
mehreren Gründen interessant und deshalb möchte ich kurz darauf eingehen. Erstens
fallen die vielen Ähnlichkeiten mit dem Zitat von Klaczko auf. In den beiden Fällen
handelt es sich um polnische Historiker, die in ihrem Umgang mit dem Ausdruck Drang
nach Osten ein Schwanken aufweisen. Zum einen entlarven sie den Ausdruck als
Rechtfertigungsideologie (vgl. “selfjustification”) und spotten über den Gebrauch des
Ausdrucks als Erklärung für das Verhalten der Deutschen. Zum anderen verknüpfen sie
aber den Drang nach Osten mit der geschichtlichen Wirklichkeit und wird er als eine
reale geschichtliche Macht erfahren, z.B. wenn Szajnocha schreibt:
Was die Deutschen [...] unter irgendeinem sozusagen vom Schicksal verhängten
Drang nach Osten verstehen, das war und ist [meine Hervorhebung, SV]
eigentlich ein Drang nach allen Seiten, wohin auch immer die Habgier
durchdringen wollte und konnte. (Übersetzung n. Lemberg 1976: 1 von
Szajnocha 1861: 10f)
In diesem Zitat wird Drang nach Osten nicht gebietsspezifisch verwendet, sondern als
“ein Drang nach allen Seiten” bezeichnet, demzufolge ist der bestimmte Artikel
unnötig.
Eine weitere Ähnlichkeit zwischen Klaczko und Szajnocha ist, dass sie angeben,
sie hätten die Idee eines Drangs nach Osten nicht selber erfunden, sondern von den
Deutschen übernommen. Es lässt sich aber vermuten, dass, obwohl der Gedanke zu
dieser Zeit in deutschen Quellen geläufig war, der exakte Ausdruck Drang nach Osten
von polnischen Historikern geschaffen wurde.
7 Piskorski (1997: 2) behauptet, dass Buch Jadwiga und Jagiełło ist im Jahre 1855/56 veröffentlicht
worden, weil er jedoch der einzige ist der diese Jahreszahle angibt, behalte ich das Jahr 1861 bei.
29
Der Beleg bei Szajnocha ist auch noch aus einem anderen Grund interessant,
denn nach Labuda (1964: 239) hat Szajnocha die Verbreitung des Ausdrucks bei den
Polen in den unterschiedlichen Teilungsgebieten bewirkt. Szajnocha sei zu dieser Zeit
ein erfolgreicher polnischer Schriftsteller gewesen, dessen Ideen gerne in die damalige
Literatur aufgenommen worden seien. Wippermann (1981: 49) seinerseits betont
jedoch, dass der Einfluss Szajnochas sich auf die Literatur beschränkt habe und dass der
Ausdruck Drang nach Osten damals noch nicht in der polnischen Historiografie
verbreitet gewesen sei.
2.3 Drang nach Osten als Indikator einer misslingenden deutsch-polnischen
Beziehungsgeschichte
Es fällt auf, dass die beiden frühesten Belege, in denen der exakte Ausdruck Drang
nach Osten verwendet wird, sich in derselben Periode und im selben deutsch-polnischen
Kontext situieren. Deswegen werde ich die politischen Entwicklungen dieser Zeit und
einige Faktoren, die die Angst der Polen vor einem erneuten Drang nach Osten erklären
könnten, untersuchen. Der historisch-politische Kontext, in dem diese beiden Belege
situiert sind, zeigt nämlich, dass der Ausdruck Drang nach Osten als Indikator der sich
verschlechternden deutsch-polnischen Beziehungen entstanden ist.
2.3.1 Gegensätzliche Wirkungen des Novemberaufstands
Als 1815 nach dem Wiener Kongress das Königreich Polen in einer Personalunion mit
Russland geschaffen wurde – als selbstständiger Staat war Polen seit der letzten Teilung
Polens (1795) von der Landkarte Europas verschwunden -, bekam Polen von Zar
Alexander I. weitgehende Eigenständigkeit und Möglichkeiten zur Entwicklung seiner
eigenen Kultur (vgl. Jaworski et al. 2000: 260ff). Diese positive Haltung Russlands
weckte bei den Polen die Hoffnung auf eine Umkehr in der russischen Außenpolitik, die
vorher die Entwicklung eines polnischen Nationalbewusstseins und einer polnischen
Kultur weitgehend verhindert hatte. Die positiven Erwartungen wurden jedoch 1825
beim Thronwechsel enttäuscht, denn der neue Zar Nikolaus I. schränkte die Rechte und
Freiheiten Polens in hohem Maße ein. Die polnisch-russischen Spannungen nahmen
infolgedessen wieder zu und erreichten 1830 ihren Höhepunkt im polnischen
Novemberaufstand. Dieser Aufstand führte zu einem polnisch-russischen Krieg und
endete mit der völligen Niederlage der polnischen Aufständischen, die sich gegen die
militärischen Kräfte nicht wehren konnten. Bemerkenswert ist, dass Preußen in diesem
30
Krieg die negative Polenpolitik der Teilungsmächte abermals unter Beweis stellte,
indem es auf der Seite Russlands stand und auf diese Weise die nationale
Wiederherstellung Polens zu verhindern half (vgl. Broszat 1978: 92ff).
Anders als in Preußen veranlasste der Novemberaufstand in Deutschland eine
Welle der Polenbegeisterung, insofern als der Kampf der Polen für nationale
Selbstständigkeit mit dem der Deutschen für eine einheitliche Nation identisch zu sein
schien. Zudem hatten beide anfänglich dieselben Feinde, nämlich Russland, Preußen
und Österreich, d.h. die drei Teilungsmächte (vgl. Lawaty 1986: 18f). Die
Polenfreundschaft, die in Deutschland ein Instrument der Opposition wurde, richtete
sich gegen den Einfluss Russlands und plädierte für eine Änderung in der preußischen
und österreichischen Politik (vgl. Müller 1984: 84). Auch von Seiten der Polen fand
eine Annäherung an die Deutschen statt, indem man das deutsche Volk von den
halbdeutschen Mächten (Preußen und Österreich) unterschied und Hoffnungen auf eine
deutsche Revolution hegte, die eine Änderung in der Mächtekonstellation veranlassen
konnte (vgl. Lawaty 1986: 22ff). Im März 1848 hat die deutsche Revolution
stattgefunden, deren erhoffte Wirkung blieb jedoch aus, weil eine Lösung der deutschen
und der polnischen Frage nur über die Teilung Preußens hätte erreicht werden können.
Solange keine Revision der Teilung Polens stattfand und die “Drei Adler” den
polnischen Staat immer noch von außen beherrschen wollten, konnten die beiden
nationalen Fragen jedoch nicht gleichberechtigt gelöst werden (vgl. Zernack 1992: 390).
Die gegenseitigen deutsch-polnischen Sympathiebekundungen werden von den
meisten Autoren, die sich mit den deutsch-polnischen Beziehungen auseinandersetzen,
jedoch als oberflächlich bezeichnet8. So hebt Müller (1979, 1981) zum Beispiel hervor,
dass die Polenbegeisterung “eine eher sozialpsychologische denn […] politisch deutbare
Erscheinung” (Müller 1979: 101) war, die sich trotz einiger materieller Hilfsleistungen
vor allem als “literarisch-publizistische Solidarisierung” (Müller 1981: 87)
manifestierte.
2.3.2 Stimmungsumschwung: Polendebatte der Paulskirche
Während vor und zu Beginn der Märzrevolution in bestimmten liberalen Kreisen
Deutschlands noch von einer Polenfreundschaft die Rede sein konnte, änderte diese
Stimmung sich völlig im Sommer 1848 während der sogenannten Polendebatte der
8 Vgl. u.a. Broszat (1978: 98), Müller (1981), Wippermann (1981: 31) und Zernack (1992: 433).
31
Nationalversammlung in der Paulskirche, in der man sich über die Grenzziehung
zwischen den Nationen im Großherzogtum Posen einigen musste (vgl. Zernack 1996:
128). Zur Entscheidung stand, gänzlich auf das Großherzogtum zu verzichten, es zu
teilen oder es als „Provinz Großherzogtum Posen‟ in das zu schaffende deutsche Reich
einzugliedern (vgl. Broszat 1978: 113). Die Befürworter der zweiten Möglichkeit
verwendeten zur Verteidigung ihrer Meinung einen neuartigen9 Sprachgebrauch, der die
Möglichkeit einer Annäherung zwischen Deutschen und Polen völlig ausschloss. Dies
zeigt sich am deutlichsten in der Rede des “demokratischen” Abgeordneten Jordan:
Wer da sagt, wir sollen diese deutschen Bewohner von Posen den Polen
hingeben und unter polnische Regierung stellen, den halte ich mindestens für
einen unbewußten Volksverräter. […] Es ist wohl Zeit für uns, endlich einmal zu
erwachen, aus jener träumerischen Selbstvergessenheit, in der wir schwärmten
für alle möglichen Nationalitäten, während wir selbst in schmachvoller
Unfreiheit darniederlagen, zu erwachen zu einem gesunden Volksegoismus.
(Jordan 24.7.184810
zit.n. Broszat 1978: 113f)
Die Paulskirche hat sich für die letzte Möglichkeit und somit für die Nicht-Lösung der
polnischen Frage entschieden. Auf diese Weise stellte sie sich auf die Seite Preußens
und wurde die negative Polenpolitik nun auch Teil der Politik der Frankfurter
Nationalversammlung. Man wollte das Bündnis der drei Teilungsmächte aufrecht
erhalten und verhinderte folglich die Errichtung eines polnischen Nationalstaates.
Müller (1981: 83), Lawaty (1986: 23) und Zernack (1992: 434) erklären die
Entscheidung der Paulskirche gleichermaßen. Sie heben hervor, dass es im deutschen
Nationalismus zwei unterschiedliche Tendenzen gab: einerseits eine emanzipatorisch
und politisch-partizipatorische, die im Zeichen des republikanischen Prinzips für
erhöhte politische Partizipation strebte, und andererseits eine integrativ-restaurative, die
aufgrund ethnisch-kultureller Gemeinsamkeiten einen Nationalstaat errichten wollte
(vgl. Müller: 1981: 73ff). Nach 1848 habe jedoch vor allem das Konzept des
integrativen Nationalismus sich durchsetzen können, während der emazipatorische
Nationalismus in den Hintergrund trat (vgl. Müller 1981: 83). Der integrative
Nationalismus, der nach dem Novemberaufstand eine Zeit lang von einer
9 Hahn (1979: 99f) hebt hervor, dass dieser Sprachgebrauch “nicht vom Himmel fiel” (Hahn 1979: 100),
sondern schon seit der Mitte der vierziger Jahre in der konservativen Presse anwesend war. Das neue war
aber, dass dieser Sprachgebrauch nach der Märzrevolution von den Liberalen übernommen wurde. 10
Die Rede von Jordan, sowie die Rede von Dmowski (vgl. unten IV. 3.1.2) werden in der Bibliografie
nicht im einzelnen nachgewiesen. Dasselbe gilt für Zitate aus Zeitschriften und Zeitungen, die ich anderer
Autoren entnommen habe.
32
“funktionalen” (Müller 1981: 88) Polenfreundschaft, mit Russland als gemeinsamen
Feind, gekennzeichnet wurde, stand seit 1848 völlig im Zeichen der Integration: Man
wollte den preußischen Staat als Ganzheit, d.h. auch mit den preußischen
Teilungsgebieten, in den neu zu schaffenden deutschen Nationalstaat aufnehmen. Der
Kampf der Polen für Unabhängigkeit sei also von den Deutschen nur noch solange
unterstützt worden, wie die Deutschen selber dadurch nicht benachteiligt wurden.
Dieser Stimmungsumschwung bei den Deutschen von der Polenfreundschaft zur
Übernahme der negativen Polenpolitik hatte selbstverständlich Folgen für die deutsch-
polnischen Beziehungen. Indem die deutschen Liberalen sich auf die Seite Preußens
stellten, wurde der preußisch-polnische Antagonismus zu einem deutsch-polnischen
erweitert (vgl. Lawaty 1986: 15). Bei den Polen im preußischen Teilungsgebiet wurde
die Entscheidung der Frankfurter Paulskirche nämlich als eine tiefe Enttäuschung
erfahren. Wenn man die emotionell aufgeladene Beschreibung Klaczkos liest, merkt
man, wie die gescheiterte Revolution und die darauffolgende Polendebatte als
Hochverrat betrachtet wurden:
Hatte das Jahr 1848 nicht eben so kolossale Aufgaben zu lösen, nicht eben so
große Hindernisse zu bekämpfen, wie das Jahr 1789. [...] Aber der Hercules traf
auf Pygmäen, statt Engelsschwingen erhielt die Freiheit Fledermaushäute, am
saufenden Webstuhl der Zeit stand der Krämer mit seiner Elle, der Eid der
Völkerverbrüderung war nur ein Fasanenschwur [...]. (Klaczko 1849: 3)
Es darf also nicht verwundern, dass der älteste bekannte Beleg des Ausdrucks Drang
nach Osten gerade aus dem Jahre 1849 stammt: Er spiegelt ganz deutlich das
Misslingen der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte am Ende der
“Völkerverbrüderung” wider. Wie im Zitat auf die mythische Vergangenheit verwiesen
wird, so wird anhand des Ausdrucks Drang nach Osten auf einen ebenso mythischen
Charakterzug der Deutschen hingewiesen. Klaczko suchte eine Erklärung für den
Umschwung in der Meinung der Deutschen und fand sie im unveränderlichen
“deutschen” Charakter. So wie die Deutschen im Mittelalter von den Polen profitiert
hätten, so würden sie dies auch in Zukunft tun. Die Entscheidung der Paulskirche ließ
sich in dieser Perspektive als Anzeichen einer neuen Phase des Drangs nach Osten
deuten.
33
3. Verbreitung des Ausdrucks Drang nach Osten
Nachdem ich im vorigen Abschnitt die Entstehung des Ausdrucks Drang nach Osten
ausführlich beschrieben habe, werde ich jetzt die zeitliche und räumliche Verbreitung
des Ausdrucks weiter verfolgen und dabei vor allem die Aufmerksamkeit auf seine
Funktion als Faktor bzw. Indikator der historischen Ereignisse richten.
Ich habe bereits angedeutet, dass der Gebrauch des Ausdrucks Drang nach
Osten sich nicht auf den deutsch-polnischen Kontext beschränkte. Nach Meyer (1996:
25) ist der Ausdruck in nicht weniger als fünf Kontexten verwendet worden: in Bezug
auf die deutsch-russischen Beziehungen in den baltischen Provinzen, in Bezug auf den
deutsch-polnischen Konflikt in Preußen, in Bezug auf die deutsch-tschechischen
Beziehungen in Böhmen, in Bezug auf die habsburgische Politik in Südosteuropa und in
Bezug auf den Expansionismus des Deutschen Reiches im Mittleren Osten. Ich werde
mich nicht mit allen Bereichen auseinandersetzen, da einige nur eine beschränkte Rolle
bei der Entwicklung des Ausdrucks gespielt haben. Überdies haben auch die anderen
Forscher sich nicht mit allen diesen Bereichen beschäftigt. In der folgenden Darstellung
werden nur die Kontexte, in denen der Drang nach Osten am meisten benutzt worden
ist und die historischen Ereignisse, die die Verwendung des Ausdrucks beeinflusst
haben, beschrieben. Der Schwerpunkt wird folglich auf den deutsch-polnischen und auf
den deutsch-russischen Beziehungen liegen.
3.1 Drang nach Osten im deutschbaltisch-russischen Kontext
Ein erster Bereich, auf den ich eingehen möchte, ist der der deutsch-russischen
Beziehungen. Nach Meyer (1957: 6) ist der Ausdruck seit der Mitte der sechziger
Jahren des 19. Jahrhunderts in der panslavistischen Presse Russlands verbreitet worden.
Chronologisch betrachtet ist der deutschbaltische Kontext also der zweite Bereich, in
dem der Ausdruck Fuß fassen konnte. Es erstaunt, dass die anderen Forscher die Rolle
des deutschbaltischen Kontexts im Hinblick auf die Entwicklung des Ausdrucks Drang
nach Osten kaum beachten, denn Meyer (1996) widmet dem deutschbaltisch-russischen
Konflikt nicht nur sehr viel Aufmerksamkeit, sondern untermauert seine Thesen auch
mit Belegstellen.
3.1.1 Entstehung nationalistischer Gefühle
Meyer (1996: 27ff) beschreibt die Entwicklung eines Antagonismus zwischen den
Deutschbalten und den Russen seit der auf den Westen gerichteten Politik Peters des
34
Großen. Anfang des 18. Jahrhunderts setzte Peter der Große verschiedene Reformen zur
“Europäisierung” der russischen Kultur durch, führte einen Kampf gegen den
Aberglauben und für die Aufklärung (vgl. Torke 1997: 120) und stattete die deutsche
Elite in den Baltischen Provinzen und in St.- Petersburg mit verschiedenen Vorrechten
aus (vgl. Meyer 1996: 27f). Als Reaktion auf diese Politik Peters des Großen
entwickelte sich eine konservative Opposition unter dem alten Adel, den Bauern und
auch in der Kirche, aus der nach Kappeler (1993) das “moderne, russische
Nationalbewusstsein” (Kappeler 1993: 199) hervorgegangen ist. Die Eigenheit der
russischen Identität und des russischen Volkes wurde aufgrund der gemeinsamen
russischen Sprache und der russischen Geschichte besonders hervorgehoben. Das
Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft wurde dagegen
problematisiert und das hat auch bei den Bevölkerungsgruppen deutscher Herkunft die
nationalistischen Gefühle gesteigert.
3.1.2 Drang nach Osten als Faktor: Rolle der Publizistik
Der deutsch-russische Antagonismus sollte sich in den kommenden Jahrzehnten vor
allem in den baltischen Provinzen verschärfen. Der Streit um das Baltikum habe sich
seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts vor allem in den unterschiedlichen
Presseorganen abgespielt, denn die großen politischen Aktoren dieser Zeit, Alexander
II. und Bismarck, interessierten sich kaum für die baltischen Provinzen, weil sie vor
allem die russisch-preußischen Beziehungen nicht stören wollten (vgl. Meyer 1996:
58f). M. Katkov, Herausgeber der Zeitung Moskovskie Vedomosti, war Befürworter
einer weitgehenden Russifizierung des Baltikums, während Zeitungen wie das Dorpater
Tageblatt oder die Rigasche Zeitung eine möglichst gründliche Germanisierung
anstrebten (vgl. Meyer 1996: 56ff).
In der Zeitung Moskovskie Vedomosti ist am 25. November 1865 ein Brief von
M.S. Semenov veröffentlicht worden. Semenov hat, obwohl er für eine schnelle
Russifizierung plädierte, die Deutschen nicht als Feinde betrachtet und hat Folgendes
geschrieben:
35
But when the Poles begin to talk about the boundaries of 1772 and these
Germans start preaching about their Drang nach Osten, we turn indignantly from
them. (Übersetzung n. Meyer 1996: 60 von der Moskovskie Vedomosti, 25.
November 186511
)
In diesem Zitat wird der bestimmte Artikel ausgelassen, weil Drang nach Osten hier
nicht als ein konkretes Ziel der deutschen Außenpolitik betrachtet wird, sondern eher als
Schwärmerei der Deutschen abgetan wird. Der Ausdruck wird jedoch abermals den
Deutschen selbst in den Mund gelegt, während er bisher in keiner deutschen
Veröffentlichung die aus dieser Zeit datiert gefunden worden ist. In welcher Sprache
Drang nach Osten hier benutzt wurde, gibt Meyer (1996) leider nicht an. Ich vermute
aber, dass Semenov ihn auf Deutsch verwendet hat, weil er so den Eindruck erwecken
konnte, dass er den Ausdruck deutschen Quellen entnommen hatte.
Als im Jahr 1865 die Presse der baltischen Provinzen einer strengeren Zensur
unterworfen wurde, die alles in Bezug auf die Germanisierung strich, hat Katkov den
Deutschbalten vorgeworfen, sie transportierten ihren Gedanken in die Zeitungen
Deutschlands (vgl. Meyer 1996: 62f). Katkov selber hat aber bewirkt, dass der
Ausdruck Drang nach Osten sich in der Moskovskie Vedomosti etablierte, indem er die
aggressive Eroberung des Baltikums durch die Kreuzritter wieder in Erinnerung rief und
diese mit der angeblichen Aufmerksamkeit der deutschen Presse für die Problematik der
baltischen Provinzen zu verknüpfen versuchte.
Meyers Meinung nach ist der Ausdruck nach dem 1866 von Bismarck geführten
Krieg Preußens gegen Österreich, der von den russischen Nationalisten als Zeichen des
deutschen Drangs nach Osten aufgefasst worden war, auch von der gemäßigteren
Zeitung Golos übernommen worden:
It is well known that annually a large number of Germans migrate to Russia in
response to their Drang nach Osten. […] [I]t appears that these Germans are
nothing but parasitic fungi living off the Great Russian tree. (zit. n. Meyer 1996:
6412
)
Es scheint, als wollten die Zeitungen den Ausdruck Drang nach Osten im Interesse
einer Steigerung des deutschbaltisch-russischen Antagonismus einsetzen. Die
Verwendung des Ausdrucks stand im Dienst der russischen nationalistischen
Propaganda und wurde somit von einem bloßen Indikator zu einem Faktor der
11
Vgl. Fußnote 10. 12
Meyer (1996) verzichtet auf weitere Auskünfte bzgl. des genauen Datums und der Ausgabe der Zeitung
Golos, aus der dieses Zitat stammt.
36
Beziehungsgeschichte. Inwieweit der Ausdruck Drang nach Osten als Faktor
tatsächlich die antagonistischen Gefühle gesteigert hat, ist jedoch schwer zu bestimmen.
