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Faculteit Letteren en Wijsbegeerte Sieg der individuellen Figur über das sozialistische Kollektiv Eine Analyse des kämpfenden Protagonisten in Uwe Tellkamps Der Turm Hans Rasschaert Promotorin: Dr. Elke Gilson Opleiding: Master Vergelijkende Academiejaar 2010 - 2011 Moderne Letterkunde

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Faculteit Letteren en Wijsbegeerte

Sieg der individuellen Figur über das sozialistische

Kollektiv

Eine Analyse des kämpfenden Protagonisten in Uwe Tellkamps Der Turm

Hans Rasschaert

Promotorin: Dr. Elke Gilson

Opleiding: Master Vergelijkende Academiejaar 2010 - 2011

Moderne Letterkunde

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Dankeswort

An erster Stelle möchte ich mich ausführlich bei meiner Promotorin Dr. Elke Gilson

bedanken, denn sie hat mich immer mit riesengroßer Geduld und Flexibilität betreut. Auch

hat sie mir nützlichen Quellen in Bezug auf Der Turm, die ich selber nie gefunden hätte,

besorgt. Dazu hat sie mich, mit ihren kritischen und notwendigen Bemerkungen und

interessanten Vorschlägen, angeregt, die Arbeit besser und deutlicher zu machen. Die

Ausforderung, Uwe Tellkamps Der Turm literaturwissenschaftlich zu analysieren, hatte ich

ohne sie nicht geschafft. Ich danke auch meinen Eltern, denn sie haben mich nach meinem

Wunsch in Ruhe gelassen, auch wenn sie Angst hatten, ich wurde diese Arbeit nie

fertigschreiben können. Doch haben sie nie das Zutrauen zu mir verloren. Ich bedanke mich

auch bei meiner Freundin und meinen Freunden, um mir die mehr als notwendige Erholung

und immer wieder neue Energie zu besorgen. Schließlich möchte ich Uwe Tellkamp

danken, denn er hat mir neue Einsichten in der sozialistischen Welt Ost-Deutschlands

gegeben und meine, vorher abwesende, Interessen für die DDR aufgeregt.

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Inhalt

0. Einleitung 8

1. Rekonstruktion einer Lebenswelt 13

1.1 Eine bestimmte Familie in einer bestimmten Zeit 13

1.1.1 Die Familie Hoffmann 13

1.1.2 Die Zeit der DDR 14

1.2 Einblicke in Schule und Militär 15

1.3 Diktatorische Gesellschaft 16

1.4 Opposition der Welten 18

1.4.1 Innen vs. Außen 18

1.4.2 Wohlfühlen vs. Zerfall 20

1.5 Variation der Stile 23

2. Schlaf der Zeit 25

2.1 Stillstand des Systems 25

2.2 Symbole der Zeit 25

2.2.1 Der Fluss 26

2.2.2 Der Zug 27

2.2.3 Die Standuhr 27

2.3 Tempo des Erzählens: Aufbau zu einer Explosion 28

2.4 Das allererste Wort gegenüber dem allerletzten 30

2.4.1 Untertitel als Ankündigung 30

2.4.2 Doppelpunkt als Abschluss 31

3. Funktion und Wirkung der DDR in Der Turm 33

3.1 Erziehung und Umerziehung 33

3.1.1 Der Begriff ‚Bildung’ 33

3.1.2 Sinn der Umerziehung 36

3.2 Stadt unter Quarantäne 37

3.3 Pfeiler der DDR 39

3.3.1 Die Jugend und Kultur 39

3.3.2 Das Kollektiv 41

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3.3.3 Das Volk 42

3.4 Armee als Einordnung 43

3.4.1 ‚Freiwilliger’ Eintritt 43

3.4.2 Sinn des Soldatseins 44

3.4.2.1 Kapitel 39: eine neue Lebensphase 44

3.4.2.2 Kapitel 44: Sei Sozialist 45

3.4.2.3 Kapitel 47: Teil der Gruppe 46

3.4.2.4 Kapitel 50: Gemeinsames Ziel 46

3.4.2.5 Kapitel 55: Unvergessliche Erlebnisse 47

3.4.2.6 Kapitel 58: Rolle der Frau 47

4. Die Figur Christians: entgegengearbeitete Entwicklung 49

4.1 Von einem Extrem ins andere 49

4.1.1 Immer weiter bergab 49

4.1.2 Radikaler Umschlag 51

4.2 Dekonstruktion von Christians Ich 52

4.2.1 Wendepunkte als Leitfaden 52

4.2.2 Armee zum Brechen des Individuums 56

4.2.3 Verlust der Identität 57

4.2.3.1 Christians Namensgebung 57

4.2.3.2 Christian wird zu niemandem 59

4.3 Konstruktion von Christians Ich 59

4.3.1 Struktur des Charakters 59

4.3.2 Position in der Welt 61

4.3.3 Identitätssuche 63

4.3.4 Erreichtes Ziel? 64

5. Schlussbetrachtung 67

6. Bibliografie 69

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0. Einleitung

In Uwe Tellkamps erfolgreichem Roman, Der Turm (2008), werden die letzten sieben

Jahre, die dem Mauerfall vorangehen, erzählt. Bisher gibt es wenig sekundäre Quellen

über dieses Epos, aber in den meisten Rezensionen behandelt man vor allem die

autobiografischen und historischen Elemente, die Tellkamp anhand der Figuren in der

Welt seines Romans darstellt. Ich werde dagegen vielmehr die fiktionalen Merkmale

dieses Romans behandeln und mich auf die Geschichte an sich konzentrieren, ohne die

Welt außerhalb des Buches zu viel zu betrachten. Der Roman folgt nämlich einem

klaren Handlungsverlauf mit einem Anlauf, einem Konflikt und einer Wende. Die

vorhandenen sekundären Quellen behandeln zum Beispiel Raum in Der Turm1, den

Untergang der DDR2, die kulturelle Erinnerung an die DDR in der Gegenwart

3 und die

Art und Weise, in der Tellkamp Dresden betrachtet4. Ich habe mich also dazu

entschieden, in Bezug auf dieses Buch, ein anderes Thema zu wählen. Ich frage mich,

wie Tellkamp die ständige Opposition zwischen der Utopie der Bildungsbürger, die sich

mit einer idealen Gesellschaft befasst, und der Dystopie, die Erzählung mit negativem

Ausgang, des Sozialismus darstellt. Mit dieser Frage zusammenhängend, beschäftige

ich mich auch mit der Analyse der adoleszenten Hauptfigur, Christian, der sich, trotz

seiner Krisen und anhand von verschiedenen textlichen Wendepunkten, zu entwickeln

versucht. In meiner Methode betrachte ich den dramatischen Aufbau des Textes anhand

der Analyse der verschiedenen Wendepunkte. Genau wie im Text werde ich mich oft

auf die Funktion und Darstellung der Armee konzentrieren.

Tellkamp stellt die Opposition zwischen der Evolution der Figur Christians und

der Gesellschaft des Sozialismus, in einer Zeit, die stillzustehen scheint, dar. Mit dieser

Opposition ist übrigens auch die zentrale politische Frage, der ideologische Unterschied

zwischen Sozialismus und Bildungsbürgertum, gemeint. Auch wenn alles im Zeichen

dieser Gesellschaft steht, gibt es lebenswichtige, persönliche Wendungen, die auf den

1 Anne Fuchs: „Topographien des System-Verfalls. Nostalgische und dystopische Raumentwürfe in Uwe

Tellkamps Der Turm.“ In: Germanistische Mitteilungen 70 (2009), S. 43 – 58. 2 Julia Hell: “Dissolution / Revolution: Uwe Tellkamp's post-89 Novel Der Turm and the Peculiar

Configuration of the Public Sphere in the Late GDR.” 5. Januar 2010. <http://publicsphere.ssrc.org/hell-uwe-tellkamps-post-89-novel-der-turm-and-the-peculiar-configuration-of-the-public-sphere-in-the-late-

gdr/> (20.5.2011) 3 Louise Holm und Søren Madsen: „Die Erinnerung an die DDR. Uwe Tellkamps Roman Der Turm in

den aktuellen deutschen Erinnerungsverhandlungen.“ 2009/2010, S 34.

<http://rudar.ruc.dk/bitstream/1800/4890/1/Die%20Erinnerung%20an%20die%20DDR%20-

%20Uwe%20Tellkamps%20Roman%20der%20Turm%20in%20den%20aktuellen%20deutschen%20Erin

nerungsverhandlungen.pdf> (16.06.2011) 4 David Clarke: „Space, Time and Power: The Chronotopes of Uwe Tellkamp‟s Der Turm“. In: German

Life and Letters 63:4 (Oktober 2010) S. 490 – 503.

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ersten Blick nichts mit dem System zu tun haben, aber nach weiterer Analyse immer

damit verknüpft sind. Obwohl die Wende in Deutschland 1989 kam, gibt es im Roman

schon einige Wendepunkte, die Christians Leben auf verschiedenen Ebenen, wie

derjenigen der Familie und der Freundschaft, revolutionär verändern. Die

Schlüsselszenen, die ihn betreffen, stehen auch immer mehr oder weniger auf das

Regime der DDR in Bezug. Anhand dieses gegenseitigen Zusammenarbeitens werde ich

die Art und Weise, in der Tellkamp das bildungsbürgerliche Individuum gegenüber dem

sozialistischen Kollektiv darstellt, analysieren. Diese Konfrontation zwischen der Figur

und deren zeitlichen Umgebung wird letztendlich zum Überleben des Protagonisten

führen.

Im ersten Abschnitt dieser Arbeit untersuche ich die Darstellung der Lebenswelt

einer Familie während der DDR-Zeit, wie sie von Tellkamp im Roman gestaltet wird. In

der Geschichte werden verschiedene Aspekte der Gesellschaft, wie Schule und Militär,

behandelt, und versucht Tellkamp auf diese Art und Weise die Darstellung des

Zeitalters so detailliert wie möglich zu präsentieren. Daneben gibt es für die Einwohner

lebenswichtige Oppositionen. Der illusionäre Schutz innerhalb der Häuser, der

Tellkamp kreiert, ist der Einschüchterung, Unterdrückung, dem Zwang, dem Misstrauen

und der Angst der äußeren Lebenswelt des Sozialismus diametral entgegengesetzt.

Dadurch scheint es, als ob zwei Lebenswelten dargestellt werden: Einerseits eine Welt

zum Wohlfühlen und andererseits eine Welt drumherum, die grau und von Zerfall

charakterisiert ist. Diese Kette von Gegensätzen hat in der diktatorischen DDR-

Gesellschaft zur Folge, dass die Hoffnungslosigkeit immer mehr hervortritt.

Zweitens kommt der Aspekt der Zeit, der von Tellkamp eine besondere Funktion

bekommt, an die Reihe. Wenn Meno schon am Anfang der Geschichte beschreibt, „wie

den Lauf der Zeiger auf den Uhren, an den Stillstand bremsten“5, ist es, als ob die Zeit

stehen geblieben wäre. Der Untertitel des Buches, „Geschichte aus einem versunkenen

Land“, kommt in dieser Arbeit erst dann an die Reihe, um die Behauptungen über den

Stillstand der Zeit zu bestätigen. Tellkamp hat in seinem Epos auch einige Symbole, die

das Stillstehen bzw. Bewegen der Zeit betonen, aufgegriffen. Die Standuhr kann zum

Beispiel die Zeit als auch familiäre Ordnung symbolisieren und der Fluss, die Elbe,

kann als Symbolisierung des sozialistischen Zeitlaufs gesehen werden. Auch die

Straßenbahn, die im Roman mehrmals aufgegriffen wird, repräsentiert den Ablauf der

5 Uwe Tellkamp: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. Frankfurt am Main: Suhrkamp

Verlag 2008. S.8. (Später im Text bezeichnet als: T Seitenzahl)

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Zeit. Das bemerkenswerteste Symbol aber ist vielleicht der Doppelpunkt ganz am Ende

der Geschichte. Dieses abschließende Satzzeichen kann auf viele Arten und Weisen

interpretiert werden. Dass es sich hier um ein offenes Ende handelt, ist

selbstverständlich, aber wie wird es weitergehen nach diesem Doppelpunkt?

Auch das Erzähltempo des Romans werde ich mit dem Zeitalter verknüpfen. Die

Geschichte wird im größten Teil des Buches langsam erzählt, ohne allzu große

Aufregungen, und macht dabei einen eingeschlafenen Eindruck. Das hat Tellkamp

meiner Meinung nach so dargestellt, um den Eindruck der stillstehenden Gesellschaft zu

betonen. Am Ende gibt es dagegen eine Art ‚Explosion‟ der Erzählung. „… aber dann

auf einmal …“ (T 966, 968, 970, 973) wird am Ende mehrmals zur Beschleunigung des

Erzählens benutzt. Das „Finale“ (T 890) ist das Synonym vom Epilog und kündigt an,

dass die Figuren sich dieser Klimax nähern. Zum Schluss dieses Abschnitts werde ich

dazu einen anderen Aspekt des Erzählstils, der zum Schlafenden in Opposition steht,

analysieren. Einen lebendigen Eindruck erreicht Tellkamp nämlich dadurch, dass er

verschiedene Erzählweisen verwendet. Der Stil ist vor allem beschreibend, aber

daneben benutzt er auch mehrmals Formen wie Dialoge, Tagebuchnotizen, Briefe, …

In der weiteren Analyse werde ich die Situation in der Gesellschaft der DDR, wie

sie von Tellkamp dargestellt wird, besprechen. Die buchstäblich eingemauerten Bürger,

die er darstellt, sind widerwillig Mitglieder des Systems, in dem sie nicht freiwillig

funktionieren wollen. Mit der Wahl der Bildungsbürger, von denen auch Uwe Tellkamp

entstammt und die die Außenseiter der Gesellschaft sind, kreiert der Autor eine klare

Opposition zwischen Ideal und Wirklichkeit. Dabei werde ich mich mit der Ambiguität

des Begriffs Bildung und der Umerziehung in der DDR und Der Turm beschäftigen. Es

gibt Voraussetzungen, wie die Einordnung im Kollektiv und die Aneignung der ‚roten

Logik‟ des Sozialismus, die immer wieder auf Lügen und Täuschungen stoßen.

Eines der wichtigsten ideologischen Mittel der DDR, das auch in Der Turm so

dargestellt wird, ist die NVA (= die Nationale Volksarmee) als Locus Terribilis. Sie hat

als Hauptaufgabe, das Individuum im Kollektiv einzuordnen und die Erwartungen des

Sozialismus zu bestätigen. Übrigens enthält die Armee auch eine militärische

Selbstdefinition, die das menschliche Wesen und die menschliche Existenz auf ihre

militärische Funktion reduziert. Sie hat nicht unmittelbar die Absicht, die Gesellschaft

im günstigen und ideologischen Sinne zu verändern, sondern die Individuen dieser

Gesellschaft zu manipulieren und anhand dieser sozialistischen Persönlichkeiten eine

starke Gesellschaft zu bilden. Die Respektlosigkeit der Offiziere gegenüber den

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Soldaten kommt sowohl in ihrer Sprache als auch in ihren Handlungen hervor. Hier

werden aufs Neue die Beschränkungen betont und entsteht die Frage, wie freiwillig der

‚freiwillige Eintritt‟ in die Armee wirklich ist. Auch der „Sinn des Soldatseins“, der in

Der Turm am Anfang einiger Kapitel (39, 44, 47, 50, 55, 58) beschrieben wird,

betrachte ich vielmehr als ambigue Auffassung Tellkamps.

Zum Schluss werde ich den Charakter Christians unter die Lupe nehmen. Dabei

werde ich auch untersuchen, welche die wichtigsten Wendepunkte, während der sieben

Jahre, im Leben Christians sind. Es gibt zentrale Szenen, die alle einen anderen Aspekt

seiner Entwicklung ändern: die Liebe und Freundschaft, die Familie, seine Position

gegenüber der Gesellschaft, … Anhand dieser Szenen versuche ich zu analysieren, wie

die Person Christians sich radikal geändert hat. In verschiedenen Schritten von immer

größer werdenden Krisen hat er sich von einem schüchternen Jungen zu einem

ausdienenden Dienstpflichtigen der NVA entwickelt.

Als Ausgangspunkt meiner Untersuchung nach der Konstruktion der Figur

Christians werde ich mich auf eine Behauptung von Hyunseon Lee beziehen. In Bezug

auf den Charakter in der Literatur der DDR schrieb sie:

Der Charakter veranlasst den Menschen, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten. In

sämtlichen, das Verhalten determinierenden Charakterzügen zeigt sich eine bestimmte

Grundorientierung, die dem psychischen Geschehen eine Struktur gibt, so dass der Mensch als

„System” begriffen werden muss.6

Laut Lee werden Charaktere von drei Eigenschaften gekennzeichnet: von der

Distinktionsfunktion, dem gesamten Ensemble von Charakterzügen und der

Identitätsfunktion7. Ich werde die Aspekte von Christians täglichem Leben, die er

benutzt, um sein eigenes Ich zu konstruieren, anwenden. Diese Suche nach Identität

stellt sich als eine Konstruktion verschiedener und widersprüchlicher Elemente heraus.

Er befindet sich in einer bestimmten Zeit und Umgebung und steht in Bezug zu den

familiären Leitfiguren. Schon schnell stellt sich im Roman heraus, dass das Arztstudium

das Ziel seines Lebens ist. Er will das Studium, aber gerät von der Armee ins Gefängnis.

Die Reaktion Christians, wird von dem Autor als eine Bestätigung der Macht des

Systems beschrieben. Ein Fluchtort wird von Christian nie gefunden. Darum bekommt

er keine Selbstfreiheit und steht unter ständigem Druck des Sozialismus.

Am Ende stelle ich mich die Frage, ob Christian wirklich glücklich ist und wie der

Bildungserfolg sich vollzogen hat. Auch werde ich das ‚Ich vor der Krise‟ nochmals mit

6 Hyunseon Lee: Geständniszwang und »Wahrheit des Charakters« in der Literatur der DDR.

Diskursanalytische Fallstudien. Stuttgart: Metzler 2000. S. 204. 7 Ebd. S. 202.

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dem ‚Ich nach der Krise‟ vergleichen. Christian hat am Ende scheinbar die Stabilität im

Leben erreicht und der Mauerfall hat stattgefunden, wodurch die Zeit sich wieder in

Bewegung zu setzen scheint. Wenn ich beide Sachen letztendlich mit dem Anfang des

Romans verknüpfe, hoffe ich Klarheit über die Situation Christians, sowie über die Art

und Weise, in der die Gesellschaft sich geändert hat, verschaffen zu können.

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1. Rekonstruktion einer Lebenswelt

1.1 Eine bestimmte Familie in einer bestimmten Zeit

In Der Turm bekommt der Leser von Uwe Tellkamp eine haargenaue und detaillierte

Wiedergabe von einer spezifischen Familie in einer spezifischen Zeit. Die Familie, die

hier beschrieben wird, ist die Familie Hoffmann, und insbesondere der Sohn Christian,

Vater Richard und Onkel Meno. In dieser Arbeit wird Christian ins Zentrum gezogen.

Ich betrachte ihn in Bezug zu seiner zeitlichen Umgebung. Zeit, Umgebung und Figuren

treten nämlich immer miteinander in Wechselwirkung. Die Figuren werden anhand der

Umgebung, Umgebung anhand der Zeit, Zeit anhand der Figuren gestaltet,…

1.1.1 Die Familie Hoffmann

Die Geschichte handelt von den Hauptgestalten Christian, Richard, Meno und ihren

interfamiliären Beziehungen vor dem Fall der Mauer. Da sie endet, als die Mauer

gerade gefallen ist, kann dieses Buch vielmehr als Familienroman und nicht sosehr als

Wenderoman8 betrachtet werden. Die Familie Hoffmann hat bildungsbürgerliche Ideale

und versucht sich vom System zu distanzieren, dadurch, dass sie eine eigene, alternative

Welt bildet9. Der Autor stellt eine ganze Menge von menschlichen Interaktionen

zwischen Familienmitgliedern dar, die den erwarteten entgegengestellt sind. Die

Familie soll nämlich im Idealfall eine harmonische Einheit bilden und als Basis der

Entwicklung der Figuren dienen. Diese Annahme wird auch mehr oder weniger von

Thomas Martinec und Claudia Nitschke, im Beitrag zu Familie und Identität in der

deutschen Literatur, dargestellt. Ihre Aussage werde ich hier und im weiteren Verlauf

meiner Arbeit dazu benutzen, die familiäre Situation in Der Turm zu analysieren. Ihre

Behauptung lautet:

Als scheinbar selbstverständlichste Form gesellschaftlicher Nahwelt und als gewöhnlich erste

Gruppe, in die der Mensch aufgenommen wird, liefert die Familie oftmals die initialen Stimuli für

die Generierung der personalen Identität. In der Interaktion zwischen Individuum und Gesellschaft

beginnt ein Deutungsprozess, in dessen Verlauf das Individuum seine Identität über die

Erfahrungen mit anderen Familienmitgliedern herstellt.10

8 Vgl. dazu: Wenderomane sind „Romane, die nach dem Mauerfall publiziert worden sind, dieses historische Ereignis beschreiben und in denen die Auswirkungen auf die Bevölkerung thematisiert werden

(also ein Roman der vorrangig in der Nachwendezeit spielt).“ (Anne Hector: Der Wenderoman:

Definition eines Genres, Dissertation for the degree of Doctor of Philosophy. Michigan. University of

Massachusetts Amherst 2009, 32. <http://scholarworks.umass.edu/dissertations/AAI3359139>

Eingesehen am 2.8.2011) 9 Siehe weiter 1.4.1 10 Thomas Martinec und Claudia: “Vorwort” In: Familie und Identität in der deutschen Literatur. Hg. von

Thomas Martinec und Claudia Nitschke. Frankfurt am Main: Peter Lang 2009 (=Regensburger Beiträge

zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft Reihe B, Untersuchungen 95), S. 9-12, S. 9-10.

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Da Martinec und Nitschke schon selber sagen, dass es sich hier um eine Situation

handelt, die sich ‚oftmals‟ vollzieht, schließe ich daraus, dass es logischerweise auch

Sonderfälle gibt. Ein solcher Sonderfall ist die Familie Hoffmann aus Dresden. Für

Christian scheint die Rolle seiner Eltern nicht so wichtig zu sein. Am Anfang der

Geschichte ist er schon 17 Jahre alt und wissen wir als Leser nicht, was in der

Vergangenheit mit ihm passiert ist. Die Darstellung der Beziehungen mit seinen Eltern

gibt uns den Eindruck, dass er mit ihnen keinen intimen Umgang hatte und hat, und dass

diese familiäre Relation überhaupt auf eine elterliche Distanz beruht. Dieses Gefühl

bekommen wir schon am Anfang, wird aber während des Romans bestätigt. Als

Christian als Siebzehnjähriger vom Internat zurückkehrt, wird er am Bahnhof nicht von

seinen Eltern, sondern von Meno, dem Bruder seiner Mutter, abgeholt, bei wer er auch

die Nacht verbringen wird (T 23). Später behält er die Distanz, wenn er zum Beispiel in

die Armee eintritt und sich von der Familie verabschieden muss (T 436). Übrigens

vermeidet er, seine Eltern Mutter und Vater zu nennen. „Er vermied das Wort: Vater“

(T 956), vielleicht weil er eher Meno als Vaterfigur betrachtet.

