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Literaturberichte Rezensionen Die älteren Tiroler Rechnungsbücher (IC. 280). Analyse und Edition, ed. Christoph HAIDACHER. (Tiroler Geschichtsquellen 52.) Amt der Tiroler Landesregierung, Tiroler Landesarchiv, Innsbruck 2008. 526 S., 17 Abb. Bisher erschienen: Die älteren Tiroler Rechnungsbücher (IC. 277, MC. 8). Analyse und Edition, ed. Christoph HAIDACHER. (Tiroler Geschichtsquellen 33.) Amt der Tiro- ler Landesregierung, Tiroler Landesarchiv, Innsbruck 1993. 536 S., 14 Abb. Die älteren Tiroler Rechnungsbücher (IC. 278, IC. 279 und Belagerung von Wein- eck). Analyse und Edition, ed. DERS. (Tiroler Geschichtsquellen 40.) Amt der Tiroler Landesregierung, Tiroler Landesarchiv, Innsbruck 1998. 608 S., 8 Abb. Editionen pragmatischer Schriftquellen, zu denen Rechnungsaufzeichnungen zählen, sind als dringendes Desiderat der Forschung anzusehen, da über sie die Entwicklung und Aus- differenzierung verwaltungstechnischer Strukturen nachvollziehbar wird. Nachdem Christoph Haidacher, Historiker und Archivar im Tiroler Landesarchiv, in den Jahren 1993 und 1998 zwei Editionsbände der älteren Tiroler Rechnungsbücher, der so genannten Raitbücher, vor- legte und auf diese Weise einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machte, konnte derselbe Autor im Jahr 2008 nun bereits den dritten Band präsentieren, der, ebenso wie die beiden Vor- gängerbände, im Rahmen der vom Tiroler Landesarchiv herausgegebenen Reihe der „Tiroler Geschichtsquellen" erschien. Mit der Edition des 92 Blätter und 26 kleinere eingeheftete Zettel umfassenden IC. (= Innsbrucker Codex; d. h. Handschrift des Tiroler Landesarchivs) 280 (Rechnungsbuch F) liegen der Forschung nun insgesamt sechs landesfurstliche Tiroler Rechnungsbücher (erster Band: IC. 277, MC. [= Münchner Codex; Tiroler Literalie des Bayerischen Hauptstaatsarchivs] 8; zweiter Band: IC. 278, IC. 279 und Belagerung von Weineck) in gedruckter Form vor. Während die ersten beiden Editionsbände Rechnungslegungen aus den Jahren 1288 bis 1305 enthalten, umfasst der vorliegende Band den Zeitraum von Ende 1295 bis Mitte 1298 und dokumentiert damit die Anfänge der Regierungszeit der drei Söhne Graf Meinhards II. von Tirol-Görz, Otto, Ludwig und Heinrich. In bewährter Weise ist der Edition, welche den bereits im ersten Band (S. 51-54) formu- lierten Editionsgrundsätzen folgt, eine Beschreibung des kodikologischen Aufbaus der Hand- schrift IC. 280, eine Differenzierung der Schreiberhände, die Geschichte dieses Rechnungsbu- ches sowie eine Analyse seiner Struktur vorangestellt. Der IC. 280 ist, von den eingehefteten kleineren Zetteln abgesehen, in weiten Teilen von Rudolf von Isny (Hand A) geschrieben. Von diesem Notar, der als eine der zentralen Persönlichkeiten in der meinhardinischen Kanzlei MIÖG 118(2010) Brought to you by | Tulane University Authenticated Download Date | 10/8/14 4:50 PM

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Literaturberichte

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D i e älteren Tiroler Rechnungsbücher ( IC . 2 8 0 ) . Analyse und Edi t ion, ed. Chr i s toph HAIDACHER. (Tiroler Geschichtsquel len 52 . ) A m t der Tiroler Landesregierung, Tiroler Landesarchiv, Innsbruck 2 0 0 8 . 5 2 6 S. , 17 Abb .

Bisher erschienen: Die älteren Tiroler Rechnungsbücher ( I C . 2 7 7 , M C . 8) . Analyse u n d Edit ion, ed. Chr i s toph HAIDACHER. (Tiroler Geschichtsquel len 33 . ) A m t der Tiro-ler Landesregierung, Tiroler Landesarchiv, Innsbruck 1993 . 5 3 6 S., 14 Abb.

D i e älteren Tiroler Rechnungsbücher ( IC . 2 7 8 , I C . 2 7 9 und Belagerung von Wein-eck). Analyse und Edit ion, ed. DERS. (Tiroler Geschichtsquel len 40 . ) A m t der Tiroler Landesregierung, Tiroler Landesarchiv, Innsbruck 1 9 9 8 . 6 0 8 S . , 8 Abb .

Editionen pragmatischer Schriftquellen, zu denen Rechnungsaufzeichnungen zählen, sind als dringendes Desiderat der Forschung anzusehen, da über sie die Entwicklung und Aus-differenzierung verwaltungstechnischer Strukturen nachvollziehbar wird. Nachdem Christoph Haidacher, Historiker und Archivar im Tiroler Landesarchiv, in den Jahren 1993 und 1998 zwei Editionsbände der älteren Tiroler Rechnungsbücher, der so genannten Raitbücher, vor-legte und auf diese Weise einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machte, konnte derselbe Autor im Jahr 2008 nun bereits den dritten Band präsentieren, der, ebenso wie die beiden Vor-gängerbände, im Rahmen der vom Tiroler Landesarchiv herausgegebenen Reihe der „Tiroler Geschichtsquellen" erschien.

Mit der Edition des 92 Blätter und 26 kleinere eingeheftete Zettel umfassenden IC. (= Innsbrucker Codex; d. h. Handschrift des Tiroler Landesarchivs) 280 (Rechnungsbuch F) liegen der Forschung nun insgesamt sechs landesfurstliche Tiroler Rechnungsbücher (erster Band: IC. 277, M C . [= Münchner Codex; Tiroler Literalie des Bayerischen Hauptstaatsarchivs] 8; zweiter Band: IC. 278, IC. 279 und Belagerung von Weineck) in gedruckter Form vor. Während die ersten beiden Editionsbände Rechnungslegungen aus den Jahren 1288 bis 1305 enthalten, umfasst der vorliegende Band den Zeitraum von Ende 1295 bis Mitte 1298 und dokumentiert damit die Anfänge der Regierungszeit der drei Söhne Graf Meinhards II. von Tirol-Görz, Otto, Ludwig und Heinrich.

In bewährter Weise ist der Edition, welche den bereits im ersten Band (S. 51-54) formu-lierten Editionsgrundsätzen folgt, eine Beschreibung des kodikologischen Aufbaus der Hand-schrift IC. 280, eine Differenzierung der Schreiberhände, die Geschichte dieses Rechnungsbu-ches sowie eine Analyse seiner Struktur vorangestellt. Der IC. 280 ist, von den eingehefteten kleineren Zetteln abgesehen, in weiten Teilen von Rudolf von Isny (Hand A) geschrieben. Von diesem Notar, der als eine der zentralen Persönlichkeiten in der meinhardinischen Kanzlei

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anzusehen ist, rühren nicht weniger als sechs Rechnungsbücher her. Im vorliegenden Codex nennt er sich in der Ich-Form: ... quos ego Ruod(olfits) notarius dedi... (fol. 85'). Neben Rudolf von Isny ist die Handschrift von 16 weiteren Schreiberhänden (Hände Β bis Q) verfasst, von denen drei namentlich zugeordnet werden können (Hand B: Ludwig von Obernburg; Hand O: Pfalznotar Thomasius; Hand P: Pfalznotar Heinrich Reich [Hainricus dictus Dives]). Das Rechnungsbuch beginnt auf fol. Γ~ν mit einem Verzeichnis der enthaltenen Rechnungslegun-gen und präsentiert sich anschließend in einem sehr gut strukturierten Aufbau. In der Abfolge der Rechnungslegungen zeigt sich, dass die Anordnung, welche in den früheren Rechnungs-büchern noch vergleichsweise unstrukturiert war, nun eine gewisse zeitliche Gliederung auf-weist. Haidacher begründet dies damit, dass Rudolf von Isny, der Hauptverantwortliche für die Anlage der Handschrift, mittlerweile über eine gewisse Routine verfugte und nach der ersten Rechnungslegung eines Amtes entsprechend viel Raum freiließ, um spätere Rechnungen der-selben Verwaltungseinheit chronologisch anfügen zu können. Freilich konnte der Platzbedarf nicht in allen Fällen entsprechend eingeschätzt werden, sodass bei Raummangel Rechnungen einzelner Ämter an anderer Stelle im Codex eingetragen werden mussten. Die Anordnung der Amter selbst folgt nicht, wie jene der in etwa zeitgleich entstandenen landesfurstlichen Urbare, geographischen Gesichtspunkten, sondern entspricht weitgehend der zeitlichen Abfolge der Rechnungslegungen. Ergänzend zu den Abrechnungen enthält die Handschrift diverse Bei-lagen zu diesen, wie Quittungen, Naturalienverzeichnisse, Nachtragsrechnungslegungen, ein Amtsübergabeprotokoll und ein Eigenleuteverzeichnis, sowie Urkunden und Notariatsinstru-mente. In summa ermöglicht der präsentierte Editionsband Einblicke in verwaltungstechni-sche, wirtschaftliche, kulturgeschichtliche, prosopographische und andere Fragestellungen und eröffnet vielfaltige Auswertungsmöglichkeiten. Nicht zuletzt die vom Autor selbst aufgeworfe-ne Frage, wie sich die zumeist als verschwenderisch charakterisierte Hofhaltung der Söhne Graf Meinhards II. konkret in den Quellen widerspiegelt, könnte durch die gezielte Auswertung dieses und weiterer Editionsbände entscheidende Impulse erfahren.

An die Edition angeschlossen ist ein alphabetisches Verzeichnis der Rechnungslegungen sowie eine Auflistung der enthaltenen Urkunden, Quittungen und Notizen. Ein umfangreicher Personen- und Ortsindex sowie ein zweisprachig (lateinisch-deutsch) abgefasster Sachindex beschließen den Band und berücksichtigen alle bisher erschienenen Editionsbände. Darüber hinaus sind im Anhang Abbildungen sämtlicher Schreiberhände (A bis Q), die mit der Nieder-schrift der einzelnen im Rechnungsbuch enthaltenen Eintragungen befasst waren, abgedruckt.

Gerade diese Schriftproben vermitteln einen Eindruck der hohen paläographischen Anfor-derungen, welche diese Quelle an den Editor stellt, und illustrieren dessen profundes Können. Es bleibt daher zu hoffen, dass der Autor auch zukünftig die Zeit finden möge, sich der weite-ren Edition der älteren Tiroler Rechnungsbücher zu widmen.

Wien Claudia Feller

Michael HOCHEDLINGER, Aktenkunde. Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit. (Historische Hilfswissenschaften 3.) Böhlau, Wien, und Oldenbourg, München 2009. 292 S„ zahlreiche Abb., 1 CD-ROM.

Wahrend sich kaum ein Mediävist an Urkunden wagen würde, ohne vorher zumindest Ahasver von Brandts „Handwerkszeug" unter dem Kopfkissen hervor gezogen zu haben, wer-den Archivbestände des Aktenzeitalters allzu oft ohne den Versuch, sich eingehender mit ih-ren quellenkundlichen Eigenarten vertraut zu machen, „ausgewertet". Das mag nicht zuletzt an den verfügbaren Darstellungen zur Aktenkunde gelegen haben, verdienstvollen, aber von Heinrich Otto Meisner (Archivalienkunde vom 16. Jahrhundert bis 1918 [Leipzig 1969]), Jürgen Kloosterhuis (Amtliche Aktenkunde der Neuzeit. AfD 45 [1999] 465-563) und Ger-hard Schmid (Akten, in: Die archivalischen Quellen, hg. von Friedrich Beck-Eckhart Henning

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[Köln 4 2004 ] ) doch recht spröde angelegten Lehrwerken, die selbst die unmitte lbar daran in-teressierten Archivare wenig zu intensiverem S tud ium motiviert haben. Michae l Hochedl inger macht nun den Versuch, ein didakt isch zeitgemäßes Lehr- und Nachschlagebuch vorzulegen. Es darf wohl vorweggenommen werden, dass das Ergebnis außerordentl ich gut gelungen ist.

Nach einer knappen, aber sehr hilfreichen Einführung in die Disziplingeschichte der Ak-tenkunde fasst Hochedl inger überzeugend, und ohne sich zu sehr auf archivwissenschaftl iche Debatten einzulassen, die begriff l ichen Grundlagen der archivalischen Aktenkunde zusammen. Negativ fallt dabei nur ein etwas uneinheit l icher Umgang mit dem Nachweis von Zitaten oder klar mit benennbaren Forschern verbundenen Begriffsbi ldungen auf. So erfährt der Leser - und nicht selten wird es sich dabei um einen Archivar in Ausbi ldung handeln - weder, von wem der Begriff „Evidenzwert" (S. 39 ) s tammt (Theodore Schel lenberg) , noch, aus wessen archivwissen-schaftl ichem Lehrgebäude das Konzept der „Serienspaltung" (S. 36) entnommen ist ( Johannes Papritz). Und auch wo Defini t ionen - etwa die berühmte Urkundendef in i t ion Harn- Breßlaus („Urkunden nennen w i r . . . " ) - mehr oder weniger wörtl ich übernommen werden (S. 25) , wäre ein Hinweis auf den jeweil igen Urheber vielleicht nicht fehl am Platz.

W i e bereits der Buchtitel , der sich fast als Hommage an Heinrich Otto Meisners verschie-dene Monographien lesen lässt, andeutet , entscheidet sich Hochedl inger im Haupttei l des Bu-ches dafür, das Lehrgebäude des Diszipl inbegründers so gut wie unverändert zu übernehmen. Er bleibt bei der Meisnerschen Dreite i lung in genetische Aktenkunde, also den Entstehungs-stufen von Schriftstücken im behördlichen Geschäftsgang, analyt ische Aktenkunde, also der Beschreibung anhand eines Katalogs formaler und sprachlicher Merkmale , und systematische Aktenkunde , also der Typis ierung nach dem Zweck der Schriftstücke und dem hierarchischen Verhältnis von Absender und Empfänger. Wenn Hochedl inger dem in konzeptioneller Hinsicht nichts hinzuzufügen hat, so fächert er doch das so abgesteckte Feld in großer begrifflicher Ge-nauigkei t neu auf und veranschaulicht manches, das bisher für den „working historian" nicht konkret genug war. Auch sprachlich ist dieser Überbl ick ge lungen: Bei aller Knappheit und Prägnanz spart Hochedl inger nicht am falschen Platz und bietet die zeitgenössische Terminolo-gie in großer Bandbreite, ohne zu schnell zu viel unter einen Forschungsbegriff zu subsumieren. Der gegentei l igen Gefahr, be im Eintauchen in die bürokrat ische Fach- und Kunstsprache der Vergangenheit die sprachl iche Distanz zum Gegenstand zu verlieren, trotzt Hochedl inger eben-so souverän, stellenweise sogar humorvol l .

Dass der Autor als Archivar am Wiene r Kriegsarchiv und ausgewiesener Kenner der öster-reichischen Diplomat ie- und Mil i tärgeschichte Meisners Schwerpunkt auf preußischen Kanz-leitradit ionen durch eine besondere Berücks icht igung der österreichischen ersetzt, überrascht nicht . Die Nutzbarkeit für Historiker der deutschen Staaten und Territorien schränkt er damit höchstens insofern ein, als d ie großen historischen Brüche in der Verwaltungs- und Kanz-leitradit ion in der deutschen Geschichte anders gesetzt werden müssten, nämlich um 1800 und mit der Büroreform der 1920er und 1930er Jahre, während es zu den mit dem „System Kielmansegg" verbundenen österreichischen Verwaltungsreformen ab 1903 keine deutsche Entsprechung gibt . Auf seine mil i tärhistorische Expertise kann Hochedl inger in Exkursen zur Aktenführung bei Mi l i tärbehörden sehr gewinnbr ingend zurückgreifen.

Eben weil ihr Gegenstand sich e inem intuit iven Verständnis oft entzieht, liegt der Wert einer aktenkundl ichen Darste l lung in ihrer typologischen Detai lgenauigkei t . Dass sich etwa im Unterschied zwischen den Verben „anzeigen" und „anfügen" in der Formul ierung von Behör-denreskripten (S. 193f.) e ine klare und konsistente Differenzierung im Status des Empfängers ausdrückt , kann auch der versierteste Historiker nicht mit eigenen quel lenkundl ichen und hermeneut ischen Bordmitte ln feststellen. Selten hat ein hilfswissenschaftl iches Buch die spezi-fische Hilfsbedürft igkeit seiner Zie lgruppe so augenscheinl ich demonstr iert und ihr gleichzeit ig so unprätent iös abgeholfen. Besonders hervorzuheben ist dabei das reiche, mit Liebe zum De-tail ausgesuchte bi ld l iche Beispielmaterial , sowohl in Marg ina labbi ldungen im Buch als auch

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in Übungsbeispielen als exemplarisch kommentierte PDF-Dateien auf der beigegebenen C D -ROM. Man würde sie gröblich unterschätzen, verstände man sie nur als reine Illustrationen oder optische Auflockerung. Tatsächlich verwirklichen sie erst ein zentrales wissenschaftliches Anliegen der Aktenkunde: das Herausarbeiten der historisch deutbaren und quellenkritisch auswertbaren Zusammenhänge zwischen bürokratischen Ordnungs-, Organisations- und Hie-rarchiemodellen und dem graphischen Aufbau von amtlichen Schriftstücken. Dieser entschei-dende Nexus war in der spröden Textform bisheriger Lehrbücher kaum hinreichend zu begrei-fen. Erst hier wird er anschaulich vor Augen geführt und damit in vollem Umfang nutzbar. Dass ohne den Aktenzusammenhang wiedergegebene und so gleichsam aus der Zeit gefallene Aktenvermerke und -Verfügungen (cito cito citissime, Geheim!, kein Konzept!) in dieser Präsen-tationsform streckenweise einen recht eigentümlichen Humor erzeugen, mag nur ein feuille-tonistischer NebenefFekt für ironiebegabte Leser sein. Vielleicht zeigt dieser Verfremdungseffekt aber gleichzeitig, welches reiche, wichtige Forschungsfeld sich hier fur die sowohl an der visu-ellen wie an der sprachlichen Konstruktion sozialer Realität interessierte neue Kulturgeschichte auftut. Das Feld, das Cornelia Vismann mit ihrer eklektisch-essayistischen Kulturgeschichte .Akten" (Frankfurt a. M. 2000) abgesteckt hat, scheint bis jetzt kaum beackert worden zu sein, solange es nicht gerade um einen durch seine literarische Nebentätigkeit bekannt geworde-nen Sachbearbeiter der Prager Unfall-Versicherungs-Gesellschaft ging (Franz Kafka, Amtliche Schriften, hg. von Klaus Hermsdorf-Benno Wagner [Frankfurt a. M. 2004]). Für eine „Kul-turgeschichte des Amtlichen" fanden sich hier Einstiegspunkte zuhauf, überwänden nur genug kluge Köpfe die psychologischen Hürden, die das Assoziationsfeld „trocken/staubig" um die Welt der Akten herum aufgebaut hat.