3.1.3 Der Ausdruck Drang nach Osten bei den Deutschbalten
Laut Meyer (1996: 61) stammt der Gebrauch des Ausdrucks Drang nach Osten im
deutschbaltisch-russischen Kontext von den Deutschbalten selber, er liefert dafür jedoch
keine schlüssigen Beweise. Er verweist auf A. von Richter, der 1857 bei einer
Beschreibung der Eroberungen der Kreuzritter von einem “Tatendrang […] nach Osten
und Norden” (Richter 1857: ii zit.n. Meyer 1996: 61) berichtet hat. Es fällt jedoch auf,
dass man den genauen Ausdruck Drang nach Osten in der damaligen deutschbaltischen
Presse nicht finden kann, während er in der russischen Presse bereits 1865 benutzt
wurde. Die erste von Meyer erwähnte Belegstelle des Ausdrucks Drang nach Osten in
genau dieser Form in der deutschbaltischen Presse stammt aus der Baltischen
Monatsschrift. 1867 habe die Baltische Monatschrift den Russen vorgeworfen, sie
verwiesen ständig auf den sogenannten Drang nach Osten der Deutschbalten, während
es eigentlich die russischen Politiker seien, die die Deutschen nach Russland gelockt
hätten (vgl. Meyer 1996: 65). Auffallend ist, dass die Deutschbalten den Drang nach
Osten nicht als etwas betrachten, worauf sie Stolz sein dürfen, vielmehr kritisieren sie,
dass die Russen den Ausdruck benutzen.
Durch die ständige Zunahme der Russifizierungsmaßnahmen, die u.a. mit einer
strengen Zensur einhergingen, konnten die Deutschbalten ihre Gedanken kaum noch in
den baltischen Presseorganen zum Ausdruck bringen und versuchten sie, die
Reichsdeutschen auf ihre Problematik aufmerksam zu machen. Die Deutschbalten
fanden dabei aber kaum Resonanz und wenn dann doch ausnahmsweise die
Aufmerksamkeit auf ihre Problematik gerichtet wurde, geschah das auf eine Weise, die
kaum ihren Erwartungen entsprach. Dies war beispielsweise der Fall im Werk E.
Kattners Preußens Beruf im Osten (1868), in dem er die baltischen Provinzen mithilfe
eines preußisch-russischen Krieges von den Russen zu befreien vorschlug. Kattners
aggressiver Vorschlag ging den Deutschbalten jedoch zu weit und sie wollten
demzufolge nicht mit den Ideen Kattners assoziiert werden. Auch Bismarck hat nach
Meyer (1996: 71) klargemacht, dass die Ansichten Kattners deutlich von denen der
preußischen Regierung abwichen, denn diese wollte das gute preußisch-russische
37
Verhältnis nicht stören. Das strategische Zusammenarbeiten zwischen Preußen und
Russland spielte also auch in diesem Kontext eine nicht unbedeutende Rolle.
Die obige Beschreibung macht meiner Meinung nach deutlich, dass es
unwahrscheinlich ist, dass die Deutschbalten die Verbreitung des Ausdrucks Drang
nach Osten stimuliert haben. Ich leugne nicht, dass es im Folge der jeweiligen
Germanisierungs- und Russifizierungsversuchen zu einer Konfliktsituation zwischen
Deutschbalten und Russen gekommen ist; in diesem Konflikt wurde der Ausdruck
Drang nach Osten jedoch eher von den Russen als von den Deutschbalten selber
benutzt. Die einzige ungelöste Frage dabei bleibt, woher die russischen Publizisten
diesen Ausdruck – wenn nicht von den Deutschbalten - kannten.
3.1.4 Erweiterung zu einem deutsch-russischen Konflikt
Indem die Problematik der baltischen Provinzen allmählich die Aufmerksamkeit der
deutschen Publizistik erregte, wurde der Konflikt zwischen den Deutschbalten und den
Russen von einigen panslavistischen Publizisten bald zu einem deutsch-russischen
Konflikt hochstilisiert. Obwohl der panslavistische Gedanke, d.h. die Idee einer
Einigung aller slavischen Länder unter der Leitung Russlands, schon seit den vierziger
Jahren vertreten worden war, gab es nach Lemberg (1976) erst in den siebziger Jahren
eine Bewegung in Russland, die sich als solch bezeichnete.
In panslavistischen Veröffentlichungen sei nicht nur von einem deutsch-
russischen Konflikt die Rede gewesen. In “l‟évangile du mouvement panslaviste”
(Labuda 1969: 247) Russland und Europa (1867) sei N. Danilevskii noch einen Schritt
weiter gegangen. Seiner Meinung nach handelte es sich um einen Konflikt zwischen
Europa einerseits und der nicht-europäischen Welt andererseits, wobei mit Europa
eigentlich Westeuropa und mit der nicht-europäischen Welt eigentlich Russland
gemeint gewesen sei (vgl. Meyer 1996: 69f). Nicht nur in Russland, sondern auch im
Ausland gab es panslavistische Presseorgane wie z.B. die Zeitschrift Slavïanskaïa
Zarïa, die seit 1867-1868 in Wien herausgegeben wurde (vgl. Labuda 1969: 248). In
einem Artikel des Herausgebers Klimkovič konnte man Folgendes lesen:
[…] ils [die Deutschen, meine Hinzufügung, SV] répètent constamment leur
célèbre Drang nach Osten qui pour eux constitue une couverture à leur slogan
fictif de propagation de la culture. (zit. n. Labuda 1969 : 248, ohne
Quellenangabe)
38
Außer der Tatsache, dass dieses Zitat zeigt, dass der Ausdruck Drang nach Osten in
einen neuen Kontext, nämlich in eine panslavistische Zeitung in Wien, eingeführt
wurde, bringt es nichts Neues. Es wird den Deutschen nochmals vorgeworfen, dass sie
ständig den Ausdruck Drang nach Osten in den Mund nähmen.
Auch Wippermann (1981) hat sich mit dem Gebrauch des Ausdrucks Drang
nach Osten in panslavistischen Veröffentlichungen auseinander gesetzt, und ihm
zufolge wurde Drang nach Osten seit den sechziger Jahren sogar “zu einem Topos
innerhalb der panslavistischen Publizistik” (1981: 55). Er gibt dabei jedoch keine
genauen Belegstellen an.
3.2 Von der Reichsgründung bis zum Ersten Weltkrieg
In einer Anfangsphase wurde Drang nach Osten also vorwiegend in zwei Kontexten
benutzt, in einem polnisch-deutschen und in einem russisch-deutschen. In diesen
Kontexten war er vor allem als Indikator wirksam, d.h. er zeigte, wie die gegenseitigen
Beziehungen als problematisch aufgefasst wurden. Manchmal spürt man auch, dass er
wegen seines Faktor-Gehaltes benutzt wurde. In solchen Fällen wurde er zur Steigerung
der sich entwickelnden Antagonismen eingesetzt.
Eine zweite Periode, in der ich die weitere Entwicklung und Verbreitung des
Ausdrucks verfolgen werde, dauert von der Reichsgründung bis zum Ersten Weltkrieg.
Die meisten Forscher besprechen nach der Beschreibung der Kontexte, in denen der
Drang nach Osten anfangs gebraucht wurde, die Zeit um den Ersten Weltkrieg herum
als zweite Periode, die für die Entwicklung des Ausdrucks wichtig gewesen sei. Ich bin
der Meinung, dass es in der Zeit unmittelbar nach der Reichsgründung bereits einige
auffallende Entwicklungen in den zwei Kontexten, in denen Drang nach Osten bereits
benuzt wurde, gegeben hat und außerdem wurde der Ausdruck in dieser Periode in
einige neue Kontexte eingeführt.
3.2.1 Einfluss der Reichsgründung auf die deutsch-polnischen Beziehungen
Die Reichsgründung hat eine wichtige Rolle für die weitere Entwicklung des polnisch-
deutschen Verhältnisses gespielt, denn sie hat zum Beispiel die Ausweitung des
preußisch-polnischen zu einem deutsch-polnischen Antagonismus verursacht (vgl.
Lawaty 1986: 15). Lawaty (1986) betont, dass indem das preußische Territorium völlig
in das neue Reich aufgenommen wurde, man sich für die Nichtlösung der polnischen
Frage entschieden hat und die negative Polenpolitik somit zur Reichspolitik wurde.
39
Dieser integrative Nationalismus der Deutschen hatte laut Zernack (1992: 436) zur
Folge, dass der polnische Nationsgedanke weitestgehend unterdrückt werden musste.
Dazu wurden vor allem in den preußischen Provinzen Posen und Westpreußen
unterschiedliche Germanisierungsmaßnahmen durchgeführt (vgl. Wippermann 2003:
124ff). Zunächst beschränkten diese sich auf das Verbot der polnischen Sprache in
öffentlichen Bereichen, sie wurden im Verlauf der Jahre jedoch extremer, wie die
massenhaften Ausweisungen von Polen aus Preußen von 1885 bis 1887 belegen.
Insgesamt haben dabei mehr als 25.000 Polen das Land verlassen müssen. Diese
Polenausweisungen haben das polnische Bild der Deutschen selbstverständlich alles
andere als günstig beeinflusst (vgl. Broszat 1978: 147ff). Nach der Enttäuschung über
das Scheitern der Revolution in Deutschland und der darauffolgenden Polendebatte der
Paulskirche war die Reichsgründung in dieser Hinsicht ein zweiter Schlag ins Gesicht
der Polen, deren Nationalgefühl auf diese Weise gerade stimuliert statt unterdrückt
wurde.
Die Reichsgründung hat also deutlich zur Entwicklung des polnischen
Feindbildes der Deutschen beigetragen und wahrscheinlich ist der Ausdruck Drang
nach Osten zur Rechtfertigung und zur Steigerung dieser feindlichen Gefühle in
polnischen Veröffentlichungen benutzt worden. Es ist aber bemerkenswert, dass gerade
die Arbeiten, in denen sehr viele Belegstellen für den Drang nach Osten (z.B. Meyer
1996, Wippermann 1981) angeführt werden, nicht ausführlich auf die Rolle der
Reichsgründung eingehen, während andere Autoren (z.B. Zernack 1992, Lawaty 1986),
die sich allgemein mit dem deutsch-polnischen Verhältnis auseinandersetzen, das
durchaus tun.
Labuda (1964: 241f) richtet seine Aufmerksamkeit auf die gegen Ende des 19.
Jahrhunderts intensivierten anti-deutschen Gefühle der Polen, die zu einem gesteigerten
Gebrauch des Ausdrucks Drang nach Osten sogar bei professionellen Historikern
geführt haben. Er erwähnt jedoch leider keine konkreten Belege. Meyer (1996: 89) ist
der Meinung, dass der Konflikt zwischen Deutschen und Polen sich bereits in den
siebziger Jahren verschärft hat. Als Hauptursache dieses Konfliktes betrachtet er den
bismarkschen Kulturkampf gegen den Katholizismus. Ohne weitere Gründe oder
Quellen anzugeben, schließt er:
40
No doubt the expression, indeed by now a conception for the Poles, could by
then be found randomly scattered in various Polish tracts, periodicals, and papers
- materials simply not available to this distant American researcher. (Meyer
1996: 90)
Für Meyer besteht offensichtlich kein Zweifel, dass Drang nach Osten von den Polen
bereits zu dieser Zeit als Begriff aufgefasst wurde. Der einzige konkrete Beweis, den er
dazu erwähnt, ist eine polnische Enzyklopädie aus dem Jahre 1896, in der der Ausdruck
als Lemma, mit der Begriffserklärung “the drive of the Germans eastward to de-
nationalize the Polish people” (Meyer 1996: 90), aufgenommen worden sei. Diese
einzige Stelle genügt jedoch nicht als Beweis für den angeblichen Begriffswert des
Ausdrucks zu dieser Zeit.
Nach Meyer (1996: 90f) nahmen die Spannungen zwischen Deutschen und
Polen als Folge eines gesteigerten Nationalismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts und
vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer mehr zu. Deutscherseits nennt er in
diesem Zusammenhang die Entstehung der Hakatisten, die die Eroberungen der
Kreuzritter heraufbeschworen. Auf der Seite der Polen erwähnt er R. Dmowski, einen
polnischen Nationalisten, der für eine Annäherung an Russland plädierte. Meyer stellt
sich dabei nur in beschränktem Maße die Frage, wieso der Nationalismus sich gerade zu
dieser Zeit intensivierte.
Wippermann (1981: 99) geht auch kurz auf den Antagonismus zwischen
Deutschen und Polen zu dieser Zeit ein; wenn auch aus deutscher Sicht. Er nennt
beispielsweise ein Werk von A. Wäber, in dem dieser 1907 zu weiteren
Germanisierungsmaßnahmen aufrief, um die angebliche “Polenflut” (Wäber 1907: 359
zit. n. Wippermann 1981: 99) abzuwehren.
3.2.2 Betonung des spezifisch deutschen Drangs nach Osten in der russischen
Publizistik
In der Zeit nach der Reichsgründung ändert sich auch einiges im deutsch-russischen
Kontext. Wippermann (1981) weist auf die Tatsache hin, dass in der Öffentlichkeit in
Russland zu Beginn der achtziger Jahre mehr und mehr von einem spezifisch deutschen
Drang nach Osten die Rede war. Er erwähnt dabei das Beispiel des Vortrages von
General Skobelev in Paris (vgl. Wippermann 1981: 56). Anlass dieses Vortrages war
die Erneuerung des Drei-Kaiser-Abkommens von 1873 im Jahre 1881, wobei
Deutschland, Russland und Österreich einander gegenseitige Unterstützung
41
versprachen. Panslavistische Kreise waren mit dieser Erneuerung unzufrieden und
suchten deswegen Annäherung an die nationalistische Presse in Frankreich. In seinem
Vortrag im Jahre 1882 vor serbischen Studenten in Paris hat Skobelev die Deutschen als
Erfinder des Drangs nach Osten bezeichnet:
And if you wish that I reveal the name of this stranger, this intruder, this
intriguer, this enemy so dangerous for Russians and all Slavs, let me identify
him! It is the originator of the “Drang nach Osten”. You all know who he is – it
is the German! (Übersetzung n. Meyer 1996: 83 von der Veröffentlichung des
Vortrages Skobelevs in La France 18.2.188213
)
In diesem Zitat ist Drang nach Osten m.E. als Faktor eingesetzt worden, denn nach
Meyer (1996: 83) hat J. Adam, die Herausgeberin der französischen chauvinistischen
Zeitung Nouvelle Revue, Skobelev gebeten, das ganze in dieser Form, wegen seiner
gesteigerten emotionalen Wirkung, zu formulieren. Ob der Ausdruck wirklich
historische Ereignisse veranlasst hat, ist fraglich, aber Adam, die den Vortrag
vollständig in ihre Zeitung Nouvelle Revue veröffentlichte, hoffte auf jeden Fall, dass er
einen Einfluss auf das Geschichtsbewusstsein der französischen Jugend und der
französischen Armee ausüben würde (vgl. Meyer 1996: 83). Mit dem Erscheinen des
Vortrages von General Skobelev in unterschiedlichen französischen Zeitungen im Jahre
1882 wurde der Ausdruck Drang nach Osten auch in Frankreich eingeführt (vgl. Meyer
1996: 81ff).
Im Russland der Mitte der achtziger Jahre kann laut Meyer (1996) eine weitere
Verschiebung des Ausdrucks wahrgenommen werden:
[…] the term, Drang nach Osten, was generally moving out of the chauvinist
press towards conceptualization in serious professional work and official
governmental statements. (Meyer 1996: 84)
Zur Bestätigung seiner These erwähnt Meyer zwei Beispiele: eine Karte mit dem Titel
Drang nach Osten von A.R. Rittikh und ein Bericht einer kaiserlichen Kommission. In
diesem Bericht werde auf die historische Mission hingewiesen, die die deutsche Rasse
habe und die sie dazu treibe, ihren Drang nach Osten zu befolgen (vgl. Meyer 1996:
84). Neben diesen zwei Beispielen erwähnt Meyer nur noch Belegstellen aus der
nationalistischen Presse und gibt sogar an, dass der deutsch-russische Antagonismus
wegen der russischen Interessen im Fernen Osten in den Hintergrund des öffentlichen
Interesses rückte (vgl. Meyer 1996: 85). Ob in diesem Kontext also wirklich von einer
13
Vgl. Fußnote 10.
42
Begriffswerdung (“conceptualization”) in professionellen Veröffentlichungen die Rede
sein kann, ist meiner Meinung nach – genauso wie im Falle der polnischen
Veröffentlichugen (vgl. oben III, 3.2.1) - unklar. Wippermann (1981) hebt nämlich
auch ausdrücklich hervor, dass der Ausdruck vor allem in der Publizistik verwendet
wurde und dass die russische Historiografie den Ausdruck Drang nach Osten kaum
benutzte. Die These Wippermanns beruht u.a. auf dem Werk Noltes “Drang nach
Osten.” Sowjetische Geschichtsschreibung der deutschen Ostexpansion. (1976). Nolte
(1976: 59ff) weist zwar auf die Tatsache hin, dass die russische Geschichtsschreibung
vor 1917 deutlich im Dienst der panslavistischen Ziele gestanden hat, er gibt aber auch
an, dass diese Art von Historiografie in Russland selber auf Kritik stieß, z.B. von D.N.
Egorov.
3.2.3 Einführung in neue nicht-deutsche Kontexte
Meyer (1996: 109) zufolge wurde Drang nach Osten in der Vorkriegsperiode in drei
neuen Zusammenhängen verwendet, nämlich in Bezug auf slavische Minderheiten, die
von der habsburgischen und hohenzollernschen Politik unterdrückt wurden, in Bezug
auf die habsburgische Politik im Balkan und in Bezug auf die Berlin-Bagdad-
Eisenbahn. Ich werde nur die ersten zwei neuen Bereiche kurz besprechen, denn was die
Berlin-Bagdad-Eisenbahn betrifft, gibt Meyer nicht eindeutig an, welchen Einfluss diese
Pläne auf den Gebrauch des Ausdrucks Drang nach Osten hatten.
Wie oben erwähnt ist der Ausdruck Drang nach Osten in Frankreich als Folge
des Vortrages des russischen Generals Skobelev, eingeführt worden, und
unterschiedliche französische Autoren haben ihn ihrerseits in weiteren Kontexten
verbreitet. L. Leger, E. Denis, Leroy-Beaulieu und andere französische Autoren haben
den Konflikt in Böhmen beschrieben. Sie haben dabei den Ausdruck Drang nach Osten
verwendet und ihn infolgedessen in den tschechischen Kontext eingeführt (vgl. Meyer
1996: 94ff). Seit dem österreichisch-ungarischen Ausgleich im Jahre 1867 hegten vor
allem die Tschechen in Böhmen anti-österreichische Gefühle, weil sie eine ebenso
weitreichende Autonomie wie die Ungarn erhalten wollten (vgl. Meyer 1996: 66). Nach
der Reichsgründung fühlte sich auch die deutsche Bevölkerung in Böhmen, wie die
Tschechen seit 1867, ausgeschlossen. In dieser Konfliktlage hätten sich die
nationalistischen Gefühle gesteigert und sei der Ausdruck Drang nach Osten über
französische Publikationen in Böhmen eingeführt worden (vgl. Meyer 1996: 94ff).
43
Nach der Bosnienkrise im Jahre 1908-1909 sei Drang nach Osten auch in Bezug
auf die österreichisch-ungarische Politik in Südosteuropa verwendet worden und sei er
demzufolge in verschiedenen serbischen Veröffentlichungen aufgenommen worden
(vgl. Meyer 1996: 99ff). Auffallend dabei war, das man oft „Berlin‟ verantwortlich
machte für die „Wiener‟ Politik, wie beispielsweise in einem Gespräch zwischen dem
serbischen und dem britischen Botschafter:
[…] the decision for the annexation [von Bosnien und Herzegowina, meine
Hinzufügung, SV] was really not Vienna‟s, but will be found de facto leading
back to Berlin. (Übersetzung n. Meyer 1996: 107 von Boghitschewitsch 1928:
67)
Es wird also kein Unterschied mehr gemacht zwischen Österreich-Ungarn und
Deutschland; beiden wird ein Drang nach Osten unterstellt. Dabei wird dem Ausdruck
nach Meyer (1996: 107) oft das Adjektiv germanisch beigefügt.
Es sieht also aus, als ob der Ausdruck Drang nach Osten zu dieser Zeit
eingesetzt wurde, sobald man anti-deutsche Gefühle hegte oder diese verstärken wollte.
Man versuchte das gegenwärtige Unrecht mit dem Hinweis auf die deutsche
Vergangenheit zu deuten und zu erklären.
3.2.4 Verherrlichung des Drangs nach Osten in deutschen Veröffentlichungen
In der Zeit um die Reichsgründung herum ist der Ausdruck Drang nach Osten nicht nur
im Ausland weiter verbreitet worden, sondern auch in Deutschland selber hat es zu
dieser Zeit zum ersten Mal ganz deutlich Ansätze zum Gebrauch des Drangs nach
Osten gegeben. Wippermann (1981: 85ff) beschreibt die Werke unterschiedlicher
deutscher Autoren, die gegen Ende der achtziger Jahre für eine erneute Kolonisation
Ost- und Südosteuropas plädierten und dazu die mittelalterliche Ostsiedlung
verherrlichten. Während unterschiedliche Autoren, z.B. H. Simonsfeld, anhand der
mittelalterlichen “Kolonisation” die damalige Kolonisationspolitik von Bismarck zu
legitimieren versuchten, habe es andere gegeben wie z.B. P. de Lagarde, die mit
demselben Hinweis eine neue Kolonisation Richtung Osten rechtfertigen wollten (vgl.
Wippermann 1981: 88).