Wir erfahren auch, wie die Interaktionen sich innerhalb der Geschichte ändern und

von Tellkamp ein deutlicher Kontrast zwischen Handlung und Gefühl dargestellt wird.

So dürfen die Beziehungen im Allgemeinen distanziert aussehen, doch bleibt die

gegenseitige Liebe als subtiler und roter Faden die Familie dominieren. Die Gefühle

sorgen ständig dafür, dass Christians grundsätzliche Liebe für seine Eltern immer

versteckt anwesend bleibt. So will er keinen Abschied nehmen, als er in die Armee tritt,

aber wechselt er in der NVA fortwährend Briefe mit seiner Familie. Ähnlich verhält er

sich gegenüber der Außenwelt zurückhaltend, aber heulte er und wurde er weich, als

seine Mutter von den Soldaten geschlagen wurde. Die Situation dieser Szene beweist

aufs Neue die Absurdität des Regimes. Anne, Christians Mutter, sprach nämlich nur

„auf einen Polizisten ein. Der Polizist hob den Stock und schlug zu.“ (T 962) Weitere

Ursachen erhalten wir für das Schlagen aber nicht.

1.1.2 Die Zeit der DDR

Die Zeit, um die es sich in Der Turm handelt, ist die der Deutschen Demokratischen

Republik mit ihren typischen Eigenschaften wie Beschränkung irgendwelcher Freiheit,

Zwang und Unterdrückung. Diese Eigenschaften stellt Tellkamp auf solche Art und

Weise dar, dass das System rein negativ betrachtet wird. Die Hauptfiguren haben es

demzufolge schwer, die DDR-Politik zu akzeptieren. Vor allem Christian wird von der

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Kraft des Staates in negativem Sinne beeinflusst. Der Leser weiß normalerweise von

Anfang an, dass es sich hier um die letzten sieben Jahre vor dem Mauerfall handelt, die

Figuren in der Geschichte wissen es aber nicht. Für sie ist die letztendliche Wende viel

mehr eine Art Deus ex Machina. Wir müssen als Leser also in Bezug zu der Geschichte

einen doppelten Standpunkt behalten. Ich werde aber nicht sosehr die reale Welt der

DDR berücksichtigen, sondern die Welt der DDR, wie Uwe Tellkamp sie im Roman

präsentiert und von der die Figuren beeinflusst werden. Auch wenn Tellkamp von

verschiedenen Klassen erzählt, macht er aber keinen Sprachstilunterschied. Dieser

Sprachstil ist bei den Sozialisten und Bildungsbürgern immer derselbe.

1.2 Einblicke in Schule und Militär

In der Lebenswelt, die Tellkamp hier präsentiert, greift er verschiedene Aspekte des

Lebens auf. Anhand Richard, der als Chirurg in einer Klinik arbeitet, bekommen wir

einen Einblick in das Gesundheitswesen und in die Art und Weise, in der die DDR

fungiert. Dank Meno, der gleichzeitig Zoologe und Lektor in einem Verlag ist, werden

wir in die Welt der Wissenschaft bzw. des Verlagswesens mitgeführt. Da ich mich in

dieser Arbeit vor allem auf was mit Christians Lebenswelt verknüpft ist, fokussiere, sind

diese Einblicke nicht so wichtig. In Christians Fall ist es vielmehr das Schulwesen und

die militärische Welt, worin wir Einblicke bekommen.

In der Schule zeigt sich zum ersten Mal, dass die Unterschiede zwischen Christian

und dem System, mit dem er als Einwohner der DDR verpflichtet verbunden ist,

riesengroß sind. Christians erstes Ziel im Leben ist, sich als Arzt zu unterscheiden. Das

will er erreichen, anhand guter Resultate in der Schule. Die Forderungen des Systems,

die die Schule eine sekundäre Funktion in der Entwicklung zuschreiben, stehen aber in

Opposition zu seinem erwünschten Ziel. Die Ziele des Regimes, die Bevölkerung im

Vorteil und Dienst des Staates funktionieren zu lassen, sind denen von Christian ganz

entgegengesetzt. Der Schriftsteller scheint mit dem Roman fast zu sagen: „Wer sich

nicht für den Sozialismus anstrengt, der verdient in dessen Ideologie keine Stelle.“

Christian repräsentiert hier, kann man sagen, das ganze Bildungsbürgertum, dessen

Vertreter auch im Abseits leben und immerhin an die freie Rede glauben, in Opposition

zur äußeren Welt, in der sie leben.

Christian tritt nur in die Armee ein, weil er auf diese Art und Weise die

Zustimmung bekommen wird, mit dem Arztstudium anzufangen. Dieser Eintritt wird

aus dem Standpunkt der DDR aber gesehen als die beste Möglichkeit, die Figur von den

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DDR-Forderungen, wie unbedingte Ergebung, zu überzeugen. Was also für Christian

wichtig ist, ist ganz unwichtig für das System, und das sorgt dafür, dass er auch von

Tellkamp als Außenseiter dargestellt wird und in einer anderen Welt lebt, als die, in der

er sich wirklich befindet. Diese Opposition von Welten werde ich im nächsten Kapitel

weiterführen.

Die Opposition zwischen Schule und Militär spürt Christian selber, wenn er eines

Abends ein Buch liest. „Das Buch hieß ››Mein Weg nach Scapa Flow‹‹, Verfasser war

der U-Boot-Kommandant Günther Prien.“ (T 449) Die Tatsache aber, dass Prien ein

Held der Nazis war und es im Buch ein Bild von ihm mit Hitler gibt, ist in der DDR

ganz unakzeptabel. Unteroffizier Hantsch äußert sich demzufolge auch nicht mild, wenn

er Christian beim Lesen dieses Buchs ‚ertappt‟: ‚Sie Lesen Nazi-Literatur, Sie … ein

Abiturient. Ein Abiturient an einer sozialistischen EOS.‟ (T 449) Wenn man in der

Armee etwas lesen will, muss es wenigstens mit dem Sozialismus zu tun haben, und

hilfreich für seine weitere Entwicklung sein. Christian teilt die Meinungen der Nazis

nicht, aber ist nur in viele Sachen interessiert und liest gerne, offensichtlich auch über

die Geschichte Deutschlands, U-Boote und den zweiten Weltkrieg. Diese Szene beweist

nochmals, dass Christian sich für das System ganz aufopfern und seine Interessen und

Liebe für das Lesen vernachlässigen muss. Lesen trägt laut den Offizieren zu nichts bei,

sicher nicht, wenn man sich mit den Idealen der Nazis, die denen der sozialistischen

Gesellschaft ganz entgegengesetzt sind, beschäftigt.

1.3 Diktatorische Gesellschaft

Die Machtausübung der DDR wird von Tellkamp auf solche Art und Weise dargestellt,

dass sie mehrmals diktatorisch scheint, während der Gesellschaft eigentlich sozialistisch

sein müsste. Vor allem in der Armee kommen diese Merkmale hervor und daher ist es

auch Christian, der sie körperlich empfindet. Es ist also nicht zufällig, dass Christian das

Buch Scapa Flow, das an die Hitlerdiktatur erinnert, liest. Unteroffizier Hantsch, der

Christian ertappt, verbreitet diesen Skandal unmittelbar, aber verwendet sogleich selbst

eine Art Diktatur, die menschenunwürdig ist. Diktatorische Arbeitsweisen wie

Einschüchterung, Zwang, Misstrauen und Gewalt werden auch im Sozialismus

ausführlich zugepasst.

Eine erste Arbeitsweise, die die Armee verwendet, um die Neulinge zu

beeindrucken, ist die Einschüchterung. Vor allem für Christian, der aus seinem

vertrauten Versteck gekommen ist und noch nicht bereit ist, diese andere Welt zu

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betreten, fordert dieses Heraustreten eine ganze Anpassung. Als er nur kurz in der

Armee angekommen ist, wird er unmittelbar mit der Machtlosigkeit des Individuums

konfrontiert:

Zum ersten Mal in seinem Leben lernte er einen Menschen kennen, dem es offensichtliches

Vergnügen bereitete, andere zu kommandieren, ihnen seine Macht zu zeigen, indem er ihre

Schwächen herauszufinden versucht und, wenn er sie gefunden hatte, sie zu seiner Befriedigung

und zur Qual des Opfers bloßstellte. (T 439)

Und nur kurz nach dieser Konstatierung ist es nicht zufällig Christian, mit seinem

mit Pickeln bedecktes Gesicht, der auf die Probe gestellt wird. Er scheint in negativem

Sinne der Auserwählte zu sein, darf sich nicht dagegen revoltieren, und muss versuchen,

die Vorwürfe auf eine bestimmte Weise zu verwenden, um so zur Gesellschaft

beizutragen. Er wird aber so sehr von der verbalen Gewalt beeindruckt, dass er sich

immer mehr absondert. Dadurch, dass die Offiziere sich überdeutlich als psychologische

Machthaber zeigen und die jungen Soldaten in Grund und Boden reden, hoffen sie, dass

die Jugendlichen die Ideale des Regimes sklavisch akzeptieren und später verbreiten

werden.

Nicht nur psychologisch, sondern auch physisch versuchen die Lageroffiziere ihre

Macht zu betonen. Mit körperlicher Gewalt versuchen sie, ihre starke Position zu

bestätigen und Angst beim Opfer zu erregen. Die Opferrolle Christians zeigt sich hier

zum zweiten Mal. Nachdem er schon psychologisch von den Offizieren getestet wurde,

ist es jetzt ein vierundzwanzigjähriger Feldwebel11

, der Christian verprügelt, nur weil er

Medizin studieren will: „Im nächsten Moment schlug Ruden zu, Christian sackte nach

vorn, bekam sekundenlang keine Luft […]. Ruden zerrte Christian hoch und hieb ihm

mit der flachen Faust aufs Ohr.“ (T 626) Ruden wiederholt diese Handlung ein weiteres

Mal und steckt sogar Christians Kopf ins Klo. Diese physische Misshandlung scheint

Christian aber viel weniger zu beeindrucken. Nach einer Weile in der Armee begreift er

die Vorgehensweise der Offiziere. „Christian entdeckte, daß es ein Spaß sein konnte,

wenn jemand verprügelt wurde; Gott, wie absurd rollten die Augen, verzogen sich die

Fressen, wie quäkend und ferkelmäßig grunzend klang das Gejammer, zum Prusten war

das Gestolper bei schlechtem Licht … Macht.“ (T 648) Dadurch, dass Tellkamp diese

zwei Szenen kurz aufeinanderfolgen lässt, beweist aufs Neue, dass er die Welt im

Roman sehr Oppositionsreich darstellt. In der ersten Szene wurde Christian geschlagen,

während er in der zweiten, nur 20 Seiten später, mit dieser Handlung scheinbar

11 Feldwebel: „niedrigster Dienstgrad in der Rangordnung der Unteroffiziere mit Portepee.“ (In:

Dudenredaktion: Duden. Deutsches Universalwörterbuch. 6., überarbeitete und erweiterte Auflage.

Mannheim: Dudenverlag 2006. S. 563.)

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einverstanden ist und die Gewalt als akzeptablen Ausdruck der Machtausübung

betrachtet. Meine Meinung dazu ist nicht eindeutig, dass diese Gewalt der des Nazismus

ähnlich ist, aber auch hier können wir sehen, was das Gefühl der Macht verursachen

kann, und dass es eine deutliche Opfer – Täter Verteilung gibt.

Es gibt noch ein Merkmal der Diktatur, das mit dieser psychologischen und

körperlichen Gewalt verknüpft ist: der Zwang. Christian tritt in die Armee ein weil er

nur auf diese Art und Weise einen Studienplatz bekommen kann. Er ist aber

wehrpflichtig und wird daher drei Jahre in der Nationale Volksarmee dienen, auch wenn

es nicht zum Erreichen seines Studiums wäre. Diese Dienstzeit ist ein ständig

gezwungenes Handeln und ein völliges Fehlen von Freiheit. Aber nicht nur in der

Armee ist der Zwang deutlich fühlbar. Auch in der täglichen Welt müssen die Figuren

handeln, wie das System es erwartet und vorausgesetzt hat.

Ein weiteres Merkmal dieser diktatorischen Gesellschaft, dass in Tellkamps

Roman versteckt ist, ist das Misstrauen. Ein Teil der Bevölkerung, die Bildungsbürger,

vertraut den Sozialismus nicht, aber kann dagegen nichts tun. Die DDR hält ihre Ideale

für selbstverständlich, die Gegner tun dasselbe für ihre bildungsbürgerlichen Ideale. Das

deutlichste Beispiel dafür ist die Turmgesellschaft, wozu Christian, Meno und Richard

gehören. Sie hat ein riesengroßes Misstrauen gegenüber dem Sozialismus. In der

Außenwelt dürfen die Mitglieder ihre Unzufriedenheit aber nicht zu äußern und daher

verteidigen sie ihre Ideale in intimem Kreis12

.

1.4 Opposition der Welten

1.4.1 Innen vs. außen

Wie schon gesagt, sind die Bildungsbürger, wegen ihrer abweichenden Ideale, die

Außenseiter der Gesellschaft. Sie unterscheiden sich, dadurch, dass sie in zwei Welten,

in den sie sich ganz anders verhalten, zu leben scheinen. Einerseits haben sie ihr Leben

außerhalb ihres Hauses, in der sozialistischen Welt, in der sie sich einer vorhandenen

Ordnung und Umgebung anpassen. Dort verhalten sie sich, wie es von Kindheit an

erwartet wird: Die Bewohner müssen in den Worten von Christa Wolf, „sich anpassen,

ja nicht aus der Reihe tanzen, besonders in der Schule sorgfältig die Meinung zu sagen,

12 Siehe dazu 1.4.1

Page 19: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

19

die man erwartete, um sich ein problemloses Fortkommen zu sichern.“13

Andererseits

leben sie gleichzeitig auch innerhalb des Hauses. Hier versuchen sie, beschreibt Katrien

Schuermans, die elitären Gewohnheiten beizubehalten und ist das unterdrückte

Individuum völlig von seinen Idealen überzeugt.14

Bei Meno kommt der Unterschied zwischen Sozialismus und eigenem Denken am

deutlichsten hervor. Er hat sich entwickelt als intellektueller Denker, der sich, getrennt

von der äußeren Welt und zusammen mit anderen Gegnern des Systems, mit den

Idealen beschäftigt, die es, Julia Enckes Meinung in ihrer Rezension zufolge, „im

Sozialismus eigentlich gar nicht hätte geben sollen“15

. Es sind Leute, die sich in ihrer

eigenen Gesellschaft für Literatur, Meinungsfreiheit und freidenkerischen Tugenden

interessieren. Sie haben ihre eigene Meinung und wollen sie deshalb miteinander teilen

und darüber reden. Warum Meno aber so sicher gegen den Sozialismus auftritt und sich

in der Turmgemeinschaft so deutlich als Bildungsbürger profiliert, wissen wir als Leser

nicht. Wir wissen nur, wie er sich in diesem Zeitalter benimmt und nicht, was Meno so

weit getrieben hat. Die wesentliche Identitätsbildung, die im Roman bei Christian völlig

in Entwicklung ist, hat sich bei Meno schon vollzogen. Er hat seine Stelle als

Erwachsener schon gefunden und versucht, von seinem Standpunkt aus, seine Ideale

weiterzuführen.

Christian dagegen befindet sich noch immer in seiner Entwicklung und sucht noch

immer die richtige Wendung im Leben. In meiner Arbeit fungiert er sozusagen auch als

Hauptfigur, dessen eigene Welt sich sehr deutlich von der äußeren unterscheidet. Bei

ihm haben aber vielmehr seine Persönlichkeit und sein Alter Schuld. Wie schon gesagt,

fühlt er sich zu Hause und wenn er alleine ist am sichersten, solang er lesen und

studieren kann und sich nicht in der großen Masse zeigen muss. Die Unsicherheit über

sein Aussehen aber hat ihn so weit getrieben, dass er die äußere Welt als unzuverlässig

betrachtet. „Sein eigentlich anziehendes und ausdrucksvolles Gesicht war von

13 Sylvia Kloetzer: Mitläufer und Überläufer : erzählte Ich-Krise in der DDR-Literatur der achtziger

Jahre. University of Massachussets: UMI dissertation services, 1992, S.1. Zitiert nach Christa Wolf. „Das

haben wir nicht gelernt.“ 14 Vgl. dazu: “Ditmaal geen arbeidersfamilie aan de eettafel, maar de oude garde van intelligentsia die

moeten buigen of breken onder het DDR-bewind. Buitenshuis conformeren ze zich aan de regels,

binnenhuis houden ze vast aan hun oude elitaire gewoontes.” (Katrien Schuermans: “Het individu versus de

Staat.” Cutting Edge, 4. Januar 2010. <http://www.cuttingedge.be/books/reviews/194118-toren-verhaal-uit-een-

verzonken-stad>. (20.5.2011)) 15Julia Encke: „Das geheime Land“. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 14. September 2008,

Nr. 37 / Seite28.

<http://www.faz.net/s/Rub79A33397BE834406A5D2BFA87FD13913/Doc~E9D5BFD8F90B6435CB9A

E16ACF7A39E33~ATpl~Ecommon~Scontent.html> (20.5.2011)

Page 20: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

20

Pubertätspickeln übersät, und er empfand gräßliche Scham bei dem Gedanken an all die

Augenpaare, die ihn forschend vielleicht auch spöttisch oder angeekelt anstarren

würden.“ (T 39) Am liebsten sitzt er also alleine in seinem Zimmer, liest Bücher und

bereitet seine Zukunft als Arzt vor. Diese Entwicklung als Außenseiter führt er sogar in

der Armee weiter. Auch hier spricht er „mit niemandem über seine Eindrücke“ (T 441)

und „wollte er allein sein.“ (T 612) Ganz am Ende gibt es sogar einen Moment, an dem

Christian tot sein will (T 962), als wollte er damit auch der einen Welt entfliehen und

sich für immer und ewig in die innere zurückziehen.

Diese Opposition wird von einer Aussage der Literaturwissenschaftlerin Claudia

Nitschke bestätigt. „Obwohl alle Nationalstaaten diesem Antagonismus zwischen zwei

verschiedenen Höchstwerten […] gegenüberstehen, wurde insbesondere in Deutschland

die Unvereinbarkeit betont“16

. Sie bezieht sich auf eine allgemeine Tendenz

Deutschlands, die Unmöglichkeit eine Einheit zu bilden, die aber auch in Der Turm

gefunden werden kann. Auch greift sie, um ihre Behauptung zu betonen, eine Äußerung

von Norbert Elias, der sich auch zu diesem Thema ausgesprochen hat, auf: „Es gab in

bezug [sic!] auf sie [= die Unvereinbarkeit in Deutschland, H.R.] nur ein Entweder-

Oder. Kompromisse zwischen ihnen waren, entsprechend dem ganzen Tenor des

deutschen Denkens, unsauber.“17

Auch die Familie Hoffman hat wählen müssen.

Entweder knüpfen sie an die Ideale der DDR an und werden sie ein Teil des Kollektivs,

oder sie behalten ihre eigenen Ideale und damit auch ihr eigenes Individuum. In der

Turmgesellschaft haben sie sich vom System distanziert und ihre eigene Welt kreiert.

Da die beiden einander ganz entgegengesetzt sind, ist eine Art Mischung ganz

unmöglich. Es ist undenkbar, dass man in der Turmgesellschaft Ideale verteidigt, die in

der DDR-Gesellschaft auch akzeptabel sind und auch vice versa. Jedermann hat seine

eigenen Auffassungen und deren Verteidiger akzeptieren es dazu nicht, dass man

Gegenargumente oder abweichende Meinungen äußert.

1.4.2 Wohlfühlen vs. Zerfall

Neben diesem soeben analysierten innen - außen Unterschied gibt es noch einen

weiteren, der mehr oder weniger damit zusammenhängt. Ich habe nämlich auch einen

16 Claudia Nitschke: “‟Selbstverspottung ist Lüge‟. Die Familie als Mediator von Identität in Fontanes

Die Puggenpuhls.” In: Familie und Identität in der deutschen Literatur. Hg. von Thomas Martinec und

Claudia Nitschke. Frankfurt am Main: Peter Lang 2009, S. 221-241. (=Regensburger Beiträge zur

deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft Reihe B, Untersuchungen 95), S. 232.

17 Norbert Elias: Studien über die deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20.

Jahrhundert. Frankfurt: Suhrkamp , 1989, S. 201.

Page 21: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

21

Unterschied zwischen einer Welt zum Wohlfühlen und einer zerfallenen drumherum

festgestellt. Dieser Unterschied ist natürlich demjenigen zwischen dem Innen – und

Außenbereich des Hauses ähnlich, aber wird von mir doch getrennt behandelt, weil hier

nicht sosehr die Forderungen und Regeln der DDR gegenüber den Idealen der

Bildungsbürger überwiegen, sondern nur das Aussehen der Welt und die Art und Weise

in der die Figuren, und dann vor allem Christian, ihre Umwelt betrachten. Es handelt

sich um eine häusliche Schönheit und eine Umwelt, die zerfallen und schrecklich

aussieht. Bei dieser Schönheit sind auch aufs Neue die familiären Gefühle

ausschlaggebend. So können wir als Leser feststellen, dass es die kleinen Sachen sind,

die Christian glücklich machen, wenn er eines Morgens den Wintergarten am

Tausendaugenhaus, in dem auch Meno wohnt, betrachtet und die Schönheit über sich

hingehen lässt.

Christian stand am Fenster des Wintergartens und lauschte den Geräuschen, die von unten und aus

dem Haus herandrangen, Stimmenschleier, Auflachen, Musik aus den Gärten jenseits des Parks, in

dem leichter Wind Lichtfasern hin- und herhuschen ließ. Die Farben waren durch den Regen

erfrischt, das noch junge Grün der Buchen und Ahorne mischte sich in unruhigen Wellen unter die

Blüten von Mandelbäumen und Rhododendren, die am oberen Rand des abschüssigen Parks

standen. Leise, laut; dazwischen Keile von Melancholie. (T 612)

Der Zerfall und die negativen Gefühle, die damit zusammengehen, werden aber hier

schon angekündigt. Ganz am Ende dieses Zitats ist nämlich die Rede von einer

gewissen Melancholie und mit dieser Schwermut wird die Schönheit schnell relativiert.