Eine gekürzte Version dieser Rezension ist erschienen in sehepunkte (http://www.sehe-punkte.de/).

München Julian Holzapfl

Régionalisme et Internationalisme. Problèmes de Paléographie et de Codicologie du Moyen Age. Actes du XV Col loque du Comité International de Paléographie Latine, hg. von O t t o KRESTEN-Franz LACKNER. (OAW, Denkschriften der phil.-hist. Kl. 3 6 4 = Veröffentlichungen der Kommiss ion fur Schrift- und Buchwesen des Mittelalters IV/5. ) Verlag der ÖAW, Wien 2 0 0 8 . XI , 3 8 9 S „ zahlr. Abb.

Der Band enthält 27 Beiträge der auf dem 15. Kolloquium des Comité International de Paléographie Latine gehaltenen Vorträge, die sich schwerpunktmäßig mit den unterschiedli-chen regionalen und überregionalen Einflüssen auf die Entwicklung der lateinischen Schrift von der Spätantike bis zur frühen Neuzeit, aber auch mit Fragen der Kunstgeschichte, der Kodikologie und Epigraphik beschäftigen.

Vladimir I. Mazhuga, Über die Herkunft und Verbreitung der dem griechischen Alpha gleichen Form von a. Urkundenschrift und Buchschrift im frühmittelalterlichen Europa (vom 7. bis zum Anfang des 9. Jahrhunderts) (S. 1-11), verfolgt die verschiedenen Ausprägungen des v. a. in der merowingischen Urkundenschrift verwendeten cc-a, das in den kalligraphischen ausgeformten Buchschriften des Frühmittelalters häufig aufgrund der Schließung des ersten Bogens einem griechischen Alpha ähnelt, ohne jedoch vom Griechischen beeinflusst zu sein. - David Ganz, Three Scribes in Search of a Centre (S. 13-17), zeigt anhand dreier Beispiele, wie frühmittelalterliche Schreiber auf neue Schriftstile reagierten und ihre eigene Schrift ent-sprechend anpassten. - Paolo Radiciotti, Il problema de digrafismo nei rapporti fra scrittura latina e greca nel medioevo (S. 19-33), untersucht das Verhältnis von lateinischer und griechi-scher Schrift anhand ausgewählter Beispiele (griechische und lateinische Unziale in karolingi-schen und ottonischen Handschriften, Entstehung der Kuriale vor dem Hintergrund der Bil-

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dungssi tuat ion der kuria len Beamten, griechische Einflüsse auf die „corsiva nuova" und ihrer verwandten Schriften) . - Giovanni Feo-Me lan i a Mezze t t i -Madda l ena Modest i , Scrittura, cul-tura e scienza filologica a Bologna nel secolo XI (S. 3 5 - 5 1 ) , untersuchen die verschiedenen Formen von Verwaltungsschriften (bischöfl iche Diplome, Notar iats instrumente) , die von der von der Kaiserurkunde geprägten „carolina cancelleresca" über halbkursive und kursive bis hin zu individuel len Schriftst i len reichen. - José Marques , Chemins de l 'écriture dans le Nord-Ouest du Portugal, au Moyen-Âge . Que lques aspects (S. 5 5 - 7 7 ) , untersucht den Übergang von der kursiven westgotischen Schrift („wisigothique cursive") zur westgotischen Minuskel („wisi-gothique ronde") im 10./11. Jahrhundert , die wiederum im 12. Jahrhundert von der karolingi-schen bzw. frühgotischen Minuske l abgelöst wurde, wobei die gotische Urkundenminuske l et-was irreführend als „gothique cursive primit ive" bezeichnet wird. Auch der Beitrag von Maria José Azevedo Santos, L'écriture carol ine au Portugal: une écriture d ' importat ion (S. 7 9 - 8 6 ) , w idmet sich der Frage nach der Ablösung der westgotischen Schrift in Portugal, ein Prozess, der 1172 mit der letzten westgotisch geschriebenen Handschr if t abgeschlossen war. - Gudvardur M á r Gunnlaugsson, The origin and development of Icelandic script (S. 8 7 - 9 4 ) , skizziert die Schr i f tentwicklung Islands, das u m 1000 christianisiert wurde, und arbeitet die verschiedenen Einflüsse des angelsächsischen (via Norwegen) so wie des festländischen Schriftwesens (via Hamburg -B remen ) heraus. - Laszlo Veszpremy-Tünde Wehl i , Das Verhältnis von Schrift und Bild in ungarischen Handschr i f ten vor 1300 (S. 9 5 - 1 1 2 ) , stehen vor dem Problem der ver-streuten Uberl ieferung ihres Untersuchungsgegenstandes. Trotzdem gelingt es ihnen, ab etwa 1100 für Handschrif ten ungarischer Provenienz den Einfluss der südostdeutschen Schreibschu-len sowohl hinsichtl ich der Schrift („schrägovaler Stil") als auch in der Buchmalerei und fran-zösische Einflüsse fur wissenschaft l iche Werke und Urkunden herauszuarbeiten. - Gabriella Pomaro, La „cancelleresca" come scrittura l ibraria nell 'Europa dei secoli XI I I -XJV (S. 113 -121 ) , beschreibt das mit dem Namen „cancelleresca" verbundene definitorische Problem und spricht sich für den Sammelbegr i f f „scritture su base cancelleresca" aus. - Irene Ceccherini , La genesi della scrittura mercantesca (S. 1 2 3 - 1 3 7 ) , zeichnet die Entwickung der überwiegend in Han-delsbüchern und kaufmännischer Korrespondenz verwendeten kursiven Schriftart von der Pro-tomercantesca des 13. Jahrhunder ts über ihre eigentl iche Entstehung in der Toskana bis hin zu ihrer Verbreitung in Nord- und Mitte l i ta l ien nach. - Zdeñka Hledíková, Die südeuropäische Schrift im böhmischen Umfe ld des 14. Jahrhunderts . Unter besonderer Berücksicht igung des Einflusses der bolognesischen Schrift auf die Handschr i f tenprodukt ion für Raudnitz (S. 139— 152), untersucht das Skr iptor ium der August iner-Chorherren von Raudnitz/Elbe. Sie arbeitet dabei mit „Duktus" ( im S inne von Strukur/Strichreihenfolge) und „Modul" (Verhältnis von Höhe und Breite, sowie der Beziehung zur beschriebenen Fläche) als zentrale Kategorien zur Differenzierung innerhalb einer Schr i f tgruppe und konstatiert , dass im Gegensatz zu anderen böhmischen Schriftzentren in Raudni tz Importschriften (Bologneser Rotunda, französische Textualis) st i lbi ldend für die gotische Minuske l waren und erst im 15. Jahrhundert mit dem Aufkommen der Bastardschriften wieder „heimische" Schriftst i le gepflegt wurden. - Juraj Sedivy, Italienische Einflüsse im Grenzgebiet des mittelalterl ichen Ungarn. Gedanken über ei-nige gotische Handschr i f ten aus Bratislava (Slowakei) (S. 1 5 3 - 1 6 6 ) , kann für Pressburg einen ähnl ichen Befund aufzeigen, wobei er zwei Phasen des „ital ianisierenden" Schreibens (während der Anjouherrschaft und zur Zeit von Matth ias Corv inus ) unterscheiden kann. - Edit Madas , Internat ional ismus und Regional i tät der Schr i f tkul tur des ungarischen Spätmittelalters vom 15. bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts (S. 1 6 7 - 1 7 5 ) , beobachtet, dass humanist ische Schrif-ten nur für lateinische (Klassiker-)Literatur Verwendung fanden, während für die deutsche und ungarische Sprache ausschl ießl ich gotische Schriftarten eingesetzt wurden . - Luisa Cabanes Cata lá t - R a m ó n Baldaquí Escanell, La regionalización de la escritura en zonas de frontera gráfica. El caso de la gobernación de Alicante (S. 1 7 7 - 1 8 7 ) , untersuchen aragonesische Urkun-denschriften des 15. Jahrhunder ts anhand ihrer regionaltypischen Abkürzungen und Zierfor-

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men. - Alois Haidinger, Mitteleuropäische Vorläufer der Gebetbuchfraktur Maximilians I. (S. 189-203) , widerlegt die These Fichtenaus von der tragenden Rolle der Kanzleischrift Spitz-wegs für die Entstehung der „Lehrbücherschrift", der handschriftlichen Vorgängerin der Ge-betbuchfraktur, zeigt, dass Schriften diesen Typs im Umfeld der Wiener Universität keine Sel-tenheit waren, und stellt zudem einige mit dieser Schrift verwandte böhmische kalligraphische Bastarden vor. - Martin Roland, Zierschriften und Miniaturen als Mittel der „Selbstdarstel-lung" von Stiftern (S. 205-225 ) , stellt mit einem Ausblick auf das 12. und 13. Jahrhundert v. a. Beispiele aus der Karolinger- und Ottonenzeit vor und plädiert für mehr interdisziplinären Umgang mit Handschriften. Dies ist auch Thema bei Aliza Cohen-Mushlin, Scribes and Artists (S. 2 2 7 - 2 3 4 ) , die das Verhältnis von Schreiber und Illuminator innerhalb eines hebräischen Gebetsbuches fränkischer Provenienz aus dem 14. Jahrhundert genauer beleuchtet. - M. Alison Stones, Amigotus and his colleagues: a note on script, decoration, and patronage in some south-western French manuscripts c. 1300, analysiert die Schrift eines Schreibers und die verschiede-nen Einflüsse, die während seiner 60jährigen Schaffensperiode für seinen Schreibstil maßgeb-lich waren. - Natasa Golob, The so-called „Kopitar's Bosnian Gospel" and its position between Carolingian models and contemporary politics (S. 257-267) geht dem Phänomen von karolin-gisch anmutenden Illustrationen einer spätmittelalterlichen slawischen Handschrift nach und vermutet den Erwerb alter Handschriften durch die bosnische Dynastie der Kotromanic. - Da-libor Havel, Die Rolle von Nachahmungen in der Entwicklung der böhmischen Urkunden-schrift (S. 2 6 9 - 2 7 7 ) , zeigt die Tendenz regionaler Skriptorien, die großen Zentren als Vorbild zu nehmen, anhand der böhmischen Urkundenschrift, die sich im 12. Jahrhundert an der di-plomatischen Minuskel der Herrscherurkunde und im 13. Jahrhundert an der Schrift der Papstkanzlei orientierte. - Marc H . Smith, L'écriture de la chancellerie de France au X T V siècle. Observations sur ses origines et sa diffusion en Europe (S. 279-298) , bestimmt die französische Kanzleischrift des 14. Jahrhunderts mittels einer an die Schule von Lieftinck - Gumbert - De-rolez angelehnten Kategorisierung und zeigt dabei, wie fruchtbar diese systematische Methode angewendet werden kann. - Maria Cristina Almeida e Cunha-Anisio Miguel de Sousa Saraiva— Maria do Rosàrio Barbosa Morujäo, Traditionalisme, régionalisme et innovation dans les chan-celleries episcopales portugaises au Moyen Age (S. 299-316) , untersuchen in ihrem dreigeteil-ten Beitrag die Bischofsurkunden von Braga und Porto, Lamengo und Viseu sowie von Coimbra. - Carmen del Camino Martínez, El notariado apostólico en la Corona de Castilla entre el regionalismo y la internacionalización gráfica (S. 317-330 ) , beschäftigt sich mit der speziellen Rolle der apostolischen Notare und den unterschiedlichen Einflüssen, die ihre Schrift bestimmten. - Hana Pátkova, Zentrum und Grenzland - die Kanzleischrift in Prag und in den nordböhmischen Städten im XV. Jahrhundert (S. 331-339) , zeigt auf, wie die Schriftentwick-lung in Zentrum und Peripherie bis in die 70er Jahre parallel verlief und dass anschließend eine stärkere Ausdifferenzierung festzustellen ist, wobei die städtischen Schreiber Nordböhmens neuen Formen eher aufgeschlossen waren als die Prager Kanzlei, die an traditionellen Schrift-stilen festhielt. - Catherine Squires, Wort- und Textsemantik im Rahmen paiäographischer und kodikologischer Determinanten (anhand eines niederdeutschen Gebetes aus dem 15. Jahrhun-dert) (S. 3 4 1 - 3 5 2 ) , kann anhand der Gestaltung der Handschrift nachweisen, wie ein fragmen-tarisch erhaltenes Gebet niederdeutschen Dialektes in eine überregionale Tradition eingebettet und neu datiert werden kann. - Irmhild Schäfer, Freising und Lyon. Bucheinbände des 9. Jahr-hunderts in Wickeltechnik aus Peripherie und Zentrum des Karolingerreiches (S. 353-364 ) , zeigt, welche Rückschlüsse hinsichtlich der Buchbindetechnik aufgrund nachweisbarer Bezie-hungen der beiden Schreibzentren möglich sind. - Walter Koch, Internationalismus und Regi-onalismus in der epigraphischen Schrift (S. 365-378) , beklagt die „Lokalisierung von Inschrif-ten nach rein graphischen Kritierien" als Desiderat der Forschung und weist auf, in welchen Phasen des Mittelalters Regionalstile in der Epigraphik greifbar werden und wie man sie zu den Auszeichnungsschriften im Buchbereich in Beziehung setzen muss.

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D i e Abbildungen zu den einzelnen Beiträgen sind leider nicht ausnahmslos von guter Qua-lität, a u f S. 2 7 7 ist das Bild sogar kopfständig abgedruckt. Z u d e m fehlen durchwegs Angaben zum jeweiligen Vergrößerungs- bzw. Verkleinerungsmaßstab. D e n n o c h liefert der vorliegende Sammelband eine Fülle neuer Forschungsansätze und Einzelbeobachtungen, die nicht nur aus paläographisch-hilfswissenschaftlicher Perspektive Beachtung verdienen. Ein Register der zi-tierten Archivalien und Handschrif ten schließt den Band ab.

M ü n c h e n Julia Knödler

Paul O s k a r KRISTELLER, L a t i n M a n u s c r i p t B o o k s b e f o r e 1 6 0 0 . A List o f t h e Pr in ted

C a t a l o g u e s a n d U n p u b l i s h e d I n v e n t o r i e s o f E x t a n t C o l l e c t i o n s . E r g ä n z u n g s b a n d 2 0 0 6 ,

b e a r b . von S igr id KRÄMER u n t e r M i t a r b e i t v o n B i rg i t C h r i s t i n e ARENSMANN. ( M G H

H i l f s m i t t e l 2 3 . ) H a h n , H a n n o v e r 2 0 0 7 , 1 5 3 S .

Paul Oskar Kristeller bot mit seiner Bibl iographie „Latin Manuscript Books before 1 6 0 0 " bereits in den Jahren 1 9 4 8 bzw. 1 9 5 3 in Zeitschriftenbeiträgen einen Uberbl ick über gedruckte bzw. ungedruckte Kataloge zu lateinischen Handschri f ten des Mittelalters und der Renaissance. Die zweite Auflage erschien überarbeitet im Jahre 1 9 6 0 in Buchform. Dieser folgte eine dritte Auflage, die 1 9 8 7 gedruckt wurde. Im Jahre 1 9 9 3 k o n n t e Sigrid Krämer eine viel beachtete Neubearbei tung vorlegen. Diese versuchte, den in den fast drei Jahrzehnten seit der letzten Auf-lage verstärkten Bemühungen u m die Erschl ießung mittelalterlicher und neuzeitlicher Hand-schriftenbestände, insbesondere im Zuge spezieller Forschungsprojekte, gerecht zu werden. D e r nunmehr vorliegende, 2 0 0 7 erschienene Band ist als „Ergänzungsband 2 0 0 6 " bezeichnet und enthält einschlägige Neuerscheinungen, entgegen seinem Titel - wohl bedingt durch äu-ßere Umstände - jedoch ausschließlich „bis zum Ende des Jahres 2 0 0 2 " . D e r Aufbau der Bi-bliographie folgt dem der ersten Auflagen und ist in drei Teile strukturiert: Section A (S. 9 - 1 3 ) listet in alphabetischer Reihenfolge, über den Titel „Bibliography and Statistics o f Libraries and Their Collect ions o f Manuscr ipts" hinausgehend, neben Bibliographien und Statistiken zu Bibl iotheken und Handschr i f tensammlungen auch Werke zur Buch- und Bibliotheksge-schichte im allgemeinen, zu methodischen Fragen der Handschriftenkatalogisierung sowie zum Archivwesen auf. Section Β (S. 1 5 - 3 2 ) mit der Uberschrift „Works Describing Manuscripts o f M o r e than O n e Ci ty" behandelt - ebenfalls nach Autorennamen gegliedert - Literatur und ins-besondere Kataloge, die sich mit a u f mehrere O r t e oder Länder verstreuten Handschrif ten bzw. Handschrif tengruppen beschäftigen. Veröffentl ichungen zu einzelnen Bibl iotheken widmet sich, nach Bibliotheksstandort ( O r t s n a m e mit Länderzuweisung) und Bibl iotheksnamen ge-ordnet , die Section C (S. 3 3 - 1 5 3 ) . A u f bereits in den Abschnit ten A und Β erwähnte Titel wird gegebenenfalls verwiesen. Verzichtet wurde a u f die in der Neubearbei tung von 1 9 9 3 erstmals angeschlossene Section D („Directories and Guides to Libraries and Archives"). Im Anschluss finden sich leere Seiten für etwaige „Notizen" .

D e r Nachtragsband intendiert , einen Überbl ick über in der letzten Auflage Übergangenes sowie Neuerscheinungen bis zum E n d e des Jahres 2 0 0 2 zu geben. „Vollständigkeit konnte dabei weder erreicht noch angestrebt werden" (S. 7 ) , weshalb viele Produkte groß angelegter Katalogisierungs- und Publ ikat ionsunternehmungen nicht aufscheinen. Jedoch weist Sigrid Krämer a u f bisweilen entlegene und kleine Beiträge zur Handschr i f tenkunde hin. Nordameri-kanische Bestände werden aufgrund einer der Autorin vorliegenden Liste der Pierpont Morgan Library in N e w York besonders gut beleuchtet .