Solche expansionistischen Gedanken konnte man seit 1890 auch in den
Alldeutschen Blättern finden. 1894 konnte man beispielsweise folgenden Aufruf lesen:
“Der alte Drang nach dem Osten soll wieder lebendig werden” (Alldeutsche Blätter
44
189414
zit.n. Kruck 1954: 38). Obwohl Wippermann diesem Zitat keine besondere
Aufmerksamkeit widmet, ist es, soweit ich weiß, die früheste schriftliche Belegstelle
des Ausdrucks Drang nach Osten in dieser Form in einer deutschen Veröffentlichung,
in der der Drang nach Osten verherrlicht wird. Zuvor wurde er bereits im Werk
Kattners sowie in einigen deutschbaltischen Publikationen verwendet; er wurde dabei
jedoch jeweils abgelehnt. Wipperman (1981: 92ff) geht aber davon aus, dass der
Ausdruck schon früher u.a. von den Nachfolgern H. von Treitschkes benutzt worden ist.
Er verzichtet dabei jedoch auf eine genaue Quellenangabe.
Der Beleg in den Alldeutschen Blättern ist auch aus einigen anderen Gründen
interessant: Erstens ruft er die Frage hervor, wieso Drang nach Osten gerade zu dieser
Zeit in einer deutschen Veröffentlichung auftaucht. Eine mögliche Antwort auf diese
Frage könnte in der sich ändernden beziehungsgeschichtlichen Konstellation liegen.
Seit dem Teilungsbündnis war das Verhältnis der drei Adler an erster Stelle auf das
Beibehalten des Status quo des Kräfteverhältnisses gerichtet. In diese stabile
Konstellation kamen jedoch seit Mitte der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts
allmählich Risse. So wurde 1887 das Drei-Kaiser-Bündnis nicht mehr verlängert und
1890 wurde auch der als Ersatz aufgestellte Rücksicherungsvertrag zwischen
Deutschland und Russland nicht erneuert (vgl. Torke 1997: 170f). Die Verschlechterung
des deutsch-russischen Verhältnisses hatte zur Folge, dass Russland Annäherung an
Frankreich suchte und somit der “erste Schritt zur Konstellation des Ersten
Weltkrieges” (Torke 1997: 171) machte. In Deutschland bewirkte das Ende des
Bündnisses, dass die Bestrebungen zur Bildung der Nation und die Stabilisierung des
Reiches nach Innen hinter bestimmte Expansionspläne zurücktreten mussten:
Aus dem Zerbrechen der preußischen Rußlandsolidarität resultierte eine
gefährliche Dynamisierung des ostpolitischen Denkens in Deutschland, das im
Ablauf des Ersten Weltkrieges nun auch vor völlig fantastischen Visionen von
Ostraum-Hegemonie des Deutschen Reiches nicht halt machte und die
Orientierung an überkommennen Grenzverläufen verlor. (Zernack 1993: 155)
Man konnte sich mit dem Status quo nicht mehr abfinden und wollte den Nationalstaat
u.a. Richtung Osten ausbreiten. Diese historisch-politische Änderung könnte erklären
wieso der Alldeutsche Verband gerade in dieser Zeit gegründet wurde und solche
expansionistischen und imperialistischen Gedanken zum Ausdruck brachte. Der
14
Vgl. Fußnote 10.
45
Alldeutsche Verband betrachtete die Reichsgründung nicht als Endpunkt der deutschen
Geschichte, sondern laut Kruck (1954) vertrat er die Ansicht, dass “den Deutschen mit
der 1870/71 errungenen Stellung neue und große Pflichten und Aufgaben zugewachsen
seien”.
Die Belegstelle in den Alldeutschen Blättern ist auch noch aus einem zweiten –
mit dem ersten eng zusammenhängenden - Grund interessant: Hauptziel des
Alldeutschen Verbandes war es, „das Deutschtum‟ in der Welt zu bewahren und zu
verbreiten. Für die Verbreitung kamen einerseits einige Gebiete in Afrika und
andererseits die Gebiete östlich des Reiches in Betracht. Zur Propagierung des Letzteren
wurde u.a. der Ausdruck Drang nach Osten eingesetzt. Man hoffte, dass er die
Deutschen in Richtung Osten und nicht in Richtung Nordamerika, das nach Kruck
(1954) als “Grab des deutschen Volkstums” (Kruck 1954: 35) bezeichnet wurde,
bewegen konnte. Der Ausdruck Drang nach Osten hat aber offensichtlich als
Mobilisierungsbegriff versagt, denn Kruck (1954: 35) weist darauf hin, dass zu Beginn
der neunziger Jahre 97% der Auswanderer nach Nordamerika gezogen sind. Der
Alldeutsche Verband wollte Drang nach Osten also eindeutig als Faktor der historischen
Ereignisse einsetzen; der Ausdruck hat diese Funktion jedoch nicht ausüben können.
3.3 Erster Weltkrieg
Während des Ersten Weltkrieges gewann die These einer sich im Laufe der Geschichte
schrittweise ausbreitenden Expansion der Deutschen Richtung Osten immer mehr
Anhänger. Man fürchtete die Realisierung einer deutschen Mitteleuropa-Politik, die
darauf gerichtet sei, einen mitteleuropäischen Staat unter deutscher Kontrolle zu
schaffen. Auf diese Weise würde man die unterschiedlichen deutschen Minderheiten im
Osten vereinen können. Vor allem der Tscheche T. Masaryk, der in Großbritannien von
R.W. Seton-Watson gefördert wurde und zusammen mit ihm die Zeitschrift The New
Europe als Reaktion auf das Mitteleuropa-Projekt gründete, verbreitete die Angst vor
der Realisierung dieses Projektes (vgl. Meyer 1996: 114ff). Es gab in Deutschland
tatsächlich Befürworter einer solchen Mitteleuropa-Idee, z.B. F. Naumann, wobei man
den Blick nicht länger auf die Länder in Übersee richtete, was seit der Weltpolitik
Wilhelms des II. der Fall war, sondern sich auf die Länder Zentral- und Mitteleuropas
konzentrierte. Das erstrebte Ziel war dabei “eine Zone halbselbständiger Pufferstaaten
unter deutscher Hegemonie” (Broszat 1978: 185). Inwieweit solche Gedanken auch
46
Teil der offiziellen Berliner Politik gewesen sind, ist, wie so oft, unklar. Meyer (1955)
weist aber darauf hin, dass sowohl in deutschen als auch in nicht-deutschen
Veröffentlichungen mit dem Ausdruck Mitteleuropa auf recht unterschiedliche Sachen
verwiesen wurde:
In a political-geographic sense it designated anything from strengthening the
alliance between Vienna and Berlin to establishment of a coalition of states from
the North Cape to Bagdad. (Meyer 1955: 3)
Gerade weil das Mitteleuropa-Projekt nie eindeutig definiert wurde und unterschiedlich
interpretiert werden konnte, glaube ich, dass solche Gedanken eher in der Publizistik
propagiert wurden, als dass sie realpolitische Ziele zum Ausdruck brächten.
Während der Gebrauch des Ausdrucks Drang nach Osten sich in Frankreich und
in den Vereinigten Staaten - denn die Werke unterschiedlicher französischer Autoren
wurden auch in den Vereinigen Staaten oft gelesen - vor allem auf popularisierende
und polemische Publikationen beschränkt habe, etablierte sich der Drang nach Osten in
Großbritannien “as an accepted and proven historic concept” (Meyer 1996: 117) in
verschiedenen Veröffentlichungen mit wissenschaftlichem Charakter (vgl. Meyer 1996:
117ff). Das hing vor allem mit den Befürchtungen der Realisierung eines Mitteleuropa-
Projektes zusammen, das als Beweis für den angeborenen deutschen Drang nach Osten
dargestellt wurde.
Im Gegensatz zu Meyer (1996), der die damaligen Entwicklungen vor allem
anhand der Mitteleuropa-Ideologie zu erklären versucht, hebt Wippermann (1981: 90)
hervor, dass die deutschen Expansionspläne nicht nur auf den Osten fokussierten. Seiner
Meinung nach, haben die slavischen, französischen und englischen Publizisten die
Politik Deutschlands vor und während des Ersten Weltkrieges unterschätzt. Während
man in der ausländischen Publizistik vor einem erneuten Drang nach Osten gewarnt
habe, bildete dieser nur “einen Teil des fast globalen imperialistischen Programms
innerhalb der deutschen Kriegszielpropaganda” (Wippermann 1981: 90). Man wollte
das Reich nicht nur Richtung Osten ausbreiten, sondern wünschte auch die
Annektierung einiger Industriegebiete Belgiens und Frankreichs und eine Ausdehnung
des Kolonialbesitzes in Afrika und Asien (vgl. Wippermann 1981: 89). Wippermann
suggeriert somit, dass die ausländische Fixierung auf den deutschen Drang nach Osten
bewirkt haben kann, dass man die realen politischen Pläne nicht richtig eingeschätzt hat.
Wenn man die damalige Lage so interpretiert, könnte man behaupten, dass der
47
Ausdruck zu dieser Zeit als Faktor wirksam gewesen ist: Er hat zu einer bestimmten
Wahrnehmung der politischen Ereignisse geführt, die sich als Fehleinschätzung der
Wirklichkeit herausgestellt hat.
Diese Weltpolitik könnte nach Wippermann (1981: 90f) erklären, wieso in
deutschen Publikationen während dieser Zeit nur selten auf den Drang nach Osten
verwiesen wurde. Eine “globale imperialistische” (Wippermann 1981: 90) Politik hatte
man nämlich nur schwer mit dem Hinweis auf die mittelalterliche Ostsiedlung
rechtfertigen können.
Bei der Beschreibung der Entwicklung des Ausdrucks Drang nach Osten zu
dieser Zeit ist es m.E. schade, dass Wippermann (1981) und Meyer (1996) sich nur mit
einigen ideologischen Aspekten beschäftigen und somit nicht nachgehen inwieweit die
realen Kriegsereignisse den Gebrauch des Ausdrucks Drang nach Osten beeinflusst
haben.
3.4 Nachwirken des Ersten Weltkrieges in der Zwischenkriegszeit
Während des Ersten Weltkrieges hat es eigentlich nur ein auffallendes Phänomen
gegeben, nämlich den zunehmenden Gebrauch des Ausdrucks Drang nach Osten in
Großbritannien. Nach dem Ersten Weltkrieg kann man schon einige besondere
Tendenzen wahrnehmen: Zum einen wird in der deutschen Historiografie an die
Vorkriegstradition des Verherrlichens der mittelalterlichen Geschichte angeknüpft, zum
anderen verschwindet der Ausdruck in unterschiedlichen Kontexten, weil Deutschland
nicht länger als Gefahr betrachtet wurde. Zwischen diesen beiden Extremen befindet
sich der besondere Umgang mit dem Ausdruck in Polen.
3.4.1. Mythologisierung in Deutschland
Die Niederlage im Ersten Weltkrieg und die Bestimmungen des Versailler Vertrages
wurden in Deutschland als eine Demütigung erfahren. Nach Labuda (1964: 231) waren
die Bestimmungen des Versailler Vertrages für die Deutschen einfach unannehmbar,
denn aus deutscher Sicht wurde Deutschlands Osten auf einmal Polens Westen. Ein
Zitat aus dieser Zeit mag diese Empörung verdeutlichen:
Die gegenwärtigen Grenzen sind für das Deutschtum schlechthin unmöglich.
Das neue Polen ist weit über seine nationalen Rechte hinausgedehnt worden.
Abgehackte Glieder des Deutschtums strarren uns überall blutig entgegen.
(Marcks 1920: 57 zit.n. Labuda, 1964: 231)
48
Infolgedessen haben Historiker wie z.B. D. Schäfer, K. Hampe und H. Aubin die
mittelalterliche Ostsiedlung verherrlicht, weil diese ihrer Meinung nach den sich
anbahnenden Weg einer erneuten deutschen Expansion vorzeichnete (vgl. Labuda 1964:
231f). Der Höhepunkt der Beschäftigung mit der Geschichte der deutschen Ostexpanion
sei während der dreißiger Jahre erreicht worden, als “the mythology of the German
east” (Labuda 1964: 232) in die imperialistische Ideologie aufgenommen worden sei.
Wippermann (1981: 104ff) schließt sich in großen Zügen diesen Ansichten an
und schreibt in Bezug auf obengenanntes Zitat von Marcks sogar Folgendes:
Es ist nicht übertrieben, wenn man behauptet, daß fast alle deutschen Historiker
in der Zeit der Weimarer Republik der Bemerkung von Erich Marcks
zustimmten, wonach die neue Ostgrenze des Deutschen Reiches “schlechthin
unmöglich” sei. (Wippermann 1981: 105)
Wippermann (1981: 104ff) betont außerdem, dass der Erste Weltkrieg keinen Bruch in
der deutschen Geschichtsschreibung veranlasst habe, sondern dass man im Wesen nur
die Thesen weitergeführt habe, die seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts
formuliert wurden (vgl.oben III 3.2.4). Bei den von Wippermann erwähnten Beispielen
fällt jedoch erneut auf, dass der Ausdruck Drang nach Osten kaum wortwörtlich
verwendet wurde. In Deutschland schien man Zug nach dem Osten zu bevorzugen, weil
der Ausdruck Drang nach Osten bereits von den „Gegnern‟ eingenommen war.
Wippermann (1981: 104f) erwähnt u.a. das Werk Hampes Der Zug nach dem Osten.
Die kolonisatorische Großtat des deutschen Volkes im Mittelalter, in dem von einem
“Zug nach dem Osten, der bald stärker, bald schwächer durch die ganze deutsche
Geschichte hindurchgeht” (Hampe 1921: 10 zit. n. Wippermann 1981: 105) die Rede
ist.
3.4.2 Objektivierungs- und Mystifizierungstendenzen in Polen
Im Gegensatz zur Mythologisierung und Ideologisierung der eigenen Geschichte in
Deutschland wurde der Drang nach Osten nach Labuda (1964) im Polen der
Zwischenkriegszeit gerade de-ideologisiert, d.h. Historiker wie K. Tymieniecki haben
versucht, den ideologischen und historiosophischen Ballast des Ausdrucks abzuwerfen
und Drang nach Osten in dem größeren sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen
Zusammenhang zu sehen (vgl. Labuda 1964: 243f). Labuda (1964: 244ff) stellt weiter
fest, dass der Drang nach Osten nicht nur ein Forschungsobjekt der Historiografie
49
geblieben ist, sondern dass auch andere Disziplinen wie die Soziologie sich mit
unterschiedlichen Aspekten des Ausdrucks auseinandergesetzt haben.
Wippermann (1981: 70f) seinerseits betont, es habe zwar Historiker wie
Tymieniecki gegeben, die den Drang nach Osten von einigen mythischen Aspekten
befreien wollten, an der “realhistorischen Existenz dieses Phänomens” (Wippermann
1981: 73) sei jedoch nicht gezweifelt worden. Die Tatsache, dass die unterschiedlichen
Regierungen der Weimarer Republik die neue Westgrenze nicht anerkennen wollten,
habe die wiedererstandene Republik Polen dazu veranlasst, sich an erster Stelle vor dem
deutschen Drang nach Osten zu schützen und zweitens diesem einen “polnischen Drang
nach Westen” (Wippermann 1981: 71) entgegenzusetzen. Solche Ansprüche seien vor
allem in Zeitungen und Manifesten geäußert worden. Ein auffallendes Phänomen, das
damit einhergegangen sei, sei die Gründung unterschiedlicher nationalistischer und
imperialistischer Organisationen nach deutschem Vorbild gewesen. So habe man zum
Beispiel einen polnischen „Westmarkenverein‟ parallel zum deutschen
„Ostmarkenverein‟ errichtet. Zudem hat es nach Wippermann (1981: 70ff) auch
professionelle Historiker gegeben, die anhand eines ideologisierten Bildes der
Vergangenheit eine historische Grundlage für die gegenwärtigen politischen
Zielsetzungen liefern wollten, wobei die Wiederherstellung Polens als eine
Wiedergutmachung interpretiert wurde. Dabei wurden nach Piskorski (1996²: 382) oft
Ausdrücke wie z.B. Wiedergewinnung eingesetzt, deren Verwendung man aber bei den
Deutschen kritisierte. Dieses „Spiegelbild-Verhalten‟ hat sich bis in die Zeit nach dem
Zweiten Weltkrieg durchgesetzt. Piskorski (1996²) bezeichnet die polnische Forschung,
die sich mit dem Thema polnischer Westen beschäftigte, als “polnische Westforschung”
parallel zur “deutschen Ostforschung” (Piskorski 1996²), eben weil die beiden anhand
ähnlicher „historischer‟ Argumente Anspruch auf den polnischen Westen bzw. den
deutschen Osten erhoben.
In Bezug auf die deutsche und polnische Historiografie in der
Zwischenkriegszeit kommt Piskorski (1997) zu folgendem Schluss:
Die Art, die mittelalterliche Kolonisation vom jeweils aktuellen Standpunkt aus
zu beurteilen, setzte sich in der Zwischenkriegszeit durch, als die deutsche und
die polnische Historiographie zu Verteidigern der politischen Interessen der
eigenen Völker und Staaten wurden. (Piskorski 1997: 3)
50
Der zunehmende Gebrauch des Ausdrucks Drang nach Osten in Deutschland und Polen
in der Zwischenkriegszeit war eindeutig ein Indikator des deutsch-polnischen
Grenzkampfes, bei dem die negativen Gefühle sich gegenseitig verstärkten. Dabei
wurden anhand entgegengesetzter Interpretationen identische Ideologeme - wie Drang
nach Osten - zur Unterstützung der Außenpolitik eingesetzt. Obwohl es immer schwer
einzuschätzen ist, glaube ich, dass Drang nach Osten zu dieser Zeit auch als Faktor
gewirkt hat. Dies zeigt sich meiner Ansicht nach am deutlichsten in der polnischen
Aufforderung, dem deutschen Drang nach Osten einen polnischen Drang nach Westen
entgegenzusetzen. Man glaubte an die realhistorische Existenz dieses Phänomens und
war der Meinung, dass man dieses mit einem “realen” Drang nach Westen aufhalten
müsse.
3.4.3 Verschwinden des Ausdrucks Drang nach Osten in einigen Bereichen
Das Thema „deutsche Ostsiedlung‟, dass auch in der Vorkriegszeit kaum in der
russischen Geschichtsschreibung aufgenommen wurde, wurde laut Meyer (1996: 121)
in der sowjetischen Historiografie der Zwischenkriegszeit völlig fallengelassen. Die
wichtigsten Gründe dafür seien, dass eine solche These nicht in den Rahmen des
Marxismus passte und dass die Weimarer Republik von der Sowjetunion nicht als
Bedrohung erfahren wurde.
Auch in Frankreich und Großbritannien sei der Drang nach Osten nur noch in
Einzelfällen benutzt worden. Meyer schließt daraus:
The war was over, the German threat had been defeated, and historical analysts
apparently no longer found the Drang nach Osten to be significantly pertinent.
(Meyer 1996: 123)
Drang nach Osten konnte in diesen Ländern nicht mehr mit der damaligen Aktualität
verknüpft werden und wurde somit kaum noch verwendet. Die Abwesenheit des
Ausdrucks scheint hier eine Verbesserung der Beziehungen zu Deutschland zu
indizieren.
Meyer (1996) weist dennoch auf einen besonderen Fall hin, in dem der Drang
nach Osten in den Vereinigten Staaten weiterlebte, nämlich in unterschiedlichen
Lehrbüchern, die unter anderem an den Universitäten benutzt wurden. Diese enthielten
allerhand einprägsame Sätze und Ausdrücke, die das Erlernen der historischen Fakten
erleichtern sollten. Obwohl es sich nur um einen einzelnen Bereich handelt, darf der
51
Einfluss dieses Bereiches nicht unterschätzt werden, denn die Tatsache, dass der
Ausdruck gerade im Unterricht weiterlebte, bewirkte, dass eine ganze Generation junger
Leute mit diesem Ausdruck und dem darin „indizierten‟ Geschichtsbild bekannt wurde.
3.5 Zweiter Weltkrieg
3.5.1 Deutschland im Bann des Nationalsozialismus
Im Laufe der dreißiger Jahre wurden in Deutschland die Stimmen, die für eine Revision
der Ostgrenze plädierten, immer lauter. Dieses Thema wurde in das
nationalsozialistische politische Programm aufgenommen und hat sicherlich zur
Popularität der NSDAP beigetragen. Hierzu muss jedoch bemerkt werden, dass die
NSDAP sich kaum für Polen interessierte, denn Hitler richtete den Blick nicht auf die
kleineren Grenzprobleme, sondern auf den gesamten Osten (vgl. Broszat 1978: 234f).
Gegen Ende der dreißiger Jahre erschienen unterschiedliche Werke, in denen der
Drang nach Osten15
als eine ostwärtsgerichtete Urbewegung der deutschen und sogar
der europäischen Geschichte dargestellt wurde, dessen treibende Kraft das Volk sei
(vgl. Wippermann 1981: 108ff). Wippermann (1981: 109f) führt Werke von H. Aubin
und M.H. Boehm als Beispiel an. Boehm habe dabei zu einem neuen Drang nach dem
Osten aufgefordert. Dieser sollte sich nicht gegen Polen richten, sondern im Gegenteil:
Dank der Mitarbeit der Polen werde man im Stande sein, umso größere Gebiete im
Osten zu erobern. Wenn man weiß, dass das Werk von Boehm 1936 veröffentlicht
wurde, kann man darin ganz deutlich die damaligen Pläne der Nazi-Führung
wiedererkennen. Hitler hatte nämlich Annäherung an Polen gesucht, um Deutschland
aus seiner isolierten Stellung in Europa zu befreien. Dies kam 1934 im
Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und Polen zum Ausdruck (vgl. Broszat 1978:
240ff). Dieser Pakt hielt aber nicht lange stand, denn als Polen nicht länger nützlich
war, suchte Hitler erneut Annäherung an Russland. Die beiden einigten sich im August
1939 über eine erneute Teilung Polens, die September 1939 durchgeführt wurde (vgl.