Dieser Verfallszustand wird von Richard überzeugender wiedergegeben, wenn er

die Stadt Dresden betrachtet. Sie ist alles andere als leise und ruft keine Melancholie

auf. Bei den Betrachtungen von Christians Vater unterscheidet die Stadt sich in dem

Sinn, dass sie dargestellt wird „mit den schlierigen Straßen, katarrhgedämpften

Häusern.“ Er versucht nicht, den Zustand zu relativieren und sagt einfach, was er sieht:

„daß Dresden nur noch ein Schatten war, zerstört, krank. Auf den riesigen,

windüberpfiffenen Brachen der Stadt wucherte Unkraut, in den Neubaugebieten wurden

die Wege unkenntlich unter Morast und Schlamm. Regen …“ (T, 702) Hier kehrt das

Wort ‚Regen‟, dass auch in Christians Beschreibung vom Wintergarten benutzt wurde,

wieder. Die zwei gleichen Wörter, in beiden Zitaten, bedeuten zweimal dasselbe, aber

bedingen die Situation auf eine ganz andere Art und Weise. Bei Richards Betrachtung

betont die Anwesenheit des Regens den Zerfall und die Hässlichkeit der Stadt,

wohingegen der erfrischend wirkende Regen bei Christian dazu beitrug, die ästhetische

Schönheit der Landschaft zu bekräftigen.

Page 22: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

22

Natürlich hängt die Schönheit bzw. Hässlichkeit des Wahrgenommenen mit den

Figuren, die darin funktionieren, und die Art und Weise, in der sie ihnen

gegenübersteht, zusammen. Von Christian wird der Wintergarten als vertraut erfahren,

weil an diesem Ort auch Meno wohnt, mit dem er sehr gute Beziehungen hat. Richard

aber betrachtet die Welt, in der er sich bewegt, als Wohnort der DDR-Machthaber, mit

denen er als Arzt und Bildungsbürger alles andere als einverstanden ist. Sicherheit und

Freiheit sind also von großer Bedeutung und sind dem Wohlfühlen förderlich.

Zusammenfassend verwende ich ein Zitat von Martin Sabrow, der die Situation, in

Bezug auf die Erinnerung an die DDR, auf folgende Art und Weise umschreibt: “In

einer Welt, in der soziale Interaktionen streng überwacht wurden, diente die

Privatsphäre vielen Menschen als Rückzugsraum für Individualität, abweichende

Meinung und eigene Identitätsbildung“18

.

Ein Unterschied, der zu der weltlichen Schönheitsdiskussion passt, aber nicht mit

dem Opposition zwischen Innen und Außen zu tun hat, ist die chronologische

Einteilung des Buches. „Auf den ersten hundert, zweihundert Seiten glaubt man sich ins

19. Jahrhundert zurückversetzt, in ein behagliches zurückgezogenes, deutsches

bürgerliches Erzählen.“19

Wir bekommen das Bild einer bürgerlichen und glücklichen

Familie, die mit dem Sozialismus nicht allzu viel zu tun hat und ihre eigene Gesellschaft

gebildet hat. Christian ist ein begeisterter Schüler und scheint relativ in Ruhe zu leben,

trotz seiner persönlichen Beschränkungen. Aber nach einer Weile ändert sich diese

Situation, zusammen mit dem Zustand der Figuren. Die dargestellte Ruhe der ersten

hundert Seiten wird zu einer brutalen Welt. „Dann wird der bürgerliche Realismus

beinahe unmerklich durch eine Art DDR-Realismus abgelöst, einer harten,

ungeschönten Prosa mit Armee, Repression und Denunziantentum.“20

Die ruhige

Umgebung des Bürgertums hat Platz gemacht für die, von den Bildungsbürgern,

umstrittene Umgebung des Sozialismus mit der Armee als wichtigster Repräsentant des

Staates im Roman. Es gibt also ein langsamer Aufbau zum letztendlichen Höhepunkt

und Explosion, dem Mauerfall.21

18 Martin Sabrow: Erinnerungsorte der DDR. München: Beck, 2009. S. 316. 19 Helmut Böttiger. „Weißer Hirsch, schwarzer Schimmel. Tellkamps klassischer Bildungsroman über die

DDR erzählt meisterlich aus einer stillgelegten Zeit: »Der Turm«“. In: Die Zeit, 18.September 2008.

<http://www.zeit.de/2008/39/L-Tellkamp?page=all>. (20.5.2011) 20 Ebd. 21 Siehe dazu 2.3.1

Page 23: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

23

1.5 Variation der Stile

Obwohl die Geschichte, global betrachtet, eine lange Aneinanderreihung von

detaillierten Beschreibungen ist, versucht Tellkamp die Erzählung doch fließend zu

machen, indem er verschiedene Stile verwendet. In seinem epischen Roman vermischt

er monologischen und dialogischen Situationen. Es handelt sich vor allem um lange

Sätze, die die Handlungen oder Betrachtungen der Figuren in Detail beschreiben.

Tellkamp variiert in seiner Erzählweise aber auch noch zwischen unter anderem

Dialoge, Briefformen und Tagebuchnotizen um die Geschichte vor die Langeweile zu

schützen.

Die meisten Dialoge sind, im Gegensatz zu den Beschreibungen, sehr leicht zu

verstehen und enthalten eine einfache Sprache mit einfachen Sätzen. Damit betont

Tellkamp die bürgerliche Logik, die diese Figuren beibehalten und an die sie glauben,

wenn sie die Gespräche führen. Für sie sind ihre Ideale viel leichter als die Wirkung des

Sozialismus zu verstehen. Es gibt sogar ein Kapitel mit dem Titel „Dialog über Kinder“

(T 255). Dieser fällt auf, weil es das Einzige ist, das auf diese Art und Weise

geschrieben ist. Hier ist das Thema die Erziehung der Kinder und wird das Menschliche

betont. Anhand der anderen Dialoge gibt Tellkamp den Figuren die Möglichkeit, ihre

Meinungen und Gedanken mit Vertrauten zu teilen, damit das Gefühl bestätigt wird,

dass sie nicht allein sind. Mit der schwierigen und komplexen Sprache, die benutzt

wird, wenn Betrachtungen der DDR-Welt vorgestellt werden, symbolisiert er vielleicht

auch, dass die Welt der Unterdrückung komplex und schwer zu verstehen ist. Dagegen

ist die Welt der Figuren, von der sie sprechen in den Dialogen, viel leichter zu

verstehen, und wird die Opposition zwischen den zwei Welten hier nochmals bestätigt.

Zweitens gibt es, wenn Christian sich in der Armee befindet, die aufgeschriebene

Erlebnisse in monologischer Briefform. Es ist eine Wiedergabe der Briefe, wie

Christian sie buchstäblich geschrieben hat, mit einer Anrede und einem Datum des

Schreibens am Anfang. Zum Beispiel: „Ausbildungszentrum Q/Unteroffiziersschule

Schwanenberg, 9. 11. 84“ (T 534) als Ort und Datum und „Liebe Eltern“ als Anrede.

Auch hier benutzt Tellkamp, oder Briefschreiber Christian, keine komplexe Sprache

und sind es vielmehr direkte Erzählungen seiner Erlebnisse. Die Sprache stimmt hier

mit der Situation überein, in der sich die Figuren befinden. In der Armee wird ohne

Umschweife direkt gesagt, was von den Soldaten erwartet wird, und auf diese Art und

Weise wird es auch von Christian aufgeschrieben und berichtet er mit diesen Briefen

seinen Eltern. Übrigens sind die Briefe auch als öffentliches Schreiben zu bezeichnen.

Page 24: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

24

Sie enthalten immer überflüssige Information, die das Publikum informieren müssen

und die Beziehung ist ein zu viel, mit der gemeint ist, das die Briefe, die nur von

Christian geschrieben sind, an viele Menschen gerichtet sind. Er schreibt unter anderem

seiner Eltern, Meno, der Tietzes, Frau Dr. Knabe,… Die Adressaten und der Leser

bleiben also nicht mit Fragen zurück. Der Leser ist hier also der implizite Adressat. Die

Briefe sind nämlich nicht an ihm gerichtet, aber er empfängt sie doch.

Neben Dialogen und Briefen gibt es in Der Turm noch eine dritte Erzählform, die

Tagebuchnotizen von Meno, in denen er als Ich-Erzähler auftritt. Diese sind, wenn man

sie mit den Briefen und Dialogen vergleicht, viel komplexer und haben einen

schwierigeren Sprachgebrauch. Auf der Ebene der Sprache sind sie also vielmehr den

detaillierten Beschreibungen ähnlich. Auf diese Art und Weise versucht Tellkamp die

Komplexität des Systems, das er schon beschrieben hat und dem er doch fortwährend

widersetzt, beizubehalten. Die langen und komplexen, fast langweiligen Sätze, mit dem

das System beschrieben wird, werden von Meno übernommen, womit er fast sagen will,

dass seine Ideale die des Systems aufwiegen. Meno selber schreibt in einem Abschnitt

aber: „Die deutsche Sprache ist kompliziert und weist manche scheinbare Ungereimtheit

auf, wenn Sie aber näher hinsehen, hat das alles seine guten Gründe.“ (T 308) Wenn

der Leser also begreifen will, was geschrieben steht, muss er sich Mühe geben, um zu

Verständnis zu kommen.

Page 25: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

25

2. Schlaf der Zeit

2.1 Stillstand des Systems

Wie sich am Ende in Der Turm buchstäblich herausstellt, muss die Welt mit dem

Mauerfall aufwachen aus dem tiefen „Schlaf der Zeit“ (T 928, 940). Diesen Eindruck

haben wir aber in Gedanken schon am Anfang bekommen. Die Geschichte spielt sich

ab, wie der Untertitel22

es sagt, in ‚einem versunkenen Land‟, das auch am Ende

fortwährend von einem Regime mit einem müden und siechen Körper geleitet wird:

„eine [Stadt, Dresden, H.R.] mit allen Kräften vorgenommene Auspressung des müden, siechen

Körpers der Republik, um aus den verdorbenen Säften einen Becher Schierling zu keltern, der, in

die Adern der Hauptstadt geträufelt, Krankheit zum Leben, Erschöpfung in Hoffnung und Tatkraft

verwandeln sollte…“ (T 867)

Tellkamp gibt der DDR hier menschliche Charakterzüge und behauptet damit, dass sie

alt wird und am Rand des Abgrundes steht. Auch auf diese personifizierende Art und

Weise übt er Kritik an dem System, in dem Christian aufwachsen muss. Er muss sich

entwickeln in einer Zeit, die selber keine Fortschritte mehr macht, sondern im Gegenteil

an Ort und Stelle stehen bleibt. Wie Julia Hell es in ihrer Arbeit in Bezug auf die

allgemeine Gemütslage in der späten DDR, über Der Turm, die sie aus Anlass des

Mauerfalls sehr passend ‚Dissolution / Revolution‟ genannt hat, schrieb, wird die Zeit

alt und ist diese Zeit auch zu einem Zustand des Stillstands gekommen23

. Was

letztendlich aus diesem tiefen Schlaf kommen wird, wissen die Figuren nicht im

Voraus. Tellkamp kündigt aber schon an, dass eine große Änderung vor der Tür steht.

Im letzten Kapitel benutzt er oftmals den Ausdruck „… aber dann auf einmal …“ (T

943, 966, 968, 970,). Wenn er diesen Satz zum letzten Mal verwendet, vollzieht die

Wende sich und fangen die Uhren aufs Neue zu schlagen an: „… aber dann auf

einmal… schlugen die Uhren, schlugen den 9. November, »Deutschland einig

Vaterland«, schlugen ans Brandenburger Tor:“ (T 973) Auf diesen letzten Satz, und vor

allem den Doppelpunkt als letztes Zeichen des Romans, komme ich später noch

ausführlicher zurück.24

2.2 Symbole der Zeit

Da die Zeit und Entwicklung in diesem Roman einen entscheidenden Einfluss auf den

Verlauf der Geschichte haben, benutzt Tellkamp auch einige Symbole um diesen

22 Siehe dazu 2.4.1 23 Vgl. Dazu: “Time has come to a standstill”. (Hell. „Dissolution / Revolution.“) 24 Siehe dazu 2.4.2

Page 26: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

26

Aspekte zu erwähnen. So beschäftigt er sich mit dem Fluss der Elbe, dem Zug und der

Fahrt, die Christian mit ihm macht, und mit der Standuhr, die als roter Faden der Zeit,

Familie und Gesellschaft funktioniert.

2.2.1 Der Fluss

Der erste zeitliche Aspekt, mit dem einen Symbolwert verknüpft werden kann, hat mit

der Elbe, die durch Dresden, Ost-Deutschland, fließt, zu tun. Schon im ersten Satz des

Romans wird von ihr gesprochen und zeigt sich deren symbolisierten Zustand:

„Suchend, der Strom scheint sich zu straffen in der beginnenden Nacht, seine Haut

knitterte und knisterte“ (T 7). Der Strom weiß nicht, wohin er leiten soll und scheint

ohne bestimmte Richtung zu fließen. Der symbolhafte Wert liegt darin, dass er die

Gesellschaft, die zu diesem Zeitpunkt auch die Richtung verloren hat, darstellt.

Dadurch, dass sie durch Dresden fließt, fließt sie figürlich auch durch das System, das

diese Stadt im Griff hält. Daneben bekommt dieser Strom auch menschlichen Merkmale

anhand einer Haut und die „Flüssigkeit kostbar wie Blut und Sperma“ (T 973). Auf

diese Art und Weise kann die Elbe auch betrachtet werden, als ob sie die Bevölkerung

der Gesellschaft, die auch auf der Suche ist und die richtige Wendung nicht mehr findet,

darstellt. Die ‚beginnende Nacht‟ betrachte ich dann als den Anfang des grauen Zerfalls.

Wenn man jetzt den Zustand der Elbe, und die Art und Weise, in der sie sich

fortbewegt, am Ende des Romans betrachtet, liest man, dass eine radikale Änderung

stattgefunden hat. Sie scheint jetzt die Seite der Bevölkerung gewählt zu haben, mit der

Absicht, den Sozialismus wegzuspülen. Das Wasser scheint stärker und selbstsicherer

geworden zu sein. Auch Meno stellt diese Tatsache mit folgender Betrachtung fest: „die

Briketts mit zuviel Wasser bröckeln, lösen sich auf“. (T 968) Auch wenn er in seinem

Tagebuch schreibt: „Suchend: Reinheit“ (T 972), sind es nicht nur die Menschen, die

suchen, sondern es ist auch der Fluss, der diese Reinheit nachstrebt: „Widerrufendes

Papier; Papier für die WAHRHEIT, den gedruckten Spiegel, NEUES DEUTSCHLAND,

JUNGE WELT, PRAWDA, Zeitungen, die ins Wasser gespült werden, […]“. (T 972)

Diese Papiere, die alle vom Wasser mitgeführt werden, sind allegorisch für das System,

das sich sozusagen auch auflösen muss, sodass man mit einem neuen Zeitalter anfangen

kann und die Schönheit wieder erleben wird.

Page 27: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

27

2.2.2 Der Zug

Der Zug bekommt eine zentrale Position in der Mitte des Romans. Das Reisemotiv wird

hier anhand der Zugfahrt dargestellt. Ich betrachte den Zug als die Verbindung

zwischen zwei Welten: Einerseits der Welt Christians, in der er 19 Jahre auf seine

eigene, abgesonderte Art und Weise gelebt hat, und andererseits der Welt, die er nicht

kennt und in der er letztendlich fünf Jahre verbringen wird. Christian befindet sich in

diesem Zug und reist zur Armee, in der die nächste Phase seines Lebens anfangen wird.

Die Fahrt des Zuges symbolisiert aus diesem Grund einen Teil der Entwicklung der

Figur Christians. Er fährt unaufhaltsam und ohne dass er sich eine eigene Richtung

wählen kann. Allgemein betrachtet folgt dieser Zug die im Voraus aufgestellte Richtung

des Gleises, genauso wie die Figuren der Richtung des DDR-Systems folgen müssen.

Auch sie können sich keine eigene Richtung wählen, sondern müssen den Gleisen, die

vom Sozialismus festgelegt wurden, ohne Widerstand folgen. Im 38. Kapitel, wenn

Christian wirklich in seine neue Welt fährt, betont Tellkamp die Entschiedenheit des

Zuges, der nicht anhält, sondern immer weiterfährt. Im Text gibt er das anhand des

Satzes „… aber die Bahn fuhr“ (T 526, 527, 528) wieder. Jeder Absatzbeginn in diesem

Kapitel fängt mit einer Beschreibung der Zugbewegung an und dieser Erzählstil ist

demjenigen im letzten Kapitel ähnlich. Dort fangen die Absätze mit „… aber dann auf

einmal…“ an. In beiden Kapiteln steht der Zeit eine große Änderung bevor. Im 38. ist

Christian auf dem Weg, in die NVA zu treten, im 72. steht die Wende vor der Tür. Auch

beim Leser erweckt Tellkamp damit eine bestimmte Neugier und die Erwartung, dass

eine entscheidende Entwicklung stattfinden wird.

2.2.3 Die Standuhr

Drittens ist die ständige Anwesenheit einer Standuhr im Text eine Art zeitlicher roter

Faden. Das erste Merkmal dieser Uhr kann man schlussfolgern aus einer Behauptung

von Hans-Joachim Hahn. Er behauptet, in Bezug auf die Beobachtungen zur Ästhetik

des heutigen Familienromans, dass die „Stand- oder Pendeluhr als Symbol familiärer

Ordnung25

“ eine wichtige Rolle bei der Kreation eines Heimatgefühls spielt. Aber nicht

nur dieser Hinweis kann man auf die Standuhr beziehen. Meiner Meinung nach benutzt

Tellkamp die Standuhr vielmehr, um eine oppositionelle Zeitdarstellung zu kreieren.

25 Hans-Joachim Hahn: “Beobachtungen zur Ästhetik des Familienromans heute” In: Familie und

Identität in der deutschen Literatur. Hg. von Thomas Martinec und Claudia Nitschke. Frankfurt am Main:

Peter Lang 2009 (=Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft Reihe B,

Untersuchungen 95), S. 275-292, S. 284.

Page 28: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

28

Aufs Neue unterscheidet er anhand der Standuhr zwischen einer inneren und äußeren

Welt. Wie schon gesagt, scheint die DDR-Zeit stillzustehen, schlagen die Uhren nicht

mehr und gibt es nur Zerfall. Innerhalb des Hauses scheint die Situation aber anders zu

sein und gibt es noch immer zeitliche Fortschritte. An den vertrauten, heimlichen Orten

stellt sich heraus, dass die Zeit und die Standuhren fortwährend ticken. Ihre

Lebendigkeit betont, dass das Leben sich hier nach wie vor fortbewegt. Mit den

„Gongschlägen [HR.] der Standuhr“ (T 147) in Haus Abendstern und dem Ticken der

Standuhr, das immer lauter wurde (T 441) in Haus Karavelle, beweist Tellkamp, dass

innerhalb der eigenen Gesellschaft die Hoffnung auf eine radikale Wendung lebendig

bleibt. Dadurch, dass die Standuhr bei Tellkamp immer im Zusammenhang mit Heimat

und Familie verwendet wird, bekommt sie auch eine positive Assoziation mit den

Figuren. Der Stillstand, mit dem sie konfrontiert werden, scheint hier dann nicht zu

gelten. Die Ideale und Denkrichtungen, die die Vertreter der Turmgesellschaft

beibehalten, werden nicht umsonst sein, es braucht nur Zeit.

Wenn die Wende sich letztendlich vollziehen wird, verweist Meno kurz zuvor in

seinem Tagebuch noch einmal auf den Zustand der Kreml-Uhr als Zentrum des

Sozialismus: “… aber dann auf einmal … schlugen die Uhren der sozialistischen Union,

die Kreml-Uhr bleibt stehen mit dem Geräusch einer gebrochenen Sprungfeder.“ (T

970) Die erste Uhr in dieser Szene symbolisiert die Hoffnung innerhalb der Häuser der

Bevölkerung, die an eine Wende glauben. Dadurch, dass diese Uhr schlägt, wird die

Änderung angekündigt. Die zweite Uhr, die noch immer stillsteht und gebrochen zu sein

scheint, symbolisiert den ganzen Sozialismus, mit dem Zentrum in Moskau, Russland.

Die DDR-Zeit ist damit auch gebrochen und wird nie wieder in Gang gebracht werden,

da sie einfach unheilbar ist. Das fortwährende Stillstehen der Uhr des Sozialismus

betont die Tatsache, dass die Ideale der Bildungsbürger den Sieg über die ‚DDR-

Feinde‟ bekommen werden, und die Zukunft weiter bedingen werden, oder wie Hell

schrieb: “liberation of time, time whose historical course had been arrested for

decades.”26

2.3 Tempo des Erzählens: Aufbau zu einer Explosion

Nicht nur die Zeit, wie sie in Der Turm unmittelbar präsentiert wird, sondern auch der

Aufbau des Textes an sich, tragen zum besseren Verständnis der Zeiteinteilung des

26 Hell: „Dissolution / Revolution.“

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29

Romans und dessen, was Tellkamp damit erreichen will, bei. Er fängt seine Geschichte

in Dezember 1982 mit einem vorsichtigen Aufbau, in dem, wie schon gesagt, die

Erlebnisse einer Familie sich in einem gemächlichen Tempo fortbewegen, an. Die

Figuren scheinen sich friedfertig zu verhalten, und nichts scheint äußerst bemerkenswert

zu sein. Aber Schein trügt, und allmählich stellt sich im Text das Gegenteil heraus.

Tellkamp beschreibt den Zustand der Familie und deren Entwicklungen in einer Welt,

die am Ende auseinanderfällt. Julia Hell fasst diese Feststellung folgendermaßen: „the

story of slow and inevitable decay to the moment when time explodes like a force of

nature, depicting the 1989 demonstrations in Dresden.“27

Richards 50. Geburtstag wird

gefeiert, aber später stellt sich heraus, dass er seine Frau betrogen hat und sogar ein

außereheliches Kind hat. Christian dagegen will nur zum Arztstudium zugelassen

werden, aber kommt in der Gefängnis an und wird mit dem Tod eines Freundes

konfrontiert. Genauso wie die DDR-Führung rational fast unerklärbar ist, sind auch

manche Handlungen der Figuren Kritik und Zweifel von den Lesern unterworfen. So

hat man es als Leser schwer zu verstehen, warum Richard Anne betrogen hat, weil es

eine glückliche Ehe scheint, und warum Christian in einem Moment leichter Aufregung

Siegbert, seinen Freund, ins Bein sticht (T 444). Diese Gedanken haben aber nichts mit

persönlichen Gefühlen beim Leser zu tun, nur mit Unverständnis der Geschichte. Diese

unlogischen Handlungen der Figuren sind sozusagen eine negative Folge einer

unlogischen Führung in der DDR. Diese Ereignisse führen bei diesen Gestalten zu

kleinen Handlungsexplosionen, um letztendlich zum Höhepunkt zu kommen: die

Wende. Mit den Demonstrationen der Bevölkerung gegen die DDR explodiert das

System, und führt Tellkamp die Geschichte mit „den immer mehr und immer sicherer

werdenden Demonstranten.“ (T 970) zu ihrer letztendlichen Apotheose.