Inkonsequenzen formaler Art zeigen sich in der Verwendung von O r t s n a m e n und in der Auflösung von Zitaten (zum Teil ins Engl ische übertragen, zum Teil in der Sprache der Publi-kation belassen). A u f die unsichere Verwendung von Landesbezeichnungen im osteuropäischen Bereich weist die Autorin in ihrem Vorwort selbst hin (S. 7 ) . Ebendort versucht Sigrid Krämer auch die bereits in Rezensionen zur letzten Auflage kritisierte Diskrepanz zwischen Buchtitel ,

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Literaturberichte 221

Überschriften und tatsächlichem Inhalt zu rechtfertigen: So werden trotz des einschränken-den Titels „Latin Manuscript Books before 1600" auch Werke aufgenommen, die sich mit nicht-lateinischen Handschriften, mit nichthandschriftlichem Material sowie mit Buchgut nach 1600 beschäftigen. Zudem berücksichtigt sie trotz des Untertitels „A List of the Printed Catalogues and Unpublished Inventories of Extant Collections" nicht nur Nachschlagewerke, die über Kataloge oder Inventare hinausgehen, sondern auch Ausstellungskataloge oder Beiträ-ge, die einzelne Autoren, Institutionen, Werke oder Fragestellungen behandeln, die sich dem weiten Feld der historischen Hilfswissenschaften und insbesondere der Kodikologie widmen und unabhängig von bestehenden Sammlungen anzusehen sind. So sprengt Sigrid Krämer die Konzeption und Tradition der ersten Bände, um der über die Mediävistik hinaus etablierten Stellung des Repertoriums „als allgemeines Nachschlagewerk für Handschriftenkunde, Hand-schriftenkataloge und -bestände" (S. 7) unter Beibehaltung des Buchtitels gerecht zu werden. Der Eindeutigkeit und Benutzerfreundlichkeit wegen wäre vielleicht an einer Erweiterung bzw. Abwandlung des eingeführten Titels gelegen.

In den letzten Jahren hat man bei der Erschließung von Handschriftenbeständen immer mehr die Vorteile einer Bereitstellung der Daten in digitaler Form als Ergänzung und Erweite-rung der gedruckten Kataloge erkannt. Auch die Hilfsmittel zur Handschriftenkatalogisierung sind in zunehmendem Maße in elektronischer Form zugänglich. Im Repertorium wurden der-artige Ressourcen jedoch übergangen, obwohl die fünfte Auflage von 2003 durch die M G H -Bibliothek selbst online gestellt worden war (http://www.mgh-bibliothek.de/kristeller/). Der Aufbau entspricht weitestgehend der gedruckten Version, Section C ist mittels integrierter Da-tenbank benutzbar. So stellt sich die Frage, ob für eine derartige Publikation das Internet nicht zusätzlich das geeignete Medium wäre - nicht nur hinsichtlich der Vorteile der Benutzbarkeit, sondern auch wegen der Möglichkeit einer Plattform für die bei einem derartigen Werk sich stetig mehrenden Addenda.

Inzwischen werden Mediävisten und Kodikologen dieses unentbehrliche und verdienstvol-le Nachschlagewerk weiterhin mit Gewinn konsultieren.

Innsbruck Claudia Schretter

Stanislav PETR, Soup i s rukopi sü knihovny pri farnim kostele svatého J a k u b a Ν Brnè / Handschri f tenverzeichnis der Bibl iothek der St. J akobs Pfarrkirche in Brünn. (Studie o rukopisech, M o n o g r a p h i a XI I . ) Masaryk-Inst i tut und Archiv der A k a d e m i e der Wis-senschaften der Tschechischen Republ ik , Praha 2 0 0 7 . 5 8 7 S. (mit 101 Farbabb.) .

Der Autor des Katalogs gehört heute zu den führenden tschechischen Kodikologen. Als er vor einigen Jahren an dem vierbändigen Führer durch die Handschriftenfonds der Tsche-chischen Republik mitgearbeitet hat, wurde ihm die Notwendigkeit eines modernen Hand-schriftenverzeichnisses der behandelten Pfarrbibliothek bewusst. Sie ist für Mähren äußerst wichtig, da sie nach der Zahl ihrer Manuskripte zu den fünf größten historisch gewachsenen Handschriftenbibliotheken in der heutigen Tschechischen Republik gehört. Heute befindet sich die Bibliothek im Archiv der Stadt Brünn und beinhaltet 127 mittelalterliche Hand-schriften.

Der Katalog beginnt mit einem Vorwort von Ivan Hlavácek, setzt fort mit einer histori-schen Studie von Stanislav Petr über die Geschichte der Pfarre, der Bibliothek, ihrer Katalogi-sierung, den Inhalt und die Form der Handschriften. Die Studie ist in tschechischer Sprache verfasst mit einer guten deutschen Ubersetzung. Ein ausführliches Literaturverzeichnis (33 S.) bietet einen guten Einstieg für diejenigen, die sich mit mährischen (und böhmischen) Hand-schriften befassen wollen. Das Gros der Arbeit (408 S.) bildet der Katalog. Das Buch schließt mit üblichen Beilagen (Signaturenkonkordanz, Chronologie der Entstehung der Handschrif-ten, Verzeichnisse der lateinischen, deutschen und tschechischen Incipits, die Sequenzen- und

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222 Rezensionen

Hymnenliste, das ikonographische Register, ein Orts- und Personenregister). Danach folgen eine besonders fur Kunsthistoriker wichtige Abbildungsbeilage, ein Abbildungsnachweis, ein Abkürzungsverzeichnis und eine Editionsnotiz.

Die Pfarrkirche zu St. Jakob als Eigentümerin der Handschriften wurde wahrscheinlich im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts von deutschsprachigen hospites in Brünn gegründet. Erste Handschriften für den Pfarrer der deutschen und „valonischen" Gemeinde besorgte nach Meinung Petrs das Patronatskloster der Zisterzienserinnen in Oslavany. Die ältesten erhaltenen Handschriften (drei Psalter und ein Missale aus dem 13. Jh.) sind wirklich zisterziensischer Herkunft. Im 14. Jahrhundert wuchs die Bibliothek auch dank sporadisch belegter Schenkun-gen. Die Gönner waren zu dieser Zeit wahrscheinlich noch mit kirchlichen Kreisen verbunden. Erst im 15. Jahrhunden ist auch die Schenkung von Handschriften durch Laien belegt. Die Schenkungen der Kleriker waren aber auch im 15. Jahrhundert wichtiger. So schenkte zum Beispiel der Priester der deutschen Gemeinde, Johannes von Svitavy, vor seiner Rom-Reise seiner Kirche 28 vorwiegend homiletische und theologische Bücher (S. IX). Seine ganze Bi-bliothek mit zwei Dutzend Büchern testierte der Kirche auch ihr Altarist Johannes Thabrar (t um 1480).

Das älteste Handschriftenverzeichnis stammt aus den 1480er Jahren. Wie in anderen Fäl-len war es auch ein Schatzverzeichnis. Darin sind 13 Missalia, weitere liturgische Bücher, drei Bibeln, Handschriften des kanonischen Rechts, exegetische, theologische und homiletische Li-teratur wie auch praktische pastorale Handbücher wie die Summa Pisana von Bartolomeus de Sancto Concordio belegt (S. XII).

Im 16. und 17. Jahrhundert geriet die Bibliothek in Vergessenheit (Utraquisten als Verwal-ter der Kirche, Buchdruck). Den ersten Schritt zur Katalogisierung der Handschriften tat erst 1780 Alexius Habrich, der Prior der Benediktiner von Rajhrad. Im 19. Jahrhundert entstanden noch vier weitere handgeschriebene Kataloge, zu denen im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts zwei weitere dazukamen (S. XVIII-XX]). Keiner von ihnen ist jedoch im Druck erschienen (außer dem letzten aus 1925, der jedoch nur einen Teil der Bibliothek behandelt), und somit füllt erst der moderne Katalog von Stanislav Petr die Lücke. Die mehrmalige Katalogisierung birgt die Gefahr der Entstehung immer neuer Signaturen, der auch die Brünner Bibliothek nicht ganz entging. Stanislav Petr respektiert die letzte Reihenfolge der Signaturen von J. Gut-mensch, der merkwürdigerweise zehn Handschriften nicht mit seinen Signaturen versah, wes-halb sie Petr entsprechend ihrer Aufstellung in den Regalen an den Anfang seines Katalogs - in der Reihenfolge der ältesten Signaturen - reiht.

Vom Inhalt her überwiegt in der Bibliothek die alltägliche Pastoralliteratur. Heute bilden liturgische Bücher fast ein Drittel der Bibliothek. Die zahlenmäßig zweitgrößte Gruppe wird durch Bibelhandschriften, einzelne Bibelabschnitte und Kommentare gebildet. Häufig sind auch patristische Texte, Theologie im Allgemeinen (z. B. die Sentenzen von Petrus Lombardus, ein Kompendium von Hugo Ripelinus oder Werke des Wiener Theologen Nikolaus von Din-kelsbühl) und Homiletik (von Gregor dem Großen, aber auch von einheimischen Predigern wie Jan Milic von Kremsier) belegt. Da Brünn zu den hussitenfeindlichen Städten gehörte, findet man in der Bibliothek auch antihussitische Traktate. Einen kleinen Teil bilden auch spät-mittelalterliche mariologische Gebetbücher (wie Laus Mariae) und vier hagiographische Texte. Die septem artes sind mit vier grammatikalischen Texten präsent. Antike Literatur repräsentie-ren Texte von Ovid, Vergil, Seneca und Cicero. Man findet auch Abschriften der Korrespon-denz von Humanisten wie Poggio Bracciolini oder den Roman vom Trojanischen Krieg. Für eine gewöhnliche Pfarrbibliothek sind philosophische Texte (oft an den Universitäten Wien oder Krakau kommentierte Werke von Aristoteles) relativ häufig. Drei Titel kann man auch zur naturwissenschaftlichen Literatur einreihen (Libellus de alchimia, Virtutes herbarum und meteorologische Traktate von Johannes de Magistris). Neun Handschriften repräsentieren das kanonische Recht (S. XXI-XXIX).

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Li tera turber ichte 223

Die Form des Katalogs ist keine schnelle und straffe Beschreibung, sondern eine gründliche und tiefgehende Analyse sämtlicher Handschriften nach den Prinzipien der Kommission fiir Beschreibung und Studium der Handschriften beim Archiv der damals noch Tschechoslowa-kischen Akademie der Wissenschaften (1985). Die formale Beschreibung behandelt 1) detail-liert die Buchform (Chroustsche Lagenzählung, Folioverluste, Wasserzeichen, Schriftspiegel, Kustoden, Reklamanten, Foliierung, Paginierung, Linierung), 2) nur knapp die Schrift (Zahl der Hände mit Ausmaß und Schriftart), 3) Ausstattung (der ausfuhrlichste Teil, wobei der Autor alle Initialen beschreibt), 4) kurze Angabe der Neumenart, 5) Einband (sehr detailliert beschrieben), 6) Signaturen, 7) Literatur. Ein eigener Abschnitt über explizite oder implizite Informationen zur Herkunft, Provenienz oder Datierung fehlt jedoch (gegenüber den slowaki-schen oder ungarischen Katalogen). Petr gibt dazu nur am Anfang der formalen Beschreibung knappe Informationen. Einige Hinweise auf Vorbesitzer kann man auch im 6. Teil (Signaturen) finden. Meiner Meinung nach ist die Zersplitterung der fur die Geschichte der Handschrift eigentlich wichtigsten Angaben nicht ganz glücklich. Wegen fehlender Argumentation kann man nämlich die Angabe der Herkunft einiger Handschriften nicht mitverfolgen. Eine Samm-lung von Predigten (Nr. 68, S. 2 3 1 - 2 3 3 ) ζ. B. wird ohne Fragezeichen als mährisch bezeichnet, ebenso ζ. B. die Predigten Nr. 74 (S. 247-250) . Da die Ausstattung in beiden hier angeführten Rillen fehlt, konnte die Lokalisierung nur an Hand der Schrift erfolgen, wobei ich zur Unter-scheidung der Schreiberhände in Brünn und Pressburg oder Wien um 1400 etwas skeptisch bin (besonders wenn man die Mobilität der damaligen Schreiber bedenkt). Bei der Lokalisierung der Handschriften ist überhaupt erstaunlich, dass von 127 insgesamt 112 nach Mähren (ob-wohl ungefähr ein Drittel doch mit einem Fragezeichen) lokalisiert werden (vier weitere nach Böhmen, je einer nach Polen und Schlesien und nur neun kamen nach Petr aus dem übrigen Europa). Die inhaltliche Analyse jeder Handschrift führt Petr nach internationalen Standards durch (Incipits und Explicits von einzelnen Texten bzw. Textteilen, wobei der Autor den Text-teilen, dank derer man auf die Herkunft schließen kann, besondere Aufmerksamkeit widmet).

Viele der Handschriften beinhalten Österreich betreffende Texte: zur angeblich 1437 statt-gefundenen Salzburger Synode siehe eine Sammelhandschrift Nr. 9 (S. 39), Korrespondenz des Klerus von Ortschaften des heutigen Osterreich (ζ. B. der Brief des Salzburger Erzbischofs an den Propst von Gars über Feierlichkeiten wegen eines Sieges über die Türken von 1456) findet man in der Hs . 11 (S. 54). Viele der Handschriften hat der Baccalaureus der Wiener Univer-sität und spätere Altarist von St. Jakob Johannes Thabrar der Bibliothek geschenkt. Den nicht kompletten Text der Konstitutionen des Vierten Laterankonzils glossierte der Wiener Professor Heinrich von Odendorp (S. XXVIII) . Für mich interessant war die Nähe einiger Kalendarien der Brünner und Pressburger liturgischen Handschriften (v. a. das Missale Nr. 4, S. 13-18) . Petr reiht vielleicht auch deshalb den hl. Stephan von Ungarn sogar unter die „einheimischen" Heiligen (S. 15, 141).

Zusammenfassend kann man feststellen, dass das Buch dank der zweisprachigen Einfüh-rung und der formelhaft (teilweise in der Sprache der Quelle) durchgeführten Beschreibung nicht nur fur Tschechisch sprechende Benutzer brauchbar ist, sondern die Voraussetzungen fur eine breite mitteleuropäische Rezeption bietet. Ein Rezensent sollte auf eventuelle Fehler des Werkes aufmerksam machen, doch ist die Aufgabe in diesem Falle schwierig nicht nur wegen der Erudition und Sorgfalt des Autors, sondern auch wegen der Lektoren (Ivan Hlavácek, Milada Krmícková, Pavel Spunar). Deshalb begnüge ich mich mit der Feststellung, dass eine Konkordanz der behandelten tschechischen und deutschen Ortsnamen in den Beilagen nütz-lich sein könnte. Das Buch ist eine beachtenswerte positivistische Arbeit im besten Sinne des Wortes (der Autor benutzte auch nur gedruckte Werke ohne eine digitale Datenbank) und stellt eine Grundlage für Kunsthistoriker wie auch Historiker der mährischen Schriftkultur des 13. und vor allem des 14. und 15. Jahrhunderts dar.

Bratislava J u r a j Sedivy

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224 Rezensionen

Tradit ionen, Zäsuren , U m b r ü c h e . Inschriften des späten Mittelalters und der frü-hen Neuzeit im historischen Kontext . Beiträge zur 11. Internationalen Fachtagung für Epigraphik v o m 9. bis 12. Ma i 2 0 0 7 in Grei fswald, hg. von Chris t ine MAGiN-Ulr ich ScHiNDEL-Chri s t ine WULF. Reichert, Wiesbaden 2 0 0 8 . 4 3 2 S. , 2 1 0 Abb.

Zwanzig der insgesamt 21 Vorträge, die in Greifswald auf der 11. Internationalen Epi-graphik-Tagung 2007 gehalten wurden, liegen nun gedruckt vor. Tagungsveranstalter war die Göttinger Akademie der Wissenschaften bzw. deren Inschriftenkommission, die über zwei Ar-beitsstellen verfügt, eine in Göttingen und seit 2002 auch eine in Greifswald. Die thematische Blickrichtung der Tagung konzentrierte sich auf „die Frage nach Kontinuität und Wandel im Spiegel inschriftlicher Quellen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, vor allem in der Schwellenzeit um 1500" (S. 7). Die dafür ausgewählten Themen ließ man in Paarvorträgen behandeln, d. h., zum jeweiligen Thema sprachen sowohl eine Epigraphikerin bzw. ein Epigra-phiker als auch eine Vertreterin bzw. ein Vertreter benachbarter historischer und philologischer Disziplinen. Im Folgenden wird der Versuch zu machen sein, diese behandelten Themen we-nigstens flüchtig vorzustellen, allerdings wird es nur eine Auswahl sein können.

Berndt H a m m , Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Kirchengeschichte an der Universität Erlangen, hielt den ersten - auch öffentlichen - Vortrag, und zwar über „Spätmittelalterliche Bildinschriften als Zeugnisse intensivierter Barmherzigkeitsvorstellungen". Das genaue Einge-hen auf inschriftliche Aussagen ermöglichte es dem Vortragenden, eine Gegenthese zur gängi-gen Auffassung von der Dominanz des Schrecklichen in der spätmittelalterlichen Religiosität zu formulieren. Die Epigraphikerin Christine Wulf widmete ihren Vortrag den „Inschriften auf kirchlichen Ausstattungsstücken" unter „frömmigkeitsgeschichtlichem Aspekt" und konnte einen doch deutlichen „Funktionswandel" feststellen. An die Stelle höchst anspruchsvoller exe-getischer Tituli im hohen Mittelalter treten seit dem 13. Jahrhundert infolge aufkommender Laienreligiosität nun Bildbeischriften in neuer, schlichter Form. Der Reformation verdankt dann das Wort - durchwegs in Form von Bibelzitaten - seine Vorrangstellung gegenüber dem Bild. Des Öfteren besteht die Beischrift auch nur aus einem knappen Verweis auf eine Bibel-stelle „ohne jegliche Anzitierung des Texts" (S. 51).