Jaworski 2000: 320).
Obwohl Labuda (1964: 232) behauptet, während der gesamten Periode der
Herrschaft der NSDAP habe es in Deutschland “an abundance of literature on the
15
Wippermann hat dabei kein Auge für den subtilen Unterschied zwischen Drang nach Osten und Drang
nach dem Osten, denn er verwendet immer Drang nach Osten, während in den von ihm zitierten Werken
immer Drang nach dem Osten steht und das, obwohl damit nun kein bestimmtes Gebiet mehr gemeint
war.
52
subject” (Labuda 1964: 232) gegeben, ist Wippermann (1981) der Meinung, dass man
erst nach 1939 “ohne Umschweife” (Wippermann 1981: 111) zum Ausdruck gebracht
habe, was man schon Jahre zuvor dachte. Ich neige dazu, mich Wippermann
anzuschließen, weil es meiner Meinung nach einen deutlichen Unterschied im Ton der
Arbeiten gibt. Vor 1939 verwies man auf mystifizierende und geheimnisvolle Weise auf
die mittelalterliche Vergangenheit:
Mit der wachsenden Erkenntnis, dass im deutschen Osten [meine Hervorhebung,
SV] ein Schauplatz von geschichtlicher Grösse liegt, wendet sich das Trachten
unseres Volkes wieder den Überlieferungen des Mittelalters zu, spannt sich in
der Vorstellungswelt unserer Jugend eine Brücke von jener Zeit in die
Gegenwart über die Jahrhunderte deutscher Irrung hinweg. (Hillen-Ziegfeld
1936: 602 zit.n. Labuda 1964: 233)
Bemerkenswert ist, dass A. Hillen-Ziegfeld immer wieder die Umschreibung “deutscher
Osten” benutzt. Jeder weiß offensichtlich, welche Gebiete damit gemeint sind und
deswegen braucht er die Einzelheiten nicht darzulegen. Bei diesen Verweisen auf das
Mittelalter kann ich mir leicht vorstellen, dass auch der Ausdruck Drang nach Osten
manchmal benutzt worden ist. Wenn man dieses Zitat mit einem aus der Zeit nach der
Zerschlagung Polens vergleicht, merkt man, dass der Ton sich geändert hat:
Der Sieg über die Bolschewiken aber ist zugleich ein Sieg über die Polen. Dies
zu begründen ist nicht nötig; wer den Osten kennt, weiß das es so ist. Er weiß
auch, daß die Lösung der Judenfrage notwendig ist, in Europa und ganz
besonders in Osteuropa. Alle diese Dinge stehen in einem inneren
Zusammenhang. (Lüdtke 1941: 8 zit. n. Wippermann 1981: 112)
Gestärkt durch die Kriegserfolge scheint F. Lüdtke äußerst selbstsicher und demzufolge
richtet er den Blick nicht mehr auf die Vergangenheit, sondern auf die Zukunft. Dabei
denkt er weit über den Drang nach Osten hinaus und richtet die Aufmerksamkeit eher
auf rassische als auf nationalistische Aspekte.
Im Allgemeinen kann man feststellen, dass die “deutsche Ostforschung, wie sie
sich selbst nannte” (Wippermann 1981: 112) einerseits die Lebensraumpolitik Hitlers
legitimierte, insofern sie diese als eine Fortsetzung des deutschen Drangs nach Osten
darstellte. Andererseits bemerkt man, dass einige politische Ideen gar nicht mithilfe des
Drangs nach Osten rechtfertigt werden konnten. Dies gilt insbesondere für alle
Gedanken und Pläne, die mit der Vernichtung der Rassen und die Schaffung einer
einzigen reinen arischen Rasse zusammenhingen (vgl. Wippermann 1981: 112f). Dazu
verwendete man, nach Wippermann (1981: 113) eher eine biologisch-rassische als eine
53
nationalistisch-völkische Erklärung. Auch in diesem Fall ist die Abwesenheit des
Ausdrucks Drang nach Osten „indikativ‟, d.h. das Verschwinden des Ausdrucks deutet
darauf hin, dass Drang nach Osten nicht mit der damaligen politischen Aktualität
verknüpft werden konnte.
3.5.2 Wirkung des Nationalsozialismus in den anderen Ländern.
Der Zweite Weltkrieg hatte zur Folge, dass Drang nach Osten in Polen und in der
Tschechoslowakei16
ein vielverwendeter Ausdruck wurde, dass in Russland, West-
Europa und Amerika Drang nach Osten wiederbelebt wurde und dass er in Bulgarien,
Rumänien und Jugoslawien erstmals eingeführt wurde (vgl. Meyer 1996: 125ff). Diese
Tendenzen zeigen, dass Drang nach Osten zu dieser Zeit ein unlösbarer Teil des
Feindbildes der Deutschen geworden war. Eine Verschlechterung der Beziehungen zu
Deutschland brachte fast automatisch den Ausdruck Drang nach Osten mit sich.
Die verschiedenen Autoren gehen nicht weiter auf die Entwicklung und
Ausbreitung des Ausdrucks zu dieser Zeit ein. Russland stellt in diesem Zusammenhang
insofern eine Ausnahme dar, als Nolte (1976) ausführlich darauf eingeht. Einige seiner
Thesen sind sowohl von Wippermann (1981) als auch von Meyer (1996) übernommen
worden. Die Art und Weise, wie der Drang nach Osten in Russland in unterschiedlichen
Perioden entweder bewusst eingesetzt oder bewusst vermieden wurde, zeigt ganz
deutlich, dass er auch in Russland der Legitimierung der eigenen Politik diente. 1937
habe eine Regierungskommission einen Wettbewerb um das beste Lehrbuch für die
Geschichte der Sowjetunion ausgeschrieben. Der erste Preis sei jedoch nicht verliehen
worden, da kein einziger Autor die Schlacht auf dem Peipussee (1242) als Erfolg der
Russen darstellte, obwohl dadurch der deutsche Drang nach Osten zum Stillstand
gebracht worden sei (vgl. Nolte 1976: 200). Solche offiziellen Forderungen ließen in
der Zeit des Hitler-Stalin-Paktes selbstverständlich nach. Nach dem deutschen Überfall
auf die Sowjetunion sei das Thema des russischen Sieges bei der Schlacht auf dem
Peipussee alsbald in der Kriegspropaganda eingesetzt worden (Nolte 1976: 119) und sei
die Vorstellung des deutschen Drangs nach Osten als Teil des deutschen Feindbildes in
den historischen Kanon aufgenommen worden (Nolte 1976: 155). Nolte zieht über den
16
Der Ausdruck Drang nach Osten gelangte sogar in einen tschechoslowakisch-sowjetischen
Beistandspakt (vgl. Lemberg 1976: 2).
54
Einfluss des Zweiten Weltkrieges auf den Umgang mit dem Ausdruck Drang nach
Osten in der Sowjetunion diese Schlussfolgerung:
Der 2. Weltkrieg ist die tiefste Zäsur […], da das Feindbild Deutschland in
seinem Verlauf (z.T. Vorgeschichte) gebildet und da es mit dem Abschluß des
Krieges zu einem großen Teil “festgefroren” und in den Kanon festen
Lernwissens für die sowjetische Gesellschaft aufgenommen wurde. (Nolte 1976:
158)
Der Umgang mit Drang nach Osten in russischen Veröffentlichungen stellt abermals
das von Anfang an herrschende Pingpong-Spiel zwischen Ablehnung und Beibehalten
des Ausdrucks unter Beweis. In der deutsch-russischen Beziehungsgeschichte hat der
Ausdruck Drang nach Osten eine klare Indikatorenfunktion. Sobald das gegenseitige
Verhältnis sich verschlechterte, tauchte der Ausdruck Drang nach Osten in
unterschiedlichen Veröffentlichungen auf. Eine Verbesserung der Beziehungen hatte
dagegen immer das Verschwinden des Ausdrucks zur Folge.
3.6 Nachkriegszeit
3.6.1 Weiterführen der ideologischen Analyse des Drangs nach Osten in Polen,
in der Sowjetunion und in der DDR
3.6.1.1 Schwanken in Polen
Die nationalsozialistische Politik stellte für die Anhänger des Kontinuitätsgedankens
den Höhepunkt der jahrhundertelangen Aggression und Expansion der Deutschen
Richtung Osten dar. Sie waren der Meinung, dass sich an dieser Aggression auch in den
kommenden Jahren nichts ändern würde. Solche pessimistischen und fatalistischen
Gedanken herrschten vor allem in Polen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg vor.
Es gab unterschiedliche Arbeiten, die die Ursache für den Krieg in der deutschen
Geschichte suchten und dabei feststellten, dass diese Aggression schon seit
Jahrhunderten teil des deutschen Charakters sei (vgl. Labuda 1964: 248ff). Labuda
(1964) und Wippermann (1981) weisen in diesem Zusammenhang beide auf das Werk
von J. Feldman hin. Wippermann fasst die Gedanken Feldmans folgendermaßen
zusammen:
Hitler habe mit seinem nationalistischen und rassistischen Programm bei den
Deutschen deshalb so große Erfolge gehabt, weil diese Elemente sich seit
Jahrhunderten im Kampf gegen Polen entwickelt hätten und zu bestimmenden
Faktoren des deutschen Charakters geworden seien. (Wippermann 1981: 75)
55
Hoffnung auf eine Änderung in der Mentalität der Deutschen habe man nach dem
Zweiten Weltkrieg kaum gehegt. Nur geeignete politische Aktion hätte laut Feldman
eine solche Änderung veranlassen können (vgl. Labuda 1964: 252).
Im Gegensatz zu dieser pessimistischen Tendenz wurde in Polen aber auch an
die Ansätze zur De-Ideologisierung, die es in der Zwischenkriegszeit gegeben hat,
angeknüpft. Bereits 1950 gab es Historiker, die das stereotype Denken hinter sich
ließen. Die erste Historikerin, die die Aufgabe der polnischen Historiografie in diesem
Sinne neu formuliert habe, war E. Maleczyńska:
One of the most urgent tasks of Polish historiography as regards Polish-German
relations is to explain the genesis of the Polish-German conflict as a
phenomenon that came into being in the concrete historic conditions of the past
epoch and is disappearing in changed historical conditions; […]. (Übersetzung n.
Labuda 1964: 253 von Maleczyńska 1950: 22f)
Die Folge war eine Änderung der Sicht der deutschen Ostexpansion, die bei A.
Gołubiew deutlich zum Ausdruck kam: Für ihn sei Drang nach Osten ein ideologischer
Begriff, der keiner historischen Realität entsprach. Man kam in Polen also zur Einsicht,
dass Drang nach Osten ein Kind der im Dienst der Politik stehenden
Geschichtsschreibung gewesen war und dass ein solcher Ausdruck nicht in eine
objektive Beschreibung der Geschichte gehörte. Für Labuda (1964) gingen die
Ansichten Gołubiews jedoch einen Schritt zu weit, denn nach Labuda (1964: 254) stellt
der Drang nach Osten sehr wohl eine historische Realität dar. Diese Realität müsse aber
deutlich von der ideologischen Komponente, die erst im 19. Jahrhundert
hinzugekommen sei, unterschieden werden (vgl. oben II, 3.2)
Wippermann (1981: 76ff) zufolge konnten sich die Ansichten Maleczyńskas und
Gołubiews in Polen jedoch nicht unmittelbar durchsetzen, weil das “sowjetpatriotische
Bild der deutsch-slavischen Beziehungen” (Wippermann 1981: 76) auch in Polen zu
stark verbreitet war. Überdies habe die Verbreitung der Kontinuitätsthese eine klare
politische und sozialintegrative Funktion gehabt: Sie habe nämlich die Vertreibung der
Deutschen aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße-Grenze legitimieren sollen. So
wurde “ein selektives Geschichtsbild” (Bachmann 1996: 53) propagiert, das auf einer
Kette deutscher Verbrechen aufgebaut war und bis zum Deutschen Orden zurückführte.
Diese Kette diente zur Legitimierung der “Umkehrung des Verlaufs der Geschichte”
56
(Zernack 1995: 6), wobei die deutsche Bevölkerung aus den ehemaligen preußischen
Ostprovinzen vertrieben wurde.
3.6.1.2 Sowjetunion
In der sowjetischen Historiografie ändert sich in der Darstellung des deutschen Drangs
nach Osten nach dem Zweiten Weltkrieg kaum etwas. Die These einer
epochenübergreifenden Expansion der Deutschen Richtung Osten wurde weiter
vertreten, ohne dass dabei, im Gegensatz zur Historiografie in Polen, kritische
Bemerkungen und Einschränkungen zum Ausdruck gebracht wurden. Nach
Wippermann (1981: 69f) war das Beibehalten des Ausdrucks Drang nach Osten ähnlich
wie in Polen in einem Bedürfnis nach Rechtfertigung und Integration begründet.
3.6.1.3 DDR
Der Einfluss der Sowjetunion war auch in der Geschichtsschreibung der DDR spürbar.
Unter anderem die Politiker W. Ulbricht und A. Abusch verurteilten in ihren
Veröffentlichungen den deutschen Drang nach Osten und riefen zu einer Besinnung auf
die Voraussetzungen auf, die diesen Drang ermöglicht haben. Darüberhinaus würden in
der DDR die polnischen und sowjetischen Thesen weitgehend übernommen. Die DDR-
Historiker versuchten zum Beispiel die Oder-Neiße-Grenze als eine Wiedergutmachung
für die deutschen Verbrechen zu rechtfertigen und zweifelten nicht an der
realgeschichtlichen Existenz der Erscheinung Drang nach Osten. Sie warnten sogar vor
einem erneuten Drang der Westdeutschen, der darauf gerichtet sei, zunächst ganz
Deutschland und danach den Rest des ehemals deutschen Ostens wieder zu erobern
(vgl. Wippermann 1981: 116ff).
3.6.2 Kontinuität(sbruch?) in Westdeutschland und Verschwinden in den
anderen westlichen Ländern
Labuda (1964) und Wippermann (1981) drücken sich beide vorsichtig aus, wenn sie das
Weiterleben des Audrucks Drang nach Osten und die damit zusammenhängenden
ideologischen Komponenten in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945
beschreiben. Ihrer Ansicht nach, gab es sowohl Werke, in denen eher kritische
Gedanken zum Ausdruck gebracht wurden, als auch Werke, in denen die
nationalistisch-völkischen Thesen nach wie vor vertreten wurden. In der ersten Gruppe
weist Wippermann (1981: 124f) auf das Werk G. Ritters hin, in welchem Ritter
behauptet, dass die Deutschen keinen angeboren Drang nach Osten hätten und, dass es
57
in der deutschen Politik keine Kontinuität vom Mittelalter bis zum Zweiten Weltkrieg
gegeben habe. Labuda (1964: 237f) verweist unter anderem auf die Historiker R.
Riemeck, I. Geiss, M. Broszat und G. Bluhm, die die Beschreibung der deutschen
Vergangenheit zu objektivieren versucht haben. Auf der anderen Seite erwähnen beide
die Arbeit P.E. Schramms, der 1958 die Geschichte immer noch anhand der Flut-und-
Wellenmetaphorik analysiert habe (vgl. Labuda 1964: 235f, Wippermann 1981: 127ff).
Ein anderes frappierendes Beispiel für unkritischen Umgang mit der Geschichte ist,
dass der damalige Bundeskanzler K. Adenauer sich im selben Jahr (1958) in den
Ritterorden, der für viele das Symbol des deutschen Drangs nach Osten war,
aufnehmen ließ (vgl. Escher und Vietig 2002: 187).
Diese Zweiteilung und das Schwanken zwischen Kontinuität oder
Kontinuitätsbruch hat man laut Wippermann (1981: 129ff) auch in ein und demselben
Werk finden können. In Die geschichtliche Stellung der mittelalterlichen deutschen
Ostbewegung (1957) von W. Schlesinger werde einerseits Kritik an der Darstellung der
Vergangenheit mit Wörtern wie drängen oder strömen geübt aber andererseits werde
behauptet, dass dem deutschen Drang nach Osten ein slavischer Drang nach Westen
entsprach (vgl. Wippermann 1981: 129ff)17
.
Meyer (1996: 129ff) weicht abermals von den Ansichten Labudas (1964) und
Wippermanns (1981) ab, indem er behauptet, dass man sich in West-Deutschland nach
1945 kaum mit dem Begriff Drang nach Osten auseinandergesetzt hat. Er fügt hinzu,
dass der Drang nach Osten auch in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten,
abgesehen von einigen Ausnahmen, nicht weiter verwendet worden sei.
4. Fazit
Am Ende dieser Übersicht über die Entwicklung und die Verbreitung des Ausdrucks
Drang nach Osten möchte ich kurz die wichtigsten und auffallendsten Ergebnisse
zusammenfassen. In den verschiedenen Kontexten gibt es einen deutlichen
Zusammenhang zwischen der historischen Realität und einem zu- oder abnehmenden
Gebrauch des Drangs nach Osten. Außerdem wurde der Ausdruck meistens zur
Rechtfertigung der jeweiligen politischen Ziele eingesetzt. Nach seiner Herausbildung
im polnischen Kontext, bei der er als Indikator der misslingenden deutsch-polnischen
17
Wippermann (1981: 131) gibt jedoch an, dass Schlesinger diesen Standpunkt später revidiert hat.
58
Beziehungen fungierte, hat der Ausdruck sich in verschiedenen anderen Kontexten
verbreitet. In Polen selber ist er seit seiner Einführung nicht mehr aus der Öffentlichkeit
verschwunden. Erst seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde er immer weniger
benutzt und heutzutage kommt er m.E. nur noch selten vor. In den anderen Ländern,
u.a. in Frankreich, in Großbritannien, in Russland usw., in denen Drang nach Osten
benutzt worden ist, hat es eine solche Kontinuität nicht gegeben. Abhängig von den
jeweiligen politisch-historischen Ereignissen wurde der Ausdruck entweder bewusst
eingesetzt oder vermieden, d.h. er hatte eine deutliche Indikatorenfunktion. Was die
Lage in Deutschland betrifft, ist festgestellt worden, dass alternative Ausdrucksweisen
(u.a. Zug nach dem Osten) gegenüber Drang nach Osten bevorzugt wurden. Obwohl
diese noch nicht ausführlich untersucht worden sind, glaube ich, dass sie seit dem Ende
des 19. Jahrhunderts regelmäßig in deutschen Publikationen zu finden sind. Auch im
deutschen Kontext hat Drang nach Osten eine Indikatorenfunktion ausgeübt, denn die
Texte, in denen die inhaltlichen Komponenten des Ausdrucks anwesend sind, bringen
meistens expansionistische Gedanken zum Ausdruck.
Diese Übersicht hat meiner Meinung nach somit klargemacht, dass es eine
“ideologiegeschichtliche Kontinuität” (Wippermann 1981: 84) in der Verwendung des
Ausdrucks Drang nach Osten gibt, wobei Drang nach Osten als Indikator der
verschlechternden ausländischen Beziehungen Deutschlands fungierte.
Obwohl Wippermann (1981: 81) davon ausgeht, dass Drang nach Osten zwar
keiner Wirklichkeit entspricht, als Ideologie jedoch die Realität beeinflusst habe, bleibt
es m.E. schwierig einzuschätzen, inwieweit der Ausdruck als Faktor wirksam gewesen
ist. Das hat vor allem damit zu tun, dass man dazu zahlreiche Quellen in Betracht ziehen
muss. Bisher sind vor allem die Geschichtsschreibung und die Publizistik untersucht
worden, es bleibt aber die Frage offen, wie viele Menschen von diesen Bereichen
erreicht und beeinflusst worden sind. Auch die Literatur, der Unterricht, Manifeste,
Pamphlete, politische Debatten und allerhand mündliche Quellen sollten näher
betrachtet werden. Nur so wird man wirklich herausfinden können, ob der Ausdruck die
Wahrnehmung historischer Ereignisse beeinflusst hat und demzufolge vielleicht auch
andere Ereignisse mitveranlasst hat. Die Daten, die bisher erforscht worden sind, lassen
jedoch vermuten, dass Drang nach Osten vor allem eine Änderung in der
Wahrnehmung der Realität bewirkt hat. Mithilfe des Ausdrucks hat man in den
59
allermeisten Fällen auf die Kontinuität in der Aggression der Deutschen Richtung Osten
hingewiesen, wodurch aktuelle Vorgänge in eine historische Kette eingereiht und nicht
mehr als einzelne, unabhängige Phänomene wahrgenommen wurden. Ich bin der
Meinung, dass es beim Ausdruck Drang nach Osten eine Diskrepanz gibt zwischen den
historischen Ereignissen, auf denen mit diesem Ausdruck verwiesen wurde, und der
Perzeption dieser Ereignisse, wenn sie anhand dieses Ausdrucks beschrieben wurden.
So veranlasste die Bezeichnung eines Ereignisses als “eine neue Phase des deutschen
Drangs nach Osten ” eine ganze Reihe Assoziationen, die an und für sich nur wenig mit
der Realität übereinstimmten. Ich glaube, dass man hieraus schließen kann, dass der
Ausdruck Drang nach Osten vor allem in nicht-deutschen Kontexten die Funktion eines
Faktors ausgeübt hat oder wenigstens, dass diejenigen, die ihn benutzten, sicherlich eine
solche Wirkung von ihm erwarteten. Im deutschen Kontext dagegen hat es ein
deutliches Zeichen dafür gegeben, dass Drang nach Osten als Faktor des realen
Geschichtsverlaufs versagte. Der Alldeutsche Verband hoffte, dass der Ausdruck eine
gewisse Mobilisierungskraft ausüben würde. Diese hat sich aber als nichtig erwiesen.