Wenn die Figuren sich unbewusst dichter bei der Wende befinden, verläuft die

Geschichte auch schneller und ist die Erzählung elliptischer. Die ersten 4 Jahre der

erzählten Zeit umfassen mehr als 800 Seiten, während die übrigen drei Jahre in nur 100

Seiten erzählt werden. Diese Tatsache ist nur Tellkamp zuzuschreiben. Auch wenn die

Figuren im Roman nicht wissen, was ihnen bevorsteht, versucht der Erzähler mit dieser

Beschleunigung die Aufregung der Wende auf den Leser zu übertragen.

27 Ebd.

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30

2.4 Das allererste Wort gegenüber dem allerletzten

2.4.1 Untertitel als Ankündigung

Die Zeit, in der die Geschichte sich abspielt, wird schon früher als der erste Satz

angekündigt. Im Untertitel des Romans verrät Tellkamp, dass es sich um eine

„Geschichte aus einem versunkenen Land“ handeln wird. Wir treten als Leser

sozusagen im selben Moment der Figuren in die Geschichte: wenn das Versinken der

Nation sich schon zum größten Teil vollzogen hat. Wir wissen sozusagen auch nicht,

wohin die Situation des Verfalls letztendlich führen wird. Die reale Geschichte

Deutschlands ist bekannt, und damit auch, dass diese zur Wende und zum Mauerfall

führt. Zur gleichen Zeit müssen wir aber in einer vorwiegend fiktionalen Erzählung auf

alles vorbereitet sein, da in Fiktion alles möglich ist, und Tellkamp der Erzählung eine

andere Wendung geben kann. Obwohl sie mit einem reinen ‚Happy End‟ ohne Ironie

endet, betont der Untertitel vor allem den negativen Aspekt der Geschichte und spüren

wir noch keinen Optimismus. Während des Textes wird demzufolge auch der

Verfallzustand betont. Statt des Verfalls könnte Tellkamp am Anfang auch auf diese

positive Wende hinweisen, aber er macht das nicht. Er verwendet diese Wende nicht bis

am Ende und benutzt sie dann als Überraschung anhand der Explosion des Textes.28

Die Vergleiche zwischen Der Turm und Thomas Manns Buddenbrooks, die in

verschiedenen Rezensionen und Kritiken behandelt werden weil sie beide von einer

epischen Familiengeschichte erzählen, haben indirekt auch mit dem Untertitel zu tun.

Bei beiden ist nämlich von einer Verfallszeit die Rede: bei Tellkamp eines Landes und

bei Mann einer Familie29

. Dieser Verfall ist aber nicht unbedingt schlimm und

unheilvoll. Für Mann ist Verfall nämlich „auch die Voraussetzung für neue

Lebensformen“30

und auch bei Tellkamp führt es für die Einwohner des versunkenen

Landes letztendlich zu einem positiven Ereignis. Dank dieses Verfalls bekommen die

Bildungsbürger schließlich eine neue Lebensform, mit Freiheit, und wird dieser

Untertitel eigentlich zu einer Ankündigung, die das Gute erwarten lässt. Daneben

handeln die beiden Untertitel auch noch vom Verfall einer Kultur und eines politischen

Systems, und wird Der Turm auch durch diesen Vergleich mit ‚Buddenbrooks‟ als ein

Epos bezeichnet.

28 Siehe dazu 2.3.1 29 Mann, Thomas. Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Berlin: S. Fischer Verlag, 1901. 30 N,N. „Thomas Mann: Buddenbrooks.“

<http://www.dhm.de/lemo/html/kaiserreich/kunst/buddenbrooks/> (20.5.2011)

Page 31: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

31

2.4.2 Doppelpunkt als Abschluss

Neben diesem Untertitel ist auch das allerletzte Wort, oder genauer gesagt das

abschließende Satzzeichen, bedeutungsvoll für die Wiedergabe der Zeit in Der Turm.

Zuerst wäre es in diesem Abschnitt meiner Arbeit nützlich, den letzten Satz des Romans

noch einmal zu erwähnen, da mehrere glaubwürdige Erklärungen, für die Tatsache, dass

Tellkamp auf diese bestimmte Art und Weise enden lässt, möglich sind.31

Es ist

deutlich, dass dieser Satz den Mauerfall und das Ende der DDR als Inhalt hat, aber

warum Tellkamp die ganze Geschichte mit einem Doppelpunkt beendet, und nicht mit

einem einfachen Punkt, hat viele mögliche Gründe. Jede Geschichte kann nämlich auf

verschiedene Weisen gelesen werden. Je komplexer die Geschichte, je mehr Leseweisen

sie hat. Bei Der Turm muss es also, wenn wir die Komplexität betrachten, viele geben.

Auch wenn es verschiedene Erklärungen gibt, wird von dem Mauerfall nur einmal

erzählt. Diese singulative Erzählung bedeutet, dass ein Ereignis in der Geschichte auch

in der Erzählung nur einmal erzählt wird. In Der Turm wird diese Ereignis, die Wende,

ganz am Ende aufgegriffen, dadurch, dass ihre Wichtigkeit betont wird, auch wenn sie

nur einmal erwähnt wird.

Eine erste mögliche Erklärung für den Doppelpunkt, ist eine symbolische. Hier

kann dieses Satzzeichen ein Symbol für die Mauer, hinter der die Freiheit wartet, sein.

Die Geschichte hat sich bis jetzt mit der Anwesenheit der Mauer und damit auch

Unterdrückung abgespielt, jetzt, nach diesem Doppelpunkt, läuft die geänderte

Geschichte in die geöffnete Welt weiter. Es bezeichnet also auch ein offenes Ende des

Romans mit dem weiteren Leben der Figuren. Man kann sagen, dass, nach dem

Gewinnen der Freiheit, ihr Leben jetzt wirklich anfängt, während es für den Leser auf

dem Papier aufhört.

Zweitens ist es auch eine Art Einladung für den Leser, aufs Neue mit dem Lektüre

des Romans anzufangen. Emilie Van Brakel hat zu dieser Erklärung in ihrer Rezension

zu Der Turm geschrieben, dass Revolutionen nämlich Zeit brauchen.32

Hierbei werde

ich kurz die Tatsache, dass Der Turm ein teils biografischer Roman ist, erwähnen. Auch

bei Tellkamp hat es ungefähr zwanzig Jahre gedauert, bevor er dieses Epos beenden

konnte. Aber in dieser literaturwissenschaftlichen Arbeit werde ich mich vom

31 Siehe dazu 2.1: Der Schlusssatz lautet: „… aber dann auf einmal … schlugen die Uhren, schlugen den

9. November, »Deutschland einig Vaterland«, schlugen ans Brandenburger Tor:“ (T 973) 32 Vgl. dazu: “De dubbele punt aan het eind van het boek nodigt de lezer uit: begin opnieuw, revoluties

hebben tijd nodig.” (Emilie Van Brakel: “Vrijheid in bruinkooldampen”. In: 8weekly, 15. Januar 2010.

<http://www.8weekly.nl/artikel/8043/uwe-tellkamp-vert-goverdien-hauth-grubben-de-toren-verhaal-uit-

een-verzonken-land-vrijheid-in-bruinkooldampen.html> (20.5.2011))

Page 32: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

32

biografischen Aspekt distanzieren und es nicht weiter analysieren. Wenn wir Marcel

Proust folgen, müssen wir nämlich den Unterschied zwischen dem Autor als

Schriftsteller und dem Autor als soziales und lebendiges Wesen beibehalten33

.

Eine dritte Erklärung, und vielleicht die wahrscheinlichste, ist aus den Worten, die

Tellkamp selber gesagt hat, abzuleiten. In einem Interview hat er auf die Frage, wann

seine geschriebene Geschichte weitergehen wird, geantwortet: „Wenn die Musen geben,

der Wirbel sich gesenkt hat und die Ruhe zurückkehrt, in der man hört, was die Figuren

auf dem weißen Papier dem Autor, ihrem Geburtshelfer, erzählen.“34

Er kündigt mit

dem Doppelpunkt ein sogenanntes Sequel an, das als Fortsetzung zu Der Turm dienen

muss. Diese neue Geschichte wird dann, wie Tellkamp versprochen hat, anfangen, wo

Der Turm aufgehört hat. Ob er dieselben Figuren aufgreifen wird, müssen wir aber noch

abwarten.

33 Marcel Proust: „La méthode de Sainte-Beuve.“ In: Contre Sainte-Beuve. Hg. von P. Clarac, Paris:

Gallimard, 1971, S. 221f. 34Ansorg, Jörg. "Was halten Sie vom Abenteuerurlaub in ehemaligen NVA-Kasernen? Interview zum

Mauerfall mit Uwe Tellkamp, Autor und Chirurg”. In: Berufsverband der deutschen Chirurgen, 1.Oktober

2009.

<http://www.bdc.de/index_level3.jsp?form=Dokumente&documentid=3A40B1ECC6A6CDF7C1257655

00418B3D> (20.5.2011)

Page 33: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

33

3. Funktion und Wirkung der DDR in Der Turm

3.1 Erziehung und Umerziehung

Erziehung scheint, so wird von Tellkamp in Der Turm dargestellt, in der DDR sehr

wichtig zu sein, um das Individuum im Kollektiv einzuordnen. Die Bevölkerung, und

also auch die Figuren im Roman, müssen nach festgelegten Regeln gebildet werden,

damit sie gut in der sozialistischen Gesellschaft funktionieren können und dieses

System mit ihrem Zusammengehörigkeitsgefühl stützen können. Diese Regeln werden

präsentiert als die Ideale des Sozialismus und müssen außerdem von der Bevölkerung

sehr genau befolgt werden. Auch Paul Michael Lützeler hat in Bezug auf die DDR-

Literatur in einem Kapitel, Die gebildete Nation genannt, den idealistischen Zustand in

der DDR beschrieben: „Die hervorstechendsten Merkmale dieser Erziehungsdiktatur

sind auf der einen Seite eine geradezu starre politische Stabilität und andererseits eine

außerordentliche soziale Mobilität.“35

Auch wenn Lützelers Arbeit schon 1976

veröffentlicht wurde, ist sie noch von Relevanz für die Ereignisse der 80er Jahre. Die so

genannte ‚starre politische Stabilität‟ und konservative Haltung der DDR wird auch

zehn Jahre später, zwischen 1983 und 1989, noch verfolgt. Was in diesem System in all

diesen Jahren erreicht werden muss, wird anhand der Idealen deutlich ausgedrückt, aber

wie sie letztendlich erreicht werden sollen, ist viel weniger deutlich. Die gebildete

Nation wird als Ideal betrachtet, der Zustand verläuft in der Realität aber nicht, wie das

Ideal es darstellt. Dadurch, dass der Begriff ‚Bildung‟ schwer zu erstreben ist, wird im

Roman, und selbstverständlich auch in der DDR, die Möglichkeit der Umerziehung

erwähnt. Sie wird dazu benutzt, dem Leben der DDR-Einwohner die richtige Wendung

zu geben.

3.1.1 Der Begriff ‚Bildung’

Wie ich schon viele Male erwähnt habe, handelt es sich in Der Turm um

Bildungsbürger und deren Gesellschaft. Was diese ‚Bildung‟ jetzt genau beinhaltet,

werde ich in diesem Abschnitt behandeln. Zuerst beziehe ich dazu die Umschreibung,

die im Duden dem Begriff ‚Bildungsbürgertum‟ gegeben wird: “Gruppen des

Bürgertums mit einem an idealistischen Werten u. am klassischen Altertum orientierten

35 Paul Michael Lützeler: „Von der Arbeiterschaft zur Intelligenz: Zur Darstellung sozialer Mobilität im

Roman der DDR.“ In: Literatur und Literaturtheorie in der DDR. Hg. von Peter Uwe Hohendahl und

Patricia Herminghouse. 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 241.

Page 34: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

34

Bildungsideal“36

. Diese Umschreibung stimmt überein mit der Art und Weise, in der die

Bildungsbürger in Der Turm dargestellt werden. Die Ideale, an den diese Elite

festhalten, sind für sie sehr wertvoll, aber der Außenwelt gegenüber haben sie keinen

praktischen Nutzen. Dadurch wird diese Gruppe der Bevölkerung im Roman auch als

Außenseiter betrachtet.

In Bezug auf die Debatte über die Bestimmung des Menschen bekommt die

‚Bildung‟ folgende erweiternde Bedeutung. Die Literaturwissenschaftlerin Katrin

Fischer hat in einer Studie zu Wilhelm Meisters Lehrjahre37

von Johann Wolfgang von

Goethe zu diesem Thema behauptet, „dass Bildung deshalb als Antwort auf die Frage,

was ein gelungenes Leben gewährleistet zu verstehen ist, weil der Mensch seine

Bestimmung erfüllt, wenn er die in ihm angelegten Anlagen ausbildet.“38

Hier handelt

es sich aber um eine allgemeine und vage Beschreibung und entsteht eine neue Frage;

Was ist eigentlich der Inhalt von einem gelungenen Leben? ‚Bildung‟ ist in diesem

Sinne also ein schwer zu erklärender Begriff. Die Diskussion um das gelungene und

glückliche Leben wird später aufs Neue aufgegriffen, als Christians Bilanz der sieben

Jahre gezogen wird.39

In Der Turm gibt es die Voraussetzung, eine gebildete Nation, mit

zuverlässigen Einwohnern, die bereit sind, diese Nation zu dienen, zu bilden. Um diese

Einheitsnation zu erreichen, ist die kollektive Identitätsbildung einer der primären Ziele.

Es handelt sich dann um eine gemeinsame Bildung, in der die menschliche Identität zu

einem Teil der sozialistischen Maschine wird.

Die Frage, welche Bildung in der DDR erwünscht ist, ist fast unmöglich

vollständig zu beantworten. Das erwünschte Ideal der DDR-Regierung, alle Einwohner

im Kollektiv einzuordnen, ist den Erwartungen der Bildungsbürger entgegengesetzt. Die

Bildung ist für die beiden wichtig, aber auf eine ganz andere Art und Weise. Die

Bildung für die Mitglieder der Turmgesellschaft ist an der individuellen Identität und

persönlicher Entwicklung orientiert. Uwe Tellkamp erklärt dazu, dass es für sie

gleichzeitig ein Vorrecht und eine Verpflichtung ist, diesen Weg zu folgen, und dass

man dadurch die klassisch humanistischen Ideale folgen muss. Ohne Bildung wird es

36 Dudenredaktion: Duden. Deutsches Universalwörterbuch. 6., überarbeitete und erweiterte Auflage.

Mannheim: Dudenverlag 2006. S. 306.

37 Behandelt das ähnliche Thema einer abgetrennten Turmgesellschaft. 38 Katrin Fischer: „Die Turmgesellschaft in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre. Eine Deutung unter

Bezug auf Goethes Einstellung gegenüber Teleologie und im Kontext der Frage, was ein gelungenes

Leben gewährleistet.“ In: Goethezeitportal, 11.Oktober 2004 39 Siehe dazu 4.3.4

Page 35: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

35

nur Mord und Totschlag und keine bürgerliche Gesellschaft geben.40

Es gibt also auch

auf der Ebene der Bildung eine Opposition zwischen Sozialismus und Turmgesellschaft.

Die kollektive Bildung innerhalb des sozialistischen Systems der DDR ist der

Möglichkeit zur persönlichen Bildung innerhalb der eigenen und intimen Gesellschaft

entgegengesetzt. Louise Holm und Søren Madsen haben in ihrer Arbeit über Tellkamps

Der Turm auch auf diesen Unterschied hingewiesen: „Dem intellektuellen Bürgertum

angehörend, vertreten die drei [Christian, Meno und Richard, H.R.] die Eigenschaften

einer Klasse, die in der DDR eigentlich nicht vorgesehen war.“41

Die Klasse, von der

bei Holm und Madsen die Rede ist, steht für Individualitätsentwicklung, und genau

diese Art Entwicklung muss in der DDR vermieden werden. Das Kollektiv hat im

Sozialismus nämlich die Priorität und muss als erstes Ziel, einen sozialistischen Bürger

zu bilden, erreicht werden.

In vielen rein geschichtlichen Umschreibungen der DDR, unter anderem auch bei

Mary Fulbrook, wird dieser Staat „als ‚Arbeiter- und Bauernstaat‟ bezeichnet“42

. Aber

diese Bezeichnung war auch der offizielle Name. Mit dieser Beschreibung muss die

Bildung eigentlich das Lernen einer Handarbeit als wichtigstes Ziel haben. Die DDR

war aber ein Staat mit Industrie und Landwirtschaft an zentraler Stelle und auch im

Roman wird der Eindruck dieses Industriestaates als Modell für die DDR-Gesellschaft

präsentiert. Schon in der Ouvertüre des Romans wird die industrielle Umgebung

ausführlich beschrieben. Es gibt unter anderem

Schaumbäche der Reinigungsmittelfabriken, Abwässer der Stahlwerke, der Krankenhäuser, der

Eisenhütten und der Industriezonen, die verstrahlte Beize der Uranbergwerke, Giftsuppen der

Chemieanlagen Leuna Buna Halle und der Kaliwerke, von Magnitogorsk und von den

Plattenbaugebieten, die Toxine der Düngemittelanlagen, der Schwefelsäurefabriken. (T 7)

Die Beschreibung des Industries muss in Der Turm aber viel mehr im negativen Sinne

begriffen werden. Mit den Worten ‚Schaumbäche‟, ‚Abwässer‟, ‚Giftsuppen‟ und

‚Toxine‟ wird nicht nur die Industrie an sich betont. Die Umwelt wird vergiftet, aber

Meno, der diese Umschreibung macht, verweist schon auf die Tatsache, dass auch die

Bildungsbürger vom Sozialismus ‚vergiftet‟ werden.

40

Vgl. dazu: “Het schier onvertaalbare woord Bildung is voor hem niet alleen een voorrecht maar ook de verplichting tot een leven volgens de klassieke humanistische idealen. „Zonder Bildung‟‟, zegt hij, „rest

er alleen maar moord en doodslag. Zonder Bildung geen burgerlijke gemeenschap.‟‟ (Anneriek de Jong:

“Schrijven is een dienst aan God. Uwe Tellkamp over zijn DDR-jeugd en zijn bejubelde epos „Der

Turm‟”. In: NRC boeken, 9 November 2009. <http://www.nrcboeken.nl/recensie/schrijven-is-een-dienst-

aan-god> (16.06.2011)) 41 Holm und Madsen: „Die Erinnerung an die DDR. Uwe Tellkamps Roman Der Turm in den aktuellen

deutschen Erinnerungsverhandlungen.“ S 34. 42 Mary Fulbrook: Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR. Darmstadt:

Primus, 2008. S. 232.

Page 36: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

36

3.1.2 Sinn der Umerziehung

Wichtiger und wirkungsvoller als die ‚Bildung‟ scheint in der DDR aber die

Umerziehung zu sein. In dieser Erziehungsweise werden die Figuren im Roman

sozusagen zu loyalen Sozialisten umgestaltet. Wenn sie einfach ihre Meinung sagen,

während es nicht von ihnen erwartet wird und nicht mit den Idealen übereinstimmt,

werden sie gestraft oder einfach zu einem Jugendwerkhof untergebracht. Diese

Arbeitsweise war solchermaßen eingebürgert, dass auch Tellkamp sie im Roman als

selbstverständliche und nützliche Erziehungsform darstellt. Er beschreibt hier das

Ereignis vom Standpunkt der DDR aus. Muriel, Christians Cousine, „wurde in einen

Jugendwerkhof eingewiesen“ (T 509) und in dieser Szene wird unmittelbar das Ziel

dieses Werkhofs, wie es buchstäblich in der Richtlinie steht, umschrieben:

Das Ziel der Umerziehung in einem Jugendwerkhof besteht darin, die Besonderheiten in der

Persönlichkeitsentwicklung zu überwinden, die Eigenheiten im Denken und Verhalten der Kinder

und Jugendlichen zu beseitigen und damit die Voraussetzungen für eine normale

Persönlichkeitsentwicklung zu schaffen. (T 509)

Dadurch, dass Tellkamp die Wiedergabe der Richtlinie nur kurz aufgreift, betont auch

die Tatsache, dass Widerstand leisten nicht reicht und dass man sich damit abfinden

muss. Die erste form der Erziehung im Leben der Kinder, die natürliche durch die

Eltern, reicht hier nicht, und eine zweite, eine durch den Staat erzwungene, muss die

Mängel der ersten einholen und dem Leben die wichtige und sozialistische Wendung

geben. Auf diese Weise wird die ‚Rote Logik‟ des Sozialismus, die nicht verneint

werden darf, beigebracht. Christian weiß aber auch, dass diese ‚Rote Logik‟ beibehalten

werden muss, um sein Arztstudium bekommen zu können. Dafür tritt er auch freiwillig

in die Armee ein. Aber wie ‚freiwillig‟ dieser Eintritt wirklich ist, wird später noch

behandelt.43

Die soeben erwähnte Richtlinie scheint friedvoll zu sein, doch bestätigt sie aufs

Neue den starken Widerstand des Systems gegen die Meinungsfreiheit. Die Erziehung

durch den Staat wird von Tellkamp im Roman selber beschrieben als eine

„Rotlichtbestrahlung“ (T 559), welche er in einem Interview selber erklärt als ‚ein

humoristischer Ausdruck für eine kommunistische Unterrichtstunde, in dem die

Studenten mit der roten Ideologie bestrahlt wurden.‟44

Diese Bestrahlung darf überhaupt

43 Siehe dazu 3.4.1 44 Vgl. dazu: „Een vertaalster: „Wat is Rotlichtbestrahlung?‟ De schrijver: „Dat is de humoristische

uitdrukking voor een uur lang communistisch onderwijs. We werden met rode ideologie bestraald,

begrijpen jullie dat?‟“ (Anneriek de Jong: “Schrijven is een dienst aan God.”)

Page 37: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

37

nie infrage gestellt werden, und Widerstand dagegen wird für denjenigen, den sich

widersetzen, schwere Folgen haben. Verena, eine Mitschülerin Christians, verweigert

sich in der Schule einen Aufsatz über folgende Frage zu schreiben: „Woran ist die

Gesetzmäßigkeit des Siegs des Sozialismus über den Kapitalismus zu erkennen? Stützen

Sie Ihre Argumentation auf den Marxschen Geschichtsbegriff!“ (T 190) Sie hatte die

Frage, als Art Protest, mit einem leeren Blatt beantwortet (T 192). Da sie später aber

lügnerisch sagt, dass sie sich in diesem Moment nicht wohl gefühlt hatte, wird sie

wegen der Verweigerung nicht unmittelbar gestraft. Dieses Ereignis wird aber nicht

vergessen und später in der Geschichte stellt sich heraus, dass sie exmatrikuliert wurde.

Obwohl diese Folge vor allem aufgrund ihrer Ausreiseanträge stattfindet, gibt Tellkamp

doch den Eindruck, dass die Verweigerung, die Frage in der Schule zu beantworten,

indirekt mit der Exmatrikulation zu tun hat und dass die erste Verweigerung in der DDR

unabwendbar irgendwann bestraft werden musste.