Während der Historiker Oliver Auge in seinem Vortrag die monumentale Selbstdarstel-lung der Herzöge von Mecklenburg und Pommern im 16. Jahrhundert behandelte, griff Re-nate Kohn das einzige den österreichischen Raum betreffende Thema auf: „Der epigraphische Niederschlag genealogischer Konzepte der österreichischen Landesfürsten". Grundlage ihrer Überlegungen sind sieben aus der Zeit vom späten 13. bis zum 16. Jahrhundert stammen-de Denkmäler, nämlich die Babenbergerscheiben in Heiligenkreuz, die Fürstenscheiben des Stephansdoms, der Babenberger-Stammbaum in Klosterneuburg, der ältere und der jüngere Ambraser Habsburger-Stammbaum, weiters auch derjenige auf Schloss Tratzberg und zuletzt die Stammreihe der Grafen von Tirol im Schloss Ambras.

Aus den restlichen acht Paarvorträgen muss eine Auswahl getroffen werden, ohne dass damit eine Wertung verbunden wäre. Andreas Zajic breitet in seinem Vortrag über „Gedruckte Inschriftensammlungen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts" eine Fülle an Wissen aus, wobei wiederholt auch Osterreichbezüge zur Sprache kommen. Unterschieden werden vier Typen der betreffenden Druckwerke; vom ersten bis zum letzten der Typen gibt es so etwas wie einen Fortschritt der historischen Authentizität. Zuerst einmal war es nämlich unerheblich, ob eine Inschrift real existierte oder nur literarisch vorlag; Hauptsache war „die Publikation von litera-risch einigermaßen anspruchsvollen Mustertexten" (S. 180).

Susan C. Karant-Nunn macht in ihrem detailreichen Vortrag über „Kontinuität und Neu-erung bei Tod und Begräbnis in der jungen evangelischen Kirche" auf eine Reihe von Ände-rungen im Zuge der Reformation aufmerksam. Allerdings handelt es sich ζ. B. bei der Entfer-nung der Zeugnisse katholischer Todesikonographie aus den evangelischen Kirchen um einen

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Literaturberichte 225

Prozess, der „fast hundert Jahre" (S. 194) dauerte. Luther steigerte übrigens seine Ablehnung überholter katholischer Praktiken niemals bis zur Radikalität eines Calvin , der sich ohne Grab-mal beisetzen ließ, sodass sein Begräbnisplatz unbekannt ist.

Im Hinbl i ck auf einen neuen Grabmaltyp, welcher „mit der quer über die Figur des Ver-storbenen gelegten Inschriftentafel ein überaus auffälliges Mot iv aufweist, das im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts in der Region zwischen Rhein , Main und Mosel vereinzelt nachgewiesen werden k a n n " (S. 2 6 3 ) , wählte Eberhard J . Nlkitsch für seinen Vortrag den Untertitel : „ Import , Innovation oder Variation?" W i e seine Recherchen ergaben, ist das M o t i v erstmals zu finden auf den beiden Grabplatten für Nikolaus Cusanus, von denen die ältere anlässlich seines Todes 1464 in R o m hergestellt wurde und die jüngere von 1 4 8 8 im Hospital zu Kues eine Adaption der römischen darstellt.

Nach den Paarvorträgen folgen auch drei Einzelstudien, und zwar zu „Inschriften a u f W a f -fen, Rüstungen und Kriegsgerät" (Harald Drös) , zur Inschriftensprache in England von 1 3 0 0 bis 1 7 0 0 ( Je rome Bertram) und zu „Konventionen des antiken Herrscherlobs in frühneuzeitli-chen Inschri f ten" (lias Bartusch).

W e r in der Epigraphik über b loß formale Aspekte hinaus nach inhalt l ichen Erkenntnissen strebt, wird zwar nicht in j edem der Vorträge fundig, aber doch in den meisten. E ine einzige resümierende Erkenntnis sei herausgehoben; sie ist schon im Vorwort (S. 8 f.) nachzulesen und wird durch die Lektüre der Vorträge bestätigt: „Als ein wichtiges Ergebnis der Greifswalder Tagung läßt sich festhalten, daß sich a u f der Basis spezifischen Quel lenmater ia ls auch im Uber -gang v o m späten Mittelalter zur frühen Neuzeit sehr viel mehr fortdauernde Tradit ionen und durchaus weniger Zäsuren und U m b r ü c h e beobachten lassen, als dies gemeinhin a n g e n o m m e n wird."

Abweichend von der Tagungsthematik, aber passend zum Tagungsort bezog sich schließlich ein Viertel der Vorträge a u f die Epigraphik im außerdeutschen Ostseeraum. G e b o t e n wurden Basisinformationen über den Stand der epigraphischen Forschung in D ä n e m a r k , Schweden, Finnland, Lett land und Russland. Es versteht sich, dass in e inem zeitlich knapp bemessenen Vonrag k a u m die ganze Inschriftenpalette eines Landes dargelegt werden kann. S o beschränken sich die Vortragenden z. B . im Falle Finnlands a u f die lateinischen Inschriften und im Falle Schwedens a u f die Runensteine.

N i c h t unerwähnt dar f bleiben, dass immerhin 1 2 0 Bildtafeln als notwendige visuelle Er-gänzung der verbalen Ausführungen den Band beschließen. Auch a u f eine Posterpräsentation während der Tagung parallel zu den Referaten ist hinzuweisen; sie ist nun dauerhaft im Internet unter www.inschr i f ten .net /content /view/103 veröffentlicht.

Wi lher ing Rainer Schraml

H a r a l d MÜLLER, M i t t e l a l t e r . ( S t u d i e n b u c h G e s c h i c h t e . ) A k a d e m i e Ver lag , B e r l i n

2 0 0 8 . 2 4 9 S „ 2 7 A b b .

J ö r g SCHWARZ, D a s e u r o p ä i s c h e M i t t e l a l t e r , B a n d 1 : G r u n d s t r u k t u r e n —Völkerwan-

d e r u n g - F r a n k e n r e i c h . B a n d 2 : H e r r s c h a f t s b i l d u n g e n u n d R e i c h e 9 0 0 - 1 5 0 0 . ( G r u n d -

kurs G e s c h i c h t e . ) K o h l h a m m e r , S t u t t g a r t 2 0 0 6 . 1 3 6 bzw. 2 3 6 S . , 9 bzw. 1 7 K a r t e n u n d

14 bzw. 2 2 A b b .

D i e beiden Neuerscheinungen zur Studienliteratur fur den akademischen Unterr icht sol-len hier in e inem Vergleich besprochen werden. Beide sind formal in e inem handlichen Format erschienen, in Studienreihen und verfasst von Autoren, die ihre Unterrichtspraxis zu e inem Studienbuch verarbeitet haben. Dazu gehört neben einem Verleger auch der M u t , dies zu tun; verfugt doch nahezu jeder habilitierte Kollege über ähnliche Unterrichtsmaterial ien, welche - sofern keine onl ine-Plat t form besteht - eben nur den internen Kreisen der Studierenden

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226 Rezensionen

zugänglich sind und fur die Publikation einer sorgfältigen Überarbeitung der Wissensinforma-tionen und des didaktischen Aufbaus bedürfen, und gerade diese Hürde hält bekanntlich viele Kollegen von der Publikation in Buchform ab. Sicher, lange Literaturlisten und der in einem Semester kaum zu bewältigende Aufwand an Zusatzinformationen auch für Anfänger sind in Zeiten des Bachelors und Masters vorbei. Doch melden sich immer deutlicher die Kritiker an einer Verschmalung des akademischen Unterrichts und einer Wissensvermittlung, die sich am reinen Faktenwissen orientiert. Die Problematik eines guten Studienbuches liegt also auf der Hand. Für das Fach Mittelalterliche Geschichte erhält sie ein eigenes Spezificum, da es sich insgesamt um einen Zeitraum von 1200 Jahren handelt (etwa von 300 bis 1500), an den Stu-dierende herangeführt werden sollten.

Das offensichtlich wohl hauptsächlich als Grundlagenwerk für den an der Universität Mannheim eingerichteten Studiengang „Geschichte: Kultur - Gesellschaft - Wirtschaft" mit dem Abschluss Bachelor of Arts (!) gedachte Buch von Jörg Schwarz soll sowohl Studienanfän-gern mit „rudimentärem Wissen" dienen wie Fortgeschrittenen zur Auffrischung des Wissens vor dem Examen (so der Herausgeber im Vorwort). Man darf also hinter dem Dargestellten ei-nen Wissenskanon vermuten, der erlernt und abgefragt wird. Freilich scheint der Stoff sehr ver-einfacht worden zu sein, nicht nur weil die Sicht des Mittelalters auch fur die frühen Epochen grundsätzlich aus der Perspektive des Spätmittelalters erfolgt, sondern auch durch die Gliede-rung der Kapitel. Beginnend mit einer Einleitung, welche die bekannte Raum-Zeit-Perspektive klar erklärt, werden zunächst in einem überblickend angelegten 1. Teil „Grundstrukturen des Lebens im Mittelalter" mit bekannten Themen wie „Die mittelalterliche Stadt" behandelt, um abrupt in die Völkerwanderungszeit und abschließend ins Frankenreich zu wechseln. Letzteres hat der Herausgeber im Vorwort als die „Keimzelle der Entwicklung unseres Kontinents bis in die Frühmoderne hinein" bezeichnet, was sicher nicht meint, dass man dafür nur einen Text von weniger als 30 Seiten schreiben sollte. Hinzu kommt noch, dass das eigentlich klare und aus einem praxisorientierten Unterricht hervorgegangene Konzept des Verfassers, nämlich auf die linke Seite den Text zu stellen und diesen rechtsseitig von Wortdefinitionen, Bildern, Kar-ten oder Quellentexten flankieren zu lassen, nur den Raum für eine 15-seitige Darstellung der im Vorwon als grundlegend bezeichneten Epoche gibt.

Die Auswahl der Begriffserklärungen basiert offenbar auf einem fixen Wissenskanon, wo-bei die angebotenen Definitionen keine Quellen angeben und wohl vom Verfasser formuliert wurden. Man vermisst Hinweise auf die einschlägigen Lexika - etwa das Lexikon des Mittel-alters, das H R G , das Lexikon für Theologie und Kirche und Vieles mehr, was eigentlich zum Basiswissen der Recherche im ersten Studienabschnitt gehört. Die Auswahl der neun Karten aus dem Buch von Georges Duby, St. Bernard, L'Art Cistercien (Paris 1989), welche nicht einmal nachbearbeitet wurden, die Bildauswahl und die sehr geringen Literaturangaben zu den Kapiteln insgesamt auf nicht einmal drei Seiten hat weniger etwas mit der Auswahl von Typi-schem fur das Mittelalter zu tun, sondern lässt eher die Absicht vermuten, einige Phänomene des Mittelalters für ein Basiswissen zusammen zu stellen. Hierbei wurden die Unterschiede der Epochenspezifika vom Verfasser verwischt.

Im zweiten Band geht es um „Herrschaftsbildungen und Reiche 9 0 0 - 1 5 0 0 " . Hier hat sich der Verfasser im ersten Teil am Konzept der etwa gleichzeitig erschienenen 2. Auflage von Band 14 der „Enzyklopädie deutscher Geschichte" orientiert, verfasst vom Senior der Mannheimer Mediävistik Karl-Friedrich Krüger (König, Reich und Reichsreform im Spätmittelalter [Mün-chen 2005], 160 S.). Im zweiten Teil nimmt Jörg Schwarz „Die Entwicklung der Anderen" in den Blick, um entsprechend dem dortigen Unterrichtskonzept England und Frankreich im Spätmittelalter auf etwa 50 Seiten zu behandeln, Ost- und Südeuropa in kurzen Kapi-teln - etwa Ungarn S. 168-170 oben mit einer Seite Basistext, einer Karte und einer sicher brauchbaren Erklärung zum Begriff „Osmanisches Reich". In diesem zweiten Band wird ein schnell erlernbares Basiswissen gut geschrieben vermittelt. Wünschenswert wäre wieder ein

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Literaturberichte 227

viel ausfuhrlicheres Literaturverzeichnis. Dass die sonst üblichen Hinweise auf mediävistische Hilfsmittel unterblieben sind, dürfte mit dem Konzept des Studienganges zusammenhängen, bei dem eben ein kritisches Hinterfragen von präsentiertem Wissen unterbleiben soll. Damit geht wohl aber auch - und dies sei hier nur am Rande bemerkt - die Vermittlung historischen Denkens im akademischen Unterricht verloren.

Das Studienbuch „Mittelalter" von Harald Müller besticht durch ein komfortables Layout und ein handliches Format mit abgerundeten Kanten der Außenblätter, eine inhaltliche Glie-derung nach Sachthemen und kleinen Aufgabestellungen, welche den Leser zur Mitarbeit und Reflexion auffordern. Ebenfalls aus der Perspektive des Hoch- und Spätmittelalters geschrie-ben - nicht nur durch die Bildauswahl - bietet das Buch eine anspruchsvolle Auswahl von Sachthemen in 14 Kapiteln und einen „Serviceteil". Letzterer bringt ein Art Literaturliste im Stil einer Handreichung am Beginn eines Proseminars mit guter Auswahl gemäß der Tradition des mediävistischen Unterrichts. Die Sachthemen sind meist interdisziplinär gearbeitet nach den modernen Forschungszweigen etwa der Mentalitäts-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, der Religiosität und Schriftkultur, Kommunikat ion, Stadtkultur, Kultur der Eliten, Mobili-tät, Erweiterung des Wissens durch Gründung der Universitäten, Individualität, und einer geschickten Raf fung der Verfassungsgeschichte zum Thema „Vielfalt unter der Krone". Dabei scheut sich der Verfasser nicht, etwa beim Thema „Recht und Frieden" auf wenigen Seiten (S. 44—50) einen Bogen von den frühmittelalterlichen Kompositionssystemen der sogenannten Leges barbarorum bis zum Sachsenspiegel, dem Ende der Gottesurteile und den Landfrieden zu spannen und seine Ausführungen mit vier „Fragen und Anregungen" zur Reflexion über das Gelesene zu beenden; abschließend folgen Lektüreempfehlungen, unterteilt in „Que l len" und „Forschungen" mit einer Erläuterung des Inhalts in einem Satz. Im Anhang des Buches findet sich die zitierte Literatur, ein Verzeichnis der Abbildungen, ein Personen- und Ortsindex und ein kleines Glossar. Angenehm ist der breite Rand neben dem Text, wo Begriffe ein optisch schönes Register zum Text bilden, etwa zum Unterkapitel 12.3. „Erfindungen oder Technik-Transfer?"^ . 1 8 5 - 1 8 8 ) : Es geht um den Wechsel des Beschreibstoffes v o m Pergament zum Papier, den Buchdruck und das Schießpulver. Jedes Kapitel beginnt mit einer Illustration; fur Kapitel 12 „Ausweitung des Wissens" hat der Verfasser die Darstellung eines Büchsenmeisters mit einem Handfeuerrohr aus Konrad Kyeser, Bellifortis (Büchsenmeisterbuch) von 1405 ge-wählt. Das Studienbuch vermittelt zwar kein chronologisches Faktenwissen, es dürfte aber für den Bachelor o f Arts im Bereich der Kulturgeschichte gern verwendet werden.

Wien Adelheid Krah

R ä u m e u n d Wege . J ü d i s c h e G e s c h i c h t e im Alten Reich 1 3 0 0 - 1 8 0 0 , hg . von R o l f KIESSLING-Peter RAUSCHER-Stefan RoHRBACHER-Barbara STAUDINGER. ( C o l l o q u i a A u g u s t a n a 2 5 . ) Akademie-Ver l ag , Berl in 2 0 0 7 . 3 7 8 S.

Dieser Band versammelt die Forschungsergebnisse von 15 Autorinnen und Autoren zur Geschichte von Juden und Jüdinnen im Alten Reich, die ursprünglich auf einer Tagung im Oktober 2004 a m Institut für Europäische Kulturgeschichte der Universität Augsburg präsen-tiert wurden. Bevor auf die einzelnen Beiträge eingegangen werden kann, erscheint es doch notwendig, den wenig bezeichnenden Titel des Bandes etwas zu präzisieren: Der Titel der 2 0 0 4 abgehaltenen Tagung lautete „Juden zwischen Kaiser, Landesfurst und lokaler Herrschaft". „Räume und Wege" beziehen sich auf die verschiedenen semantischen Ebenen dieser Worte: auf (Herrschafts-)Räume verschiedener hierarchischer Ebenen, auf jüdische Siedlungsräume in Aschkenas, sowie auf organisatorische und kommunikative Strukturen innerhalb und zwischen diesen Einheiten. Der Untersuchungsraum sind die habsburgischen und südwestdeutschen Territorien des Alten Reiches und Gebiete in der heutigen Nordschweiz. Die „Wege" wiederum

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stehen fur die erzwungene oder freiwillige jüdische Mobilität, die „Bewegung in und zwischen Räumen" (S. 19), aber auch für das Überschreiten von politischen oder religiös-kulturellen Grenzen. Dass sich vier Beiträge des Bandes kritisch mit dem überlieferten Quellenmaterial zur jüdischen Geschichte - einerseits mit den Akten der obrigkeitlichen Verwaltung, andererseits aber auch mit dem wesentlich dünner gesäten Material jüdischer Provenienz - auseinanderset-zen, ist dem Titel des Bandes leider nicht zu entnehmen.

Im Gegensatz zu älteren Forschungen zur jüdischen Geschichte steht nicht die Verfol-gung der Minderheit und die damit verbundene Opferthese im Fokus, sondern vielmehr das lebendige Miteinander zwischen Juden und Christen sowohl auf politischer als auch auf All-tagsebene. So rücken Juden als politische Akteure in den Vordergrund, die ihre Forderungen und Wünsche bei der Obrigkeit selbstbewusst vertraten und dadurch Erfolge erzielen konnten. Zunehmend werden auch jüdische Frauen, die als Geschäftsfrauen selbständig oder in Vertre-tung ihres Mannes mit nicht unerheblichen Geldsummen spekulierten, von der Forschung wahrgenommen.

Den Auftakt macht Anna C. Fridrich mit ihrem Beitrag zur Entstehung jüdischer Land-gemeinden im Fürstbistum Basel und im eidgenössischen Stand Solothurn. In dieser Unter-suchung wird die bedeutende Rolle der lokalen Gemeinden bzw. Stadtregierung, die sich in Suppliken zu dieser Thematik an die Obrigkeit wandten, deutlich.

Mit den jüdischen Landgemeinden in Niederösterreich und ihrem Verhältnis zu den je-weiligen Grundherrschaften, die ebenso wie die Schweizer Gemeinden die jüdische Ansied-lungspolitik des Landesfursten maßgeblich beeinflussten, setzt sich Peter Rauscher in einem umfangreichen Artikel auseinander. Eine inhaltliche Straffung insbesondere der topographi-schen und verfassungsgeschichtlichen Grundlagen Niederösterreichs - das Unterkapitel nimmt immerhin acht Seiten ein - hätte wohl die eigentliche Fragestellung des Beitrags noch stärker in den Vordergrund gerückt.