60
Kapitel IV: Sprachfunktionale Analyse
1. Vorbemerkungen
Es gibt, wie im Einführungskapitel bereits erwähnt, inhaltlich große Unterschiede
zwischen den Arbeiten, die den Ausdruck Drang nach Osten untersuchen. In den
meisten Fällen stehen die Geschichte und die Verbreitung des Ausdrucks im
Mittelpunkt. Manchmal werden dabei jedoch Ansätze zu einer linguistisch-funktionalen
Analyse gegeben. Während im dritten Kapitel vor allem die Geschichte und die
Verbreitung des Ausdrucks zentral standen, werde ich mich in diesem Teil besonders
mit einigen sprachfunktionalen Aspekten des Ausdrucks beschäftigen.
Bisher haben vor allem drei Forscher, nämlich Lemberg (1976, 2003),
Wippermann (1981) und Meyer (1996) versucht, den Ausdruck Drang nach Osten nach
seiner Funktion zu katalogisieren. Nach Lemberg handelt es sich beim Ausdruck Drang
nach Osten um ein Heterostereotyp und sogar um einen historischen Mythos. Lembergs
Bezeichnungen des Drangs nach Osten als “Begriff” (2003: 33), “Schlagwort” (2003:
33), “Formel” (2003: 36), “Vokabel” (2003: 36) und als “Floskel” (2003: 37) zeigen
jedoch eine Ungenauigkeit, wenn es um die sprachliche Bezeichnung des Ausdrucks
geht. Auch Wippermann (1981) stellt sich die Frage nach Wirkung und Funktion des
Ausdrucks und meint, dass Drang nach Osten als Ideologie Faktor und Indikator
geschichtlicher Prozesse gewesen ist (vgl oben III). Obwohl Wippermanns Verfahren
u.a. begriffsgeschichtlich ist, bezeichnet er Drang nach Osten in seinem gesamten Werk
als Schlagwort und nicht als Begriff. Er setzt sich mit diesen Bezeichnungen und ihren
Bedeutungen weiter nicht auseinander. Meyer (1996) verwendet ebenfalls eine
begriffsgeschichtliche Methode, unterscheidet aber systematisch zwischen Schlagwort
und Begriff. Seiner Meinung nach stellt der Ausdruck Drang nach Osten einen Fall der
Begriffswerdung (“conceptualisation”) dar: Nachdem er anfangs als Schlagwort
(“slogan”) benutzt wurde, ist er nach einiger Zeit in der Historiografie als Begriff
(“concept”) aufgefasst und verwendet worden. Anders als Lemberg (1976, 2003) und
Wippermann (1981) verzichtet Meyer (1996) jedoch auf jede ideologiekritische
Hinterfragung des Ausdrucks Drang nach Osten. Deswegen betrachtet er Drang nach
Osten auch heutzutage noch als ein gültiger Begriff der Historiografie, der die deutsche
Geschichte zutreffend charakterisiert. Die These Meyers, dass Drang nach Osten sich
61
mit der Zeit zu einem Begriff entwickelt habe und diese Funktion bis heute ausübe, wird
in diesem Kapitel anhand der Ergebnisse des dritten Kapitels überprüft werden.
Die erste Frage, auf die in diesem Kapitel eine Antwort gesucht wird, ist, ob der
Ausdruck Drang nach Osten als Begriff im wissenschaftlichen Sinne gelten kann. Dazu
werde ich zunächst erläutern, worin der spezifische Wert eines Begriffs besteht. Danach
werde ich untersuchen, ob Drang nach Osten im Laufe der Geschichte als Begriff
funktioniert hat und ob er heutzutage noch als Begriff betrachtet werden kann. Nachher
werde ich dieselben Fragen in Bezug auf die Bezeichnung des Ausdrucks als
Schlagwort stellen. Nach Meyer (1996) hat der Ausdruck Drang nach Osten eine
Begriffswerdung durchgemacht, das impliziert, dass er weder die Funktion eines
Schlagwortes noch die eines Begriffes seine ganze Verwendungsgeschichte hindurch
ausgeübt hat. Deswegen gehe ich abschließend auf die Suche nach einer linguistischen
Bezeichnung, die auf die ganze Geschichte des Ausdrucks anwendbar ist. Seiner
Struktur und Bedeutung nach wäre er dann am ehesten als Wortgruppenlexem zu
betrachten. Zum Schluss werde ich mich kurz zum gegenwärtigen Umgang mit dem
Ausdruck äußern.
2. Der Terminus Begriff
Im umgangssprachlichen Gebrauch wird oft kein Unterschied zwischen Wort (engl.
word) und Begriff (engl. concept) gemacht und auch viele Historiker drücken sich
unpräzise aus und benutzen manchmal Begriff, wenn sie eigentlich Wort meinen. Diese
Unsicherheit kann man dadurch erklären, dass, zwar schon seit Plato die Frage nach
dem spezifischen Wert eines Begriffs gestellt wird, eine eindeutige definitorische
Abgrenzung des wissenschaftlichen Terminus Begriff - soweit ich weiß – aber bis heute
noch nicht geliefert worden ist:
Concepts are more than words, but how they fit between words, discourses,
languages and vocabulary is an unresolved issue. (Van Gelderen 1998: 233)
Das Fehlen einer eindeutigen Definition erstaunt jedoch, denn wenn man die Lemmata
Wort und Begriff im Wörterbuch Duden nachschlägt, bemerkt man, dass die jeweiligen
Beschreibungen sich deutlich voneinander unterscheiden. Während ein Wort als eine
“selbstständige sprachliche Einheit” (DUW 2003 auf CD-ROM: Art. “Wort”)
umschrieben wird, wird ein Begriff eher als eine kognitive Einheit aufgefasst. Bei
62
einem Begriff handele es sich um “[eine] Gesamtheit wesentlicher Merkmale in einer
gedanklichen Einheit; [ein] geistiger, abstrakter Gehalt von etw[as]” (DUW 2003 auf
CD-ROM: Art.“Begriff”). Trotz des klaren Unterschiedes ist diese Zweiteilung in eine
sprachliche und eine kognitive Einheit, bei der ein Wort als äußere Form eines Begriffes
aufgefasst wird, nicht unproblematisch. Wenn man Begriffe nämlich nur als kognitive
Einheiten betrachtet, besteht die Gefahr, dass sie zu individuellen und privaten
Vorstellungen reduziert werden. Auf diese Weise wird laut Busse (1987: 80) eigentlich
die Aufgabe der Begriffsgeschichte in Frage gestellt, denn diese gehe auf die Suche
nach der „kollektiven‟ sprachlichen Gestaltung der Wirklichkeit und brauche dazu eben
kollektiv objektivierbare Begriffe.
2.1. Der Terminus Begriff in den Geschichtlichen Grundbegriffen
Der Pionier der Begriffsgeschichte als wissenschaftliche Disziplin im
deutschsprachigen Raum, R. Koselleck setzt sich in der Einleitung zu den
Geschichtlichen Grundbegriffen (1972-1997) mit dieser Problematik auseinander und
versucht, den wissenschaftlichen Terminus Begriff irgendwo zwischen einer reinen
kognitiven und einer sprachlichen Einheit anzusiedeln. Damit das Lexikon keine
“Geistesgeschichte als Geschichte der Ideen” (Koselleck 1972: XXIV) werde, solle es
die Sprache als ein intersubjektives und objektivierendes Medium betrachten. Nach
Koselleck können Begriffe diese objektivierende Funktion ausüben, denn sie seien
sprachliche Einheiten, die
[...] die Vielfalt geschichtlicher Erfahrung und eine Summe von theoretischen
und praktischen Sachbezügen in einem Zusammenhang [bündeln], der als
solcher nur durch den Begriff gegeben ist und wirklich erfahrbar wird.
(Koselleck 1972: XXIII)
Anders formuliert bedeutet dies, dass ein Begriff die unterschiedlichen individuellen
historischen Erfahrungen zusammenfasst und sprachlich zum Ausdruck bringt. Hinter
einem Begriff stecken demzufolge verschiedene Bedeutungen und Vorstellungen und
deswegen ist er immer vieldeutig, d.h. er ruft immer mehr hervor als das, was das
einzelne Wort aussagt. In dieser Hinsicht unterscheidet sich ein Begriff, der immer
vieldeutig bleibt, von einem Wort, das in einem bestimmten Kontext eindeutig werden
kann (vgl. Koselleck 1972: XXII).
Dieses auf Mehrdeutigkeit basierte Unterscheidungskriterium scheint mir aus
mehreren Gründen zweifelhaft. Erstens kann man sich fragen, ob auch ein Begriff in
63
einem spezifischen Kontext nicht notwendigerweise eindeutig wird oder wenigstens
einen Teil seiner Mehrdeutigkeit verliert. Wenn er immer in seiner ganzen
“Bedeutungsfülle” (Koselleck 1972: XXII) benutzt würde, so könnte er “in einer
konkreten kommunikativen Situation seinen Zweck [nicht] erfüllen” (Busse 1987: 55),
denn der Empfänger wüsste nicht, worauf mit dem Begriff dann jeweils verwiesen wird.
Andererseits ist es aber so, dass sowohl Begriffe als auch Wörter auf mehr verweisen
können, als sie mittels des sprachlichen Zeichens zum Ausdruck bringen. Es bleibt
dabei aber die Frage offen, ob dieses „mehr‟ dem Wort inhärent ist oder vom Wissen
der Kommunikationsbeteiligten bestimmt wird (vgl. Busse 1987: 55). Schultz (1979)
verweist in diesem Zusammenhang auf den Unterschied zwischen Denotation (d.h.
demjenigen, worauf verwiesen wird) und Konnotation (d.h. den – oft emotional
besetzten - Assoziationen, die hervorgerufen werden). Die Denotation haftet dem
sprachlichen Ausdruck an, während die Konnotation vom Sprecher, Hörer, Kontext
usw. abhängt. Dies gilt jedoch sowohl für Begriffe als auch für Wörter; deswegen
scheint mir Mehrdeutigkeit kein gutes Kriterium, um zwischen Wörtern und Begriffen
unterscheiden zu können. Außerdem ist die Einteilung somit aufs Neue auf einem
kognitiven und nicht auf einem sprachlichen Unterschied aufgebaut. Dies zeigt sich
deutlich in einem zusammenfassenden Satz Kosellecks:
Wortbedeutungen können durch Definitionen exakt bestimmt werden, Begriffe
können nur interpretiert werden. (Koselleck 1972: XXIII)
2.2 Ist eine theoretische Abgrenzung notwendig?
Ein sprachliches Kritierium, dass zwischen dem Wert eines Wortes und dem eines
Begriffs unterscheiden könnte, hat Koselleck also nicht finden können. Eben dieser
Aspekt wird von verschiedenen Kritikern der Koselleckschen Methode (u.a. Schultz
1979 und Busse 1987) dann auch stark hervorgehoben. Eine eindeutige Lösung dieses
Problems ist aber auch von ihnen nicht formuliert worden. So schreibt Busse in einer
Fußnote:
Eine allgemeine, alle theoretische Interessen abdeckende Definition von
„Begriff‟ und „Wort‟ ist nicht notwendig, vielleicht nicht einmal möglich. [...]
Die Weigerung, klar zu bestimmen, ob es nun um reine Ideengeschichte oder um
Wortgeschichte geht, und der Versuch, zwischen beiden überkommenen, aber
als unzureichend angesehenen Polen zu jonglieren, scheint der Grund für das
Fehlen einer eindeutigen Definition von „Wort‟ und „Begriff‟ in den wichtigsten
Beiträgen zur Methodendiskussion der Begriffsgeschichte zu sein. (Busse 1987:
80)
64
Die Begriffsgeschichte und andere Bereiche der historischen Semantik können laut
Busse (1987) ebenso gut ohne eine endgültige Definition von Begriff auskommen. Eine
Abgrenzung zwischen Wort und Begriff soll, so Busse (1987: 80), nur durchgeführt
werden, wenn es der jeweilige Zweck und das theoretische Modell verlangen; sie hat
dann nur in diesem bestimmten Modell seine Gültigkeit.
Busse hat insofern recht, als bisher - trotz der fehlenden theoretischen
Untermauerung - in der Praxis ziemlich leicht zwischen Wörtern und Begriffen
unterschieden werden konnte. Auch wenn Wort und Begriff manchmal verwechselt
werden, intuitiv spüren wir, dass es einen Unterschied zwischen beiden gibt. So wird
beispielsweise niemand das Wort Stuhl als Begriff bezeichnen. Noch deutlicher zeigt
unsere Intuition sich im englischen Sprachgebrauch, denn niemand der word meint,
wird stattdessen concept sagen. Wir wissen somit, dass Wort und Begriff nicht
gleichgesetzt werden können. Wo die Grenze zwischen beiden liegt, ist uns weniger
klar und gerade deswegen benutzen wir teilweise das eine, wenn eigentlich das andere
gemeint ist. In der Umgangssprache werden Wörter, laut Busse (1987: 77f), an erster
Stelle als materielle, d.h. sprachliche Zeichen aufgefasst, während bei Begriffen der
geistige Aspekt hervorgehoben wird (vgl. ganz ähnlich die jeweilige
Bedeutungsumschreibung im DUW). Auch in der Forschung hat die Abgrenzung von
demjenigen, was als Begriff gelten kann, vor allem auf der Grundlage kognitiver
Kriterien stattgefunden.
Begriffe können aber nicht nur kognitive Einheiten sein, sonst könnten sie von
der Begriffsgeschichte nicht untersucht werden. Meiner Meinung nach haben sie auch
noch eine andere wichtige Qualität: Sie sind kollektiver Besitz. Im Folgenden werde ich
kurz meine Sicht der wichtigsten Eigenschaften von Begriffen präsentieren. Ich werde
dabei vor allem ihre besondere kognitive und kollektive Qualität, sowie ihre typische
temporale Binnenstruktur erläutern und werde dabei versuchen, die aktuellen
Forschungsergebnisse soweit wie möglich zu berücksichtigen. Auf diese Weise hoffe
ich, einen praktischen Begriffs-Begriff, den ich in dieser Arbeit anwenden kann,
herausarbeiten zu können.
2.3 Eigene praktische Lösung
Bei meiner Suche nach demjenigen, was einen Begriff zu einem Begriff macht, werde
ich zunächst ein Eliminierungsverfahren anwenden. Wenn danach gefragt wird, worin
65
sich Wörter von Begriffen unterscheiden, so sind mit Wörtern im Grunde nur
Substantive gemeint, denn in den allermeisten Fällen sind Begriffe Substantive. Den
anderen Wortarten, z.B. Adjektiven, Verben, Artikeln, wird man nicht so leicht den
Wert eines Begriffs beimessen, es sei denn sie werden ihrerseits substantiviert (z.B. das
Gute, das Denken, das Eine). Obwohl dies selbstverständlich scheint, ist die
Aufmerksamkeit in der Forschung noch nicht auf diesen Aspekt gerichtet worden. Es ist
m.E. jedoch kein bloßer Zufall, dass Begriffe (fast) immer Substantive sind, denn
gerade Substantive haben eine große präsupponierende Macht. Wenn ein Sprecher mit
einem Substantiv oder mit einem Namen auf etwas verweist, so glaubt er
normalerweise, dass der Name sich auf einen realen Gegenstand bezieht (vgl. Franck
1973: 14). Ein Substantiv präsupponiert einen Referenten und eignet sich zur
Rhematisierung, d.h., dass mittels des Substantivs allerhand Aussagen über den
präsupponierten Referenten gemacht werden können. Darin liegt die Wichtigkeit der
Tatsache, dass unterschiedliche Ausdrücke in einer bestimmten Bezeichnung Drang
nach Osten zusammengekommen sind. Mit diesem Namen konnte ein Referent
konstruiert werden, dessen Existenz dann im Diskurs nicht mehr hinterfragt werden
musste.
Zu der Kategorie Begriff gehören also im Grunde nur Substantive. Im Bereich
der Substantive kann jedoch noch weiter differenziert werden. Es kann nämlich
zwischen konkreten Substantiven, die auf einen bestimmten Gegenstand verweisen, und
abstrakten Substantiven, die sich auf etwas Nicht-Gegenständliches oder etwas
Gedachtes beziehen, unterschieden werden (vgl. Duden Die Grammatik 1998).
Konkrete Substantive können demnach auch ausgeschlossen werden, denn wie abstrakte
Substantive beziehen Begriffe sich nicht auf konkret gegenständliche Objekte in der
Wirklichkeit. Auch Landwehr (2004) ist der Meinung, dass vor allem abstrakte
Substantive sich zu Begriffen entwickeln können:
Substantive erlauben es nicht nur, konkrete Dinge und Gegenstände zu bezeichnen,
sondern vor allem bestimmte Gegebenheiten, Ideen und Überzeugungen in einem
Wort zu fassen, so dass sie zum “Begriff” im Sinne von Konzept werden können.
(Landwehr 2004: 125)
Die eigentliche Frage ist also, worin sich abstrakte Substantive wie Jahr, Meter und
Krankheit, von Begriffen wie Staat, Freiheit und Kapitalismus, unterscheiden. Es ist
diese Frage, die bisher in der Forschung nur in der Praxis beantwortet worden ist.
66
Deswegen werde ich dieses Problem auch vor allem praktisch zu lösen versuchen, d.h.
die Frage nach dem Unterschied wird in den Hintergrund gerückt und ich werde zu
beschreiben versuchen, worin Begriffe für mich bestehen.
2.3.1 Begriffe als kollektiv - kognitive Einheiten
Begriffe beziehen sich nicht auf konkrete Gegenstände in der Wirklichkeit, sondern
bringen immer eine Interpretation der Verhältnisse in der Wirklichkeit zum Ausdruck.
Die Tatsache, dass es sich um Interpretationen handelt, hat zur Folge, dass Begriffen
immer eine gewisse Subjektivität anhaftet. Sie können aber nicht nur eine subjektive
Bedeutung haben, da sie sonst nicht in einer sprachlichen Gemeinschaft verstanden
werden könnten. Sprachliche Zeichen sind nämlich immer konventionalisierte Zeichen
und können nicht gleich welchen Inhalt zum Ausdruck bringen. Dies gilt auch für
Begriffe: Sie entstehen und entwickeln sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer
bestimmten Sprachgemeinschaft und haben in dieser Gemeinschaft eine kollektive
Bedeutung:
[...] they [= Begriffe, meine Hinzufügung, SV] are neither arbitrary, nor simply
stipulative, models that the theorist invites us to adopt, but constructs that reflect
social and historical usage. (Freeden 1996: 52)
In einen Begriff gehen zwar verschiedene Bedeutungen und Inhalte ein, diese werden
aber u.a. vom jeweiligen sozialen und politischen Kontext bestimmt, in dem der Begriff
entsteht und benutzt wird. Man kann einem Begriff eine persönliche Bedeutung
beimessen; die wesentlichen Bedeutungskomponenten sind m.E. jedoch immer
dieselben. Jeder kann zum Beispiel eine eigene spezifische Vorstellung vom Begriff
Liebe haben, es gibt aber auch bestimmte Assoziationen (Wärme, Zuneigung,
Zärtlichkeit usw.) die wir in einer Kulturgemeinschaft gemein haben. Ich stimme
Koselleck (1972: XXIII) also zu, wenn er behauptet, dass Begriffe nicht definiert,
sondern interpretiert werden müssen. Die Interpretationsmöglichkeiten werden dabei
aber von den verschiedenen historischen und kollektiven Verwendungsweisen des
Begriffs in einer Sprachgemeinschaft begrenzt. Wenn man einen Begriff verwendet,
reiht man sich in eine bestehende “Begriffstradition” ein. Man nimmt Bezug auf frühere
Aussagen, veranlasst selbst auch neue Behauptungen und es wird demnach ein
bestimmtes “Begriffs- oder Aussagengefüge” (Busse und Teubert 1994: 23) geschaffen.
Jeder “Begriffsanwender” entwickelt dabei “seinen eigenen, zeit- und
67
interessegebundenen epistemischen Zusammenhang in Form seiner (privaten)
Verwendungsgeschichte sprachlicher Zeichen” (Busse 1987: 72). Diese private
Verwendungsgeschichte ist aber von äußeren Faktoren bestimmt, insofern als zu einem
bestimmten Zeitpunkt zu einem bestimmten Thema nur eine begrenzte Anzahl
Aussagen möglich sind, d.h. nicht alles ist Sagbar (vgl. Landwehr 2004: 7).
Hieraus glaube ich schließen zu können, dass Begriffe zwar immer auf eine
persönliche und private Weise verwendet werden, dass sie andererseits aber auch immer
kollektive Bedeutungen zum Ausdruck bringen. Ich betrachte Begriffe daher als
sprachliche Einheiten mit einem „kollektiv-subjektiven‟ Inhalt, und zwar aus zwei
Gründen. Der erste Grund ist, dass sie immer aus einer Mischung kollektiver und
privater Vorstellungen bestehen. Der zweite Grund ist, dass Begriffe immer
Kulturprodukte einer bestimmten Gemeinschaft sind und unter anderen sozio-
politischen Umständen ihre Gültigkeit verlieren. Begriffe sind somit immer nur zu einer
bestimmten Zeit in einer bestimmten Gesellschaft Begriffe.
2.3.2 Begriffe als ideologische Instrumente
Dieser zwiespältige Begriffs-Begriff kann erklären, wieso Begriffe z.B. für Politiker
ideologisch interessant sind. Da ihre Bedeutung niemals hundertprozentig vorgegeben
ist, kann man eine Bedeutungskomponente besonders betonen und sie auf diese Weise
bei der Interpretation dominant werden lassen. Man kann sich auch hinter ihrer
Unbestimmtheit verstecken, denn ihr Abstraktionsgrad bewirkt, dass sie von Situation
zu Situation anders erklärt werden können. Günther (1979) ist der Meinung, dass
Begriffe wegen ihrer Allgemeinheit immer konkretisiert werden müssen, denn ohne
Zusammenhang haben sie etwas “Unerfülltes” (Günther 1979: 103) und können sie
somit auf Verschiedenes verweisen. In dieser Referenzoffenheit liegt m.E. gerade der
strategische Wert von Begriffen. Sie sind verschieden deutbar, ihre Bedeutung liegt
nicht fest und sie sind folglich strittig und umstritten. Wenn Begriffe unter allen
Umständen eindeutig, klar und selbstverständlich wären, würde man nicht um und für
sie kämpfen können. Man könnte Begriffe dann definitorisch festlegen, und es hätten
sich beispielsweise nicht zwei einander entgegengesetzte Staatssysteme wie die BRD
und die DDR gleichzeitig als “Demokratien” bezeichnen können.