3.2 Stadt unter Quarantäne

Die Beschränkungen, mit denen die Bürger zu kämpfen haben, haben natürlich damit zu

tun, dass sie in einer Welt, in der sie ständig von der Mauer beeinflusst werden, leben.

Die Ideologie der dominanten Sozialisten wird von ihnen präsentiert, als wäre es die

universelle. Dadurch wird ihnen die Möglichkeit entnommen, sich frei zu bewegen und

werden sie darüber hinaus kontrolliert, wenn sie die sozialistische Grenze überschreiten

wollen. Die andere Seite der Grenze wird im Roman mehrmals einfach und kurz als „da

drüben“ (T 49, 74, 75, 103, 581, 582, 755) beschrieben. Mit dieser Beschreibung gibt

Tellkamp die Geringschätzung der DDR gegenüber der kapitalistischen Welt wieder.

Dadurch, dass diese sozusagen minderwertig ist, dürfen die Einwohner ohne einen

deutlichen Grund nicht nach der anderen Seite zu reisen. Auch Meno unterfindet diese

Unterdrückung, als er ‚da drüben‟ einen arbeitsbezogenen Besuch machen muss. In

seinem Fall handelt es sich aber um eine Grenze, innerhalb der DDR, „die den Wohnsitz

der Dresdner Nomenklatura – ironisch als ‚Ostrom‟ bezeichnet – von dem

angrenzenden Wohnviertel der Dresdner Bürger trennt.“45

Um dort anzukommen,

muss er die Brücke über die Elbe zu überqueren versuchen, und „wer den Brückenweg

betrat, wollte nach Ostrom, und es gab nur weniges, was mit größerem Mißtrauen im

Viertel angesehen wurde als ein Besuch »da drüben«, wie es ausweichend-abfällig

45 Anne Fuchs: „Topographien des System-Verfalls.“ S. 44.

Page 38: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

38

hieß.“ (T 103) Dieses Misstrauen wird von Meno betont mit der Beschreibung des

Brückenwegs:

„Der Brückenweg hatte Mauern zu beiden Seiten. Nach zwanzig Schritten traf man auf einen

Tordurchlass, eine Wand quer über den Weg, die bis zur Mauerkrone in etwa vier Metern Höhe

reichte. Ein rotweiß gestreiftes Wächterhäuschen stand neben dem Tor; der Posten darin hatte eine Kalaschnikow geschultert“. (T 104)

Für Meno wirkt der Kontrollenpost eindrucksvoll und daher wird es auch beschrieben,

als ob es bei dem intellektuellen Bildungsbürger einen starken Eindruck hinterlässt. Er

fühlt sich in dieser Situation übertriebener Überwachung alles andere als wohl und will

diesen Weg so schnell wie möglich hinter sich haben. Die Grenze, „die mit ihren

Wachtürmen und Kontrollenposten die DDR-Grenze zur Bundesrepublik imitiert“46

,

bilden eine zweite Quarantäne und damit auch größere Zerrissenheit innerhalb des

versunkenen Landes.

Eine kleinere Geschichte innerhalb der eigentlichen Geschichte der Hauptgestalten

betrifft das Leben Regines, einer Freundin der Familie Hoffman. Das Leben dieser

Figur ist das deutlichste Vorbild, das das Leben in der DDR für die meisten Einwohner

fast wie das Leben in einem Gefängnis ist. Regines Mann, Jürgen, war nach München

geflüchtet, und sie haben seit dieser Flucht alle Schwierigkeiten, einander sprechen oder

sehen zu können.

Seitdem konnten sie einander nur in Prag sehen, einmal im Jahr, nach großen Schwierigkeiten,

Jürgen immer in Angst, verhaftet zu werden. Regine war nach ihrem Ausreiseantrag das Telefon

gesperrt worden. Um mit Jürgen sprechen zu können, mußte sie Annes und Richards Anschluss

benutzen. Die Freigabe des Gesprächs konnte morgens um vier Uhr geschehen; man wußte nie

vorher, wann, deshalb hatte Anne für Regine und ihren Sohn vorsorglich die Betten bereitet. (T

82f.)

Auch wenn sie einander jedes Jahr nur einmal sehen können, vollzieht dieses Treffen

sich immer wieder voller Schwierigkeiten. Regine will auch über die Grenze reisen und

wartet schon „seit zwei Jahren“ (T 289) auf eine positive Antwort auf ihren Antrag.

Immer bleibt die Hoffnung anwesend, dass die Regierung den Antrag akzeptieren wird,

aber „in dürren Worten teilte man ihr mit, daß ihr Ausreisegesuch abschlägig

beschieden worden sei.“ (T 574) In dem Moment, in dem sie keine weiteren

Nachrichten mehr über die Ausreise erwartet, bekommt sie doch noch eine neue

Benachrichtigung. Regine bekommt „die Auflage, das Gebiet der DDR bis 0.00 Uhr zu

verlassen“ (T 580), aber sie weiß nicht genau, wie sie darauf reagieren muss. Die

Schwierigkeiten und Beschränkungen, die die DDR-Regierung bis diesen Moment

verursacht hat, sorgen für Zweifel bei der ekstatischen Frau: „Ich weiß gar nicht, ob ich

46 Ebd. S. 54

Page 39: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

39

lachen oder weinen soll […]. Diese Zustände! Eine Wut hatte ich, und dann musste ich

heulen…“ (T 581). Als sie letztendlich auf den Zug, der nach ‚da drüben‟ führt, sitzt

und die Ausreise sich vollzieht, spürt sie zum letzten Mal die Kontrolle des Systems.

Meno und Anne, die sich nur von Regine verabschieden wollen, werden von den

Soldaten verdächtigt, auch die Ausreise machen zu wollen und werden dadurch

verhaftet. (T 592f.) Bis zum allerletzten Moment spürt Regine also den Widerstand der

DDR gegenüber unerlaubten Ausreiseversuchen. Die Geschichte Regines fängt gleich

mit der Geschichte der Hoffmanns an und vollzieht sich fast am Ende, d.h. auf Seite

594, als sie mit dem Zug abfährt. Obwohl Regines Zustand in Der Turm nur ab und zu

aufgegriffen wurde, dient sie, zusammen mit der Geschichte der Hoffmans, als Vertreter

der ganzen DDR, deren Republik als Gefängnis bezeichnet werden kann.

Die Bildungsbürger haben dank der Turmgesellschaft eigentlich eine doppelte

Mauer um sich herum gebaut. Sie haben, wie ich schon einige Male erwähnt habe, eine

eigene, private Gesellschaft kreiert innerhalb der Mauern ihrer Häuser. Der Name, der

in Der Turm dafür benutzt wird, ist nicht zufällig ‚Turmgesellschaft‟. Mit diesem

Begriff wird der Raum gemeint, in dem die Intellektuellen ihre Ideale verteidigen und

darüber sprechen können. Dabei wird der Turm betrachtet als eine Art Festung, in der

die Sicherheit, die sie mit dem Bau der Mauer der DDR verloren haben, zurückfinden

können. In Tellkamps Roman wird dargestellt, dass die Einwohner dieses Turms

scheinbar eine zweite Welt kreiert haben, um auf diese Art und Weise aus der

sozialistischen fliehen zu können.

3.3 Pfeiler der DDR

Wie schon gesagt, betont die Regierung der Republik einige Elemente, die als

Repräsentation des sozialistischen Systems dienen sollen. Einige davon sind die Jugend,

zusammen mit der Kultur, dem Kollektiv und dem Volk. Weil ihr Einfluss auf die

Figuren auch im Roman in den Vordergrund tritt, werden diese Elemente in der Sprache

in Der Turm häufig aufgegriffen.

3.3.1 Die Jugend und Kultur

Die ersten Begriffe, die in Bezug auf den Sozialismus im Text häufig erwähnt werden,

sind ‚Jugend‟ und ‚Kultur‟. In einer Untersuchung zum DDR-typischen Wortschatz, zu

dem die allgemeinen Sammelbegriffe gehören, hat Sabina Schroeter die Wichtigkeit

und Funktion der beiden ersten Begriffe wie folgt beschrieben:

Page 40: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

40

Die Lexeme Jugend und Kultur […] dokumentieren das große Interesse, das Staat und Partei

sowohl an der Jugend als auch an kulturellen Einrichtungen und Veranstaltungen hatten. Jugend-

und Kulturpolitik waren wichtige Elemente, um das angestrebte Ziel, die allseitig entwickelte

sozialistische Persönlichkeit, zu erreichen.47

In Bezug zu dieser ‚allseitig entwickelten sozialistischen Persönlichkeit‟ kann aufs Neue

der Begriff ‚Bildung‟48

aufgegriffen werden. In folgender Szene befindet Christian sich

in Gedanken in der Schule und denkt er am (vom Staat dargestellten) Etappenplan des

Großen Menschen. Die erste Etappe ein Großer Mensch im Sozialismus zu werden, ist

nämlich die Bildung. „Eine hohe Bildung war die erste Voraussetzung […]. Außerdem

hatte der Große Mensch Kultur.“ (T 156) Um diese erwünschte Kultur zu erreichen, hat

die DDR ihre Kulturpolitik gegründet. Obwohl die bildungsbürgerlichen Figuren eine

kulturelle Ausbildung erstreben, stehen sie dieser Art von politischer Führung kritisch

gegenüber. Sie fragen sich, was die Kulturpolitik des Staates betrifft, zum Beispiel, „ob

nicht ihre Kulturpolitik, ihr Bild vom lesenden Arbeiter, auf falschen Voraussetzungen

beruhe“. (T 282) Da diese Politik von den Bildungsbürgern in Zweifel gezogen wird,

entsteht im 45. Kapitel, „Die Papierrepublik“ (T 627-642) genannt, eine Diskussion zu

diesem Thema. In diesem Abschnitt kommt die Dialektik zwischen verschiedenen

Meinungen von verschiedenen Personen am deutlichsten hervor. Anhänger von der

Kulturpolitik versuchen die Arbeitsweise der Regierung zu verteidigen und betrachten

es als das ‚gut‟, während die Gegner solche politische Führung für unlogisch und ‚böse‟

halten. Diese kleine Diskussion stärkt aber aufs Neue die allgemeine Opposition

zwischen den Anhängern, die die politische Führung der DDR für selbstverständlich

halten, und den Gegnern, die mit dem Sozialismus uneinig sind und versuchen, eigene

alternative dafür zu formulieren. Tellkamp versucht hier nicht einseitig die Gegner, mit

denen er, biografisch gesehen, sympathisiert zum Fokus zu machen, sondern er gibt

auch den Sozialisten die Möglichkeit, ihre Meinung dazu zu verteidigen. Als Erzähler

versucht er an dieser Stelle also einen neutralen Standpunkt einzunehmen.

Die Kulturpolitik, die zu der ‚allseitig entwickelten sozialistischen Persönlichkeit‟

beitragen muss, ist also auch Teil der Jugendbildung. Von klein auf müssen die

sozialistischen Ideale beigebracht werden und wird die Jugendpolitik als wichtiges

Mittel zur Fortsetzung des Regimes gesehen. Um dieses Ideal zu erreichen, hat die DDR

unterschiedliche Instanzen gegründet, die alle der Jugend förderlich sind. Es gibt zum

Beispiel die Freie Deutsche Jugend (FDJ), um „die heranwachsende Generation zu

47 Sabina Schroeter: Die Sprache der DDR im Spiegel ihrer Literatur. Studien zum DDR-typischen

Wortschatz. Berlin: Walter de Gruyter & Co. 1994, S. 45. 48 Siehe dazu 3.1.1

Page 41: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

41

sozialisieren und zu erziehen“49

, die Jugendwerkhöfe, um die widerwilligen

Jugendlichen umzuerziehen und die NVA, um sie im Kollektiv einzuordnen. Anhand

dieses sozialistischen Fokus auf Jugend, war es für Tellkamp nicht so schwierig, auch

die Figur Christians mit solchem Fokus zu versehen. So ist auch der siebzehnjährige

Christian Mitglied der FDJ, tritt er in die Armee und wird er in einem Jugendwerkhof

eingewiesen50

.

3.3.2 Das Kollektiv

Wie ich gerade im vorigen Abschnitt erwähnt habe, ist auch das Kollektiv eine der

wichtigsten Mittel des Regimes. Schroeter hat in Bezug zum Adjektiv ‚kollektiv‟

folgende allgemeine Behauptung gemacht: „Das Arbeiten, Leben und Lernen im

Kollektiv gehört zu den Grundelementen des Sozialismus.“51

Ihrer Meinung nach hat es

aber auch „eine ideologische Komponente, ‚weil das sozialistische K. [= Kollektiv,

H.R.] als Bindeglied zwischen Individuum und Gesellschaft die Entwicklung

sozialistischer Persönlichkeiten maßgeblich beeinflussen soll.‟“52

Vor allem in der

Armee wird betont, dass die Soldaten eigentlich nur ein Teil des Kollektiven sind und

dazu werden sie auch untergeordnet. Schon vor seinem Eintritt in die NVA wird

Christian vor dieser Tatsache ‚gewarnt‟: „Ja zum dreijährigen Ehrendienst in unseren

Streitkräften, mit dem Sie Ihrem Volk ein klein wenig von dem zurückgeben, was es für

Sie leistet. Zumal Sie als Agitator eine Vorbildrolle in ihrem Klassenkollektiv

einnehmen!“ (T 329) Übrigens ist die kollektive Leistung nicht nur in der Armee

primär. Auch im täglichen Leben muss die kollektive Arbeit nachgelebt werden. Dies

bedeutet laut Schroeter, „dass Arbeit nicht allein getan, eine Entscheidung nicht

individuell, sondern im Rahmen einer Gruppe gelöst werden sollen.“53

Diese Aussage

wird von folgendem Zitat aus Der Turm bestätigt: „Er war auch hier, bei der Armee,

Teil eines Großen Plans, einer großen Rechenoperation vom Menschen; auch hier gab

es die Worte Kollektiv (seine Besatzung war ein »Kampfkollektiv«) und

Hauptaufgabe.“ (T 767) Mit dem Wort ‚auch‟ meint die Figur Christian, dass die Armee

keine ganz neue Welt ist. Wenn man die Funktion betrachtet, ist es genauso wie die

Welt außerhalb der NVA. In beiden wird einfach dasselbe von einem DDR-Einwohner

49 Fulbrook: Ein ganz normales Leben. S. 147. 50 Siehe dazu Kapitel 4. dieser Arbeit 51 Schroeter: Die Sprache der DDR im Spiegel ihrer Literatur. S. 69. 52 Ebd. S. 58. 53 Ebd. S. 69.

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42

erwartet, nämlich nur funktionieren in Bezug auf das Kollektiv und sich immer

verhalten, wie von ihnen erwartet wird.

3.3.3 Das Volk

Inhaltlich ist die Bedeutung des Kollektiven folgender Analyse des Begriffs ‚Volkes‟

ähnlich. Sprachlich werden die beiden von Tellkamp doch unterschiedlich im Roman

erwähnt. Zum letzten Mal zitiere ich, in Bezug auf die Pfeiler der DDR, Schroeter:

„Volk ist letztlich eine vage, undefinierbare Größe, wie schon Adelung in seinem

Wörterbuch vermerkte, ‚ein Wort, welches überhaupt eine unbestimmte Menge oder

Vielheit, besonders lebendiger Geschöpfe, bedeutet.‟“54

Auch Julia Hell bestätigt mit

einer Aussage über die Demonstrationen 1989 die Allgemeinheit des Begriffes ‚Volk‟.

Zu den Demonstrationen sagt sie: „In 1989, no heads were lost. Instead, a state

dissolved, while its citizens escaped or poured into the streets discovering themselves as

‚the people‟.“55

Nur mit diesen Demonstrationen werden die Menschen zu „Das Volk‟,

einer neuen Instanz. In diesem Moment rufen sie dann auch „Wir sind das Volk“ (T

969, 970) und haben sie den Mut, ihre Meinung zu sagen, ohne Angst zu haben, gestraft

zu werden: „(Volk, im Chor) Freiheit!“ (T 966) Vor diesem Zeitpunkt wurde der DDR-

Bevölkerung den Mund gestopft und hatten sie gar nicht zu sagen. Es war ein Volk ohne

Freiheit. Die DDR sprach an ihrer Stelle.

Die Gesamtheit des Volkes wurde sogar personalisiert und als eine menschliche

Einheit mit einem Körper betrachtet. Alle einzelnen Personen gehören nämlich zum

„Körper des deutschen Volkes“ (T 131). Das Wort ‚Volk‟ bedeutete also die

selbstverständliche Zugehörigkeit zu dem Sozialismus, nicht nur als Individuum,

sondern als Gesamtheit aller verpflichteten Vertreter dieses sozialistischen Staates. Auf

diese Art und Weise wird auch der Ausdruck „Im Namen des Volkes“ (T 169, 821, 883)

mehrmals für öffentlichen Institutionen benutzt, wenn diese eigentlich nur den Staat

betreffen. Ein erstes Mal wird es in Der Turm erwähnt auf einer Urkunde, später in

einem Gericht und letztens wird es ausgesprochen bei einer Verhaftung wegen

Republikflucht. Diese Vorfälle haben eigentlich nichts mit dem Volk zu tun, betreffen

nur einzelne Personen, die auf diese Weise von der Macht des Staates beeinflusst

werden. Am Ende des Romans stellt sich dann heraus, dass das Volk eigentlich nur als

Mittel vom Staat, um die sozialistischen Ideale zu verbreiten, benutzt oder missbraucht

54 Ebd. S. 139. 55 Hell: „Dissolution / Revolution.“

Page 43: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

43

wurde. Ein Anhänger des Kommunismus sagt letztendlich, was Sache ist: „Wir haben

eine Wahrheit, wir haben die Wahrheit, merken Sie sich das, und wir werden sie

verteidigen, wenn es sein muß, auch wieder gegen ein Volk!“ (T 943) Wenn die

Wahrheit, die die Kommunisten beibehalten, vom Volk in Zweifel gezogen wird, wird

die Stimme des Volkes nicht gehört, sondern sollte dieses Volk gegen ihre Machthaber

revoltieren. Diese Aussage aus Der Turm beweist aufs Neue die geringe Wichtigkeit des

Volkes für die DDR.

3.4 Armee als Einordnung

3.4.1 ‚Freiwilliger’ Eintritt

1962 wurde die Wehrpflicht für die DDR-Männer festgelegt und mussten sie, laut

diesem Gesetz, normalerweise mindestens 18 Monate in der Nationalen Volksarmee,

der Armee der DDR, dienen. Auch in der Familie Hoffmann sind sie an diesem, wie es

in Der Turm beschrieben wird, „Verpflichtungszirkus“, (T 324) beteiligt. Im Fall

Christians wird die Dienstzeit in seiner Lebensentwicklung von großer Bedeutung sein.

Die Bejahung seines Eintritts wird als Wendepunkt seiner jugendlichen Entwicklung

bezeichnet. Er wird sich diesen Tag, sogar diese Stunde, denn auch sein ganzes Leben

erinnern: „Drei Jahre Nationale Volksarmee. Christian wußte, dass er diese Stunde nicht

vergessen würde, diesen fünfundzwanzigsten April neunzehndreiundachtzig;

vorgestern.“ (T 327)

Er muss seiner Zeit in der Armee auch sozusagen freiwillig dienen. Im vorigen

Satz stellt sich die Diskrepanz zwischen dem Adverb ‚freiwillig‟ und dem Verb

‚müssen‟ heraus. Jetzt werde ich also tiefer eingehen auf diese Widersprüchlichkeit und

darauf, wie sie auch weiter in Der Turm erwähnt wird. Die Schüler, die Tellkamp

präsentiert, wissen, was von ihnen erwartet wird, und dass dieser Eintritt eigentlich alles

andere als freiwillig ist: „Jeder männliche Absolvent unserer Schule verpflichtet sich

zum freiwilligen Ehrendienst in der Nationalen Volksarmee.“ (T 324) Die Art und

Weise, in die Tellkamp die freiwillige Einberufung darstellt, sorgt dafür, dass nur die

staatliche Taktik betont wird. Auch der Staat weiß natürlich selber, dass diese

Freiwilligkeit sehr relativ zu verstehen ist. Dadurch, dass Christian das Arztstudium

anstrebt, wird er drei Jahre dienen müssen, da „insbesondere von Abiturienten, die ein

Studium anstrebten, eine über die normalen 18 Monate Wehrdienst hinausgehende drei-

Page 44: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

44

oder vierjährige Verpflichtung […] erwartet“56

wurde. Auch wenn die Studenten sich

scheinbar freiwillig dazu verpflichten, dem Staat zu dienen, enthält die Freiwilligkeit

eine Doppeldeutigkeit. Diese Erwartung wird dann auch von Gesamtdirektor Fahner,

bei dem er sich für den Dienst anmelden muss, aufgegriffen, um den Eintritt als

logischer Schritt ins Leben zu präsentieren. Dieser Direktor sagt zu Christian: „Deshalb

erwarte ich von Ihnen Ihr Ja zum dreijährigen Ehrendienst in unseren Streitkräften, mit

dem Sie Ihrem Volk ein klein wenig von dem zurückgeben, was es für Sie leistet.

Zumal Sie als Agitator eine Vorbildrolle in Ihrem Klassenkollektiv einnehmen.“ (T 329)

Es scheint hier, als ob Fahner mit seiner verbalen Kraft Werbung für die NVA macht

und auf diese Art und Weise Christian in die Armee zu locken versucht. Christian und

Fahner wissen natürlich beide, dass Christian auch ohne die Überredungskraft Fahners

seinen Dienst vollziehen muss, auch wenn es keinen Gegendienst für das Volk gäbe.

3.4.2 Sinn des Soldatseins

Die sechs Auffassungen über den „Sinn des Soldatseins“, die am Anfang sechs

verschiedener Kapitel (39, 44, 47, 50, 55 und 58) erwähnt werden, stimmen mit den

Erzählungen über die Figuren und ihren Erlebnissen in diesen Kapiteln überein. Diese

Übereinstimmungen haben aber einen ironischen Unterton. Die utopische Vorstellung

des Soldatseins ist nicht wirklich so utopisch, sondern vielmehr pessimistisch, wenn

man die wirklichen Erlebnisse der Soldaten, die im Roman beschrieben werden,

betrachtet. Diese Kapitel sind mehr oder weniger immer auf dieselbe Art und Weise

aufgebaut, um die Unterschiede zwischen Utopie und dystopischer Realität akkurat

darzustellen. Als Erstes gibt es immer die Anweisung über das Soldatsein, als eine Art

Einleitung im weiteren Kapitel, gefolgt von Christians Erlebnissen in der Armee.

3.4.2.1 Kapitel 39: eine neue Lebensphase

„Genosse Soldat! Genosse Matrose! Ein neuer Lebensabschnitt liegt vor Ihnen – der

aktive Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee. Durch Ihre Arbeit, Ihr Lernen haben

Sie bereits unsere sozialistische Gesellschaft mitgestaltet. Jetzt verwirklichen Sie ein

verfassungsmäßiges Grundrecht als Soldat, erfüllen Sie Ihre Ehrenpflicht, Frieden und

Sozialismus gegen jeden Feind zuverlässig zu schützen“ (T 534)

56 Martin Sabrow: Erinnerungsorte der DDR. München : Beck, 2009. S. 260.

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45

Die erste offizielle Anweisung des ‚Sinns des Soldatseins‟ wird am Anfang von

Christians Dienstzeit, als die ersten Tage in der NVA beschrieben werden, aufgegriffen.