Johannes Mordstein beschreibt am Beispiel der Grafschaft Oettingen, welche Mittel und Wege die dort ansässigen Juden zwischen 1637 und 1806 nutzten, um ihren Rechtsstatus ge-genüber der Herrschaft abzusichern und zu erweitern. Besonders effektiv erwiesen sich Sup-pliken, die innerhalb des Kommunikationsprozesses zwischen jüdischen Untertanen und der Obrigkeit eine zentrale Funktion einnahmen. Hervorgehoben wird das aktive Vorgehen der Juden, die bei Bedarf selbst einen Kommunikationsprozess initiierten.

Das alltägliche Zusammenleben der christlichen und jüdischen Bevölkerung von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts thematisiert Nathanja Hüttenmeister in ihrem Beitrag am Beispiel der Pappenheimischen Herrschaften. Dabei beschreibt sie die Schere, die sich zwischen weitgehend friktionsfreien individuellen interreligiösen Beziehungen einerseits und strukturell be-dingten Konflikten (Steuern, wirtschaftliche Fragen, Einquartierungen) andererseits öffnete.

Die antijüdische Politik Herzog Christophs von Württemberg, die auf die Vertreibung der Juden aus dem gesamten Reich, oder zumindest aus dem schwäbischen Kreis, abzielte, steht im Mittelpunkt des Beitrags von Stefan Lang. Er beschreibt, wie die persönlichen Motive des Herrschers über die Landesgrenzen hinaus auf die Judenpolitik der benachbarten Territorien Einfluss hatten, sogar Judenvertreibungen initiieren konnten.

Den Einfluss der Herrschaft auf die Bildung innerjüdischer Institutionen zeigt Barbara Staudinger in ihrem Beitrag über die Landjudenschaft in Niederösterreich auf. Zum Zweck der effektiven Steuereinhebung, die ursprünglich von der Wiener Gemeinde durchgeführt worden war, musste auf Druck der Obrigkeit hin ein Verband der Landjudenschaft gegründet werden, der diese Aufgabe übernahm und für deren Durchführung verantwortlich war.

Rotraud Ries analysiert in ihrem Beitrag die Tätigkeit der Schtadlanim, der Mediatoren in Konfliktfällen zwischen Juden und Christen. Dabei weist sie nach, dass die Möglichkeiten der Juden, ihre Interessen durchzusetzen, im Laufe der Frühen Neuzeit zunahmen, wenngleich die Beziehung zwischen Obrigkeit und Juden grundsätzlich asymmetrisch blieb.

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Die jüdische Mobilität, bedingt durch ausgedehnte Handelsreisen, aber auch durch Ver-treibungen, steht im Mittelpunkt des Beitrags von Wolfgang Treue. Daran anschließend the-matisiert J . Friedrich Battenberg spezifisch jüdische Mobilitäts- und Migrationserfahrungen in der Frühen Neuzeit.

Reinhard Buchberger wiederum beschreibt die Tätigkeiten von Juden im Osmanisch-Habsburgischen Grenzgebiet. Durch ihre Stellung abseits der Kontrahenten konnten sie zwar die durch die Konfliktsituation gegebenen .Möglichkeiten als Spione, Dolmetscher oder Kurie-re nutzen, waren jedoch Gefahren wie Entführung oder anderen Übergriffen besonders aus-gesetzt. Eine bedeutende Rolle spielten hier die häufig auf beiden Seiten des Grenzraumes verbreiteten Familiennetzwerke.

Mit spezifisch jüdischen Quellen sowie der Problematik der jeweiligen Sichtsweise (in-ner- oder außerjüdische Bezugspunkte) setzen sich Birgit E. Klein, Eveline Brugger und Birgit Wiedl sowie Thomas Peter in ihren Beiträgen auseinander.

Schließlich thematisiert Martha Keil im letzten Beitrag des Bandes die ökonomische Bedeu-tung jüdischer Frauen im 14. und 15. Jahrhundert. In ihrer Tätigkeit als Darlehensgeberinnen waren sie im Spätmittelalter so erfolgreich, dass einzelne von ihnen es bis zum Amt der Steuer-einnehmerin oder Vorsteherin (Parnassot) bringen konnten. Dieser Bedeutungsgewinn führte - so Keil - dazu, dass Jüdinnen auch in der Rechtssprache verstärkt Berücksichtigung fanden.

Der Band bietet durch die Heterogenität der verschiedenen Beiträge ein breites Panorama jüdischen Lebens mit seinen Beziehungen zur Obrigkeit und dem christlichen Umfeld, sowie der diese Beziehungen überliefernden Quellen im Alten Reich. In formaler Hinsicht wäre es jedoch begrüßenswert gewesen, die zitierten Quellenstellen einheitlich zu transkribieren bzw. einheitliche Editionsrichtlinien anzulegen. Ein Orts- und Personenindex erleichtern die Nut-zung des Bandes, der mit einem Verzeichnis der Autorinnen und Autoren schließt.

Innsbruck-Wien Karin Schneider

Die Szekler in Siebenbürgen. Von der privilegierten Sondergemeinschaft zur ethni-schen Gruppe . Unter Mitarbeit von Paul NIEDERMAIER und Gabriella OLASZ hg. von Harald ROTH. (Siebenbürgisches Archiv 40 . ) Böhlau, K ö l n - W e i m a r - W i e n 2 0 0 9 . VIII , 2 8 0 S „ 16 Abb.

In diesem Gemeinschaftswerk ungarischer und rumänischer Historiker wird eine breite Palette zur Szeklerthematik behandelt. Es werden darin zwar keine wesentlichen wichtigen neuen Erkenntnisse geboten, doch sind einige Details von Interesse. Nach einer kurzen Vor-bemerkung referiert Sándor Pál-Antal über „Die Szekler unter den Völkern Siebenbürgens" (S. 1-12). Dabei befasst er sich mit jenem Teil der Szekler, die in den östlichen Landesteil zogen - ein westlicher Zweig leistete in der Wieselburger und Preßburger Region Grenzdienste -und sich im südöstlichen Teil Siebenbürgens auf der westlichen Seite der Ostkarpaten in der Nähe des späteren sächsischen Königsbodens niederließen. Die Herkunft dieses Volkes ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Es gibt gemäß dem Autor drei Hypothesen: 1. Die Szekler sind die Nachfahren der Hunnen. 2. Die Szekler sind ein den Ungarn verwandtes Volk, das sich diesem angeschlossen hatte, und 3. Die Szekler sind von ihrem Ursprung her Ungarn. Nach Auffassung der meisten ungarischen Historiker waren sie ein angegliedertes Volk, das lange Zeit mit den Ungarn zusammengelebt hatte, ungarischsprachig wurde und sich schon vor der ungarischen Landnahme im Karpatenbecken niedergelassen hatte. Die Bedeutung des Namens ist bis heute umstritten, einige Lehrmeinungen sehen darin einen Berufsnamen: Grenzwächter, Kämpfer, Krieger, Holzhauer, Stuhlsbewohner; es wird aber auch eine türkische Herkunft mit der Bedeutung „Volk des Prinzen" angenommen. Die gegenwärtige Forschung vertritt den Standpunkt, dass die Szekler von der Ungarischen Krone als Grenzwächter im Bogen der Süd-und Ostkarpaten angesiedelt wurden. Das Szeklerland (Stühle) war ein rechtlich einheitliches

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Territorium innerhalb des Ungarischen Königreiches, an der Spitze stand der Szeklergraf. Der Autor befasst sich sehr eingehend mit den Folgen der verschiedenen politischen und sozialen Umwälzungen im Hinblick auf die rechtliche Lage der Szekler bis zum Jahre 1848/49, als die siebenbürgischen Nationen verschwanden und damit auch die vorhandene Ständegesellschaft. Es eröffnete sich die Möglichkeit der Entwicklung zu einer Zivilgesellschaft.

Elek Benkö befasst sich mit den mittelalterlichen archäologischen Funden im Szeklerland (S. 13-43) . Sie dokumentieren die Präsenz von slawischer und frühungarischer Besiedlung, wobei die Funde daraufhinweisen, dass die Szekler zur ungarischen Kultur gehörten, die Tren-nung müsse gemäß dem Autor einen historischen und keinen ethnischen Grund haben. Der Beitrag von Adrian Ionità „Archäologische Forschungen und jüngere historische (Neu-)Inter-pretationen zu den Szeldern im 11 . -13 . Jahrhundert" (S. 44—60) schließt aus der Untersuchung von Artefakten außerhalb des Szeklergebietes auf die Existenz von Gemeinden mit einer kom-plexen Wirtschaft, deren wichtigste Aufgabe die Verteidigung der Grenzen des Königtums war. In den folgenden Perioden entwickelte sich aus diesen Gemeinschaften die Szeklergemeinde. Sehr wichtig ist der Aufsatz „Quelleneditionen zur Geschichte der Szekler. Die Neue Folge des ,Szekler Urkundenbuchs' ( 1569 -1652 )" von Lajos Demény (S. 61 -71 ) . Es geht darin vor allem um das wechselvolle Schicksal dieses Quellenwerkes. Von diesem sind 1872-1898 sieben Bän-de herausgegeben von Károly Szabo und Lajos Szádeczky (Kolozsvär, Cluj) erschienen, 1934 wurde ein achter Band, der modernen Ansprüchen entsprach und vom ungarischen Historiker Samu Barabás bearbeitet wurde, veröffentlicht. Er gehörte zu den besten ungarischen Fachleu-ten aus diesem Gebiet, wobei dazu auch das Institut fur Osterreichische Geschichtsforschung, an dem er seine Ausbildung erhielt, beigetragen haben mag (14. Kurs, 1881-1883) . Das in den ersten acht Bänden erschienene Material umfasst den Zeitraum von 1211-1776 . In den ersten sieben Bänden wurde die Chronologie nicht immer beachtet, neben den Urkunden finden sich darin auch andere Quellen. Von der Neuen Folge sind bis 2006, herausgegeben von Lajos De-mény und József Pataki (Bucurejti/Bukarest), acht Bände erschienen, von denen sich die ersten drei auf das letzte Viertel des 16. Jahrhunderts beziehen, einem sehr widersprüchlichem Zeit-abschnitt in der Geschichte der Szekler.

Kinga S. Tüdös erläutert „Konskriptionen und Urbarien im Fürstentum Siebenbürgen un-ter besonderer Berücksichtigung des Szeklerlandes" (S. 7 2 - 8 4 ) . So lieferten die Konskriptionen durch die Beschreibung der Güter des Landadels (Wohngebäude, Wirtschaftsgebäude, Boden-nutzung etc.) wichtige Angaben zur Bau- und Kunst- sowie Kulturgeschichte, die Urbare mit Daten über die Größe der Güter, Namen der dort arbeitenden Hörigen und Knechte, Größe der Haushalte, Viehbestand, Sorte und Quantität der Naturalien wertvolle Hinweise auf die demographischen Verhältnisse, Verpflichtungen und Dienstleistungen der Hörigen. In dem kurzen Beitrag „Urkunden zur Szekler Geschichte im Archiv der Honterusgemeinde Kron-stadt" (S. 85 -89 ) beschreibt Gernot Nussbächer dieses Archiv, das wichtige Dokumente zur Geschichte der Szekler in seinem Bestand enthält, wobei der Autor besonders auf die „Hand-schriftensammlung Josef Franz Trausch" hinweist, die in einer Vielzahl von Bänden Urkunden, Urkundenabschriften etc. enthält. Alle bisher genannten Titel stehen unter dem Generalthema „Quellen zur Szekler Geschichte". Das zweite Hauptthema für die folgenden Beiträge lautet „Aus der Forschung zur Szekler Geschichte".

In seiner Studie „Uber die Herkunft der Szekler" (S. 9 0 - 1 0 7 ) spricht Zoltán Kordé im Gegensatz zu Pál-Antal (1) von vier Herkunftshypothesen. Die Vierte fuhrt den Ursprung der Szekler auf deren Rolle als militärisches Hilfsvolk zurück (S. 91). Ebenfalls konträr zu Pál-Antal meint er, dass es kaum Anhänger der klassischen Hunnentheorie gäbe. Kordé sieht weiters den Volksnamen als selbständiges Etnonym und ist der Ansicht, dass sich die Szekler im Rahmen des Stammesverbandes der Kabaren an das Ungartum angeschlossen haben. Dabei hätten sie die Rolle des führenden Stammes gespielt. Konrad Gündisch weist bei „Gruppenprivilegien im mittelalterlichen Königreich Ungarn" (S. 108 -125 ) auf die Praxis des Ungarischen Königreiches

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hin, durch Privilegierung von Gruppen (Handwerker) diese nach Ungarn zu ziehen und sie so an das Königtum zu binden (Bosnische Bergleute, Wallonen, Rumänen, Petschenegen, Kuma-nen, Szekler, Juden etc.). In einem zweiten Beitrag behandelt Pál-Antal „Die Herausbildung der Szeklerstiihle" (S. 126-148) vom Ende des 14. Jahrhunderts bis zum Jahre 1848/49. Bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts wurden die Stühle durch vom Fürsten ernannte Kapitäne und Re-gierungsbeamte verwaltet, unter Kaiser Joseph II. erfolgte die Auflösung des alten institutionell-territorialen Systems. Danach ging das öffentliche Leben in den Stühlen bis 1848 ohne wesent-liche Veränderungen weiter. Gabriella Olasz liefert Material über „Die Typologie der Szekler Siedlungen" (S. 149-171) , die sich nach den Vergleichen historischer demographischer Daten und früherer planimetrischer Darstellungen im Großen und Ganzen in das allgemeine Bild der siebenbürgischen Siedlungen einordnen lassen. Judit Balogh skizziert in „Der Szekleradel im Fürstentum Siebenbürgen" (S. 172-194) die Veränderungen des Adels in der ersten Dekade des 17. Jahrhunderts, als dieser den Charakter einer klar umrissenen Gruppe erhielt, nicht mehr als ebenbürtiges Mitglied der Szeklergemeinschaft galt und sich von der Gemeinschaft löste. Judit Pài beleuchtet in „Zur Frage der städtischen Kommunalverwaltung und der mehrfachen Gerichtsbarkeit im Szeklerland" (S. 195-226) jenen komplexen Prozess, in dessen Rahmen die Szekler im 18. und 19. Jahrhunderts versuchten, ihre Autonomie zu bewahren, doch musste nach dem Ausgleich von 1867 durch die Vereinheitlichung und Modernisierung der Verwaltung die Auflösung der lokalen Autonomien hingenommen werden. „Der Verlust der Freiheitsrechte der Szekler Nation - die Voraussetzungen fur die bürgerliche Umgestaltung im Jahr 1848" von Akos Egyed (S. 2 2 7 - 2 3 5 ) bringt die Ergebnisse der Nationalversammlung vom 16. und 18. Juli 1848, der gemäß alle Bewohner des Szeklerlandes gleiche Rechte und Pflichten hatten, die Autorität der ungarischen revolutionären Regierung akzeptierten und damit in die moderne un-garische Nation übergeführt wurden. In einem zweiten Beitrag schildert Judit Pài die „Ambiva-lente Modernisierung im Szeklerland im 19. Jahrhunden" (S. 2 3 6 - 2 5 7 ) am Beispiel der Städte, in denen durch staatliche Eingriffe in die Verwaltung und Wirtschaft eine Eingliederung in die moderne Warenproduktion erfolgte. Die Folge waren eine Krise im traditionellen Handwerk, die Verarmung von Gesellschaftsschichten und eine Zunahme der Auswanderung. Der Sammel-band wird beendet mit „Die Szekler zwischen privilegiertem Stand und moderner ungarischer Nat ion" von Gusztáv Mihály Hermann (S. 258—271). Hier geht es im wesendichen um eine Zusammenfassung der Identität der Szekler von der Privilegierung im Mittelalter, der Redukti-on der Rechte im Fürstentum Siebenbürgen, dem weiteren Verfall in der habsburgischen Zeit bis hin zur Bildung des Bewusstseins der Zugehörigkeit zur ungarischen Nation.

Jedem Beitrag sind Zusammenfassungen in englischer, rumänischer und ungarischer Spra-che angeschlossen, ein Mitarbeiterverzeichnis und musterhaftes Ortsregister finden sich am Ende des Bandes. Wer sich über den neuesten Forschungsstand über die Szekler, eine der drei Nationen Siebenbürgens, umfassend informieren will, dem sei der von absoluten Fachleuten gestaltete Band, der sowohl zum Bereich der ungarischen als auch habsburgischen Geschichte gehört, bestens empfohlen.

Wien Manfred Stoy

Michae l EHRHARDT, „ D e m großen Wasser allezeit entgegen" . Z u r G e s c h i c h t e der D e i c h e in Wurs ten . (Schr i f tenre ihe des Landschaf t sverbandes der ehemal igen H e r z o g -tümer B r e m e n u n d Verden 2 9 / Gesch ichte der De iche an E lbe u n d Weser IV.) Verlag des L a n d s c h a f t s v e r b a n d e s der ehemal igen Herzog tümer B r e m e n u n d Verden e. V., S t a d e 2 0 0 7 . X V I , 6 9 3 S . , zahlr. A b b . u. Kar ten .

Die vorliegende Studie widmet sich der Geschichte des Deichwesens im Land Wursten, ei-nem Streifen Marschland an der niedersächsischen Nordseeküste zwischen der Wesermündung bei Bremerhaven und Cuxhaven. Die menschliche Besiedlung der Nordseemarschen ist durch

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jahrhundertelange, ebenso aufwändige wie tendenziell von Rückschlägen bedrohte Bemühun-gen um die Gewinnung und den Erhalt von Festland gekennzeichnet. Deiche, die zunächst ringförmig um einzelne Gehöfte oder Dörfer errichtet und später, im Land Wursten wohl seit dem 13. Jahrhundert, als zusammenhängende Seedeiche angelegt wurden, spielen eine zentrale Rolle in diesem Prozess. Der Deich bildet nicht nur die „augenscheinliche Grenze zwischen Land und Meer" (S. 4). Bau, Unterhalt und Reparatur im Katastrophenfall mobilisieren in erheblichem Umfang Arbeitskraft und materielle Ressourcen. Die Verteilung von Nutzen und Lasten des Deichwesens und der Schutz des Deiches sind erstrangige Felder gesellschaftlichen Regulierungsbedarfs. Wenig verwunderlich, ist die historische Entwicklung der Deichverfas-sung eng mit der lokalen Herrschafts- und Agrargeschichte verwoben.