Dieser Kampf um Begriffe ist nicht nur Folge ihrer Unbestimmtheit, sondern
auch ihrer Unaustauschbarkeit:
68
- weil sie unaustauschbar sind, erheben natürlich mehrere Sprechergruppen
Anspruch darauf, was der wahre Staat sei, was die Gesellschaft sei, was die
Klasse sei – (Koselleck und Dipper 1998: 193)
Laut Koselleck (1998: 193) sind vor allem die sogenannten Grundbegriffe
unaustauschbar, weil sie die politische, soziale und ökonomische Realität ordnen und
ihr Bedeutung geben. Ohne diese Grundbegriffe könne keine Gesellschaft auskommen.
Meiner Meinung nach sind jedoch alle Begriffe unersetzbar, zumindest wenn man einen
synchronen Standpunkt einnimmt, d.h. sie zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer
gewissen Gesellschaft betrachtet. Begriffe weisen ja eine interne Komplexität auf und
bündeln eine Vielfalt von Erfahrungen und Vorstellungen “in einem Zusammenhang,
der als solcher nur durch den Begriff gegeben ist” (Koselleck 1972: XXIII). Diachron
betrachtet stellt man aber fest, dass Begriffe sehr wohl durch andere ersetzt werden
können. Das hängt damit zusammen, dass u.a. die sozialen und politischen Umständen
sich im Laufe der Zeit ändern und Begriffe somit einen anderen Inhalt bekommen oder
ihre gesellschaftliche Bedeutung verlieren und folglich ersetzt werden.
2.3.3 Die zeitliche Binnenstruktur von Begriffen
Eine letzte Eigenschaft, die Begriffe auszeichnet, ist ihre temporale Vielschichtigkeit.
Begriffe beziehen sich nach Koselleck (2006 [2002]) in unterschiedlichem Maße
sowohl auf die Vergangenheit und die Gegenwart, als auch auf die Zukunft. Laut
Koselleck (2006 [2002]: 90f) sind zu einem Begriff wie bürgerliche Gesellschaft in der
Antike (societas civilis), im Mittelalter und in der frühen Neuzeit jeweils
Bedeutungsnuancen hinzugekommen, während andere dagegen verschwunden sind.
Unser heutiger Begriff bürgerliche Gesellschaft bestehe demzufolge aus einem
Gemisch dieser Bedeutungsnuancen. Daneben werde die Bedeutung des Begriffs auch
an die gegenwärtige sozio-politische Lage angepasst. In dieser Hinsicht kommen in der
Bedeutung eines Begriffs “vergangene Erfahrung” und “gegenwärtige Realität”
(Koselleck 2006 [2002]: 92) zusammen. Begriffe können sich aber auch auf die Zukunft
beziehen, indem sie bestimmte Erwartungen zum Ausdruck bringen. In diesem
Zusammenhang weist Koselleck (2006 [2002]: 91f) auf die vielen „- ismus‟-Bildungen
wie Republikanismus, Demokratismus, Kommunismus usw. hin. Er bezeichnet diese als
Bewegungsbegriffe, weil sie alle eine zukünftige gesellschaftliche Organisation
präsentieren, die zum Zeitpunkt ihrer Entstehung aber keiner Wirklichkeit entspricht.
Die besondere Wirkung dieser Begriffe gehe dabei aus der Spannung zwischen
69
gegenwärtiger Erfahrung und Erwartung für die Zukunft hervor. Zusammenfassend
betrachtet haben sozio-politische Begriffe Koselleck (2006 [2002]: 92) zufolge eine
vielschichtige zeitliche Binnenstruktur, die bewirkt, dass sie “über die jeweilige
zeitgenössische Realität voraus[-] oder zurück[verweisen]” (Koselleck 2006 [2002]:
92).
2.3.4 Schlussfolgerung
Ich glaube, dass ich die wichtigsten Besonderheiten, die für Begriffe kennzeichnend
sind, behandelt habe. Es ist vor allem festzubehalten, dass Begriffe in einer Gesellschaft
historisch wachsen und dass sie trotz ihrer ideologischen Interpretierbarkeit gewisse
kollektive Bedeutungen zum Ausdruck bringen. Begriffe kann man m.E. nicht
unabhängig vom jeweiligen sozio-historischen Kontext, in dem sie benutzt werden,
verstehen. Vielleicht liegt in diesem Zusammenhang von Begriff und Gesellschaft der
Unterschied zwischen Begriffen und abstrakten Substantiven. Abstrakte Substantive
sind weniger abhängig von der Gesellschaft, in der sie verwendet werden.
3. Drang nach Osten als Begriff
Für Meyer (1996) steht fest, dass der Ausdruck Drang nach Osten im Laufe der Zeit zur
“Konzeptualisierung historischen Verhaltens” (1996: 18) benutzt worden ist und
seitdem als “gültiger Begriff der deutschen Geschichte” (1996: 142) gilt. Es sei folglich
die Aufgabe der deutschen Historiker, sich endlich mit diesem Begriff zu versöhnen und
ihn bei der Beschreibung der “eigenen” Geschichte einzusetzen. Bedauernswert ist aber,
dass Meyer (1996), der sich des Begriffswertes des Ausdrucks Drang nach Osten ganz
sicher ist, seine Begriffsauffassung nicht ausführlich beschreibt. Am Anfang seines
Werkes verweist er kurz auf die Geschichtlichen Grundbegriffen (1972-1997), setzt sich
mit der darin entwickelten Methode jedoch nicht auseinander und schreibt zum Wert
eines Begriffs nur Folgendes:
[...] as the slogan continues over the years and decades to make its impact upon
public emotion and the scholarly mind, and as it also develops a reverberating
international usage, it does become a rewarding subject for historical
investigation. In such circumstances a slogan has metamorphosed into a concept.
It has, indeed, become a Begriff. (Meyer 1996: 14)
Ein Begriff muss nach Meyer (1996) sowohl in der Öffentlichkeit als in
wissenschaftlichen Arbeiten oft benutzt werden und ist eine historische Untersuchung
70
wert. Der Unterschied zu einem Schlagwort liege dann darin, dass Schlagwörter nur im
öffentlichen Bereich aufträten. Meyer (1996) verzichtet jedoch auf weitere Angaben in
Bezug auf seine Begriffsauffassung, weshalb es fast unmöglich ist, herauszufinden, ob
er für die Katalogisierung des Drangs nach Osten - zunächst als Schlagwort und danach
als Begriff - noch andere Kriterien berücksichtigt hat. Daher werde ich anhand meiner
oben beschriebenen Begriffsauffassung überprüfen, inwieweit der Ausdruck Drang
nach Osten jemals als Begriff aufgefasst worden ist und ob er diesen Wert heutzutage
noch hat.
3.1 Begriffliche Aspekte des Ausdrucks Drang nach Osten
Bei der Betrachtung des Ausdrucks Drang nach Osten als Begriff muss zunächst
bemerkt werden, dass ein Begriff in den allermeisten Fällen nur aus einem Wort,
meistens einem Substantiv, besteht, während der Ausdruck Drang nach Osten drei
Wörter enthält. Dies ist meiner Meinung nach aber kein gültiger Grund dafür, Drang
nach Osten nicht als Begriff zu katalogisieren, denn er ist in dieser Form zu einer
verfestigten nominalen Kollokation geworden, die als sprachliche Einheit im Gehirn
gespeichert worden ist und zu jeder Zeit abgerufen werden kann. Außerdem übt der
Ausdruck Drang nach Osten im Satz die Funktion eines einzigen nominalen Satzgliedes
aus, denn es handelt sich im Grunde nur um ein Substantiv Drang mit seiner
Bestimmung nach Osten. Das formale Begriffs-Kriterium ist somit erfüllt worden. Der
Fokus kann nun auf inhaltliche Aspekte gerichtet werden.
3.1.1. Bedeutung vs. Bezeichnung
Die Bedeutung des Ausdrucks Drang nach Osten kann klar definiert werden (vgl. die
Definition Lembergs zu Beginn des zweiten Kapitels). Sie ist seit ihrer Entstehung im
Grunde genommen immer dieselbe geblieben, nämlich, dass die deutsche Bevölkerung
einen inneren Trieb in sich spüre, Richtung Osten zu expandieren. Man merkt dabei
aber gleich, dass der Referent des Ausdrucks, ein bestimmter Charakterzug, der allen
Deutschen innewohnt, gar nicht vorhanden ist. Es sei denn, man glaubt an die Existenz
eines Volks- oder Nationalcharakters, wie J.G. Herder am Ende des 18. Jahrhunderts.
Da solche Gedanken jedoch längst überholt sind, hat der Referent des Ausdrucks Drang
nach Osten keine reale Existenz, sondern ist eher eine geistige Konstruktion. Während
die Bedeutung des Ausdrucks relativ fest liegt, kann man in Bezug auf seine Referenz
71
feststellen, dass diese je nach Kontext aktualisiert worden ist und dass die
Bezeichnungsmöglichkeiten des Ausdrucks sich folglich mit der Zeit erweitert haben.
Eine erste Bezeichnungserweiterung, die im Laufe der Zeit stattgefunden hat, ist,
dass nicht nur den Deutschen, sondern einer jeden Gruppe, von der eine gewisse
Drohung ausging, ein Drang unterstellt werden konnte (vgl. Meyer 1996: 120).
Manchmal wurde dabei ganz explizit auf die Ähnlichkeit mit dem „deutschen‟ Drang
nach Osten hingewiesen:
Poland turned to the East and began her Drang nach Osten, a momentous
expansion which presents many analogies to, and was the direct result of, the
Germanic movement called by that name. (Temperley 1924: 221-222 zit.n.
Meyer 1996: 120)
Eine zweite Ausdehnung der Bezeichnungsmöglichkeiten des Ausdrucks bezieht sich
auf die Himmelsrichtung. So ist Russland im Laufe der Geschichte nicht nur eine
“Version of a Drang nach Osten” (Übersetzung n. Meyer 1996: 84 der Russkii
Vestnik18
August 1888: 340), sondern auch ein “Drang nach Süden” (Delbrück 1918-
19: 6-16 zit.n. Meyer 1996: 108) und ein “Drang nach Westen” (Alldeutsche Blätter
1914: 185 zit.n. Meyer 1996: 111) zugeschrieben worden. Meiner Ansicht nach sind die
Bezeichnungsmöglichkeiten des Ausdrucks auf vergleichbare Situationen ausgedehnt
worden und verwies das Wort Drang dabei auf jegliche nationalistische und
expansionistische Politik.
Eine letzte Bezeichnungserweiterung, die ich habe finden können, ist eine, bei
der der Ausdruck Drang nach Osten ohne jegliche konkrete Referenz benutzt wird. Im
Roman Die Kavaliere von Illuxt. Erinnerungsblätter von einem alten Kurländer (1949)
von Alexis von Engelhardt stehen die Erinnerungen eines Kurländers, der in Litauen die
Tochter eines wohlhabenden polnischen Grundbesitzers heiratet, im Mittelpunkt (vgl.
Meyer 1996: 90). Der polnische Grundbesitzer kann nur wenig Deutsch, benutzt aber
ständig den Ausdruck Drang nach Osten, ohne dass er damit einen bestimmten Inhalt
zum Ausdruck bringen will:
Sometimes it occurred as a curse, ofttimes just as an emphatic interjection […]
Thus Koriewo (= der polnische Grundbesitzer, meine Hinzufügung, SV) would
exclaim „Drang nach Osten!‟ making the Drang sound like Drank! And so it
would occur when he poured a drink or offered a smoke.„Drang nach Osten!
Der Schnapps ist gut!‟ or „Die Zigarre habe ich aus Riga, Drang nach Osten!‟
(Engelhardt 1949: 28 zit. n. Meyer 1996: 90)
18
Vgl. Fußnote 10.
72
In diesem Zitat fungiert Drang nach Osten als “Leer- und Blindformel” (Koselleck
1972: XVII). In den verschiedenen Arbeiten, die ich als Grundlage benutzt habe, ist dies
jedoch die einzige Stelle, in der der Ausdruck völlig sinnentleert verwendet worden ist.
Das Zitat stammt aber aus der Belletristik und ich habe bereits darauf hingewiesen
(vgl.oben III, 4), dass diese zu den Quellentypen gehört, die bisher nur wenig erforscht
worden sind. Ich vermute, dass weitere Untersuchungen, sowohl der hohen und der
trivialen Literatur als der Umgangssprache, weitere Belege zu Tage fördern würden.
Dieses Zitat ist aber an und für sich schon ein klares Zeichen dafür, dass die Referenz
des Ausdrucks so weit ausgedehnt wurde, bis im Grunde keine Bezeichnung mehr übrig
blieb.
Diese drei Bezeichnungserweiterungen zeigen, dass der Ausdruck Drang nach
Osten mit der Zeit einen Verallgemeinerungsprozess durchgemacht hat. Zunächst
konnte man mit ihm nur auf einen spezifisch deutschen Trieb, sich Richtung Osten zu
verbreiten, verweisen. Mit der Zeit konnte er aber sowohl in Bezug auf andere
Nationen, als auch in Bezug auf andere Himmelsrichtungen verwendet werden. Dieser
Verallgemeinerungsprozess ging letztendlich so weit, dass der Ausdruck sogar
„referenzlos‟ verwendet werden konnte. Die Tatsache, dass man mit dem Ausdruck auf
Unterschiedliches verweisen konnte, ist ein wichtiges Indiz dafür, ihn als Begriff zu
bezeichnen. Mit der Zeit haben sich unterschiedliche Vorstellungen an ihm festgemacht,
wodurch der Referent des Ausdrucks nicht mehr deutlich definiert werden konnte.
3.1.2 Ideologisierbarkeit
Einen zweiten Aspekt, den ich in Bezug auf den Begriffswert des Ausdrucks Drang
nach Osten behandeln möchte, ist die Ideologisierbarkeit. Bei der Beschreibung meiner
Begriffsauffassung habe ich betont, dass Begriffe wegen ihrer Allgemeinheit und
Referenzoffenheit gerne zu ideologischen Zwecken eingesetzt werden. Obwohl ich im
dritten Kapitel mehrfach darauf hingewiesen habe, dass der Ausdruck Drang nach
Osten vor allem aus ideologischen Gründen benutzt worden ist, ist es im Falle Drang
nach Osten schwierig zu bestimmen, ob dies mit seinem Wert als Begriff verknüpft
werden kann. Es ist zwar so, dass der Ausdruck ein nützliches Mittel für ideologisch
motivierte Manipulationen wurde, weil hinter ihm kollektive Vorstellungen steckten,
die nur in dieser bestimmten sprachlichen Form zum Ausdruck gebracht werden
konnten und mit ihm allerhand Assoziationen (u.a. Angst, Bedrohung, Aggression)
73
hervorgerufen wurden; ideologisch noch interessanter war aber, dass mit ihm gerade ein
bestimmter – zwar abstrakter, aber darum geistig nicht weniger präsenter - Referent
geschaffen wurde.
Bereits die ersten polnischen Historiker, die den Ausdruck benutzten, spotteten
über die Verwendung des Drangs nach Osten als Rechtfertigungsmittel in Deutschland
und sahen ein, dass es so etwas wie einen verhängnisvollen Drang nach Osten im
Grunde nicht geben konnte. Trotzdem haben sie den Ausdruck beibehalten und den
Drang nach Osten als eine reale geschichtliche Macht betrachtet. Dieses Pingpong-
Spiel wurde während der ganzen Verwendungsgeschichte des Ausdrucks beibehalten:
Obwohl er ab und zu ironisiert wurde, ist der Drang nach Osten sowohl in
verschiedenen Ländern Osteuropas als auch in Deutschland vor allem aus ideologischen
Gründen als realexistentes Phänomen betrachtet worden. Ich glaube, dass sogar eine
Hypostasierung des Drangs nach Osten stattgefunden hat. Ein deutliches Beispiel dafür
ist das folgende Zitat von R. Dmowski:
[...] nowhere does the Drang nach Osten relent, neither in the Baltic Provinces,
nor in western Russia and Poland, nor towards Turkey (Übersetzung n. Meyer
1996: 91 von Dmowski (11.07.1908)19
)
Im Zitat werden allerhand unterschiedliche historische Ereignisse auf einen Nenner
Drang nach Osten gebracht und es wird auf diese Weise über alle Unterschiede Hinweg
ein gemeinsamer Feind, den es gemeinsam zu bekämpfen gilt, geschaffen. Jede
Bedrohung, Gefahr, Expansion usw. Richtung Osten, die von Deutschland oder den
Deutschen auszugehen schien, wurde als Ausdruck des Drangs nach Osten aufgefasst,
wodurch zwischen den verschiedensten Phänomenen und Figuren (vgl. oben I, 1: die
Kette der angeblichen Exponenten des Drangs nach Osten von Friedrich II. über
Bismarck zu Hitler) ein Zusammenhang hergestellt wurde. Zudem wurden in der
Vergangenheit so viele Beweise für einen Drang nach Osten gefunden, dass an der
Existenz dieses Phänomens nicht mehr gezweifelt wurde und dass er sich fast zu einer
Art „self-fulfilling prophecy‟entwickelte. Anhand der vielen konkreten historischen
Ereignisse, mit denen der Drang nach Osten verknüpft wurde, wurde auch der
Ausdruck selber konkretisiert, denn wenn etwas als “neue Phase des Drangs nach
Osten” beschrieben wurde, stellte man die aktuellen Ereignisse sofort auf die gleiche
19
Vgl. Fußnote 10.
74
Linie mit verschiedenen Vorgängen der Vergangenheit und hatte man sofort ein
Deutungsmuster für die aktuellen Ereignisse bereit.
Diese Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit, wobei aktuelle
Ereignisse gleich in eine historische Kette eingereiht werden konnten, hatte m. E. zur
Folge, dass trotz der Tatsache, dass Drang nach Osten im Grunde auf etwas Abstraktes
verweist, man doch eine konkrete Vorstellung davon hatte. Diese konkrete Vorstellung
konnte dadurch entstehen, dass die Existenz des Referenten des Drangs nach Osten im
Diskurs präsupponiert wurde, d.h. er wurde als Tatsache hingestellt, die scheinbar nicht
weiter hinterfragt zu werden brauchte.
3.1.3 Temporale Vielschichtigkeit
Mit der oben beschriebenen Verknüpfung zwischen Gegenwart und Vergangenheit,
bekam der Ausdruck Drang nach Osten eine vielschichtige temporale Binnenstruktur.
Anhand des Ausdrucks wurden vergangene Erfahrungen mit der gegenwärtigen Realität
in Verbindung gebracht.
Man hat mit der Zeit auch versucht, den Ausdruck eine Zukunftsdimension zu
geben. In Deutschland hat beispielsweise der Alldeutsche Verband, den Ausdruck als
Erwartungsbegriff für die Zukunft einzusetzen versucht. Es wurde eine Verbindung
zwischen Vergangenheit und Zukunft gemacht, bei der die vergangenen Erfahrungen,
auf die mit dem Ausdruck Drang nach Osten verwiesen wurde, in die Zukunft projiziert
wurden. Diese Verknüpfung ist jedoch misslungen, denn wie ich im dritten Kapitel (vgl.
oben III, 3.2.4) gezeigt habe, hat die deutsche Bevölkerung ihre Zukunftspläne gerade
nicht von einem Drang nach Osten bestimmen lassen und ist sie stattdessen vor allem
nach Nordamerika gezogen.
Der Ausdruck Drang nach Osten hat sich auf verschiedene Zeitebenen bezogen
und ist somit als Begriff zu betrachten. Es muss dabei aber bemerkt werden, dass er mit
der Zeit nur noch auf die Vergangenheit Bezug nehmen konnte, denn die Beziehung
zwischen dem Ausdruck Drang nach Osten und den Erwartungen für die Zukunft ist nie
richtig zu Stande gekommen und nach dem Zweiten Weltkrieg konnte er kaum noch mit
der damaligen Aktualität verknüpft werden. Letztendlich ist in den sechziger und
siebziger Jahren sogar gezeigt worden, dass er auch auf die vergangene Ereignisse nicht
angewandt werden konnte, wodurch er den Bezug auf jede Zeitebene verloren hat.
75
3.2 Drang nach Osten als zeitweiliger Begriff
Aus den Begriffskriterien, die ich auf den Ausdruck Drang nach Osten angewandt habe,
glaube ich schließen zu können, dass Drang nach Osten für gewisse Akteure zu einer
bestimmten Zeit ein Begriff gewesen ist. Bei der Entwicklung des Ausdrucks gab es
zwei interessante Tendenzen: Einerseits eine Verallgemeinerungstendenz, wobei die
Bezeichnungsmöglichkeiten des Ausdrucks immer weiter ausgedehnt wurden und
andererseits eine Tendenz zur Konkretisierung, wobei er immer wieder mit konkreten
historischen Ereignissen verknüpft wurde. Diese Konkretisierung konnte nur dadurch
stattfinden, dass der Referent des Ausdrucks nicht mehr in Frage gestellt wurde und
demzufolge die Aufmerksamkeit nicht auf sich lenkte. Obwohl der Ausdruck einen
Referenten präsupponierte, der in der Wirklichkeit nicht vorhanden war, bewirkte die
Verknüpfung mit unterschiedlichen konkreten historischen Ereignissen, dass der
präsupponierte Referent dennoch als sehr reell erfahren wurde.