Es handelt sich, wie die Anweisung es buchstäblich voraussetzt, tatsächlich um einen

neuen Teil von Christians Leben, der von diesem Moment anfängt. In seinen Briefen

beschreibt er zum Beispiel die neue Umgebung, die neuen ‚Kameraden‟, seine neuen

Aufgaben, sein neues Aussehen,… Er schreibt 12 Briefe in 38 Tagen, um seine

Erfahrungen in dieser neuen Welt ausführlich zu beschreiben und die neue Lebensphase

mit seiner Familie zu teilen. Was er in seinen Briefen mitteilt, stimmt aber nicht mit

dem vorausgesetzten Inhalt des Soldatseins überein. Der enthält nämlich sozialistischen

Pfeiler wie Ehrenpflicht, Frieden und Sozialismus, die alle von den Soldaten angestrebt

werden müssen, aber darüber erzählt Christian nicht.

3.4.2.2 Kapitel 44: Sei Sozialist

„Sich als Sozialist in der Nationalen Volksarmee zu bewähren, als Soldat stets im Sinne

der Arbeiterklasse zu denken und zu handeln, das heißt für Sie nunmehr, sich den

Gesetzen des militärischen Lebens unterzuordnen“ (T 623)

Die zweite Voraussetzung handelt sich um die militärischen Gesetze, die von den

Soldaten nachgelebt werden müssen. Sich diesen Gesetzen unterzuordnen, bedeutet

also, dass sie nur Teil der Soldatengesellschaft sind. Gegenüber den Offizieren dürfen

sie überhaupt keinen Widerstand leisten. Nur auf diese Art und Weise werden sie zu

einem vollwertigen Sozialisten. Obwohl dieses ‚Sozialistwerden‟ für Christian nicht so

wichtig ist, weiß er, dass er nicht aus der Reihe tanzen darf. Genau hier befindet sich der

Unterschied zwischen Utopie und Realität. Die Utopie behauptet, dass, wenn die

Soldaten dem Gesetz gehorsam sind, sie sich auf diese Weise zu einem reinen

Sozialisten entwickeln werden und weiter keine Probleme erfahren werden. Die

Wirklichkeit ist aber nicht so utopisch, wie sie dargestellt wurde. Immerhin darf

Christian keinen Widerstand leisten, auch nicht im Moment, dass er verprügelt und

erniedrigt wird. Sich dem Gesetz aneignen, heißt in diesem Fall vielmehr es im

negativen Sinn zu erleiden. Von den einfachen Soldaten wird erwartet, dass sie nur die

Handlungen und Aussagen der Offiziere bejahen. Damit verschwinden die Probleme

aber nicht. Auch als er sehr überzeugt „Jawohl, Genosse Feldwebel!“ (T 626) sagt, wird

Christians Kopf ins Klo untergetaucht und wird die Spülung gezogen. Das scheint aber

das Schicksal eines Soldaten zu sein.

Page 46: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

46

3.4.2.3 Kapitel 47: Teil der Gruppe

„Deshalb dürfen Sie niemals abseits von Ihrer Gruppe, Bedienung oder Besatzung

stehen. Nur im Kreise der Genossen können Sie sich als sozialistische

Soldatenpersönlichkeit entwickeln und bewähren“ (T 648)

Die nächste Priorität der Armee ist die Gruppe und die Rolle der Genossen in der

Entwicklung zu einem wahren Sozialisten. Die Gruppe, in der das Individuum sich

befindet, soll dazu beitragen, die Entwicklung als Sozialist zu vollziehen. Aufs Neue

werden die tatsächlichen Erlebnisse hier nicht in Bezug zum Sozialismus beschrieben,

sondern nur in Bezug zur Gruppe. Es gibt Beschreibungen von ihrer Freiheit und was

sie als Gruppe darin machen, um sich zu stärken: Sie singen, saufen und machen Spaß.

In diesem Abschnitt wird aber auch erwähnt, wie einem Soldaten, Jan Burre, ein Freund

Christians, gequält wird, „weil einer zum Quälen da sein musste.“ (T 648) Dadurch,

dass Tellkamp die Quälerei in diesem Kapitel aufgreift, sorgt dafür, dass die erwünschte

Entwicklung des Soldaten sich immer schwieriger vollziehen wird. Die Erniedrigung

hat nämlich einen negativen Effekt auf die Entwicklung als sozialistischen Soldaten.

Auch werden andere negative Aspekte mit der Gruppe verbunden. So entdeckte

Christian, dass „es ein Spaß sein konnte, wenn jemand verprügelt wurde“. (T 649) Der

Einfluss der Gruppe, die mit ihrem Lachen zu dieser Erniedrigung bestätigend wirkt, hat

für die Entwicklung aber eine verunsichernde Wirkung.

3.4.2.4 Kapitel 50: Gemeinsames Ziel

„Klassengenosse – befiehl! Klassengenosse – führ aus! Gleicher Willen. Gemeinsames

Ziel. So wird Vertrauen daraus“ (T 687)

Mit der Gruppe, die im vorigen Abschnitt besprochen wurde, hängt auch das Gefühl

von Vertrauen zusammen. Das Vertrauen, das hier aber gemeint und gewünscht wird,

ist dasjenige gegenüber den Offizieren, wenn die Soldaten ihre Befehle ausführen, weil

sie dasselbe Ziel haben. In den Erlebnissen in diesem Kapitel wird aber vielmehr das

gegenseitige Vertrauen zwischen den Soldaten, als Zeichen der Freundschaft, betont. So

erzählt Burre Christian einige Geheimnisse, er hat zum Beispiel keine Mutter mehr, und

teilt er mit ihm seine Probleme und Sorgen. Obwohl Burre sagt, dass er „keine Hilfe

braucht“ (T 700), bestätigt Christians Besorgnis und seine Frage („kann ich irgendwas

für dich machen“ (T 700)) die Freundschaft. Ihr gemeinsames Ziel scheint das

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47

Durchkommen der Armeezeit zu sein, dadurch, dass sie einander vertrauen und sich an

der Freundschaft festklammern.

3.4.2.5 Kapitel 55: Unvergessliche Erlebnisse

„Die Waffenbrüderschaft wird Ihnen unvergeßliche Erlebnisse schaffen“ (T 752)

Was in Der Turm als fünfte Erwartung der Armee dargestellt wird, sind die

unvergesslichen Erlebnisse, die man dort scheinbar erleben wird. Natürlich sind diese

im positiven Sinn aufzufassen. Das Gruppengefühl, die Freundschaft, der Frieden und

Sozialismus müssen alle dafür sorgen, dass die Armeezeit nie vergessen wird. Im Fall

Christians wird er seine Dienstzeit sicher nicht vergessen. Seine Erinnerungen an die

Armee werden aber wider Erwarten vor allem negativ betont sein. Wenn Christian als

Fahrer in einer Nacht die Verantwortung über einen Panzer bekommt, läuft alles schief.

Diese Szene wird dann haargenau beschrieben, und damit wird betont, wie peinlich

dieser Vorfall für Christian ist. Schritt für Schritt erfahren wir als Leser zusammen mit

Christian die schmerzhafte Entwicklung bis zum dramatischen Ablauf. Im vorigen

Armee-Abschnitt wurde die Art und Weise, in der Christian Burres Vertrauen gewann,

sowie die Tatsache, dass damit eine Freundschaft entstand, beschrieben. Im 55. Kapitel

ist Jan Burre in einem Unfall mit einem Panzer, für den Christian verantwortlich war,

gestorben, und kann Christian nichts mehr für seinen Freund tun. Er wird diese

Konfrontation mit dem Tod sicher nie vergessen und daher kann auch der Verlust eines

Freundes, im negativen Sinn, als unvergessliches Erlebnis betrachtet werden.

3.4.2.6 Kapitel 58: Rolle der Frau

„Die Frau oder das Mädchen, das Sie lieben, werden Sie in alle diese Überlegungen,

Wünsche und Träume einbeziehen. Sie werden ihr schreiben und Post von ihr erhalten.

Durch ihre Liebe wird sie Ihnen helfen, die hohen militärischen Forderungen zu erfüllen

und alle Anstrengungen zu meistern“ (T 782)

Der letzte Aspekt der Armee, der nachdrücklich zusammen mit Christians Erlebnissen

genannt wird, betrifft die Frau. Auch in seinem Leben ist eine Frau, meistens in

Gedanken, ständig anwesend. Reina, eine Mitschülerin, ist das Mädchen, das er als

seine erste Liebe betrachtet. „Das sollte die erste Liebe sein? […] Reina seine Julia, und

er ein außer Rand und Band geratener Romeo?“ (T 487). Dadurch, dass er diese

Feststellungen als Frage präsentiert, kündigt schon an, dass er noch immer an seinen

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48

Gefühlen zweifelt. Im 58. Kapitel wird dieser Zweifel, nach einem Treffen mit seiner so

genannten ersten Geliebten, bestätigt und stellt sich heraus, dass sie eigentlich nicht

zueinander gehören. Dieses Treffen in seiner Situation als Soldat war keine gute Idee

und schon schnell sieht er ein, dass „es ein Fehler gewesen war, Reina zu treffen“. (T

785) Das wird aber auch von den Gesprächen, die sie führen, bestätigt. Sie reden fast

nicht übereinander, sondern meistens über andere Personen, die sie beide kennen. Sie

scheinen sich nicht füreinander zu interessieren und das Gespräch verläuft sehr

mühsam. Bei Christian spielen die Liebe, und vielmehr die Gedanken daran, während er

sich in der Armee befindet, eine große Rolle. Dessen ungeachtet läuft es schief und wird

ein letztes Mal die Opposition zwischen Utopie und harte Realität betont.

Merkwürdigerweise hat hier aber nicht die Armee für das Scheitern der Liebe gesorgt.

Von der NVA wird die Frau herausgestrichen, aber Christian selber hat dafür gesorgt,

dass er auch von der Liebe nicht geholfen wird, um ‚die hohen militärischen

Forderungen zu erfüllen‟.

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49

4. Die Figur Christians: entgegengearbeitete Entwicklung

In den ersten drei Teilen meiner Arbeit wurde die Art und Weise, in der die DDR

anhand ihres Systems und der dazu gehörenden Beschränkungen die die freie

Entwicklung der Figuren verhinderte, behandelt. Jetzt werde ich, anhand Christians

Adoleszenz und Tellkamps Erzählweise, zu analysieren versuchen, dass eine

individuelle Persönlichkeitsentwicklung fortwährend möglich ist und gemacht wird.

Obwohl der Sozialismus vermeiden will, dass seine verpflichtete Vertreter sich

individuell Entwickeln, gelingt es Christian, seine eigene Persönlichkeit nach vielen

Problemen zu bilden. Obwohl er sie meistens nicht selber im Griff hat, kommt die

Hauptfigur während der Geschichte von einer Schwierigkeit in die andere. Weil

Christian ständig vom Staat widersetzt wird, muss er für die Konstruktion seines Ichs

als individuelle und selbstständige Person immer mit der gleichzeitigen Dekonstruktion

seines Ichs, herbeigeführt von der DDR, rechnen.

4.1 Von einem Extrem ins andere

4.1.1 Immer weiter bergab

Vom Anfang der Geschichte an können wir als Leser nicht voraussehen, wie das Leben

der Figur Christian sich entwickeln wird. Schritt für Schritt, mit dem langsamen Tempo

der Erzählung, befindet diese Hauptgestalt sich in einer immer schlimmer werdenden

Situation. Gewalt, psychologische Erniedrigung, Strafen und Gefangenschaft sind allen

Sachen, die Christian ertragen muss. Seine Situation, die ich jetzt anhand der

wichtigsten Wendepunkte analysieren werde, entwickelt sich nur im negativen Sinn und

sein Leben scheint sich nur immer bergab fortzubewegen. In manchen Rezensionen gibt

es kurze Beschreibungen, die vielmehr eine Zusammenfassung der Geschichte sind,

aber schon ein erstes Bild von Christians Evolution darstellen. Ein schönes Beispiel

wird in einer Rezension von Elmar Krekeler für Welt Online geäußert:

Der anfangs unsichere und reichlich unsympathische, großmannsüchtige Eliteinternatsschüler

versucht sich zu wehren, das Erbe zu bewahren, zu nutzen, fährt dann durch die apokalyptischen

Landschaften des Braunkohletagebaus und die lebensfeindliche Hölle einer Karbid-Fabrik, fährt

ein ins so genannte U-Boot, durch mehrere Sprachverluste in eine lichtlose Einzelzelle, in der er

sich endlich im Zentrum des Systems angekommen und bei sich fühlt, ganz unten, zum Niemand

zerschrotet.57

57 Elmar Krekeler: “Bei Uwe Tellkamp ticken die Uhren der DDR noch.” In Die Welt Literatur, 13

September 2008. <http://www.welt.de/kultur/article2438531/Bei-Uwe-Tellkamp-ticken-die-Uhren-der-

DDR-noch.html> (16.06.2011)

Page 50: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

50

Diese Zusammenfassung ist schon eine gute Einführung im Lebenslauf Christians, als

eine Art Fahrt mit dem Zug.58

Solche Rezensionen sind aber sehr subjektiv geschrieben.

In dieser zum Beispiel wird Christian von Krekeler am Anfang beschrieben als

‚reichlich unsympathisch‟. Meiner Meinung nach ist es eine übertriebene Beschreibung

und ist die unsympathische Haltung nur eine Folge seiner Schüchternheit. Ich werde

aber diese Zusammenfassung der so genannten Fahrt jetzt detaillierter analysieren, um

einen tieferen Einblick in die Entwicklung Christians zu bekommen.

Wenn auch ich erstens die wichtigsten Schritte in der Entwicklung Christians

darstelle, wird sich schon schnell herausstellen, dass die Erwartungen, die er am Anfang

der Geschichte hat, sich schwer und sogar fast unmöglich zu einem guten Abschluss

bringen werden. Am Anfang des Romans wird er als der unsichere, siebzehnjährige

Junge, dessen Traum die Zulassung zum Arztstudium ist, präsentiert. Um dies zu

erreichen, muss er aber eine verpflichtete Zeit in der Armee dienen. Nachdem er sich

angemeldet hat (26. Kapitel), muss er zuerst im Sommer 1984 ins Wehrlager fahren, um

dort seine Dienstzeit vorzubereiten. Hier findet schon die erste, für den Leser

unerwartete, Konfrontation mit der Gewalt statt, und wird auch die Freundschaft

getestet, dadurch, dass er seinen Freund Siegbert, weil er einen Frosch misshandelt hat,

ins Bein sticht (T 444). Auch spürt er in dieser Zeit den weiteren Druck der DDR, als er

ein Buch, das mit der Hitlerdiktatur zu tun hat, liest. Dafür muss er normalerweise

gestraft werden, aber dank Anwalt Sperber kann er, vorläufig, an der Strafe

vorbeikommen. Als Christian sich tatsächlich in der Armee befindet (T 534), fangen die

wirkliche Probleme an. Jetzt gibt es keine Möglichkeit mehr, wenn die Soldaten etwas

falsch machen, an einer Strafe vorbeizukommen. „Wegen Öffentlicher Herabwürdigung

der Öffentlichen Ordnung“ wurde Christian dann auch „zu einer Strafe von zwölf

Monaten Strafarrest“ (T 821) verurteilt. Der Tiefpunkt seiner Krisen ist aber nicht die

Gefangenschaft, sondern die Tatsache, dass ihm sein Medizinstudium entnommen wird.

Die Utopie und Realität sind einander hier also aufs Neue entgegengesetzt. Je

weiter die Geschichte sich entwickelt, je weiter Christian sich von seinem Traum, sich

zu einem erfolgreichen Arzt zu entwickeln, befindet. Im Traum kann nämlich dasjenige

überwunden werden, was in der realen Welt unmöglich ist. Man kann also am Ende eine

deutliche Evolution feststellen, wie Christians Zukunftsbild während der Geschichte

unter der harten Realität gelitten hat. Letztendlich kann man feststellen, dass es umsonst

58 Siehe dazu 2.2.2

Page 51: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

51

wäre, sich in der DDR große individuelle Zukunftspläne vor Augen zu halten. Auch

wenn Christian teils selber dafür gesorgt hat, dass er nicht mehr zum Medizinstudium

zugelassen wurde, ist der Widerstand des Systems gegen die freie Entwicklung des

Individuums doch immer für das Scheitern der Jugendträume mitverantwortlich. So

kommt er ins Gefängnis, nicht weil er teils für den Tod eines Mitsoldaten verantwortlich

ist, sondern weil er den Staat beschimpft hat:

„Das Problem ist nicht, was Sie getan haben, sondern was Sie gesagt haben. Sie haben Vertrauen

verletzt. Es geht hier nicht um den Tod des Genossen Unteroffizier Burre, der ist natürlich bedauerlich. […] Sie haben Bemerkungen gemacht. Sie haben uns verleumdet. Haben öffentlich

unseren Staat angegriffen!“ (T 798)

Als die Probleme für Christian letztendlich zu groß geworden sind, äußert er in die

Öffentlichkeit seine persönliche Meinung in Bezug auf die DDR. Ohne weiter

nachzudenken kritisiert er den Staat. Die Worte, „So was ist nur in diesem Scheißstaat

möglich“ (T 799), wiegen in der idealistischen DDR scheinbar schwerer als der Tod

eines Soldaten, sogar eines Unteroffiziers. So ist es nicht seine Verantwortung über den

Panzer die ihn ins Gefängnis getrieben hat, sondern seinem Zornesausbruch gegenüber

den Verteidigern des Staates, die Christian, wegen der Unterdrückung, soweit getrieben

haben. Nicht die rein menschlichen Fehler werden also bestraft, sondern die Meinungen,

die diese Menschen haben und die nicht an den Meinungen des Systems anschließen.

Der Fehler Christians, der Burres Tod verursachte, wird von der DDR betrachtet, als

wäre es ein maschineller Fehler, der in den Augen des Staates nur ‚bedauerlich‟ ist. Das

ist vielleicht der beste Beweis, dass es mit Christian immer weiter bergab gegangen ist.

Am Anfang hatte er noch die Möglichkeit zu träumen, im Gefängnis wurde er behandelt

als Teil der Maschine, der nichts sagen darf, sondern nur nach dem Gesetz richtig

handeln musste.

4.1.2 Radikaler Umschlag

Ganz am Anfang der Geschichte kehrt Christian für eine Weile aus der Armee nach

Hause zurück. Er ist ein schüchterner Junge, ist träumerisch und den Mädchen versucht

er mit seiner Belesenheit zu imponieren. Die Welt scheint sich ruhig um ihn herum

fortzubewegen. Ganz am Ende des Romans, nach einer anhaltenden Aufeinanderfolge

von Wendepunkten, ist er nur noch ein ausdienender Dienstpflichtiger der NVA. Aber

dann, an diesem Ende, sogar auf der letzten Seite des Romans, findet ein radikaler

Umschlag statt. Mit dem Mauerfall scheint nur noch die Glück-Stimmung die

Geschichte zu dominieren, und scheint alles, was sich vorher in seinem Leben passiert

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52

hatte, vergessen zu sein. Nur in einer Seite scheint die vergangene Geschichte, in der

Christian eine ganze Menge Probleme empfunden hat, ganz unwichtig geworden zu sein

und sind diese Erlebnisse, im Vergleich zu der Wichtigkeit des Mauerfalls, umsonst.

Letztendlich hat sich dasjenige, was die Figuren die ganze Zeit erwünschten, vollzogen

und dreht sich die Geschichte nur noch um die erworbene Freiheit. Es muss aufs Neue

gesagt werden, dass mit dem Schlagen der Uhren im allerletzten Satz des Romans, der

Stillstand der Geschichte aufgehoben wird.

Mit schon 972 von den 973 Seiten hinter sich, bekommt der Leser den Eindruck,

dass die wichtigsten Erlebnisse der Geschichte schon erzählt wurden. Doch wird die

Erzählung noch zu einem Höhepunkt kommen. Nachdem Christian seinen äußersten

Tiefpunkt in der Armee erlebt hat, ist es jetzt Zeit für den äußersten Höhepunkt. Mit

einem trockenen „Tschüß“ (T 970) verabschiedet er sich von Pfannkuchen und der

Armee. Nach allem, was er in der Armee erlebt hat, wird man glauben, dass seine

Reaktion auf die Entlassung irgendwie emotionaler sein würde. Er will diese Zeit

wahrscheinlich so schnell wie möglich vergessen und danach mit einem neuen

Abschnitt in seinem Leben anfangen. Er hat sich verabschiedet, aber der Höhepunkt der

Geschichte muss noch erreicht werden. Nur einige Momente, nachdem er aus der

Armee entlassen wurde, findet die extreme Klimax, die auch Christians weiteres Leben

bedingen wird, statt. Wenn sie als Leser wissen, dass der Roman sich um die letzten

sieben Jahre vor dem Mauerfall handelt, erwartet man einen Aufbau zu diesem

historisch wichtigen Zeitpunkt. Der Fall kam aber ganz unerwartet, auch für die Figuren

in Der Turm, und wird in der Geschichte dann auch nur kurz und in einem Satz, dem

Schlusssatz, zusammengefasst. Tellkamp benutzt dafür also keine ausführliche

Beschreibung, wie er im Gegenteil in den übrigen Teilen macht. Beschreibungen der

Bilder, wie Bürger durch die Mauer krochen, bedürfen wir, weil die Wende für sich

spricht, nicht. Der Mauerfall brauchte keine ausführlichen Worte, da jedermann wusste,

dass die Freiheit letztendlich erreicht wurde. Dadurch, dass Tellkamp es nur am

äußersten Ende erwähnt, gelingt es ihm, die Wichtigkeit dieses Ereignisses als

Glanznummer der Geschichte zu betonen.

4.2 Dekonstruktion von Christians Ich

4.2.1 Wendepunkte als Leitfaden

In Christians Leben gibt es, in Bezug auf seine Persönlichkeit, eine Aufeinanderfolge

von wichtigen Wendepunkten. Von einem heimkehrenden Schüler aus dem Internat bis

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53

zum Mauerfall macht er eine individuelle Evolution durch. Fünf bestimmte Erlebnisse,

die alle aber negativ zu bezeichnen sind, betrachte ich als ausschlaggebend für die

Dekonstruktion seines Ichs, das auch vom System erwirkt wird. Auch hier handelt es

sich eigentlich um einen Aufbau zu einem Höhepunkt, an dem Christian final

zusammenbricht und die Situation demzufolge psychologisch und körperlich nicht mehr

ertragen kann. In der DDR-Literatur ist die Evolution, die auch Christian erlebt, kein

seltsames Thema. Karsten Dümmel hat in seiner Studie zu Identitätsprobleme in der

DDR-Literatur geschrieben: „Je mehr ein Individuum in die Komplexität und damit

auch in die Widersprüchlichkeit der Welt und der eigenen Beziehungen zu ihr eindringt,

desto mehr krisenhafte Situationen muß es bestehen.“59

Dümmels Arbeit und Zitat ist

für meine eigene Arbeit relevant, weil er auch Texte, die von unterschiedlichen sozialen

Gruppen handeln, untersucht, genauso wie ich teils mit Der Turm tue. Dadurch, dass

Christian in die Armee tritt, tritt er zugleich auch in eine für ihn widersprüchliche Welt

und erlebt er immer mehr und größer werdenden Krisen.