Michael Ehrhardt schlägt in seiner Untersuchung zwar einen chronologisch weiten Bogen von den ersten Siedlern im Marschland in vor- und frühgeschichtlicher Zeit bis in die Gegen-wart. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt aber auf der Frühen Neuzeit. Dies rechtfertigt der Autor zum einen mit dem Hinweis darauf, dass die Frühe Neuzeit eine Periode entscheidender Weichenstellungen im regionalen Deichbau gewesen sei, zum anderen verweist er auf die kom-fortable Quellenlage zu dieser Zeit in den regionalen Archiven. Thematisch zeichnet Ehrhardt ein äußerst detailreiches Bild, das die technische Entwicklung des Deichbaus ebenso in den Blick nimmt wie die verschiedenen Phasen der Deichverfassung und die jeweiligen Bezüge zu politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen. Er nimmt dabei eine ex-plizit regionalgeschichtliche Perspektive ein. Diese bringt es in ihrer Zuspitzung mit sich, dass die Fülle des quellennah referierten oder wörtlich zitierten Materials das Werk zwar zu einem wertvollen regionalgeschichtlichen Kompendium macht, gleichzeitig aber dem überregionalen Leser nur bedingt einen strukturierten und synthetisierenden Zugang eröffnet.

Die Wurster Deich Verfassung wurzelt in der Selbstverwaltung der bis ins 16. Jahrhundert autonomen Wurster Bauernschaft. Seit der Unterwerfung unter die bischöflich Bremische Lan-desherrschaft im Stader Frieden von 1525 stand die Entwicklung der Deiche im Land Wursten im Zeichen eines Nebeneinander von Elementen und Institutionen der lokalen Selbstverwal-tung auf der einen und der Landesherrschaft auf der anderen Seite. Ehrhardts umfangreiche prosopografische Studien bieten hierfür zahlreiche Belege. Die schwedische Landesherrschaft im Herzogtum Bremen während der zweiten Hälfte des 17. und des frühen 18. Jahrhunderts ging mit einer Verschriftlichung und Kodifizierung der Deichordnungen einher. Die Bestim-mungen der Schwedisch-Bremischen Deichordnung von 1695 und des Wismarer Vergleiches von 1697 blieben bis weit in das 20. Jahrhundert hinein Grundlagen des Deichrechts. In der Organisation des Deichunterhalts führte der Weg vom Prinzip der Pfanddeichung, einer indi-viduellen Zuständigkeit von Deichanliegern („Interessenten") für bestimmte Deichabschnitte hin zu einer kommunalisierten und zunehmend monetarisierten Lastenverteilung in der sog. Deichkornmunion. Während das Pfanddeichwesen mit einem sehr heterogenen baulichen Zustand verschiedener Deichabschnitte und mit der Überlastung einzelner Interessenten bei abschnittsweiser Zerstörung verbunden war, hatte es die Deichgerichtsbarkeit in der Kommu-nion schwerer, individuelle Verantwortliche für Deichschäden festzumachen. Ohnehin endete die Bereitschaft, den Deich im Solidarprinzip zu bewirtschaften, oft an den jeweiligen eigenen Kirchspielgrenzen. Auch die Eindeichung des Wurster Neufeldes in der ersten Hälfte 17. Jahr-hunderts, eines der größten Deichneubauprojekte des Erzstifts und Herzogtums Bremen in der Frühen Neuzeit, litt unter dieser Hypothek. Im Zusammenhang dieses Projekts relativiert Ehrhardt auch die mythische Überhöhung der bäuerlichen Eigenleistung seitens der lokalen Geschichtsschreibung und betont vielmehr die Rolle unternehmerischen Handelns ostfriesi-scher Deichbauexperten.

Weniger Distanz zu lokalgeschichtlichen Mythen wahrt Ehrhardt im Fall des einflussrei-chen Oberdeichgräfen Eibe Siade Johans (1659—1720). Dessen Forderung aus dem Jahre 1694 wurde nicht nur titelgebend fur Ehrhardts Untersuchung. Johans' umfangreiche Würdigung

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Liceraturberichte 233

im Buch trägt mitunter hagiografische Züge. So etwa in Auswertung der Einträge in Johans' „Teichdiarium" zu seinem Handeln während der verheerenden Weihnachtsflut von 1717: .Auch bei dieser Gelegenheit erwies sich Johans als wahrer Christ und Menschenfreund, wenn er den Notleidenden in uneigennütziger Weise nicht nur sein Korn schenkte, sondern ihnen auch noch Mut zusprach." (S. 346). Gemessen an der Regelmäßigkeit verheerender Sturmflu-ten, die Ehrhardt auch umfangreich - teils unter Zusammenstellung namentlicher Opferlisten - würdigt, fällt seine Reflexion zur gesellschaftlichen Wahrnehmung solcher Extremereignisse blass aus. Die mittlerweile gut ausgebaute Forschung zur historischen Katastrophenwahrneh-mung wird kaum rezipiert, selbst M. Jakubowski-Tiessens Studie zur Weihnachtsflut von 1717 nur punktuell einbezogen. Hier liegt der Verdacht nahe, dass sich Ehrhardt lokale Wahrneh-mungen und Mentalitäten viel zu stark zu Eigen macht, als dass er ebendiese als lohnenden Ge-genstand seiner Analyse erkennen könnte. Die kriegerische Semantik im Schreiben des Autors über das Leben an Deich und Meer verstärkt diesen Eindruck. Vom Deich ist als „wirksamste defensive und offensive Waffe des Menschen gegen Stürme, Fluten und Wellen des Meeres" (Kappentext) und „Bollwerk" (S. 4) die Rede, das gesellschaftliche Leben wird als anhaltender „Kampf gegen die Elemente stilisiert (S. 576). Ein letztes Fragezeichen sei bezüglich Ehrhardts stark unterschiedlicher Würdigung verschiedener Epochen angebracht. Zwar kann Ehrhardt seine Konzentration auf die Frühe Neuzeit plausibel begründen. Nur fragt sich, warum das 20. Jahrhundert, in dem die Effizienz menschlicher Gesellschaften bei der Umgestaltung der natürlichen Umwelt eine völlig neue Dimension erreicht hat, nur kursorisch gestreift wird. Man erfährt vergleichsweise wenig zur komplexen Realität des Küstenlebens zwischen dem Bau großtechnischer Infrastrukturen (Containerterminal Bremerhaven), dem zunehmenden Tourismus und wachsenden Ansprüchen des institutionellen Naturschutzes. Der Nationalpark Wattenmeer wird auf den knapp 700 Seiten einmal erwähnt.

Damit bleibt ein ambivalentes Bild: Ehrhardts Studie hat unleugbare Verdienste umfang-reicher archivalischer Grundlagenforschung. Sie leistet als grafisch und kartografisch aufwändig gestaltete Monografie mit streckenweise enzyklopädischem Charakter einen wertvollen Beitrag zur norddeutschen Regionalgeschichte. Ein Mehr an Analyse und Synthese sowie die stärkere Einbeziehung kultur- und umweltgeschichtlicher Diskussion wäre aber zu wünschen gewesen.

Darmstadt Martin Knoll

Tankred HOWE, Vandalen, Barbaren und Arianer bei Victor von Vita. (Studien zur Alten Geschichte 7.) Verlag Antike, Frankfurt a m Main 2007. 411 S.

Eine der Schlüsselquellen zur Geschichte der Vandalen und ihrer Herrschaft in Nordafrika ist die am Ende des fünften Jahrhunderts verfasste Historia persecutionis Africanae provinciae des Victor von Vita. Vor allen anderen Zeugnissen ist dies der ausfuhrlichste Bericht, über den die historische Forschung verfugt. Dementsprechend ist das Interesse an diesem Text von jeher ungebrochen, wie auch die englische Ubersetzung (J. Moorhead, Victor of Vita: History of the Vandal Persecution [Liverpool 1992]) und eine zweisprachige Edition (S. Lancel, Victor de Vita. Histoire de la Persécution Vandale en Afrique suivie de la Passion des Sept Martyrs, Registre des Provinces et des Cités d'Afrique. Textes établis, traduits et commentés [Collection Budé, Paris 2002]) aus jüngerer Zeit dokumentieren. In Victors Schrift werden vornehmlich die Gräueltaten der arianischen Vandalen während ihrer Herrschaft in Nordafrika beschrieben. Als katholischer Bischof war Victor Zeitzeuge der religiös und politisch motivierten Verfolgun-gen unter König Geiserich (429—477) und vor allem in der Regierungszeit seines Sohnes und Nachfolgers Hunerichs (477—484). Auch weil in die Historia drei seiner Edikte, die frühesten als echt klassifizierten Königsurkunden aus einem der „barbarischen" Nachfolgereiche, inseriert sind, hat die Schrift eine große Bedeutung. Tankred Howe hat sich in seiner 2005 an der Frei-en Universität Berlin angenommenen Doktorarbeit die Aufgabe gestellt zu klären, auf welche

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che Weise Victor von Vita in seiner - überwiegend negativen - Vandalendarstellung zum einen eine bewusste Konstruktion eines Geschichtsbildes mit dem Ziel entwickelte, die Standhaftig-keit der von den Vandalen verfolgten Rechtgläubigen zu stärken, und zum anderen den Zielen und Absichten Victors bei der Abfassung der Historia insgesamt auf die Spur zu kommen. Seine Untersuchung baut H. in sieben Abschnitten auf. Der erste Teil legt das Thema der Arbeit dar und listet die ihr zugrunde gelegten Quellen, namentlich nordafrikanische Kirchenschriftstel-ler, die sich mehr oder weniger explizit zu den Vandalen äußern, chronologisch und katalog-artig auf. Darauf folgen zunächst Überlegungen zum Entstehungszeitpunkt der Schrift, den H. auf die Zeit zwischen 487 und 488, also in die frühen Regierungsjahre König Gunthamunds (484—496), taxiert, und zum (vermutlichen) Auftraggeber der Historia, dem Bischof von Kar-thago namens Eugenius. Im dritten Kapitel beginnt die gründliche Quellenanalyse mit einem Vergleich der von Victor benutzen „Personalbegriffe" für Verfolger und Verfolgte mit jenen der zuvor untersuchten Parallelüberlieferungen des kirchlichen Schrifttums in Nordafrika. Die vorangestellten begriffsgeschichtlichen Auseinandersetzungen mit Termini wie „katholisch" und „arianisch" fallen dabei sehr differenziert aus. Hier gelingt es H. deutlich herauszuarbei-ten, wie sehr sich Victors Historia an bereits von Augustinus etablierten Motiven orientiert, insbesondere was die Gegenüberstellung von „Wir" (die verfolgten Römer bzw. Katholiken) und „Sie" (die verfolgenden Vandalen bzw. Arianer) betrifft. In einem Punkt ergibt H.s Ver-gleich aber einen bemerkenswerten Unterschied: Während bei Victor ethnische Zuweisungen an einzelne Personen oder Gruppen vorkommen, ist dies bei den übrigen Schreibern nicht der Fall. Diese Besonderheit des Sprachgebrauchs in den Ausführungen Victors kommt etwa darin zum Ausdruck, dass zu den Verfolgten durchaus auch Vandalen zählen. Eine für Victors Dar-stellungsstrategie erhellende Schlüsselstelle ist dabei die Beschreibung von Verfolgungen und Misshandlungen, die arianische durch katholische Vandalen zu erdulden hatten (Historia III 31 —41 ). Dies macht deutlich, dass der von Victor auf den ersten Blick nur stereotyp verwendete Sprachgebrauch zugleich eine große Suggestitionskraft hat, nämlich seine Gleichsetzung von Arianismus und Vandalentum bzw. Katholizismus und Römertum zu untermauern. Daran an-schließend widmet sich der vierte Abschnitt den unterschiedlichen negativen Topoi, die Victor in seiner Vandalendarstellung gebraucht, wobei H. die vermeintliche vandalische Falschheit (calliditasy fraus u. v. m.) besonders herausstellt, da diese mit Victors Standpunkt des Arianis-mus als Irrlehre korrespondiert. Diesen negativen Zuschreibungen stehen im fünften Kapitel die positiven Darstellungsmuster der verfolgten Katholiken gegenüber. Die Ethnizität der Op-fer spielt dabei keine Rolle, sondern allein ihre Bereitschaft, Zeugnis für den rechten Glauben abzulegen, seien es nun Vandalen oder Römer. Im letzten Kapitel deutet H. die Schrift Victors überzeugend als den Versuch, die Glaubenstreue der verfolgten und unterdrückten Katholiken ebenso zu stärken wie als lehrhaftes Beispiel nach außen hin zu dokumentieren. Angelehnt an die „Zwei-Reiche-Lehre" (civitas Dei und civitas terrena) des hl. Augustinus sei die Historia folg-lich durch ein Spannungsverhältnis von geschichtlicher und endzeitlicher Perspektive geprägt. Victor habe mit seiner Schrift auf das „traumatische Erlebnis der aggressiven missionarischen Religionspolitik Hunerichs" reagiert und seinen Lesern die grundlegende Bedrohlichkeit der arianischen Lehre vor Augen fuhren wollen. Eine Bedrohung, die offenbar durch eine nicht un-wesentliche Zahl an Römern, die unter vandalischer Herrschaft vom katholischen Glauben ab-fielen und sich der Konfession der neuen Herren anschlossen, sehr real war. Hatte A. Schwarcz 1994 in seinem Aufsatz „Bedeutung und Textüberlieferung der Historia persecutionis Afri-canae provinciae des Victor von Vita" noch konstatiert, dass „eine gründliche Aufarbeitung der Überlieferungsgeschichte [...] ein ebenso dringendes Desiderat ist wie eine moderne Edition, die [ . . . ] die mittlerweile gewonnenen philologischen Erkenntnisse zur Sprache des Victor von Vita berücksichtigt", so kann dieses Desiderat nicht nur durch das Erscheinen der Edition Lan-céis, sondern gerade auch durch die überaus vielschichtigen und wertvollen neuen Ergebnisse dieser Dissertation als in hohem Maße erfüllt gelten. Zusammenfassend ist zu sagen, dass es H.

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Literaturberichte 235

überzeugend gelingt, die von Victor von Vita beabsichtigten Darstellungsabsichten kritisch-reflektierend zu erläutern. Jede/r, der/die sich zukünftig mit der Geschichte der Vandalen im fünften Jahrhundert beschäftigen möchte, wird H.s Buch mit großem Gewinn lesen.

Paderborn Guido M. Berndt

Roman D e u t i n g e r , Königsherrschaft im Ostfränkischen Reich. Eine pragmatische Verfassungsgeschichte der späten Karolingerzeit. (Beiträge zur Geschichte und Quellen-kunde des Mittelalters 20.) Thorbecke, Ostfildern 2006. 451 S.

Die in diesem Werk behandelte spätkarolingische Periode umfasst mit dem Zeitraum von 833 bis 918 die Königsherrschaften von Ludwig dem Deutschen bis einschließlich Kon-rad I., wobei das Ostfränkische Reich in seiner jeweiligen räumlichen Ausdehnung - aus der Perspektive des Königs gesehen - den Untersuchungsgegenstand darstellt. Der Autor sieht es als seine Aufgabe, nach den grundsätzlichen Möglichkeiten königlicher Herrschaft und der praktischen Ausnutzung dieser Möglichkeiten zu suchen (S. 12). Dabei bietet er zwar eine Fülle von älterer und modernerer Literatur sowohl zu verfassungsgeschichtlichen Thesen als auch begrifFsgeschichtlichen und prosopographischen Aspekten, greift aber bei seinen Unter-suchungen wieder auf historiographische und urkundliche Quellenbelege - mit dem Anspruch auf möglichst vollständige Erfassung - zur Beantwortung seiner Fragestellungen zurück. Vom Versuch ausgehend, jeweils konkrete Einzelfalle aus ihrer Situation heraus zu begreifen, wird zwar durchaus angestrebt, wiederkehrende Verhaltensmuster zu erkennen und auf diese Weise zu allgemeineren Aussagen zu gelangen, aber nicht ein widerspruchsfreies, auf möglichst we-nigen Grundprinzipien beruhendes, Gesamtsystem zu entwerfen (S. 13f.). Durchgehend ist zu erkennen, dass es dem Autor vor allem um die Praxis, weniger um die Theorie, geht und er dynamische Modelle statischen vorzieht (siehe etwa S. 106 zum Treuebegriff und S. 162 zur Grafengewalt).

Im ersten Hauptabschnitt „Handlungsspielräume" wird nach den Rahmenbedingungen fiir das Agieren der ostfränkischen Karolinger gefragt, indem die Themenbereiche „König und Reich" (anhand der Begriffe Res publica, Regnum, Rex), „Diener und Getreue" (eingeteilt nach den Stichworten Palatium, Ministeriales, Vassi, Fideles) sowie .Amts- und Mandatsträger" (Episcopus, Abbas, Comes, Missus - Comes palatii, Dux - Marchio) untersucht werden. Dabei gelangt der Autor zu dem Schluss, dass die Herrschaftsstruktur des Ostfränkischen Reichs als polyzentrisch und nicht allein auf den König ausgerichtet anzusehen sei. Der König, zwar der ranghöchste und in der Regel auch der mächtigste Herrschaftsträger im Reich, musste zahl-reiche andere Herrschaftsträger - vor allem Grafen und Bischöfe - , die nicht von vornherein allein auf den König und seine Politik ausgerichtet waren und ihre Macht nicht vom Königtum her definierten, immer wieder fiir ihre Mitwirkung an der Königsherrschaft neu gewinnen (S. 222). Als wichtigstes Herrschaftsmittel der ostfränkischen Könige gilt dem Autor daher der Konsens und er geht im zweiten Hauptabschnitt „Wirkungsweisen", in dem das Problem der praktischen Umsetzung königlicher Herrschaft untersucht wird, der Frage nach, wer an diesem Konsens beteiligt war und in welchen Formen er gefunden wurde. Neben dieser „Herrschaft durch Konsens: Ratgeber und Rat" (Consiliarii, Colloquia) werden in weiteren Unterkapiteln auch „Herrschaft durch Beziehungen: Verwandte und Freunde" (Familienbande, Amici regis) und „Herrschaft durch Präsenz: Itinerar und Politik" (Pfalzen und Gastung, Politik und Prä-senz, Königtum und Reichsstruktur) beleuchtet. Die Notwendigkeit, den fiir die Konsensbil-dung erforderlichen Kontakt zu den Reichsangehörigen aufrecht zu erhalten, wird als einer der Hauptgründe für die stete Reisetätigkeit der Könige gesehen. Mit ihrem - fiir die behandelte Zeit allerdings nur recht lückenhaft überlieferten - Itinerar reagierten die Könige in erster Linie auf aktuelle Herausforderungen, die, wie beim Konsens, oft genug nicht von ihnen betrieben, sondern von anderen an sie gestellt wurden, und nicht auf langfristige Strukturen. Als Zentral-

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landschaft oder zentrale Begegnungslandschaft macht der Autor durch Untersuchung der Fra-ge, wo die ostfränkischen Könige Reichsversammiungen und Reichssynoden abhielten, sowie wo sie regelmäßig Urkunden auch für Empfänger aus entfernteren Gebieten ausstellten, das Rhein-Main-Gebiet im Dreieck zwischen Mainz, Worms und Frankfurt aus, das einerseits eine ungewöhnliche Dichte von Pfalzen und Fiskalgut aufwies, andererseits aber vor allem dadurch ausgezeichnet war, dass es in der geographischen Mitte des Ostfränkischen Reiches lag und von allen Seiten verkehrstechnisch gut zu erreichen war (S. 385f . ) .