Ich kann Meyer (1996) also nur beipflichten, wenn er behauptet, dass Drang
nach Osten sich zu einem Begriff entwickelt habe. Es ist dabei leider fast unmöglich, zu
bestimmen, wann diese Begriffsentwicklung genau stattgefunden hat, weil das ein
Prozess war, der allmählich vor sich ging und weil es die ganze Zeit hindurch auch
kritische Stimmen gegeben hat, die den Drang nach Osten nicht ohne Weiteres
akzeptierten. Meyer (1996) jedoch hat eine genaue Vorstellung von der zeitlichen
Entwicklung des Ausdrucks Drang nach Osten zum Begriff. Nach ihm muss die
Begriffswerdung in der Zeit um den Ersten Weltkrieg herum situiert werden. Zu Beginn
des 20. Jahrhunderts entwickelte der Drang nach Osten sich zu:
[...] a magical and winning encapsulation of all the apprehensions and pressures
that many Slavs in different areas of Middle Europe felt about the Germans
living among them, and those to the northwest and west of them. (Meyer 1996:
98)
Der Erste Weltkrieg habe die Begriffswerdung beschleunigt und habe den “Drang nach
Osten in einen Begriff kristallisiert” (Meyer 1996: 108). Als Begriff habe Drang nach
Osten sich nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem in den slavischen Ländern
durchsetzen können (vgl. Meyer 1996: 13). In der Zeit unmittelbar nach dem Ersten
Weltkrieg merkt man tatsächlich, dass der Ausdruck Drang nach Osten auftaucht,
sobald es in der Aktualität einen Anlass dazu gibt, „die Deutschen‟ als aggressive
Eroberer zu bezeichnen. Diese Tendenz hielt sich bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Ich
76
sehe darin aber lediglich eine Tendenz und kann mich mit Meyers (1996) klaren,
eindeutigen, zeitlichen Bestimmung nicht abfinden. Eine solche eindeutige Bestimmung
der Zeit der Begriffswerdung berücksichtigt die vielen Unterschiede nicht, die es
zwischen den unterschiedlichen Ländern gegeben hat (vgl. die Darstellung im dritten
Kapitel). So wurde der Ausdruck beispielsweise nach dem Ersten Weltkrieg in der
Sowjetunion völlig fallengelassen, während er in Polen zu dieser Zeit noch verwendet
wurde. Zudem war die Lage in Polen selber kompliziert: Es gab sowohl Stimmen, die
für einen Verzicht auf den Ausdruck plädierten, als Stimmen, die den Ausdruck
unbedingt beibehalten wollten. Ohne Weiteres behaupten, dass der Drang nach Osten
sich nach dem Ersten Weltkrieg als Begriff etablierte, hat m.E. somit keinen Sinn. Die
Frage nach der Zeit der Begriffswerdung muss viel differenzierter beantwortet werden,
gerade weil Drang nach Osten nur zeitweilig und jeweils nur für bestimmte Leute als
Begriff gegolten hat.
3.3 Verlust des Begriffscharakters
Im Gegensatz zu Meyer (1996) glaube ich nicht, dass der Ausdruck Drang nach Osten
sich heutzutage noch zur Beschreibung der Geschichte Deutschlands eignet. Meyer
(1996) berücksichtigt nämlich nicht, dass der Ausdruck sich nur aufgrund seiner
ideologischen Deutung und Verwendung als Begriff hat durchsetzen können. Außerdem
muss auch Meyers Kriterium, das zwischen Begriffen und Schlagwörtern unterscheidet,
in Frage gestellt werden. Laut Meyer werden Schlagwörter nur in der Publizistik
verwendet, während Begriffe auch in wissenschaftlichen Arbeiten vorkommen. Bei der
Verwendung des Ausdrucks Drang nach Osten muss aber immer berücksichtigt werden,
dass die Wissenschaft - in diesem Falle meistens die Historiografie - zu dieser Zeit oft
im Dienst der Politik stand und die Geschichte somit recht häufig ideologisch
interpretierte. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben verschiedene Historiker den Drang
nach Osten dann mit den Mitteln der Ideologiekritik dekonstruiert und damit seinen
Wert als Begriff zunichtegemacht. Auch die Tatsache, dass der Ausdruck Drang nach
Osten seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nur noch mit vergangenen Ereignissen
verknüpft werden konnte, ist ein deutliches Zeichen dafür, dass der Ausdruck mit der
Zeit seinen Begriffswert verloren hat. Ernsthafte deutsche Historiker betrachten den
Ausdruck Drang nach Osten heutzutage nicht als Begriff. In modernen historischen
77
Begriffslexika, wie beispielsweise Geschichte griffbereit (1993) von I. Geiss, taucht
Drang nach Osten demzufolge nicht mehr auf.
Meyer (1996) seinerseits berücksichtigt diese Einsichten nicht und hält
unvermindert an der Existenz eines Drangs nach Osten fest:
- could not these phenomena in sequence invoke the convincing perception of an
enduring pattern of German engagement with Eastern Europe, increasing or
decreasing in intensity over changing times and circumstances, but seldom
wholly absent? (Meyer 1996: 19)
Er ist also der Meinung, dass Drang nach Osten einen Grundzug der deutschen
Geschichte korrekt auf den Punkt bringt und plädiert demzufolge für das Beibehalten
des Begriffs Drang nach Osten. Er missachtet dabei jedoch sein eigenes Begriffs-
Kriterium, denn trotz der Tatsache, dass Drang nach Osten heutzutage kaum noch in
wissenschaftlichen Arbeiten verwendet wird, hat er für Meyer immer noch den Wert
eines Begriffs.
4. Drang nach Osten als Schlagwort
Meyer (1996) hat Drang nach Osten nicht nur als Begriff, sondern auch als Schlagwort
bezeichnet. Nachdem ich untersucht habe, inwieweit die Bezeichnung Begriff zutrifft,
werde ich gleiches auch für die Bezeichnung Schlagwort tun. Hierzu muss jedoch
zunächst bemerkt werden, dass der Terminus Schlagwort bisher genauso wenig wie der
Terminus Begriff eindeutig definiert worden ist. 1906 kam bereits O. Ladendorf in der
Einleitung zum Historischen Schlagwörterbuch, das bezeichnenderweise den Untertitel
Ein Versuch trägt, zur Einsicht, dass ein Schlagwort “ein sehr vielseitiges Produkt”
(Ladendorf 1906: VII) und “ein Allerweltsding” (Ladendorf 1906: VIII) sei und dass es
deshalb schwierig sei, hierfür Unterscheidungskriterien herauszuarbeiten. Die meisten
Forscher beschreiben deswegen einige auffallende Kennzeichen von Schlagwörtern,
heben dabei aber oft unterschiedliche Aspekte hervor. Aus Platzmangel wird hier auf
die weitere Beschreibung der Unterschiede, die es in der Forschung in Bezug auf den
spezifischen Wert eines Schlagwortes gibt, verzichtet. Die Aufmerksamkeit wird vor
allem auf die allgemeinen Merkmale gerichtet, die in den meisten Arbeiten auftauchen.
Anders als bei der Darstellung des Begriffswertes werde ich hier direkt untersuchen, ob
die jeweils beschriebenen Eigenschaften auch beim Ausdruck Drang nach Osten
vorzufinden sind.
78
4.1 Allgemeine Merkmale eines Schlagwortes und Anwendung auf den Ausdruck
Drang nach Osten
Syntaktisch ist man sich darüber einig, dass ein Schlagwort im Satz die Position eines
Lexems einnimmt, d.h. das Schlagwort muss sich nicht unbedingt auf ein Wort
beschränken, darf aber andererseits auch kein Satz oder satzwertiger Ausdruck20
sein
(vgl. Kaempfert 1990: 1200). Dieses Kriterium ist meiner Ansicht nach auf den
Ausdruck Drang nach Osten anwendbar, denn Drang nach Osten ist kein Satz und ist
auch nicht satzwertig.
Was die Semantik der Schlagwörter betrifft, wird oft hervorgehoben, dass sich in
diesen sprachlichen Einheiten Programme kondensieren (vgl. u.a. Dieckmann 1975:
103). Schlagwörter reduzieren das “Komplizierte auf das Typische” (Dieckmann 1975:
103) und müssen notwendigerweise “verallgemeinern, vergröbern und verzerren”
(Gollwitzer 1982: 8). Auch das ist eine Eigenschaft, die beim Ausdruck Drang nach
Osten vorliegt, denn ich habe mehrfach darauf hingewiesen, dass anhand dieses
Ausdrucks allerhand unterschiedliche historische Ereignisse auf einen Nenner gebracht
werden konnten. Nach Sittel (1990) besitzen Schlagwörter die Besonderheit, dass sie
“scheinbare Klarheit” mit “inhaltliche[r] Unschärfe” (1990: 182) kombinieren. Gerade
das macht sie m.E. ideologisch interessant, denn man hat das Gefühl, dass man weiß,
worauf sie verweisen, während sie im Grunde in den verschiedensten Kontexten und
Situationen eingesetzt werden. Dieses Merkmal haben Schlagwörter mit Begriffen
gemein, denn Kaempfert (1990) macht beispielsweise darauf aufmerksam, dass auch
Schlagwörter wegen ihrer Vagheit eine Tendenz zur “Sinnentleerung” (1990: 1203)
aufweisen. Ein anderes inhaltliches Kennzeichen von Schlagwörtern, das auch den
Ausdruck Drang nach Osten charakterisiert, ist, dass sie sich meistens auf politische
Gegebenheiten beziehen (vgl. u.a. Freitag /1974/, Bachem /1979/ und Sittel /1990/) und
dass sie das “politische Denken erleichtern oder ersetzen” (Gollwitzer 1982: 9), indem
sie vereinfachen und verallgemeinern. Kaempfert (1990: 1201) weist in diesem
Zusammenhang darauf hin, dass Schlagwörter im politischen Diskurs oft eine ganze
Argumentationskette verkürzt zum Ausdruck bringen. In Bezug auf den Inhalt von
Schlagwörtern wird zum Schluss von verschiedenen Forschern (u.a. Ladendorf /1906/
und Dieckmann /1975/) betont, dass sie eine emotionelle Komponente enthalten. Die
20
Wenn es sich um Sätze oder satzwertige Ausdrücke handelt, bevorzugt Kaempfert (1990: 1200) die
Bezeichnungen Losung, Parole oder Slogan.
79
emotionelle Bedeutung kommt meiner Ansicht nach jedoch erst als eine Folge der
besonderen kommunikativen Funktion der Schlagwörter hinzu.
Schlagwörter haben laut Gollwitzer (1982) eine deutliche pragmatische
Funktion:
Schlagwörter können beruhigen oder, wie in den meisten Fällen, aufstacheln,
Hoffnungen und Zuversicht, aber auch Befürchtungen und Ängste hervorrufen
oder vertiefen. (Gollwitzer 1982: 8)
Alle Aspekte, die Gollwitzer in diesem Zitat nennt, sind beim Ausdruck Drang nach
Osten zu bestimmten Zeitpunkten vorhanden gewesen. Das hängt vor allem mit der im
dritten Kapitel beschriebenen Funktion des Ausdrucks als Faktor zusammen. Es gibt
mehrere deutliche Beispiele, in denen Drang nach Osten zum “Aufstacheln” benutzt
wurde. Deutscherseits wurde dabei meistens zu einer neuen Expansion aufgerufen. In
nicht-deutschen Kontexten wollte man beispielsweise eine panslavistische Front gegen
eine (angebliche) deutsche Expansion aufrichten. “Hoffnung und Zuversicht” wollte
man u.a. in Deutschland mit dem Drang nach Osten hervorrufen; die Vergangenheit
sollte Vertrauen in die Zukunft erwecken. Das Schaffen von “Befürchtungen und
Ängste[n]” spielte andererseits eine Rolle für diejenigen, die sich als Opfer des Drangs
nach Osten betrachteten. Mithilfe einer Warnung vor einer erneuten Phase dieses
Drangs konnte leicht Angst hervorgerufen worden. Hierin liegt meiner Meinung nach
der emotionelle Wert von Schlagwörtern: Sie veranlassen allerhand Emotionen bei den
Zuhörern und werden von den Sprechern gerade wegen dieser – erhofften – Wirkung als
Faktor benutzt.
Außerdem werden Schlagwörter wegen ihrer emotionellen Wirkung besonders
in Diskussionen verwendet und bringen einen deutlichen “Standpunkt für oder wider ein
Streben” (Ladendorf 1906: VII) zum Ausdruck. Daher wird meist zwischen
Fahnenwörtern, die positiv konnotiert sind und einen Standpunkt der eigenen Gruppe
zum Ausdruck bringen, und Stigmawörtern, die negative Assoziationen veranlassen und
einen Standpunkt der gegnerischen Partei negativ bewerten, unterschieden (vgl.
Burkhardt 1998: 101). Dabei ist es oftmals so, dass ein- und dasselbe Schlagwort zu
beiden Zwecken eingesetzt wird, weil die eine Gruppe die Bezeichnung der
gegnerischen Ideologie übernimmt (vgl. Freitag 1974: 122). Auch der Ausdruck Drang
nach Osten ist zu beiden Zwecken verwendet worden: Er hat überwiegend die Funktion
eines Stigmawortes ausgeübt, ist aber beispielsweise vom Alldeutschen Verband auch
80
als Fahnenwort benutzt worden. Wenn ein Schlagwort sowohl als Fahnenwort, als auch
als Stigmawort fungiert, ist es oftmals so, dass die von der gegnerischen Partei
übernommene Bezeichnung ironisiert, überbenutzt und typografisch (mittels Sperrdruck
oder Anführungszeichen) hervorgehoben wird. Auch dieses Phänomen ist beim
Ausdruck Drang nach Osten zu finden. Die Ironie wurde dabei mittels Epitheta wie
“fameux” (Übersetzung n. Meyer 1996: 96 von Kramár 1899: 596) und “sogenannten”
(Übersetzung n. Nolte 1976: 139 von Gracianskij 1943: 9) ausgedrückt. Ebenso
distanzierte man sich unmissverständlich vom Drang nach Osten mit der Hinzufügung
des Possessivpronomens21
. Dies ist z.B. der Fall im bereits erwähnten Zitat von M.S.
Semenov (vgl. oben III, 3.1.2), in dem er Folgendes schreibt:
But when […] these Germans start preaching about their [meine Hervorhebung,
SV] Drang nach Osten, we turn indignantly from them. (Übersetzung n. Meyer
1996: 60 von der Moskovskie Vedomosti, 25. November 186522
)
Typografisch wurde Drang nach Osten von Anfang an (vgl. oben u.a. III, 2.2.1 das
Zitat von Klaczko) oft mithilfe von Anführungszeichen hervorgehoben.
In der Schlagwort-Forschung wird jedoch betont, dass Schlagwörter ihre
besondere Funktion in argumentativen Reden nur ausüben können, wenn sie sich auf
Themen beziehen, die in der Gesellschaft oder in der Gruppe eine besondere Aktualität
haben (vgl. Kaempfert 1990²: 199). Das erklärt, weshalb Schlagwörter oft verschwinden
und nach einer Weile wieder auftauchen. Beim Ausdruck Drang nach Osten merkt man
auch, dass er nur dann benutzt wird, wenn es in der Aktualität einen bestimmten Anlass
dazu gibt, sobald es diesen nicht gibt, verschwindet der Ausdruck wieder. Dies hängt
deutlich mit der im dritten Kapitel erwähnten Indikatorenfunktion des Ausdrucks
zusammen. Nach Nunn (1974) kann ein Schlagwort sich demzufolge in drei Richtungen
entwickeln:
Entweder es verschwindet aus dem Sprachgebrauch, da die Umstände, aus denen
es geboren wurde, nicht länger bestehen, oder es erwirbt einen gesicherten Status
als etablierter Schlüsselbegriff in den Geschichtsbüchern, oder es wird zu einem
normalen unscheinbaren Bestandteil der Alltagssprache. (Nunn 1974: 15)
Wenn man diese Behauptung auf den Ausdruck Drang nach Osten anwendet, kann man
wie Meyer (1996) annehmen, dass sich aus dem Schlagwort ein Begriff entwickelt hat.
21
Nicht nur Wippermann (1981) und Meyer (1996) erwähnen Zitate, in denen das Possessivpronomen
ausdrücklich hinzugefügt worden ist, sondern auch auf der Website des Projektes Deutscher Wortschatz
der Universität Leipzig wird “ihrem” immer noch als signifikanter linker Nachbar von Drang angegeben. 22
Vgl. Fußnote 10.
81
Ich habe jedoch bereits gezeigt, dass diese Entwicklung zum Begriff tatsächlich in
einigen Bereichen und zu einer gewissen Zeit stattgefunden hat, dass sie aber niemals
definitiv und allumfassend gewesen ist, weil von der Geschichtswissenschaft gezeigt
wurde, dass der Begriff eigentlich keinen Referent hatte.
4.2 Drang nach Osten als zeitweiliges Schlagwort
Es fällt auf, dass alle wesentlichen Kennzeichen von Schlagwörtern auf Drang nach
Osten zutreffen. Deswegen neige ich dazu, Meyers Katalogisierung des Drangs nach
Osten als Schlagwort zu akzeptieren. Problematisch an einer allzu allgemeinen
Beschreibung von Schlagwörtern ist, dass sie auf diese Weise sehr viel Ähnlichkeiten
mit Begriffen aufweisen. Sie unterscheiden sich aber von Letzteren, da sie nicht in allen
Bereichen, in denen Begriffe verwendet werden, auftauchen können. Schlagwörter
gehören an erste Stelle in den Bereich der Öffentlichkeit, genauer gesagt in den Bereich
der (polemischen) Publizistik. Sie werden somit in Texten benutzt, deren Hauptziel es
ist, mittels Beeinflussung der Meinung des Publikums mehr Anhänger für die im Text
geäußerten Thesen zu gewinnen. Dabei muss die rationale Argumentation oft der
emotionalen Wirkung weichen23
. Während (politische) Schlagwörter immer zu
ideologischen Zwecken benutzt werden, haben Begriffe differenziertere
Verwendungsmöglichkeiten; sie können ideologisiert werden, können aber auch neutral,
d.h. ohne dass eine Meinungsänderung beabsichtigt ist, verwendet werden.
Es springt jedoch ins Auge, dass Drang nach Osten fast ausschließlich in
agitatorischen Texten verwendet worden ist. Dazu rechne ich auch die vielen
Verwendungen in der Geschichtsschreibung, denn diese lieferte, indem sie Teil der
politischen Propaganda war, eher eine Interpretation mit dem Hinblick auf eine
Meinungsänderung beim Publikum, als eine objektive Beschreibung der Geschichte.
Vor allem deswegen scheint es mir angebracht, Drang nach Osten als Schlagwort zu
bezeichnen. Wie bei der Bezeichnung Begriff glaube ich aber, dass auch die
Bezeichnung Schlagwort sich heutzutage nicht mehr für den Ausdruck Drang nach
Osten eignet. Der Ausdruck bringt nicht länger etwas zum Ausdruck, was in einer
23
Die Verwendung des Ausdruckes Drang nach Osten wegen seiner emotionalen Wirkung könnte für
Lemberg (1976) der Grund gewesen sein, ihn als “historische[n] Mythos” (1976: 9) zu bezeichnen, denn
nach Dehli (2002) ist mit Mythos eine Sprachform gemeint, die eher “symbolisch-emotional” wirken will,
als dass sie “rational überzeugen” (Dehli 2002: 223) möchte.
82
bestimmten Gesellschaft eine gewisse Aktualität hat und ist deswegen als Schlagwort
funktionslos geworden.
5. Drang nach Osten als Wortgruppenlexem
Der Ausdruck Drang nach Osten hat sowohl die Funktion eines Begriffes, als auch die
eines Schlagwortes nur zeitweilig ausgeübt. Wenn man auf der Suche ist nach einer
linguistischen Bezeichnung, die auf die ganze Verwendungsgeschichte des Ausdrucks
anwendbar ist, kommt u.a. die Bezeichnung Wortgruppenlexem in Betracht.
Bei Wortgruppenlexemen, z.B. Schwarzes Meer, Erste Hilfe, Ewiger Jude usw.,
handelt es sich nach Elsen und Michel (2007) um:
[…] Syntagmen, die nicht als freie Fügungen bezeichnet werden können, da sie
mit relativ fester Struktur und fester Bedeutung wiederholt vorkommen und in
dieser Hinsicht den eigentlichen Lexemen gleichen. (Elsen und Michel 2007: 3)
In dieser Erklärung des Terminus Wortgruppenlexem werden nur zwei besondere
Kriterien genannt: Wortgruppenlexeme haben eine feste Struktur und eine feste
Bedeutung vorzuweisen. Diese Kriterien sind m.E. auf den Ausdruck Drang nach Osten
anwendbar. Die Struktur des Ausdrucks liegt relativ fest, d.h. zwischen den
verschiedenen Lexemen können keine modifizierenden Elemente eingeschoben werden.
So findet man beispielsweise eher „der deutsche Drang nach Osten‟ als „der Drang der
Deutschen nach Osten‟. Außerdem können die einzelnen Lexeme normalerweise nicht
ausgetauscht werden. Dies hat man beim Ausdruck Drang nach Osten schon gemacht,
indem z.B. in Polen zu einem „Drang nach Westen‟ aufgerufen wurde. Elsen (2007)
zufolge sind solche “abgrenzende[n] Kontrastbegriffe” (Elsen 2007: 7) jedoch typisch
für Wortgruppenlexeme. Das unterscheide sie von Phraseologismen, bei denen die
einzelnen Lexeme unaustauschbar seien und bringe sie in die Nähe der Komposita, bei
denen man solche Kontrastbegriffe auch finden kann (z.B. Rotkohl/Weißkohl). Bei
Wortgruppenlexemen kann das modifizierende Lexem durch ein kontrastives ersetzt
werden und deswegen wird ihre Struktur als relativ fest bezeichnet (vgl. Elsen 2007: 7).