Der erste Wendepunkt, von dem in Der Turm erzählt wird, umfasst eigentlich ein

ganzes Kapitel. Im 26. Kapitel wird beschrieben, wie Christian sich für seine Dienstzeit

bei Gesamtdirektor Fahner anmeldet60

. Von diesem Moment an fangen die Probleme

eigentlich an. Gerade bei der Anmeldung sieht Christian aber nur die positive Seite der

Sache:

Jedem geistig Tätigen tue es gut, einmal für längere Zeit mit einfachen Menschen

zusammenzuleben und sie dadurch besser kennenzulernen, gerade dann, wenn man Medizin

studieren wolle, seien die so gewonnenen Kenntnisse außerordentlich wertvoll, denn wie wolle

man Menschen ein guter Arzt sein, wenn man ihnen mit Standesdünkel, mit Distanz oder mit Herablassung begegne. (T 331)

Die Anmeldung steht also völlig im Zeichen seines Arztstudiums und die Armee wird

nur als Übergansphase, um dieses Studium zu erreichen, gesehen. Später wird dieses

Erstreben aber weniger wichtig und wird das Überleben das wichtigste Ziel seiner

Dienstzeit, vor allem wenn er das Studium letztendlich verloren hat.

Schon in der Vorbereitung auf seine Dienstzeit bekommen wir ein Bild von

Christian, das nicht mit der Vergangenheit der vorigen 25 Kapitel übereinstimmt. Der

vorher ruhige und schüchterne Junge ändert sich jetzt in einen Gewalttäter, der die

physische Gewalt statt der verbalen bevorzugt. Die Szene aber, in der er Siegbert ins

Bein sticht, wird im Roman sehr eigenartig beschrieben. In dieser Szene scheint auch

59 Karsten Dümmel: Identitätsprobleme in der DDR-Literatur der siebziger und achtziger Jahre.

Frankfurt am Main: Peter Lang, 1997, S. 25. 60 Siehe dazu 3.4.1

Page 54: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

54

die Freundschaft eine besondere Rolle zu spielen, aber derjenige, der sich nicht um die

Freundschaft kümmert, ist Christian. Siegbert, das Opfer, verteidigt ihn, trotz seiner

Gewalttat: „Christian hat damit … gar nichts zu tun. Er wollte mir helfen. Ich bin blöd

gefallen … genau in was Spitzes rein.“ (T 445) Damit will er Christian, der trotzdem

auch sein Freund bleibt, vor einer Strafe behüten. Auch Falk, ein anderer Mitsoldat, hilft

Christan, indem er das Messer vergräbt, sodass die Offiziere es nicht finden können.

Später wird dieser Vorfall nur umschrieben als ‚Unfall‟ und hat die Freundschaft

gesiegt. Diese Szene, in der wir eine andere Seite Christians sehen, scheint aber schnell

vergessen zu sein. Sie ist aber signifikant für Christians Änderung, die mit seiner

Anmeldung in Gang gebracht wurde.

Der dritte Wendepunkt hat aufs Neue mehr oder weniger mit dem Thema der

Freundschaft zu tun. Jetzt ist Christian aber nicht gewalttätig, sondern ist er, obwohl ihn

keine Schuld trifft und er nur ausführt, was von ihm erwartet wird, an dem Tod eines

Freundes (Jan Burre) beteiligt: „Mein Fahrer ist bei einer Übung verunglückt und im

Lazarett gestorben. Ich habe eine Dummheit gemacht, meinen Kompaniechef

angegriffen.“ (T 777f.) In dieser Szene handelt es sich, im Gegensatz zur Szene mit

Siegbert, um einen wirklichen Unfall und haben die Ereignisse schwerere Folgen: Der

Freund ist gestorben und Christian hat in derselben Szene seinen Kompaniechef

angegriffen, was zugleich einen Angriff auf den Staat bedeutet. Diese beiden Vorfälle,

der Tod und der Angriff, werden die nächsten Jahre seines militärischen Lebens sowohl

psychisch als auch physisch beeinflussen. Für Christian ist der Tod, für den er sich doch

mitverantwortlich fühlt, psychologisch schwer zu ertragen. Der Staat hat den Tod eines

Genossen aber schnell vergessen und will Christian nur für den Angriff auf den Chef

psychologisch und körperlich strafen. Bei der Gewalttat an Siegbert konnte er der Strafe

noch entgehen, jetzt wird es ihm nicht mehr gelingen.

Als Christian sich in seiner Zelle, in der er seine Strafe verbüßen muss, befindet,

geschieht letztendlich, was der Staat von ihm erwartet und wofür er eigentlich der

Armee dient. Er kommt zum vollen Einverständnis mit dem System und dessen

Wirkung und lässt den bisherigen Widerstand hinter sich:

Der Widerstand, den Christian lange in sich gespürt hatte – gegen die Gesellschaft, den

Sozialismus, wie er ihn erlebte und sah -, schwand, wich einem Gefühl des Einverständnisses mit

allem. Es war richtig, daß er hier war. Er war ein Gegner der Armee und des Systems, und deshalb

wurde er bestraft. […] Hier, an diesem Ort, dem von Braunkohletagebauen und vergifteten Flüssen

zerfressenen Chemie-Reich, war er richtig, hier war sein Platz. (T 840)

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Der Staat hat also erreicht, was er erreichen wollte, nämlich Einverständnis mit dem

System. Christian ist in diesem Moment psychisch ganz gebrochen und nicht mehr

imstande, rational zu denken. Julia Hell beschreibt in ihrem Essay diese Szene als „the

moment when he is ready to give up all resistance, as becoming one with the rotten,

poisoned territory of the GDR‟s ‚chemical empire‟ that surrounds him“61

. Das Ziel, alle

Individuen ins Kollektiv einzuordnen, scheint sich bei Christian vollzogen zu haben.

Vom Standpunkt der DDR aus kann man also sagen: ‚mission accomplished‟. Auch

Andrea Geier behandelt in ihrer Rezension zu Der Turm diese Szene als

ausschlaggebend. Sie analysiert die Übergabe an das System wie folgt: „Diese

eigentlich perverse Identifizierung des Opfers mit der Weltsicht seiner Peiniger bildet

einen Umschlagpunkt, der sich bei anderen Figuren weniger offensichtlich vollzieht.“62

Sie hat Recht, wenn sie sagt, dass es eigentlich nur Christian ist, der sich mit dem

System abfindet.

Als letzter Wendepunkt in Christians krisenhaftem Leben, kurz bevor die Mauer

fallen wird, ist die Szene, in der seine Mutter verprügelt wird, zu bezeichnen. Hier wird

Anne vor den Augen ihres Sohns von Polizisten öffentlich geschlagen: „Der Polizist

hob den Stock und schlug zu. Einmal, zweimal. Anne fiel. Der Polizist bückte sich und

prügelte weiter. […] Christian sah seine Mutter, die am Boden lag und von einem

Polizisten getreten, geprügelt wurde.“ (T 961) Er stand dieser Gewalt machtlos

gegenüber und konnte nichts tun, nur die Situation ertragen. Er befindet sich nämlich

nach wie vor in der Armee und muss sich auch dazu verhalten und sich selber

bezwingen. Eine Reaktion, wobei er seiner Mutter helfen will, soll von der DDR nicht

akzeptiert werden. Es scheint aber der allerletzte Test seines Ichs zu sein. Zum letzten

Mal wird er psychologisch gebrochen, aber auch körperlich scheint er die Schmerzen

seiner Mutter zu fühlen: „Christian schrie […] und heulte und strampelte mit den

Beinen und urinierte vor Ohnmacht […] Christian schluchzte, Christian wollte tot sein.“

(T 962) Er will nicht wissen, wie weit die Polizisten die Schläge durchgeführt hätten

und fürchtet, seine Mutter sei tot. Aber am Ende, als alles sich gleichermaßen im

positiven Sinne entwickelt hat, gibt es auch eine Beschreibung von Anne, die am Leben

ist: „Anne, das Gesicht noch zerschlagen, die Handgelenke von Knüppelhieben

61 Hell: „Dissolution / Revolution.“ 62 Andrea Geier: „Die Welt der 1000 Dinge. Uwe Tellkamp erzählt von den Türme(r)n und Toren

Dresdens.“ In: Literaturkritik, 10. Oktober 2010.

<http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=12380> (16.06.2011)

Page 56: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

56

geschwollen, nahm eine Kerze.“ (T 966) Mit dieser Szene aber enden die Krisen

Christians und ist es Zeit für die geschichtliche Wende, den Mauerfall.

4.2.2 Armee zum Brechen des Individuums

Fünf der sieben erzählten Lebensjahre Christians spielen sich in der Armee ab. Das

wichtigste Ziel der NVA ist die Widerspenstigkeit bei den Soldaten zu unterdrücken

und sie im Kollektiv einzuordnen anhand einer erniedrigenden Einverleibung. Auch

Christian wird dazu zum Äußersten getrieben. Er wird herabwürdigt und gebrochen,

kommt, als er sich im Arrest befindet, im so genannten inneren Raum des totalitären

Regimes an:

Die Idee, daß er nun im Innersten des Systems angekommen sein mußte, ließ Christian eine lange

Zeit in der noch längeren Dunkelheit der Zelle nicht los. Er war in der DDR, die hatte befestigte

Grenzen und eine Mauer. Er war bei der Nationalen Volksarmee, die hatte Kasernenmauern und

Kontrolldurchlässe. Er war Insasse der Militärstrafvollzugsanstalt Schwedt, hinter einer Mauer und

Stacheldraht. Und in der Militärstrafvollzugsanstalt Schwedt hockte er im U-Boot, hinter Mauern ohne Fenster. (T 827)

In diesem Moment realisiert er, dass er nicht tiefer fallen kann. Die Zelle, in der er

hockt, hat keine Fenster und dient nur dazu, die innere Widerspenstigkeit des

Individuums zu brechen. Das so genannte U-Boot, offiziell ‚Arrest‟ genannt, ist das

Symbol für die Arbeitsweise der DDR und inwieweit sie ihr Regime führen kann. Wenn

Christian hier ankommt, gibt es aus dieser Situation nur einen Ausweg: Überleben. „Er

mußte, dachte Christian, er selbst sein. Er mußte nackt sein, das bare, blanke Ich, und er

dachte, daß nun die großen Erkenntnisse und Einsichten kommen müssten, von denen er

in der Schule und zu Hause geträumt hatte.“ (T 827) Diese Konfrontation mit dem

Leben an sich wird auch von Anne Fuchs in ihrer Analyse vom Verfall in Der Turm

erwähnt. In Bezug zur Christians ‚nackten‟ Person stellt sie Folgendes fest: „Die

Erfahrung des Selbst […] innerhalb eines Camp-Systems zerstört endgültig die

restaurative Macht der Nostalgie, mit der Christian als Türmer aufgewachsen war.“63

Auch kann er sich dann folgende Frage stellen: „Was half all das Lernen, Wissen,

Betrachten und Nachdenken, wenn man auf archaisches Überleben zurückgeworfen

wird?“64

Alles was vorher stattgefunden hat, scheint umsonst gewesen. Da seine Krise

eigentlich nicht größer werden kann, sieht Christian letztendlich keinen Ausweg mehr.

Tiefer wird er nicht fallen.

63 Anne Fuchs: „Topographien des System-Verfalls.“ S. 56. 64 Lothar Struck: “Opulenz und Strenge.“ In: Glanz und Elend. Magazin für Literatur und Zeitkritik.

<http://www.glanzundelend.de/Artikel/tellkamp.htm> (16.06.2011)

Page 57: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

57

4.2.3 Verlust der Identität

4.2.3.1 Christians Namensgebung

Auch bei der Art und Weise, in der Christian anhand seines Namens eine Identität

bekommt, ist eine Evolution zu einem ‚Niemand‟ festzustellen. Diese Entwicklung setzt

sich im Roman vor allem durch, wenn die Figur sich in der Armee befindet.

Vor diesem Zeitpunkt heißt er einfach Christian und wird er von den anderen

Figuren auch mit seinem Vornamen benannt. In dieser Zeit hat er also fortwährend seine

Identität, die er von seinen Eltern mit seiner Geburt bekommen hat. Die Entwicklung als

‚Christian‟, Einwohner von Dresden und Sohn von Richard und Anne, ist bis die

Anmeldung für die Armee einzig in ihrer Art. Es gibt nur ein Individuum, das sich so

benimmt. In der Armee aber fängt der Namenwechsel der Figuren an und wirkt der

Verlust des persönlichen Namens zusammen mit dem Verlust der Identität.

Schon in den ersten Beschreibungen von Christians Armeezeit gibt es eine

Umschreibung von einer bestimmten Art Person, deren Merkmale auch Christian

identisch sind. Es handelt sich hier um eine Gruppe von Personen, die von den

Machthabern geringschätzig den Namen ‚Brille‟ bekommen:

‚Die Brille glaubt, was Besseres zu sein‟ […]. Fisch (so nennen wir unseren Zugführer, eine

Genosse Oberstleutnant) schleift ‚Brillen‟ gern abends privat nach der Aktuellen Kamera auf der

Sturmbahn. Übrigens trägt er selber eine Brille, was mich immer wieder irritiert. (T 553)

Hier hat Christian das Wort und schreibt er die Brille-Erfahrung in einem Brief an

seinem Onkel. Er sagt aber dasjenige, was die Offiziere denken und wie sie die Soldaten

spöttisch betrachten, auch wenn sie selber eine Brille tragen. Die Beschreibung enthält

aber die Eigenschaften, die auch Christan besitzt und mit denen man in der Armee

überhaupt nicht verbunden werden will. Der schlagende Vergleich mit Christan und der

‚Brille‟ wird in dieser Hinsicht gezogen, dass sie beide gerne lesen. Daher „es nicht

ratsam ist, allzu oft mit einem Buch in der Hand gesehen zu werden“ (T 553), ist seine

bevorstehende Zeit in der Armee hier nicht so hoffnungsvoll. Sogar für eine Gruppe,

deren Mitglieder nur gerne lesen, hat man in der Armee einen Sammelnamen, der das

Kollektivum bezeichnet. Schon hier wird betont, dass man in der NVA nicht als reines

Individuum funktionieren kann und darf. Immer wird man einem größeren Kollektiv

zugeteilt, auch wenn es eine Gruppe ist, die man in der Armee nicht haben will. Mit

dieser Einordnung in allgemeinen Gesamtgruppen versuchen die Offiziere, die

Einzigartigkeit zu beschränken.

Page 58: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

58

Auch die verschiedenen Sorten von Soldaten, zum Beispiel eingeteilt nach

Dienstzeit oder Rang, bekommen einen Gesamtnamen. Es gibt zum Beispiel das

Sammelwort ‚Ohrli‟, das auch Christian als Name bekommt. Ob dieser Begriff nach

Alter oder Rang eingeteilt wurde, können wir als Leser nicht genau wissen. Obwohl die

Bedeutung dieses Begriffs in der Geschichte nicht buchstäblich erwähnt wird, wird doch

auf eine wahrscheinliche Bedeutung hingewiesen. Es wird einige Male in bestimmten

Situationen aufgegriffen, so auch von Stabsoberfähnrich Emmerich, der über Christian

Folgendes sagt: „Du bist ein Ohrli im Zweiten Diensthalbjahr, und Ohrlis fahren

eigentlich nicht auf Urlaub.“ (T 596) Was ein Ohrli wirklich ist, wissen wir nie, aber der

Leser kann sich denken, dass es nicht so sehr mit Alter, sondern mit Erfahrung zu tun

hat. Wahrscheinlich sind diese Soldaten unerfahren und können sie sich dadurch wenig

erlauben. Übrigens scheint es eine Beschimpfung zu sein, die von Offizieren mit einem

hohen Rang geäußert wird. Christian ist in ihren Augen nicht länger Christian. Er ist

eine ‚Brille‟, ein ‚Ohrli‟.

Neben diesen zwei Benennungen bekommt Christian auch noch den Namen

‚Nemo‟. Obwohl wir als Leser wissen, dass es sich hier tatsächlich um die Figur

Christians handelt, wird er von den Machthabern der DDR vernachlässigt und

entnehmen sie ihm seinen Namen und damit auch seine Identität: „Du bist Niemand.

Also Nemo. Ab jetzt heißt du Nemo.“ (T 651) Wenn Christian sich später in der

dunkelsten Zelle befindet, und er eigentlich nicht mehr zu dieser Welt gehört, betrachtet

er sich in einer Selbstreflexion als ‚Niemand‟: „Jetzt, dachte Christian, bin ich wirklich

Nemo. Niemand.“ (T 827) Der Unterschied zwischen dem Machthaber und Christian ist

aber, dass der Machthaber Christian als Nemo betrachtet und ihm auch diesen Namen

gibt. Tellkamp aber schreibt auf Seite 827: ‚dachte Christian‟. Damit behauptet er, dass

Christian sich selber nur als Nemo betrachtet, aber doch seinen eigenen Namen behält.

Es ist noch immer die Figur Christian, er scheint in der Geschichte der DDR aber

niemanden mehr vorzustellen, sogar keine Rolle mehr zu spielen.

Nicht nur Christian bekommt in der Armee aber einen anderen Namen. Auch seine

Mitsoldaten erhalten, auch wenn es Christian selber ist, der diesen Namen gibt,

Beinamen. Steffen Kretschmar zum Beispiel wird von Christian immer ‚Pfannkuchen‟

genannt aus folgendem Grund: „Steffen Kretschmar, den sie sofort und einhellig, der

Bäckerhände und des runden Gesichts mit den henkelartig abstehenden Ohren, des

schwarzen kurzgeschorenen Drahtbürstenhaars wegen, ‚Pfannkuchen‟ tauften.“ (T 692)

Dieser Beiname ist freundschaftlich gemeint, aber beweist auch, dass man in der Armee

Page 59: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

59

zu jemandem anders wird. Wenn Pfannkuchen die Armee verlassen und sich von

Christian verabschieden wird, verliert er aber diesen zeitlichen Namen und wird er aufs

Neue Steffen Kretschmar.

4.2.3.2 Christian wird zu niemandem

Als Christian in die Armee eintrat, wurde er unmittelbar damit konfrontiert, dass er dort

eigentlich eine andere Person sein würde. Später in der Geschichte wird die Art und

Weise, in der Christian beim Eintritt seinen Personalausweis für einen

Wehrdienstausweis wechselt, beschrieben:

Christian hatte bei Abgabe seines Personalausweises, am Tag, als er den Wehrdienstausweis, dies

graue Dokument mit erbsbreigelben Seiten, dafür erhalten hatte, schon einmal in der Zentrale mit

den Buchstabenschaltern, dann in der Rotunde mit den Skulpturen gestanden – diese Flure jedoch,

durch die sie von dem Oberleutnant zielsicher geführt wurden, schienen älterer Zeit anzugehören.

(T 803)

Die Identität, die mit seinem Personalausweis übereinstimmt, hat sich in diesem

Moment geändert in eine Identität, die einem Wehrdienstausweis besitzt. Wenn er also

seine Zeit in der Armee ausgedient hat, wird er, genauso wie Pfannkuchen, der seinen

wirklichen Namen wiederbekommt, seine alte Identität wiederbekommen. Eigentlich ist

es fast eine neue Identität, die er bekommt, wenn er in die Armee ankommt. Dann wird

die Person ‚Christian als Soldat‟ geboren, und wird seine angeborene Identität,

‚Christian als Sohn von Richard und Anne‟, während seiner Dienstzeit zur Seite

geschoben und besteht diese in dieser Zeit nicht mehr.

Der Verlust seines eigenen Ichs wird in der NVA immer weitergeführt bis zum

äußersten Höhepunkt. Als er wegen „Öffentlicher Herabwürdigung der Öffentlichen

Ordnung“ gestraft werden muss, geschieht Folgendes: „Christian bekam sein

Deckenbündel, ein Blatt Papier und einen Bleistift. Er sollte seinen Lebenslauf

schreiben? Mutter, Vater, wann wurde ich Jung-, wann Thälmannpionier, wann

Mitglied der Freien Deutschen Jugend. Hobbies, schulischer Werdegang,

Berufswunsch.“ (T 808) Die Informationen über sein eigenes Leben, die er auf dem

Blatt Papier schreiben muss, scheint er ab jetzt nicht mehr selber zu besitzen. Mit

diesem Aufschreiben verliert er buchstäblich seine eigene Identität.

4.3 Konstruktion von Christians Ich

4.3.1 Struktur des Charakters

Im vorigen Kapitel habe ich die Art und Weise, in der Christian vom sozialistischen

System entgegengewirkt wird, analysiert. Ungeachtet dessen betrachten wir als Leser

Page 60: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

60

Christian auch als einen sich entwickelnden Adoleszenten. Obwohl seine Lebensweise

vom Sozialismus beeinflusst und bedingt wird, bleibt Christian eine Figur mit eigenen

Charakterzügen. Die Literaturwissenschaftlerin Hyunseon Lee hat in ihrer Arbeit zum

Charakter in der DDR-Literatur den Charakter drei Eigenschaften zugeteilt:

Die erste Eigenschaft, eine in den meisten Fällen deutliche Besonderheit einer Person (eines

Individuums) gegenüber anderen Personen, kann man die Distinktionsfunktion des Charakters

nennen. Als die zweite läßt sich das gesamte Ensemble von Charakterzügen bezeichnen. Die dritte

Eigenschaft des Charakters kann man als Identitätsfunktion bezeichnen. Sie liegt in der

Vorstellung, daß Änderungen entweder gar nicht oder nur eingeschränkt möglich sind. Charakter

bedeutet in diesem Sinne so etwas wie Festigkeit.65

Die theoretische Behauptung von Lee, die handelt vom Charakter im

Allgemeinen, werde ich dazu benutzen, Christians Situation in Der Turm zu

analysieren. Die erste Funktion, die ‚Distinktionsfunktion‟, verknüpfe ich mit der Art

und Weise, in der Christian sich von den anderen Figuren im Roman unterscheidet.