Bei den in diesem Buch behandelten Fragen stand stets das Verhältnis zwischen König und Adel im Vordergrund, und dieses entspricht in vielen Bereichen eher dem Bild, das sich die gegenwärtige Forschung von der ottonischen Königsherrschaft macht, als dem für karolin-gisch geltenden Modell (S. 389 ) , wenn auch durchaus Unterschiede in der Herrschaftspraxis auszumachen sind.

Die starke Praxisorientiertheit und das Zurückgehen auf die Quel len ist durchaus wohltu-end und ein wichtiges Korrektiv zu den verschiedensten hochfliegenden und weitgespannten Theorien, gewissermaßen ein auf den Boden der (spärlichen) Tatsachen Zurückholen, wenn auch wohl Manchen zu „pragmatisch" . Ein stärkeres Hinterfragen der Intentionen der ver-schiedensten Quel len und damit ihrer Aussagen würde man sich auch mitunter wünschen - was allerdings den so schon beachtlichen Arbeitsaufwand und Umfang noch erheblich ver-größert hätte. Jedenfalls wird eine riesige Fülle von Material geboten, auf das man bei entspre-chenden Fragestellungen immer wieder zurückgreifen wird können und müssen, wie man auch insgesamt gut daran tun wird, die hier vorgezeigten nüchternen Betrachtungsweisen nicht aus dem Blick zu verlieren.

Wien Brigitte Merta

M ü n c h e n , Bayern u n d d a s Re ich i m 12. u n d 13. J a h r h u n d e r t . L o k a l e B e f u n d e u n d überreg iona le Perspekt iven , hg . von H u b e r t u s SEIBERT-AIOÌS SCHMID. (Zei t schr i f t für bayer i sche L a n d e s g e s c h i c h t e , Be ih . 2 9 . ) B e c k , M ü n c h e n 2 0 0 8 . 4 6 3 S . , 18 A b b .

Jubiläen k o m m t heutzutage eine herausragende Rolle im Kontext konzentrierter Forschun-gen über die jeweils jubilierende Entitas zu, und dabei scheint es beinahe beliebig zu sein, ob es sich u m runde, halbrunde oder andere Gedächtnistage handelt. Dabei sind solche Forschungen nicht selten eng mit anderen Initiativen zur Verankerung eines historischen Gedächtnisses in der Wahrnehmung der Gesellschaft verbunden, ja solche Maßnahmen dienen in politischer Hinsicht ganz bewusst einer Betonung maßgeblich scheinender Aspekte von Selbstverständnis wie Identität. Das Jahr 2 0 0 8 hat sich im Hinblick au f die halbrunde Jubiläumszahl von 8 5 0 Jahren für zwei Städte des hochmittelalterlichen Reichsgebiets der frühstaufischen Epoche als bedenkenswert angeboten, für das südöstlich von Mailand a m Fluss Adda gelegene Lodi wie die an der Isar gelegene heutige bayerische Landeshauptstadt München.

München hat bereits vor 150 Jahren, 1858, die damals 700jährige Wiederkehr des „Stadt-gründungstages" zum Anlass einer öffentlichen Feier ihres Geburtstages genommen, der 14. August, Ausstellungstag des 1158 in Augsburg erfolgten „Augsburger Schieds" zwischen Bischof O t t o von Freising und Herzog Heinrich dem Löwen, ist „seit langem fest im kultu-rellen Gedächtnis der Münchner Bürgerinnen und Bürger verankert" (Vorwort, S. IX). Den Anfang der über 3 0 0 Veranstaltungen zum Stadt jubi läum machte eine v o m 10 . -12 . März 2 0 0 8 veranstaltete Tagung, die gemeinsam vom Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Uni-versität München und der Kommiss ion für Bayerische Landesgeschichte in Zusammenarbei t mit der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns, dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv und dem Stadtarchiv München durchgeführt wurde und deren Ergebnisse noch im selben Jahr in d e m hier behandelten Band vorgelegt wurden.

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Literaturberichte 237

Gegliedert in dreizehn Beiträge in fünf Abschnitten - Topographie und Archäologie (S. 3 - 5 7 ) , Kirchen und Klöster (S. 6 1 - 1 2 2 ) , Recht und Herrschaft (S. 125-217) , König, Her-zog und Adel (S. 2 2 1 - 3 1 4 ) und Markt und Stadt (S. 317—417) sowie von Ferdinand Kramer verfasste „Schlussbetrachtungen" (S. 4 1 9 - 4 2 2 ) - gelingt es den Autorinnen und Autoren, ein Panorama zu entwerfen, das die Münchener Stadtgeschichtsforschung, eingebettet in die Regi-onal- wie die Reichsgeschichte des 12. und 13. Jahrhunderts, auf einen neuen, bislang in dieser Geschlossenheit nicht erreichten Standard hebt. Dabei stehen durchaus traditionsverhaftete Zusammenfassungen des bisherigen Wissensstandes neben einer Reihe von Beiträgen, in denen neue Wege eröffnet und auch beschritten werden. Besonders hervorgestrichen sei in jedem Fall die Offenheit der beiden Herausgeber, in diesem Band auch divergierende Meinungen und Interpretationen nebeneinander stehen zu lassen (zur Frage von Planungen im späteren Stadtraum Münchens durch die Grafen von Wolfratshausen vor 1158 vgl. etwa Gertrud Tho-ma, S. 70f. mit Anm. 35, und Richard Bauer, S. 88) und nicht unkritisch auf Glättung und Einheitlichkeit der Aussage(n) zu drängen.

Ohne hier auf jeden der Beiträge im einzelnen eingehen zu können - diese Aufgabe wird in präziser Weise durch die dankenswerter Weise dem Band beigegebenen, schon vorhin er-wähnten Schlussbetrachtungen übernommen - , sei doch auf die ganz wichtigen Ausführungen zur Stadtarchäologie von Christian Behrer (Münchens Frühzeit. Neueste Ergebnisse der Stadt-archäologie, S. 3 - 2 5 ) hingewiesen, die durch eine Skizze von Münchens verkehrstopographi-scher Lage von Christine Rädlinger (Münchens verkehrstopographische Lage. Verkehrswege und Isarübergänge in der Frühzeit, S. 2 7 - 5 7 ) in wünschenswerter Weise in den räumlichen Bezug eingeordnet werden. Richard Bauer (Schäftlarn und München, S. 85—122) zeichnet die - im wesentlichen Schäftlarner - Spur der Klöster in der Frühzeit der „Mönchssiedlung" nach, wobei er an früheren Auffassungen betreffs einer Herleitung von Besitzverhältnissen der Benediktinerabtei aus agilolfingisch-karolingischer Zeit festhält.

Einer Reihe von in den lernen Jahren durch wichtige Beiträge zur frühstaufischen Ent-wicklung hervorgetretenen Autoren, insbesondere Roman Deutinger (Conventio und sententia principum. Der Rechtsstreit um München und Föhring 1158 und 1180, S. 125-139) und Jürgen Dendorfer (Von den Babenbergern zu den Weifen. Herzog und Adel in Bayern um die Mitte des 12. Jahrhunderts, S. 2 2 1 - 2 4 7 ) , ist eine in der bisherigen Forschung in dieser Tiefe niemals vorgenommene Einordnung der frühen Münchener Entwicklung in sowohl reichs- wie auch landesgeschichtliche Bezüge zu verdanken. Dabei werden Wege beschritten, die in den letzten beiden Jahrzehnten zu einer zunehmend kritischen Sicht gegenüber Vorstellungen der älteren Verfassungsgeschichte geführt haben. Entgegen der Auffassung von einem regelrechten Kanon herzoglicher Befugnisse und Rechte ist man zu einer neuen Deutung von Herrschaft gekommen, welche den Stellenwert der Zust immung derjenigen Kreise, welche von herrschaft-lichen Entscheidungen betroffen werden, stärker betont, ja - mit Bernd Schneidmüller - das Konzept einer „konsensualen Herrschaft" erarbeitet hat.

Hinzu kommen Beiträge, die sich auf die Vielfalt der für die Entwicklung Münchens maß-geblichen sozialen Kräfte konzentrieren, etwa die Ministerialität im Raum München (Gott-fried Mayr, S. 171-217 ) oder auch - allgemeiner und breiter angelegt - „Personale Netzwer-ke, Raumbeziehungen und Raumerfassung als Faktoren der Entstehung des forum Munichen" (Lorenz Maier, S. 3 1 7 - 3 6 7 ) . Die erst allmähliche Ausbildung des Münchener Stadtrechts wie auch den hohen Stellenwert des Phänomens des Marktes im Bayerischen bzw. im weifischen Machtbereich nehmen Beiträge wie die von Hans-Georg Hermann (München im Gefüge der bayerischen Stadtrechtsentwicklung, S. 141-170) und von Andrea Briechle (Forum und civitas unter den weifischen Herzögen des 12. und 13. Jahrhunderts, S. 395—417) in den Blick. Das Wechselspiel zwischen Stadt und wittelsbachischen Landesherrn ist Thema der Arbeiten von Hubertus Seibert (Der Raum München in der Herrschaftsbildung der frühen Wittelsbacher, S. 283-314 ) und Alois Schmid (München und die Anfänge der landesherrlichen Städtepolitik

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in Bayern, S. 3 6 9 - 3 9 4 ) , der einleitend einige Bemerkungen zur städtischen Erinnerungskultur bietet, über die man gerne noch mehr erfahren hätte. Der Bedeutung Ottos V. von Wittels-bach, des jüngeren Bruders des Helden der Veroneser Klause von 1155, Pfalzgraf Friedrich II., der von 1179 bis zu seinem Tod (1198/99) als Mönch lebte, widmet Christof Paulus sei-nen Beitrag (Zwischen König, Herzog und Bruder - Pfalzgraf Friedrich II. von Wittelsbach, S. 249-282 ) .

Was mit diesem Sammelband gelingt, das ist in jedem Fall die Einordnung der frühen Münchener Entwicklung in deren zeitgenössischen weiteren politischen Rahmen, wobei fur Einsichten in diesen selbst gleichfalls wichtige neue Erkenntnisse beigesteuert werden. Bedeut-sam erscheinen nicht zuletzt die Interpretationen der beiden Schlüsseldokumente für diesen Zeitabschnitt, der beiden Diplome Friedrich Barbarossas von 1158 und von 1180. Was die Epoche Münchens anlangt, bevor es als Markt- und bald als städtische Siedlung hervortrat, so bleibt Unsicherheit bestehen. Angesichts der archäologischen Konturen, die fur vier markante, erhobene Positionen im Stadtgebiet, den Alten Hof , das Petersbergl, an der Nikolaus-Kapelle und an der Frauenkirche, deutlich werden, wie auch den aus der Regional- wie der Reichsge-schichte ableitbaren Hinweisen auf eine Geschichte Münchens, bevor es München gab, wird man die in den Schlussbetrachtungen zu findende Aussage, die Archäologie könne „keine prä-urbane Siedlung vor 1158 ausmachen" (S. 419) , in jedem Fall mit der Formulierung im ar-chäologischen Beitrag zu korrelieren haben: Es heißt dort nämlich (S. 10): „Bei allen bisherigen Untersuchungen innerhalb der mittelalterlichen Stadt München konnten bisher keine Beweise fur eine präurbane Keimzelle des muntchen erbracht werden, die d e u t l i c h (Hervorhe-bung durch den Rezensenten) vor 1158 liegen." - Stadtgründungen in vorher siedlungsleerem Raum, „auf grüner Wiese" - so etwa im Fall der im Münchener Schicksalsjahr 1158 auf dem Hügel des Monteghezzone an der Adda gegründeten, eingangs erwähnten lombardischen Stadt Lodi - sind in jedem Fall viel seltener als Gründungen, die sich der Vorteile von vor Ort gege-bener Siedlungsstrukturen und - das sei hinzugefügt: günstiger Besitzverhältnisse wie Verkehrs-gegebenheiten - erfreuen konnten.

Die weitere Forschung zur Frühzeit Münchens wird von dem vorliegenden Sammelband, der durch ein Register der Orts- und Personennamen erschlossen wird, auszugehen haben. Er schafft eine Plattform, auf der alles Künftige wird aufbauen müssen.

Wien Ferdinand Opll

Andreas FISCHER, Kardinä le im Konklave . D i e l ange Sedi svakanz der J ahre 1268 bis 1271 . (Bibl iothek des Deut schen Hi s tor i s chen Inst i tuts in R o m 118 . ) Niemeyer , T ü b i n g e n 2 0 0 8 . X , 5 3 3 S .

D a das Papsttum während des 13. Jahrhunderts eine immer größere Machtfulle auf sich vereinte und unter Bonifaz VIII. schließlich einen nicht mehr überbietbaren Anspruch auf die Allgewalt formulierte, führten die Papstwahlen öfters zu Krisen und zu Vakanzen, zumal das kleiner werdende Wahlerkollegium der Kardinäle seit dem III. Laterankonzil von 1179 an eine Zweidrittel-Mehrheit gebunden war, die häufig nur mit Mühe zu erreichen war. Die längste Vakanz erstreckte sich zwischen dem Tod Clemens' IV. am 28. November 1268 und der Wahl Gregors X. am 1. September 1271, also fast 3 6 Monate, zu der in einem gewissen Sinn noch weitere sieben Monate bis zur Krönung des ehemaligen Lütticher Archidiakons Tedaldo Vis-conti zum Papst am 27. März 1272 dazugezählt werden können. Diesen Krisenjahren widmet sich die unter Matthias Thumser an der Berliner F U entstandene Dissertation, die 2 0 0 6 mit dem Friedrich-Meinecke-Preis ausgezeichnet wurde. Dabei nimmt der Autor drei Aspekte in den Blick: die Handlungen des Kardinalskollegiums in exemplarisch ausgewählten Bereichen in der Vakanz, die Ursachen des Dissenses der Wähler und die Folgen der papstlosen Jahre. Das Ziel der vorzüglichen und in allen Bereichen überzeugenden Arbeit - nota bene eines Erstlings-

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Literaturberichte 239

Werkes, das andernorts mühelos als Habilitationsschrift approbiert würde - ist es, die Sedisva-kanz in ihren ursächlichen Zusammenhängen und konkreten Auswirkungen auf die Leitung der Kirche in papstloser Zeit zu beleuchten und die Wahrnehmung der langen Vakanz durch ihre Zeitgenossen und ihre Folgewirkungen namentlich im kirchenrechtlichen Bereich darzu-stellen. In einem ersten Abschnitt (S. 14-254) werden die zwanzig Kardinäle des Jahres 1268 in Kurzbiographien vorgestellt, bei denen nicht nur ihre Herkunft, ihre Ausbildung und ihre kirchliche Karriere vor ihrer Kreation, sondern bei ihrem Wirken an der Kurie und als Legaten in partibus ihre Vernetzung untereinander und mit Personen außerhalb aufgezeigt werden, um so den maßgeblichen Kreis jener Papsrwähler zu bestimmen, die die Einigung so lange hinaus-zögerten. Diese Kardinalsprosopographie stellt dem unermüdlichen Fleiß und der Gestaltungs-kraft des Autors ein vorzügliches Zeugnis aus, denn die Massen der verarbeiteten Quellen und Literatur, die aus so gut wie allen europäischen Ländern stammen, ist beeindruckend. Es ent-stehen plastische biographische Skizzen von etwa 10 bis 15 Seiten, in denen die Zielsetzung der Arbeit immer im Blick behalten wird und damit „Netzwerke" erkennen lässt, die das Durch-setzungsvermögen einzelner Kardinäle plausibel erklären lassen. Abgeschlossen wird diese Pro-sopographie von einem Resümé (S. 242-254), das die Kardinäle des Jahres 1268 nach Zahlen, Dienstalter, Bildungsstand, nationaler Herkunft und erkennbaren verwandtschaftlichen und anderen Verbindungen ordnet. Schon an dieser Stelle weist Fischer das früher viel verwende-te Unterscheidungsmerkmal der französischen versus italienischen Kardinäle zurück und sieht die Spaltung vielmehr endang der Adelsfamilien der Ubaldini, Fieschi, Annibaldi und Orsini, deren Bestrebungen um ihre Verwandtschaft und Patronage den Zusammenhalt der auf diese Weise etablierten Gruppen stabilisierten und zur Separierung beitrugen. Verdeudicht wird dies durch die Beziehungen der Kardinäle zu Karl von Anjou, denn es fallt auf, dass gerade die italienischen und namendich jene Mitglieder des Kollegiums, deren Familien im Patrimonium Petri begütert waren, sich um die Gunst des Königs von Sizilien bemühten. Der lokale Inter-essenshorizont war viel wichtiger als der nationale. Langfristige, statische Parteien oder Gesin-nungen lassen sich nicht nachweisen. Nichstdestoweniger wird man festhalten können, dass die französischen Päpste Urban IV. und Clemens IV. eher ihre Landsleute ins Vertrauen zogen und bevorzugt bei Aufgaben einsetzten als die aus Italien stammenden Kardinäle.