Auch die Bedeutung liegt beim Ausdruck Drang nach Osten relativ fest, d.h. im Grunde
ist die Bedeutung immer dieselbe geblieben, es gab aber ein bleibender
Aktualisierungsspielraum, der bewirkte, dass die Bezeichnungsmöglichkeiten des
Ausdrucks erweitert werden konnten.
83
Neben diesen im Zitat genannten Kriterien haben Wortgruppenlexeme nach
Elsen (2007) noch einige andere typische Eigenschaften, wodurch sie sich von anderen
Kollokationsmustern unterscheiden: Erstens weist Elsen (2007: 2) darauf hin, dass
Wortgruppenlexeme im Gegensatz zu den meisten Phraseologismen eine nicht-
idiomatische Bedeutung haben, d.h. wenn man die Bedeutung der Einzelwörter
zusammenfügt, bekommt man die Bedeutung des gesamten Ausdrucks. Dieses
Kriterium gilt auch für den Ausdruck Drang nach Osten, denn aus der Lembergschen
Definition stellt sich deutlich heraus, dass die Bedeutung beim Ausdruck Drang nach
Osten motiviert oder nicht-idiomatisiert ist. Zweitens fällt bei Wortgruppenlexemen laut
Elsen (2007: 9) die lexikalische und/oder graphische Hervorhebung auf. Solche
Hervorhebungen finde man vor allem bei neuen Wortgruppenlexemen, weil man sie auf
diese Weise als Wortgruppe hervorheben und auf ihren Lexemstatus aufmerksam
machen könne. Für solche Hervorhebungen beim Ausdruck Drang nach Osten habe ich
in dieser Arbeit unterschiedliche Beweise geliefert, z.B. der sogenannte Drang nach
Osten (lexikalische Hervorhebung) und die Verwendung von Anführungszeichen
(graphische Hervorhebung). Drittens und letztens haben Wortgruppenlexeme nach
Elsen (2007: 16) einen Terminuscharakter, der bewirke, dass ihre Referenz “per
definitionem” (Elsen 2007: 16) eindeutig sei. Dieses Kriterium ist für den Ausdruck
Drang nach Osten problematisch, denn bei der Beschreibung des Begriffscharakters
(vgl. oben IV, 3.1.1) habe ich darauf hingewiesen, dass es nicht immer deutlich ist,
worauf mit dem Ausdruck verwiesen wird. Trotz der Tatsache, dass Elsen (2007: 16)
dieses Merkmal besonders wichtig findet, glaube ich, dass das Fehlen dieses Aspektes
beim Ausdruck Drang nach Osten kein ausreichender Grund dafür ist, ihn nicht als
Wortgruppenlexem zu bezeichnen. Elsen (2007: 16ff) hebt nämlich hervor, dass es
zwischen unterschiedlichen Kollokationsmustern einen fließenden Übergang gibt und
dass man die verschiedenen Typen demzufolge nicht eindeutig definitorisch festlegen
kann. Für jeden Typus kann nur ein bestimmtes Kriterienbündel aufgestellt werden.
Abhängig von der Anzahl Kriterien, die auf einen bestimmten sprachlichen Ausdruck
zutreffen, kann man den Ausdruck dann einer gewissen Kategorie zuordnen. Wenn alle
Kriterien erfüllt werden, dann gehört ein Ausdruck zum Kern einer Kategorie. Wenn
nur einige Kriterien anwendbar sind, dann ist er eher in ihre Peripherie einzuordnen
(vgl. Elsen und Michel 2007: 12f). Der Übergang vom Zentrum zur Peripherie macht es
84
Elsen und Michel (2007) zufolge möglich, auch Phänomene der Parole, die bei den
bisherigen systemlinguistischen Definitionen unberücksichtigt blieben, in Kategorien
einzuteilen. Da dem Ausdruck Drang nach Osten nur ein Merkmal eines
Wortgruppenlexems fehlt, glaube ich, dass er diesem Kollokationsmuster zuzuorden ist.
Abhängig von der Gewichtung, die man diesem fehlenden Kriterium beimisst, kann
Drang nach Osten eher in die Nähe des Zentrums oder in die Peripherie der
Wortgruppenlexeme eingestuft werden.
In ihrem Plädoyer für eine mehr gebrauchsbezogene Wortbildungsforschung
schlagen Elsen und Michel (2007) vor, in der Wortbildungsforschung u.a. auch text-,
sozio-, gesprächs- und pragmalinguistische Fragestellungen zu bearbeiten. Aus
Platzmangel wird hier auf eine Beschreibung des Nutzens all dieser Fragestellungen für
die Wortbildungsforschung verzichtet und werden nur die soziopragmatischen
Fragestellungen näher betrachtet, weil diese für den Ausdruck Drang nach Osten von
besonderem Interesse sind. Pragmatische Fragestellungen sind u.a. auf den “Einfluss
ko- und kontextueller Faktoren auf den Sprachgebrauch” (Elsen und Michel 2007: 10)
gerichtet. Beim Ausdruck Drang nach Osten haben sowohl der Kotext als der Kontext
meiner Ansicht nach einen Einfluss auf dessen Gebrauch ausgeübt. Die Tatsache, dass
Drang nach Osten sich aus einer Menge gleichwertiger Ausdrücke herauskristallisiert
hat und dass er auch zur damals beliebten Metaphorik passte, beweist, dass die
kotextuelle Umgebung zur Formung dieses Wortbildungsproduktes beigetragen hat.
Was mir aber bemerkenswerter scheint, ist, dass sich im dritten Kapitel deutlich
herausgestellt hat, dass die Verwendung des Ausdrucks kontextuell bestimmt war. Der
Kontext einer national-teleologischen Interpretation der Beziehungsgeschichte
stimulierte nicht nur den Gebrauch des Ausdrucks, sondern war sogar eine
Voraussetzung für seine Verwendung: Sobald nicht mehr an eine “national-
geschichtliche Teleologie” (Zernack 1992: 397) geglaubt wurde, verschwand nämlich
auch der Ausdruck Drang nach Osten. Elsen und Michel (2007: 10) zufolge müssen
bestimmte Wortbildungsphänomene mittels eines morphosoziopragmatischen
Verfahrens analysiert werden. Eine solche Verknüpfung von Morphologie, Pragmatik
und Soziolinguistik sei
[…] insofern angemessen und sprachrealitätsnah, als für die ko- und
kontextuelle Realisierung morphologischer Strukturen pragmatische und
soziologische Gründe angeführt werden. (Elsen und Michel 2007: 10)
85
Die Forderung von Elsen und Michel (2007) nach einer mehr gebrauchsbezogenen
Wortbildungsforschung lässt sich auch sehr gut auf die Analyse von
Kollokationsmustern übertragen: Das besondere ist nicht, dass eine bestimmte
Kollokation zu Stande kommt, sondern dass im Falle des Ausdrucks Drang nach Osten
die nationale Beziehungsgeschichte zu den prägenden Gebrauchsbedingungen gehört.
Sowie Elsen und Michel (2007) in ihrem Artikel jedoch selbst angeben gibt es im
Bereich der Parole noch manches zu erforschen. Die Analyse des Ausdrucks Drang
nach Osten bestätigt aber, dass es durchaus einen Sinn hat, Faktoren der Parole in
Betracht zu ziehen.
6. Gegenwärtiger Umgang mit dem Ausdruck Drang nach Osten
Wenn der Ausdruck Drang nach Osten heutzutage noch verwendet wird, dann kann
man ihn weder als Begriff, noch als Schlagwort bezeichnen, weil er nur zeitweise und
nur für bestimmte Akteure so fungiert hat. Wenn man ihn linguistisch genau benennen
möchte, dann kann man ihn aufgrund seiner Struktur und Bedeutung als
Wortgruppenlexem bezeichnen. Im allgemeinsprachlichen Gebrauch ist diese
Bezeichnung jedoch zu umständlich und deswegen scheinen mir in solchen Fällen nur
generelle Bezeichnungen wie Ausdruck und Formulierung geeignet. Mit diesen
Bezeichnungen sind keine besonderen inhaltlichen oder funktionalen Kriterien
verknüpft, weshalb sie auf Drang nach Osten angewandt werden können.
In der Einführung habe ich darauf hingewiesen, dass der Ausdruck Drang nach
Osten gelegentlich noch in der Publizistik und dabei vor allem in Schlagzeilen
verwendet wird, z.B. “Vom Drang nach Osten zur peripheren EU-Integration" (Neues
Deutschland 2002)24
. In diesen Fällen übt er meiner Ansicht nach weder die Funktion
eines Begriffes noch die eines Schlagwortes aus, sondern fungiert er nur als “Fangwort”
(Dieckmann 1975: 106), um die Aufmerksamkeit zu erregen. Wenn Drang nach Osten
als Fangwort in Schlagzeilen benutzt wird, muss jedoch darauf geachtet werden, dass er
nur als solcher vom Publikum aufgefasst wird. Im weiteren Verlauf des Textes muss
klargemacht werden, dass der Ausdruck nur eingesetzt wurde, um die Aufmerksamkeit
zu erregen und dass man sich weiter vom klischeehaften Geschichtsbild, dass von
diesem Ausdruck hervorgerufen wird, distanziert. Dabei muss man sich ständig dessen
24
Ich habe dieses Beispiel der Website Deutscher Wortschatz entnommen.
86
bewusst sein, dass der Ausdruck mit Mitteln der Ideologiekritik dekonstruiert worden
ist und deswegen von der Geschichtswissenschaft abgelehnt wird.
87
Kapitel V: Zum Schluss…
1. Die geschichtliche und sprachliche Funktion des Ausdrucks Drang nach
Osten
Ausgangspunkt dieser Arbeit war die Tatsache, dass der Ausdruck Drang nach Osten
heutzutage trotz seiner ideologiekritischen Dekonstruktion gelegentlich noch immer bei
der Beschreibung der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte auftaucht. Deswegen
schien es mir angebracht, anhand einer Synthese der bisherigen Arbeiten zum Thema
Drang nach Osten die beziehungsgeschichtliche Rolle des Ausdrucks genauer zu
untersuchen. Dazu habe ich ein begriffsgeschichtliches Verfahren angewandt, das
untersucht, in welchen Kontexten Ausdrücke zu welchen Zwecken benutzt werden. Auf
diese Weise habe ich die Verbreitung und die Entwicklung des Ausdrucks Drang nach
Osten skizziert und dabei untersucht, ob er im Laufe der Zeit als Indikator und als
Faktor fungiert hat.
Die Indikatorenfunktion zeigte sich vor allem darin, dass die Verwendung des
Ausdrucks seit seiner Entstehung im deutsch-polnischen Kontext jeweils ein Misslingen
der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte indizierte. Auch in den anderen
Kontexten, in denen der Ausdruck mit der Zeit benutzt wurde, war sein Auftauchen
immer ein Zeichen dafür, dass die Beziehungen zu Deutschland sich verschlechterten.
Umgekehrt wies das Verschwinden des Ausdrucks jedes Mal auf eine Verbesserung der
gegenseitigen Beziehungen hin.
Ob der Ausdruck auch als Faktor gewirkt hat, war nicht so eindeutig zu
bestimmen. Konkrete Beweise dafür, dass er historische Ereignisse veranlasst hat, habe
ich nicht finden können. Allerdings kann ich mir jedoch leicht vorstellen, dass die
Verwendung des Ausdrucks zu einer Änderung in der Wahrnehmung der Wirklichkeit
geführt hat. Ob solche Bewusstseinsänderungen beim gemeinen Mann tatsächlich
stattgefunden haben, muss m.E. jedoch noch näher untersucht werden. Die Frage, ob der
Ausdruck Drang nach Osten jemals als Faktor der Geschichte fungiert hat, ist somit
noch nicht beantwortet worden. Andererseits habe ich einen deutlichen Beweis für das
Versagen des Ausdrucks als Faktor finden können: Der Aufruf des Alldeutschen
Verbandes zu einer modernen Erneuerung des mittelalterlichen Drangs nach Osten ist
von den deutschen Auswanderern nicht befolgt worden.
88
Bei dieser Übersicht über die Geschichte des Ausdrucks Drang nach Osten ist
eine faktografische Darstellung mit den Ergebnissen der ideologiekritischen Forschung
kombiniert worden. Vor allem dieses letzte Element hat bewirkt, dass in dieser Arbeit,
im Gegensatz zu Meyer (1996), die These vertreten worden ist, dass die geschichtliche
Rolle des Ausdrucks Drang nach Osten heutzutage ausgespielt ist. Es hat sich nämlich
herausgestellt, dass der Ausdruck nicht nur zu ideologischen Zwecken missbraucht
wurde, sondern dass es so etwas wie einen Drang nach Osten in Wirklichkeit überhaupt
nicht gegeben hat. Der Ausdruck hat nur aus der Perspektive einer
“nationalgeschichtlichen Teleologie” (Zernack 1992: 397) einen Sinn, denn sobald nicht
mehr an angeborene, national bestimmte und unwiderstehliche Triebe geglaubt wird,
hat auch Drang nach Osten seine Gültigkeit verloren.
Im letzten Teil dieser Arbeit habe ich anhand der Ergebnisse des dritten
Kapitels die These Meyers (1996), aus dem Schlagwort habe sich ein Begriff Drang
nach Osten entwickelt, überprüft. Ich habe dabei versucht, die unterschiedlichen
Kriterien für Begriffe und Schlagwörter auf den Ausdruck Drang nach Osten
anzuwenden und habe feststellen können, dass beide Bezeichnungen auf Drang nach
Osten anwendbar sind, sofern hinzugefügt wird, dass sie diese Funktionen nur temporär
und nur für bestimmte Akteure ausgeübt haben. Im allgemeinsprachlichen Gebrauch
schlage ich aber vor, Drang nach Osten als Ausdruck oder Formulierung zu bezeichnen.
Wenn man den Ausdruck linguistisch jedoch genau katalogisieren möchte, dann glaube
ich, dass er seiner Struktur und Bedeutung nach als Wortgruppenlexem einzustufen ist.
2. Forschungsausblick: Eine diskursanalytische Perspektive
In dieser Arbeit habe ich anhand des Ausdrucks Drang nach Osten gezeigt, dass auch
Sprache eine beziehungsgeschichtliche Rolle spielen kann. Meine
begriffsgeschichtliche Analyse ist jedoch nur als Ansatzpunkt für künftige
Untersuchungen zu betrachten. Das begriffsgeschichtliche Verfahren stößt nämlich
schnell an seine Grenzen, und deswegen möchte ich zum Ende dieser Arbeit kurz auf
die Möglichkeiten anderer Methoden – vor allem die der Diskursanalyse – eingehen.
Nach dem Vorbild der Begriffsgeschichte ist in der Forschung mehr und mehr
folgende These vertreten worden,
89
daß es sich bei Sprache nicht, wie vielfach angenommen, um ein transparentes
Phänomen handelt, das Welt einfach abbildet, sondern daß sie Strukuren,
Beziehungen, Kausalitäten, Identitäten und Wissensformen jeglicher Art produziert,
reproduziert und transformiert. (Landwehr 2004: 169)
Gerade wenn man mit einer vielfach problematisierten Beziehungsgeschichte wie der
zwischen Deutschland und Polen konfrontiert wird, so muss “die sprachliche Gestaltung
historischer Wirklichkeiten” (Daniel 2001: 345) genau untersucht werden. Diese
sprachliche Gestaltung ist nämlich nie eine objektive Abspiegelung der
außersprachlichen Welt, sondern immer eine subjektiv gefärbte Konstruktion. Dieser
Gedanke lag der Begriffsgeschichte zu Grunde. Ihre Kritiker, allen voran Busse (1987),
werfen ihr aber vor, sie richte die Aufmerksamkeit zu sehr auf einzelne Begriffe, auf das
“alles konzentrierende Wort” (Busse 1987: 64), und vernachlässige somit den größeren
textuellen Zusammenhang, in dem vielleicht der untersuchte Begriff als solcher fehlt,
dieselben Gedanken aber möglicherweise mit anderen Worten zum Ausdruck gebracht
werden. Nach dem Vorbild Wittgensteins behauptet Busse (1987), dass wir uns nicht
mit “Wörter[n] und Begriffe[n]”, sondern mit “Sätze[n] und Gedanken” (Busse 1987:
86) auf die Wirklichkeit beziehen. Diese Kritik hat bewirkt, dass die Forschung den
Schwerpunkt mehr und mehr von Wörtern und Sätzen auf ganze Diskurse verlegt hat.
Auch der Terminus Diskurs ist noch nicht eindeutig definitorisch festgelegt
worden, ich übernehme hier aber den Diskurs-Begriff, wie er von Busse und Teubert
(1994) entwickelt worden ist. Sie betrachten Diskurse als “virtuelle Textkorpora, deren
Zusammensetzung durch im weitesten Sinne inhaltliche (bzw. semantische) Kriterien
bestimmt wird” (Busse und Teubert 1994: 14); unter Diskursen verstehen sie somit alle
Aussagen zu ein und demselben Thema. Diese Äußerungen werden in unterschiedlichen
Texten realisiert, nehmen aber über die Textgrenzen hinaus aufeinander Bezug (vgl.
Jung und Wengeler 1999: 146f). Der Zusammenhang mit dem Diskurs-Begriff
Foucaults ist dabei offenbar, denn auch Foucault betone, dass “Beziehungen zwischen
einzelnen Aussagen oder Aussageelementen [...] quer durch eine Vielzahl einzelner
Textexemplare“ (Busse und Teubert 1994: 15) für Diskurse konstitutiv sind. Ziel der
Diskursanalyse ist es, die Regeln, die diese Beziehungen je nach Diskurs festlegen,
herauszufinden und zu untersuchen:
90
[D]ie historische Diskursanalyse [will] die Regeln und Regelmäßigkeiten des
Diskurses, seine Möglichkeiten zur Wirklichkeitskonstruktion, seine
gesellschaftliche Verankerung und seine historische Veränderungen zum Inhalt der
Untersuchung machen. (Landwehr 2004: 7)
Obwohl die Begriffsgeschichte durchaus die Rolle des historischen Kontextes in
Betracht zieht, merkt man, dass ihr Blickwinkel sich von dem der Diskursanalyse
unterscheidet. Die Diskursanalyse geht von einem bestimmten Thema aus und
untersucht möglichst viele Äußerungen, die sich auf dieses Thema beziehen, während
bei der Begriffsgeschichte ein bestimmter Begriff samt seiner Rolle in gewissen
historischen Kontexten im Mittelpunkt steht. Auch ich habe in dieser Arbeit eine
begriffsgeschichtliche Vorgehensweise verwendet, wollte damit aber lediglich die
Aufmerksamkeit auf die Rolle der Sprache in der deutsch-polnischen
Beziehungsgeschichte lenken. Anhand des Ausdrucks Drang nach Osten habe ich
nämlich zeigen können, dass die Sprache in dieser Beziehungsgeschichte einerseits als
Indikator auf gewisse historische Prozesse hinweist, die im Gang sind, jedoch noch
nicht von jedem wahrgenommen wurden, während sie andererseits die Wahrnehmung
dieser Prozesse als Faktor auch mitbeeinflusst hat. Auf diese Weise wollte ich darauf
aufmerksam machen, dass es sich lohnt, in zukünftigen, diskursanalytischen
Untersuchungen die Rolle und die Möglichkeiten der Sprache und des Sprachgebrauchs
in historisch-politischen Kontexten weiter zu untersuchen.
Ausgehend vom Ausdruck Drang nach Osten könnte in künftigen
Untersuchungen, zunächst die Quellenbasis auf Alltagstexte wie beispielsweise
Tageszeitungen und Trivialliteratur erweitert werden. Busse (1987) hat in seiner Kritik
an der Begriffsgeschichte nämlich darauf aufmerksam gemacht, dass sie “hauptsächlich
theoretische, philosophische, betrachtende und konzipierende Texte” (Busse 1987: 65)
untersuche und dass man eine differenziertere Quellengrundlage brauche, wenn man
den gesamten Einfluss sprachlicher Zeichen beschreiben will. In vorliegender Arbeit bin
ich selber auch mehrmals zu der Einsicht gekommen, dass vor allem in Bezug auf die
Rolle des Ausdrucks Drang nach Osten als Faktor die Untersuchung mehrerer und
anderer Quellen notwendig ist. Neben einer Erweiterung der Quellengrundlage könnten
auch Untersuchungen von Text-Bild-Beziehungen zu interessanten Ergebnissen führen.
Arbeiten, in denen der Zusammenhang zwischen Wörtern und Bildern zentral steht, hat
es bisher vor allem in Bezug auf die Malerei gegeben (vgl. Hampsher-Monk et al.
91
1998). Was den konkreten Fall des Ausdrucks Drang nach Osten betrifft, so könnte ich
mir vorstellen, dass bildliche und insbesondere kartografische Darstellungen25
u.a. der
Ostsiedlung untersuchenswert sind. Auch für die deutsch-polnische
Beziehungsgeschichte im Allgemeinen könnte der Zusammenhang zwischen Text und
Bild ein ergiebiges Forschungsobjekt sein. Ich denke dabei beispielsweise an eine
Analyse des Kupferstiches von J. E. Nilson26
aus dem Jahre 1773, auf dem die erste
Teilung Polens allegorisch vorgestellt wird.
Mit diesen konkreten Forschungsvorschlägen möchte ich zeigen, dass weitere
semantische und semiotische Analysen sicherlich zu fruchtbaren Ergebnissen führen
und zu einem besseren Verständnis der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte
beitragen werden.
25
So könnte man unterschiedliche Karten mit Titeln wie Drang nach Osten oder Ostsiedlung und
dergleichen miteinander vergleichen. 26
Dieses Bild findet man u.a.bei Zernack (1991 [1981]: 56).
92
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