Diese Eigenschaft wird schon am Anfang der Geschichte, wenn er als Siebzehnjähriger

beschrieben wird, aufgegriffen: „Sein eigentlich anziehendes und ausdrucksvolles

Gesicht war von Pubertätspickeln übersät, und er empfand grässliche Scham bei dem

Gedanken an all die Augenpaare, die ihn forschend, vielleicht auch spöttisch oder

angeekelt anstarren würden.“ (T 39) Die Distinktion seiner Person entsteht also wegen

seiner Pickel. Auch wenn Aussehen und Charakter nicht miteinander gleichzusetzen

sind, bedingt das Aussehen bei Christian seine weitere Charakterentwicklung. Durch

seine körperliche Besonderheit verhält er sich der Außenwelt gegenüber sehr

zurückhaltend und schüchtern. Dieses Merkmal ist für Christians Entwicklung

entscheidend, da eine vergleichbare Situation auch später in der Geschichte erwähnt

wird. In der Armee sagt einen Offizier nämlich zu Christian: „Mensch, dich will doch

nie eine vögeln. Alles kehrt!“ Am meisten befürchtet Christian aber die Reaktion der

Umstehenden, wenn er mit seinem ‚Mangel‟ konfrontiert wird: „Der gesamte Zug

wandte sich um, Christian schloss die Augen, aber er spürte die Blicke der anderen auf

seinem Körper brennen.“(T 439f.) Er wird ständig mit diesem körperlichen Komplex

konfrontiert, sodass er sein eigenes Aussehen nie vergessen und relativieren kann. Sein

körperliches Aussehen, an dem er selber nichts ändern kann, hat also dazu geführt, dass

er psychisch verunsichert wird. Die Entwicklung zu einem Erwachsenen fängt mit

Schwierigkeiten an und wird auch auf diese Weise in der Geschichte weitergeführt. Es

ist folglich auch dieses negative Merkmal, dass Christian das Gefühl gibt, dass er sich

von den anderen Figuren unterscheidet.

65 Lee: Geständniszwang und »Wahrheit des Charakters« in der Literatur der DDR. S. 202.

Page 61: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

61

Zweitens wird von Lee das ‚gesamte Ensemble von Charakterzügen‟ aufgegriffen.

Hierbei werden alle Merkmale, die eine Figur besitzt, gemeint. Zu dieser Gesamtheit

gehört auch die Distinktionsfunktion, zusammen mit allen anderen Eigenschaften, die

den Charakter kennzeichnen. Meistens handelt es sich um eine ganze Menge von

Charakterzügen, auch die kleinsten, die nicht so sehr auffallen, und sind sie daher zu

zahlreich, sie alle zu nennen. Neben seiner auffallenden Schüchternheit können wir als

Leser bei Christian zum Beispiel auch seine Leidenschaft für das Arztstudium, die

sonderbare Liebe für Reina und seine bemerkenswerten familiären Beziehungen

unterscheiden. Diese Eigenschaften können auch als Antwort auf die Frage, wer

Christian ist, betrachtet werden. Die Antwort wird dann eine Aneinanderreihung von

persönlichen Charakterzügen sein, wodurch er unvergleichlich in seiner Art ist.

Die dritte und letzte Funktion wird von Lee als Identitätsfunktion bezeichnet.

Damit wird gemeint, dass die Charakterzüge an einer bestimmten Figur gebunden sind

und daher auch schwer, fast unmöglich zu ändern. Es kommt für die Figuren also darauf

an, ihre persönliche Identität zu akzeptieren, sie nicht zu ändern und sie nur eine

bestimmte Richtung zu geben. In Bezug auf die Figur Christians beinhaltet diese

Evolution also die Art und Weise, in der er sich selbst als Individuum betrachtet. Das

heißt auch das Bewusstwerden seiner Situation und wie er darauf reagiert. In Bezug auf

seines Ansehen zum Beispiel wurde die Unsicherheit weniger deutlich sein, wenn er es

gegenüber der Außenwelt akzeptieren wird. Er ist sich seines ‚hässlichen Ansehens‟

bewusst, aber er kann das nicht akzeptieren. Diese letzte Funktion muss zu einem

stabilen Charakter führen, der letztendlich auch zu Festigkeit im Leben führt. Diese

Stabilität wird in Der Turm dann auch am Ende, zusammen mit dem Mauerfall, erreicht.

4.3.2 Position in der Welt

Zusammen mit der soeben erwähnten Identitätsfunktion, werde ich jetzt Christians

bewusste Position in der Welt analysieren. In der täglichen Welt ist aber der

Unterschied zwischen dem Vertraute und der Fremde festzustellen. Auch Sebastian

Möckel hat auf das Zusammenspiel zwischen beiden Aspekten hingewiesen. In Bezug

auf das familiäre Abenteuer und die Initiation, mit denen auch Christian oft konfrontiert

wird, hat er folgendes geschrieben:

Identität als Selbstverhältnis zur Welt prägt sich dabei auf dem Schnittpunkt von Selbst- und

Fremdzuschreibung aus […]. Sie [Christian und die Soldaten, H.R.] verlieren ihre Familie und

Page 62: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

62

treten in eine Welt der Alterität ein, die ihnen zudem feindlich gesonnen ist und ihre ständische

Herkunft missachtet.66

Die ‚Selbstzuschreibung‟ kann nur gut funktionieren, wenn man stark am Vertrauten

festhält. Bei Christian ist das aber nicht der Fall. Es kommt für ihn also auch darauf an,

eine gute Position zwischen vertraut und fremd zu finden. Bei ihm sind sie aber beide

ambigue zu bezeichnen. Zuerst verhält er sich dem Vertrauten misstrauisch gegenüber

und findet er keine Möglichkeit, sich der Fremde anzupassen. Familie und Freunde

versucht er meistens zu vermeiden und er sondert sich von ihnen ab. Wenn Möckel

danach behauptet, dass Verlust der Familie mit dem Eintritt in die Welt der Alterität

zusammen zu betrachten sind, kann man die Situation Christians dieser Feststellung

gegenübersetzen. Für Christian ist die Funktion der Familie relativ und daher keine

unmittelbare Ursache für den Eintritt in die Alterität. Für ihn ist die Welt, die vertraut

sein soll, selbst mehr oder weniger als fremd aufzufassen. Damit ist der Schritt in die

fremde Welt nicht so groß, wie er von Möckel dargestellt wird. Auch die affektive

Reaktion, wobei das ‚Ich‟ von den Körpern um sich herum bedingt wird, fehlt bei

Christian. Auf diese Art und Weise gewöhnt ein Kind normalerweise an die Umgebung,

aber bei Christian ist das wegen seiner isolierten Position nicht der Fall.

Christians Position entwickelt sich während der Geschichte, und nur von diesen

sieben erzählten Jahren wird von Tellkamp berichtet. Die Gestaltung dieser Figur wird

aber nicht anhand der früheren Erinnerungen gemacht. Die Wichtigkeit dieser

Erinnerungen, in Der Turm, wird aber von Louise Holm und Søren Madsen beibehalten.

Mit folgendem Zitat behaupten sie, dass das individuelle Gedächtnis immer

perspektivisch ist:

Jedes Individuum hat seine eigene Lebensgeschichte und dadurch seine eigene

Wahrnehmungsposition. Im individuellen Gedächtnis sind viele verschiedene Erinnerungen, die

alle vernetzt sind. Erinnerungen sind aber auch fragmentarisch, sie sind in ihrer Repräsentation

begrenzt und ungeformt.67

Auch bei Christian ist die Perspektive sehr individuell. Als Leser erhalten wir nur das

Bild Christians zwischen einem Alter von 17 und 23 Jahren. Was vorher passiert ist und

was die Funktion der Erinnerungen ist, scheint in diesem Roman aber unwichtig. Der

Erzähler der Geschichte benutzt fast keine Flashbacks oder Flashforwards und

66 Sebastian Möckel: “Abenteuer und Initiation. Einübung in Familie im antiken Liebesroman der Frühen

Neuzeit” In: Familie und Identität in der deutschen Literatur. Hg. von Thomas Martinec und Claudia

Nitschke. Frankfurt am Main: Peter Lang 2009, S. 57-77. (=Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach-

und Literaturwissenschaft Reihe B, Untersuchungen 95), S. 62-63. 67 Holm und Madsen: „Die Erinnerung an die DDR. Uwe Tellkamps Roman Der Turm in den aktuellen

deutschen Erinnerungsverhandlungen.“ S, 9.

Page 63: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

63

beschränkt sich dadurch auf die sieben erzählten Jahre an sich. Damit betont er auch,

was im Moment passiert. Christian sieht sich in der Geschichte nicht nach der

Vergangenheit um, da die gegenwärtigen Erlebnisse für seine weitere Entwicklung zu

wichtig und ausschlaggebend sind.

Weiter zu dieser relativierten Rolle der Erinnerung an früheren Erlebnissen, steht

folgende Betrachtung von Laurel Cohen-Pfister, in Opposition zu Christians Situation.

Die Wichtigkeit der Erinnerung für die Identitätsfrage, wobei sie sich auch auf ein Zitat

von Allan Megill bezieht, stellt sie auf folgende Art und Weise dar:

Je problematischer die Identitätsfrage wird, um so mehr dient nämlich die Erinnerung als

‚stabilizer of and justification for the self-designations that people claim.‟68 Erinnerung ist, laut

Allan Megill, ‚the name we give to the faculty that sustains continuity in collective and in

individual experience‟.69

Christian fehlt aber die kollektiven und individuellen Erinnerungen. Er scheint

dazu auch keine Erfahrung mit dem Leben zu haben und dadurch bieten ihm auch die

fehlenden Erinnerungen keine Stabilität. Auch wenn seine Identitätsfrage und die dazu

gehörenden Schwierigkeiten immer problematischer werden, weiß er nicht, wie er damit

umgehen soll.

4.3.3 Identitätssuche

Für Christian sind die sieben Jahre des Kampfs gegen den Sozialismus vor allem eine

Suche nach Identität in diesem entgegenarbeitenden System. Auch wenn er von immer

größer werdenden Schwierigkeiten entgegengewirkt wird, sind diese Probleme an sich

doch mehr oder weniger wirkungsvoll für die weitere Entwicklung seiner Figur. Laut

Nitschke ist die Identitätssuche eine „Konstruktion auf der Basis verschiedener,

eigentlich widersprüchlicher Elemente.“70

Es kommt also darauf an, zwischen diesen

verschiedenen oppositionellen Elementen eine bestimmte Richtung zu finden. In

Christians Leben betreffen die Widersprüche zum Beispiel das erwünschte Arztstudium

gegenüber harter sozialistischer Realität, die Liebe für Reina gegenüber einfacher

Freundschaft und verschiedenen Arten familiärer Beziehungen. Demzufolge kommt es

für ihn darauf an, dazwischen die gute Richtung für sein weiteres Leben zu finden, und

auf diese Art und Weise die erwünschte Stabilität zu erreichen.

68 Allan Megill: History, Memory, Identity. In: History of the Human Sciences 11, 3 (1998), S. 42. 69 Laurel Cohen-Pfister: “Kriegstrauma und die deutsche Familie. Identitätssuche im deutschen

Gegenwartsroman” In: Familie und Identität in der deutschen Literatur. Hg. von Thomas Martinec und

Claudia Nitschke. Frankfurt am Main: Peter Lang 2009 (=Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach-

und Literaturwissenschaft Reihe B, Untersuchungen 95), S. 243-257, S, 244. 70 Nitschke: ‚Selbstverspottung ist Lüge’. S.223.

Page 64: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

64

Bei Christian sind die beiden Seiten der Widersprüche aber zu groß, als dass er sie

kontrollieren könnte und seelische Stabilität erreichen würde. Das sorgt dafür, dass

immer neue Krisen entstehen. Die erste Absicht seiner Suche ist demzufolge, der

Versuch, diese Krisen zu überwinden. Dieser Krisenkampf spielt sich also zwischen

dem krisenvollen Ich und dem krisenlosen Ich ab. Für Valeska Steinig, Autorin einer

Studie über autobiografisches Schreiben nach dem Ende DDR, kommt es für das

individuelle Subjekt darauf an, den „ich-bedrohenden Zustand zu überwinden.“71

Weil

Tellkamp sich, aufgrund des autobiografischen Charakters des Romans, oft an Christian

spiegelt, muss auch die Figur sich den Krisen bewusst werden und sie darum selber

hinter sich lassen können.

Schließlich wird es am Ende der Geschichte einen Unterschied geben zwischen

dem Ich, das die Krisen erlebt hat, und dem Ich, das die Krisen letztendlich

durchgekommen ist. Laut Steinig handelt es sich hier scheinbar um zwei verschiedene

Personen, eine alte und eine neue. In Bezug auf das autobiografische Schreiben

unterscheidet sie auch zwischen vor und nach der Krise: „Das alte Ich vor der Krise ist

nicht identisch mit dem Ich, das die Krise überwunden hat.“72

Auch wenn sie eigentlich

das biografische Ich analysiert, kann es im autobiografischen Der Turm Christian

zugeschrieben werden. Die zweite Lebensphase, die neue, wird nur dann erreicht, wenn

man die erste hinter sich gelassen hat. Bei Christian dauert die erste Phase bis zum Ende

der krisenhaften Armeezeit und fängt die zweite Phase erst an, als der Mauerfall sich

vollzogen hat. In diesem Moment hat er die Möglichkeit, einen neuen Anfang zu

machen.

4.3.4 Erreichtes Ziel?

Zum Schluss dieser Arbeit werde ich analysieren, wo Christian letztendlich

angekommen ist, und was er jetzt wirklich erreicht hat. Zuerst werde ich dazu den

Begriff ‚Schicksal‟ verwenden. Der stellt nämlich in Frage, ob die Figuren ihr eigenes

Leben kontrollieren können, oder ob sie dem Schicksal unterworfen sind. Da Christians

Lebenslauf sich chronologisch mit dem Untergang der DDR fortbewegt, können wir

auch ihre Schicksale oder Endpunkte in der Geschichte, nebeneinander betrachten.

71 Valeska Steinig: „Abschied von der DDR. Autobiografisches Schreiben nach dem Ende der politischen

Alternative.“ In: Studien zur Deutschen und Europäischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Hg.

von Dieter Kafitz, Franz Norbert Mennemeier, Erwin Rotermund und Bernhard Spies. Frankfurt am

Main: Peter Lang 2007 (= Internationaler Verlag der Wissenschaften, Bd. 61), S. 155-185, S. 155. 72 Ebd. S. 94.

Page 65: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

65

Holm und Madsen haben dazu den Verlauf der DDR bis zur Wende als unvermeidlich

beschrieben: „Das Schicksal der DDR war unabwendbar und die Einwohner waren in

dem Schicksalsspiel gefangen, bis die Zeit endlich ablief und die Uhren schlugen.“73

Auch in Der Turm bekommen wir einmal den Eindruck, dass Christians Schicksal

festgelegt und nicht zu beeinflussen ist. Rechtsanwalt Sperber, der Christian wegen

Besitz von Nazi-Literatur verteidigen soll, bestimmt anhand einer Münze, als Symbol

des Schicksals, die Zukunft des so genannten Verbrechers. Sperber stellt Richard die

Frage: „Ordnen Sie Ihrem Jungen Kopf oder Zahl zu.“ (T 467) Er kann sich also nicht

auf rationale Art und Weise entscheiden. Die Reaktion des Vaters auf diese absurde

Szene relativiert aber gleich schnell den Glauben an das Schicksal: „Ist das Ihr Ernst?“

Wenn Christian in dieser Szene letztendlich die Verteidigung ‚gewinnt‟, ist laut Vater

und Sohn vielmehr die Rede von Glück als vom Einfluss des Schicksals. Mit dieser

übertriebenen, sogar komischen Szene, wird die Rolle des Schicksals relativiert. Damit

stellt Tellkamp fest, dass das Leben nicht von schicksalhaften Ereignissen geführt

werden kann. Die Ratio muss die Oberhand gewinnen.

Jetzt bleibt nur noch die Frage übrig, ob Christian am Ende, trotz aller Krisen,

Stabilität und Glück gefunden hat und wie er nach dem Mauerfall mit seinem Leben

weiter muss. Dass sein junges Leben bisher nicht gelungen ist, steht fest. Er hat seine

erwünschte Bestimmung, das Arztstudium, nicht erreicht und hat zu viel mentale und

körperliche Rückschläge erlebt. Er hat vorläufig keinen Erfolg erreicht, aber das

bedeutet nicht, dass er dadurch nicht glücklich sein kann. Wenn von Katrin Fischer

noch behauptet wird, dass nur die Liebe „Glück im Leben gewährleisten kann“74, hat

diese Liebe in Der Turm und im Leben Christians nur eine geringe Funktion. Auch

wenn Christians erwünschte Ausbildung, welche für Fischer auch ein wichtiger Schritt

in die Richtung des Glücks ist, nicht zu einem guten Ende gekommen ist, kann man am

Ende der Geschichte doch sagen, dass die Hauptfigur, trotz aller vorangehenden

Ereignisse, glücklich ist. Steinig hat auf sehr logische Art und Weise beschrieben,

worauf es in diesem Moment ankommt: „‚Ich bin glücklich‟. Damit wird explizit ein

harmonisches Ich- und Weltverhältnis behauptet“75

, nicht nur vom autobiografischen

Autor, sondern auch von der Hauptgestalt, Christian, die mit diesem Autor zu

73 Holm und Madsen: „Die Erinnerung an die DDR. Uwe Tellkamps Roman Der Turm in den aktuellen

deutschen Erinnerungsverhandlungen.“ S,57. 74 Katrin Fischer: „Die Turmgesellschaft in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre.“ S. 65 75 Steinig: Abschied von der DDR. Autobiografisches Schreiben nach dem Ende der politischen

Alternative. S.178.

Page 66: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

66

identifizieren ist. Mit dem Schlagen der Uhren scheint Christians Glück wiedergekehrt

und fängt eine ganz neue Geschichte an, die Tellkamp in einer Fortsetzung schreiben

wird. Der Autor hat seinen Roman also auf solche Art und Weise aufgebaut, dass fast

während der ganzen Geschichte negative und schreckliche Ereignisse aneinandergereiht

wurden. Doch schließt er ‚die Geschichte aus einem versunkenen Land‟ mit einem

Höhepunkt, der alles übertrifft, ab.

Page 67: Faculteit Letteren en Wijsbegeerte - Universiteit Gent

67

5. Schlussbetrachtung

Das Ziel meiner Untersuchung war, herauszufinden, wie Tellkamp verfährt, um

gleichzeitig den kollektiven Sozialismus als auch den individuellen Bildungsbürger

darzustellen. Abschließend kann ich dazu schlussfolgern, dass Uwe Tellkamp es

geschafft hat, nach vielen literarischen und geschichtlichen Wendepunkten, dem

bildungsbürgerlichen Individuum über die sozialistische DDR triumphieren zu lassen.

Die Utopie hat die Oberhand über die Dystopie gewonnen und der dramatische Aufbau

wurde mit dem radikalen Umschlag im letzten Moment abgewendet. Die ganze

Geschichte wurde vom ständigen Streit mit dem Sozialismus charakterisiert. Wenn in

Der Turm von der DDR und ihrer Ideologie erzählt wurde, handelte es sich gleichzeitig

auch um die Krisen der Hauptgestalten aus der „Turmgesellschaft“. Tellkamp

unterscheidet zwischen den theoretisch erörterten Zielen des Regimes und ihrer

praktischen Verwirklichung. Diese Opposition kam am besten bei der Utopie – Realität

Analyse vom „Sinn des Soldatseins“ hervor. Der Turm ist aber kein Roman über die

DDR an sich, sondern ein Roman über eine Familie in der Zeit des Sozialismus.

Tellkamp verwendet aber keinen Dokumentarstil, sondern hat eine bestimmte Absicht

mit diesem Epos. Er wollte die Möglichkeit eines schwierigen aber gelungenen

Überlebens in der sozialistischen DDR anhand verschiedener Wendepunkte und

gesellschaftlicher Oppositionen erzählen. In Tellkamps Geschichte betraf das Überleben

vor allem Christian, und genau darum habe ich ihn als zentrale Figur meiner

Untersuchung gewählt.

In Der Turm werden die Ereignisse anhand eines klaren Handlungsverlaufs

erzählt. Der Roman fängt mit einem Anlauf an, allmählich findet der komplexe Konflikt

statt und schließlich ereignet sich die, für die Figuren unerwartete aber angenehme,

Wende. Diese für die Bevölkerung der DDR politisch wichtige Wende, hat aber auch

eine persönliche Bedeutung für die Figur Christians. Von Tellkamp wird die, als

diktatorisch hervorkommende DDR vor allem anhand der Machtverteilung innerhalb

der Armee dargestellt. Fast die ganze Geschichte wurde von Christians Armeezeit

beherrscht. Die Offiziere sind den Soldaten sowohl in der Sprache als auch in den

Handlungen überlegen, und durch dieses Gefühl von Machtlosigkeit fehlt auch

Christian die Möglichkeit, sein erwünschtes Arztstudium zu erreichen. Die von

Tellkamp aufgebaute chronologische Aufeinanderfolge von krisenhaften Wendepunkten

sorgt dafür, dass Christian seine erwachsene Persönlichkeit auf den ersten Blick viel

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mehr dekonstruiert als konstruiert. Aus diesem Grund verliert er Schritt für Schritt seine

eigene Identität und entwickelt er sich von einem isolierten Individuum zu einem

Niemanden. Diese Dekonstruktion wird sprachlich bestätigt, dadurch, dass Christians

Namensgebung auch ähnlich dekonstruiert wird, sodass er letztendlich, auf dem

Höhepunkt seiner Krisen (aber nicht auf dem Höhepunkt der Geschichte), buchstäblich

‚Niemand‟ mehr ist.

Von Anfang bis Ende des Romans haben die Machthaber der DDR die Kontrolle

über ihren Einwohner. Christians Beziehung zur Umgebung und Zeit wurde anhand

einer Kette von Oppositionen, mit der Opposition zwischen Sozialismus und

Bildungsbürgern als roten Faden, und Krisen aufgebaut. Seine scheinbar hoffnungslose

Situation wird nur ganz am Ende brutal aufgehoben und aus dieser Explosion kommt

ein ‚Happy End‟ voller Hoffnung hervor. Auch wenn Tellkamp in Der Turm von immer

schlimmer und gewalttätiger werdenden Krisen erzählt, findet auf den letzten 100 Seiten

der Geschichte eine für Christian lebenswichtige Wende statt. Mit dem Mauerfall hat

das Überleben für das wieder Aufleben Platz gemacht. Aufgrund dieses Auferstehens

hatte er auch die Möglichkeit gefunden, seine Identität wieder zu entwickeln. Der

Kampf hat letztendlich zum Sieg geführt.

In Bezug auf diesen Roman gibt es noch eine ganze Menge von Themen, die

analysiert werden können. Dadurch, dass Der Turm so dick und komplex, ist es eine

unmögliche Aufgabe, alle Aspekten in einer wissenschaftlichen Arbeit zu behandeln. In

meiner Arbeit habe ich mich vor allem auf die oppositionelle Relation zwischen der

Figur Christians und dem Zeitalter konzentriert, aber auch die familiären Beziehungen,

der autobiografische Aspekt und eine noch tiefer greifende historische Analyse sind

mögliche Untersuchungsebenen. Auch mit einer möglichen Fortsetzung, die Tellkamp

zu schreiben versprach, kann meine Arbeit neu belebt werden.

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