Der zweite große Abschnitt (S. 255-396) untersucht das Handeln der Kardinäle während der Jahre, in denen es die oberste päpstliche Leitungsgewalt nicht gab. Dafür waren, wie Fi-scher in einem einleitenden Kapitel die kanonistische Literatur gut resümierend darlegt, die rechdichen Grundlagen dünn, denn nicht nur die Satzungen des Kirchenrechtes wiesen den Kardinälen außerhalb der eigentlichen Papstwahl kaum Kompetenzen zu, sondern auch die starke papalistische Tendenz der Kanonistik des 13. Jahrhunderts vermied eine umfassende und genaue Defintion der Rechte und Pflichten des Kollegiums in der Vakanz. Präzedenzfölle für Handeln der Kardinäle in papsdoser Zeit und ein entsprechendes Selbstbewusstsein gab es während der langen Vakanz von 1241 bis 1243 und auch später nur in bescheidenen Ansätzen, die über gemeinsame Schreiben nur wenig hinausreichten. Wahrend der Vakanz griffen dann die Kardinäle am ausgeprägtesten in die Belange des Kirchenstaates ein, da ihnen die Päpste in den Jahrzehnten zuvor dort sukzessive administrative und finanzielle Rechte eingeräumt hatten. Fischer legt die Fälle mit großer Detailkenntnis dar, wobei ebenso die Beherrschung der regional- und lokalgeschichtlichen Quellen und Literatur wie auch der sichere Blick für die großen Zusammenhänge besticht. Im Einzelnen handelt es sich um eine Auseinanderset-zung mit den Annibaldi um das Kastell Lariano nördlich von Velletri und um eine Ausein-andersetzung mit Orvieto um das Val di Lago. In dem Konflikt zwischen Ghibellinen und Guelfen in Città di Castello zeigten sich die Kardinäle als Friedensstifter. Mit der Kommune Perugia gingen die Kardinäle ins Gericht, weil in deren Territorium ein Famiiiare des Goffredo d'Alatri, Kardinaldiakon von S. Giorgio in Velabro, überfallen worden war. Zu diesen Ho-heitsakten zählt auch das Vorgehen mit Kirchenstrafen gegen den Podestà von Viterbo, der

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im November 1269 das Wählerkollegium mit Gewalt im päpstlichen Palast für etwa sechs Wochen einsperrte und im darauf folgenden Frühjahr wieder diese drastische Maßnahme er-griff, um die streitenden Kardinäle endlich zu einer Papstwahl zu zwingen. Gerade in diesem Abschnitt gelingen Fischer - auch durch intensive Auswertung der bislang ungedruckten und schwer entzifferbaren Protokolle des Kammernotars Bassus - chronologische Präzisierungen der Wahlversammlungen und anderer Handlungen der Kardinäle während der Vakanz. Auch das Vorgehen der Viterbesen wird plausibel mit wirtschaftlichen Interessen der Kommune an einer raschen Papstwahl erklärt, da sinkende Einnahmen einer gleich bleibenden finanziellen Belastung durch den Aufenthalt der Kurie gegenüberstanden.

Aber nicht allein das Patrimonium Petri, sondern die Verwaltung der gesamten Kirche wuchs der Kompetenz des Kardinalskollegiums in einzelnen Fällen zu. Die dringendste Frage war zweifellos die Bestätigung von Wahlen in immediaten Bistümern und Abteien und in Erzdiözesen, für welche die Verleihung des Palliums das äußere Zeichen war. Bekanntlich hatte Alexander IV. auch das Weiherecht für diese Elekten an sich gezogen und auch die Bestätigung der Suffraganbistümer mehr und mehr übernommen. Die Kurie blieb deshalb auch in papst-loser Zeit die Anlaufstelle für diese Konfirmationen und Weihen. Während im Normalfall das Kardinalskolleg dabei nicht tätig wurde, gab es zwischen 1268 und 1271 auch Ausnahmen, so bei der Wahl des Philipp von Spanheim zum Patriarchen von Aquileia - freilich ohne Erfolg - , mit Erfolg hingegen bei der Bestätigung des Eudes de Rougemont zum Erzbischof von Besan-çon. Eine andere Frage betraf die Fortsetzung des Legatenamtes in der Zeit der Sedisvakanz. Da die entsprechende Dekretale Clemens' IV. im bejahenden Sinn erst im Liber Sextus Aufnahme fand, konnten Zweifel trotz eines breiten Konsenses bestehen bleiben und die Autorität des Legaten in Frage stellen. Aus diesem Grund bestätigten die Kardinäle im Sommer 1269 die Le-gation des ins Königreich Sizilien entsandten Radulf Grosparmi, Kardinalbischofs von Albano, und erweiterten sie im darauf folgenden Jahr für Unionsverhandlungen mit dem Palaiologen-Kaiser in Konstantinopel, womit sich erneut zeigte, dass sich das Kardinalskollegium als Garant der Kontinuität kurialer Politik auch in papstloser Zeit betrachtete.

Der dritte große Abschnitt (S. 397—452) ist der problematischen Wahl Gregors X. und ihren Folgen gewidmet und versucht die Gründe für die lange und Ärgernis erregende Vakanz plausibel zu machen. In der zeitgenössischen Historiographie wurde die Nachricht von der Erhebung des Archidiakons von Lüttich am 1. September 1271 wohl aufmerksam registriert, während die der Wahl durch sechs Kompromissare vorausgegangenen Zwistigkeiten kaum kommentiert wurden. Dazu gibt es eine Ausnahme: Die Annales Piacentini Ghibellini berichten, dass elf Kardinäle für das Imperium, andere für Karl von Anjou Partei ergriffen und somit Zwie-tracht gesät hätten. Die wissenschaftliche Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts griff dieses Schema bereitwillig auf und interpretierte die lange Vakanz vor einem guelfisch-ghibellinischen oder französisch-imperialen Gegensatz. In sehr behutsamen und überlegten Schritten, die auf der genauen Kenntnis der beteiligten Kardinäle beruhen, kritisiert Fischer die Darstellung des anonymen Annalisten, der die Parteiungen seiner Heimatstadt auf das Wählerkollegium übertrug. Dieser weithin akzeptierten Deutung stellt Fischer, die Kardinalsprosopographie in großen Linien resümierend, seine eigene gegenüber: Der Dissens lag in der Konkurrenz einiger Kardinäle um die Erhebung zum Papst begründet. Wahrscheinlich waren die Verantwortlichen die Römer Riccardo Annibaldi, Giangaetano Orsini und Giacomo Savelli und der Toskaner Ottaviano Ubaldini, deren erstes Interesse immer die Stärkung des Reichtums und Einflusses der eigenen Familie gewesen war. Aus der Papstwürde heraus hätten sich dieses Ziel und die Befriedigung der territorialpolitischen Ambitionen noch besser erreichen lassen. Eine andere Gruppe, die die Rivalitäten zwischen der Orsini-Gruppe und der Annibaldi-Gruppe kritisch betrachtete, mag sich um den Engländer Johann von Toledo und Eudes de Chäteauroux ge-schart haben. Sie nahm eine eigenständige, mehr spirituell-religiöse Position ein. Das zentrale Motiv für die mangelnde Einigungsbereitschaft in Teilen des Kollegiums waren die lokalen

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Literaturberichte 241

machtpolitischen Interessen in Mittelitalien. Die Außenverflechtungen zu Karl von Anjou oder zur ghibellinischen Partei in vielen Städten Italiens wurden im Rahmen der Konflikte innerhalb des Kollegiums instrumentalisiert.

Die Arbeit von Andreas Fischer stellt hinfort nicht allein das Standardwerk zu einer Krisen-zeit des Papsttums im 13. Jahrhundert dar, sondern ist eine beispielhafte methodische Leistung. Sie verbindet Prosopographie mit Rechts- und Verfassungsgeschichte, sie nimmt die handeln-den Personen ebenso in den Blick wie die vorgegebenen Strukturen. Ihr Erkenntnisgewinn ist beträchtlich. Fast wie eine Selbstverständlichkeit mutet es an, dass riesige Mengen an Quellen - auch ungedruckten - und Literatur verarbeitet wurden, dass die Arbeit in formal-handwerk-licher Hinsicht keinen Wunsch offen lässt und dem flüchtigeren Benützer ein perfektes Register zur Verfügung stellt. Angesichts einer solchen Dissertation braucht einem um die Zukunft der deutschen Mediävistik nicht bange zu werden.

Wien Werner Maleczek

Roger SABLONIER, Gründungsze i t ohne Eidgenossen. Politik u n d Gesel lschaft in der Innerschweiz u m 1300 . hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte, Baden 2 0 0 8 . 2 3 8 S., 1 Karte , 1 S tammtafe l , 3 2 Abb .

„Gründungszeit ohne Eidgenossen" ist ein schlankes, dicht geschriebenes Buch mit vielen aussagekräftigen Bildern und einem ungewöhnlichen Satzspiegel. Der Druck in Schwarz und Rot erinnert an die Publikationen, die im Zusammenhang mit dem ersten schweizerischen Staatsjubiläum 1891 erschienen sind. Der Titel verweist ebenfalls auf die nationale Tradition, welche den Ursprung der schweizerischen Eidgenossenschaft in die Zeit um 1300 legte. Im Zentrum dieser Wahrnehmung stand der auf Anfang August 1291 datierte und mit den Siegeln von Uri, Schwyz und Unterwaiden gesiegelte „BundesbrieF. Die Urkunde wurde zum eigent-lichen Staatsheiligtum, als sie 1936 feierlich vom Staatsarchiv Schwyz ins eigens dafür gebaute „Bundesbriefarchiv" (heute Bundesbriefmuseum) überführt wurde. Die Innerschweiz erhielt im aufstrebenden Nationalstaat den Status der „Wiege der Schweiz", indem der erste Bund als Ausdruck eines Befreiungskampfes gegen Habsburg (bzw. „die Österreicher" in den populären Darstellungen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts) gesehen und eine Reihe von Phänomenen

- die wiederholte königliche Privilegierung der „Länder" Uri, Schwyz und Unterwaiden, die Schlacht am Morgarten 1315 und der nachfolgende Bund der drei „Länder" - in den gleichen Kontext einer vom Freiheitskampf geprägten „Gründungszeit" eingebettet wurde.

Sablonier skizziert einleitend die Eckpunkte dieser Entwicklung des nationalen Ge-schichtsbilds und unterstreicht deren einschneidende Konsequenzen: Die Geschichte der Re-gion „Innerschweiz" wurde nunmehr ausschliesslich aufgrund der Elemente begriffen, welche zur (modernen) Schweiz geführt hätten; ein vom „eidgenössischen Blick" freier Zugang auf die Zeit um 1300 wurde damit verunmöglicht. Hier setzt Sabloniers „Perspektivenwechsel" an: sozialer Wandel und Ungleichheiten; wirtschaftliche Organisationsformen; Verfassung und politisches Handeln sind die klassischen Themen, die an diesem spezifischen alpin und voralpin geprägten Raum untersucht werden. „Gründungszeit ohne Eidgenossen" ist deshalb eine Darstellung einer regionalen ländlichen Gesellschaft unter Einbezug des Adels, in der die zentralen Dokumente der politischen Geschichte - Königsprivilegien und Bündnisurkunden -in Auseinandersetzung mit Erkenntnissen der Schriftlichkeitsforschung sowie unter Einbezug von Resultaten der Datierung von Pergament und Siegelschnüren mithilfe der l 4 C-Methode analysiert werden.

Sablonier nennt die verschiedenen sozialen Gruppen und Institutionen, die in der Regi-on tragende Rollen spielten - lokaler und regionaler Adel, die ländlichen Führungsgruppen, Klöster - und diskutiert sie anhand von aus seiner langjährigen Forschungstätigkeit erwachse-nen Schwerpunkten: So knüpft er die Ausführungen zur Situation des Adels vor allem an der

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Adelsgruppe der Rapperswil an. Als zentrale Figur erscheint Werner von Homberg, der nach dem Tod seiner Mutter Elisabeth von Rapperswil (1309) wechselnde Koalitionen einging in seinem Kampf gegen diverse Ansprecher. So spannte er etwa mit Leuten von Schwyz gegen das habsburgisch unterstützte Kloster Einsiedeln zusammen. Vielleicht hatte er als Söldnerfiihrer bereits Beziehungen zu Schwyzer Landleuten aufgebaut, auf jeden Fall profitierte die Interes-senkoalition von zunehmenden Nutzungskonflikten zwischen Schwyzern Bauern und Leuten des Klosters Einsiedeln, welche die kapitalintensive Grossviehzucht auf vorgängig gemeinsam bestossenen Alpen aggressiv betrieben. Der Homberger nutzte aber auch seine Beziehungen zum deutschen König; er erscheint 1309 als Reichsvogt, 1310 -13 nahm er am Italienzug Hein-richs II. teil und war Generalleutnant der Lombardei.

Der Herrschaftsausbau der Klöster in der Region wird am Beispiel Einsiedeins besonders deutlich. Mit der Förderung spezialisierter Viehhöfe (Schweigen) und neuen Pachtformen setz-te Einsiedeln - wie andere Klöster im alpinen Raum, etwa im Tirol - vermehrt auf stärker ökonomisierte, auf den städtischen Markt ausgerichtete Wirtschaftsformen. Um 1300 wurde eine Amterverfassung eingeführt, in der grössere Verwaltungsbezirke sich um zentrale Höfe gruppierten. Dies stärkte die Rolle der Ammänner als „Zwischenschicht der Herrschaftsver-mittler". Es war wiederum diese Gruppe, welche die Grossviehzucht förderte und die Nut-zungsstreitigkeiten mit den ärmeren Nachbarn von Schwyz trug. Von zunehmender Bedeutung war der Markt in Mai land. Die Rolle städtischen Kapitals in diesem Prozess zeigt sich auch in Hinblick auf die Einflussnahme der Städte Zürich und Luzern im untersuchten Raum. In Luzern werden die Beziehungen in den Süden mit umgekehrtem Vorzeichen deutlich, indem nicht nur die Präsenz italienischer Kaufleute und Financiers nachgewiesen wird, sondern auch deren rascher Aufstieg in städtische Amter.

In der Folge beleuchtet Sablonier vier hergebrachte Themen der Innerschweizer Geschichte neu: Die Königsprivilegien, die Frage nach der institutionellen Verfestigung der „Länder" Uri, Schwyz und Unterwaiden und der „Waldstätte" (dieser Begriff schliesst die drei Länder zusam-men), das „Morganengeschehen" (Schlacht und Bündnis von 1315) sowie der „Bundesbrief' von 1291.

Zunächst sehr technischer Natur sind die Ausführungen zu den Königsprivilegien. Die Uberlieferungssituation ist äusserst komplex und fur jedes der drei Länder und für die Waldstätte als Ganzes unterschiedlich. Sablonier schliesst, dass ein Teil der Privilegien aus den 1320er Jah-ren stammten. Hier habe „sozusagen eine Normierung des Privilegienbestandes stattgefunden, eine Normierung auf die Behauptung, alle drei Länder seien in gleicher Weise mit (Reichs-) Privilegien ausgestattet gewesen. Nur für Schwyz steht die Existenz von Reichsprivilegien schon zu Zeiten König Heinrichs VII. ausser Frage [ . . . ] . Erst nachträglich aber, nach 1320, erfolgte die Bereinigung auf die „Waldstätte" hin (S. 129)." Dieses Verfassungsgebilde gehe hervor aus der königlichen Landvogtei des Hombergers, die wiederum auf ,,adelsherrschaftliche[m] Sub-strat", d. h. Relikten der Rapperswiler Herrschaft basierte. Die Städte - vor allem Zürich und Luzern - trugen zur weiteren Verfestigung des Gebildes „Waldstätte" bei, indem sie diese kö-niglich legitimierte Institution als valablen Bündnispartner anerkannten. In denselben Kontext bettet Sablonier auch das „Morgartengeschehen" ein: Leopold 1., Herzog von Österreich und Steiermark, wollte mit seiner Präsenz Ansprüche auf Einsiedler Vogteirechte geltend machen; sein Gegner war Werner von Homberg. Wäre also, so Sablonier, „Herzog Leopold mit seinem Gefolge beim Morgarten [ . . . ] von Schwyzer Söldnern im Dienst des Hombergers überfallen worden?" (S. 151) Im abschliessenden Kapitel über das auf Anfang August 1291 datierte Land-friedensbündnis fragt Sablonier weiter: „Musste der Homberger nachweisen, dass er fähig und gewillt war, in seinem Gebiet Frieden zu stiften beziehungsweise den Landfrieden aufrechtzuer-halten, und diente der Bundesbrief als Nachweis?" (S. 176) Die Urkunde setzt sich bekanntlich aus Bruchstücken verschiedener Vorgänger zusammen. Sablonier argumentiert, dass es sich um eine auf 1291 zurückdatierte Nachherstellung des Jahres 1309 gehandelt haben könnte. Die

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Literaturberichte 243

bislang mit Nidwaiden identifizierte communitas hominum intramontanorum valili inferioris der Urkunde hätte allenfalls Urseren gemeint. Zur Unterstützung dieser These verweist Sablonier erneut auf Werner von Homberg und dessen fur 1309/11 nachgewiesene Bestrebungen, „eine eigentliche Alpenvogrei sogar unter Einschluss der Leventina zu bilden" (S. 174).

Sabloniers Perspektivenwechsel fuhrt zu überzeugenden Resultaten, welche in den traditi-onskritischen Ausführungen des ersten Teils fundiert sind. Auf die Wiederholungen der Rück-weisung der „nationalen Sicht" im Lauf des Texts hätte deshalb auch verzichtet werden können. Sabloniers besondere Stärke ist die Auseinandersetzung mit den Quellen. Die Einzelbelege und das Anekdotische sind dabei eingebettet in eine Strukturgeschichte, die es in sich hat. Der Wandel um 1300 wird auf konkreter Ebene gefasst, und die Eigenheiten der Entwicklung im kleinen Raum werden in ihrer komplexen Mischung von lokalen und übergeordneten Bedingt-heiten und Einflüssen greifbar gemacht. Die bedeutendste inhaltliche Erkenntnis Sabloniers ist diesem Vorgehen zu verdanken: die Einbettung der Bündnistätigkeit in der Innerschweiz um 1300 und ihrer Verschriftlichung in die Bemühungen zur Errichtung einer auf adligem Herrschaftssubstrat aufbauenden Reichsvogtei unter dem Homberger. Der zweite nachhaltige Beitrag an die Forschung findet sich auf methodischer Ebene in der Verbindung des um die Er-kenntnisse der Schriftlichkeitsforschung erweiterten quellenkritischen Zugangs, im feingliedri-gen komparativen Zugriff und in der von Scheuklappen freien Nutzbarmachung naturwissen-schaftlicher Methoden: noch nie wurde eine so grosse Zahl mittelalterlicher Urkunden mithilfe der 14C-Analyse datiert. Sablonier schreckt auch vor Spekulationen nicht zurück. Diese sind aber gekennzeichnet - und werden, so ist zu wünschen, von den sachkundigen Leserinnen und Leser als provokative Anregungen zur neuen Auseinandersetzung mit vermeindich Bekanntem aufgefasst und als Aufforderung, die Stärken der regional orientierten Forschung fur die verglei-chende Strukturgeschichte nutzbar zu machen.

Freiburg Regula Schmid

Außenpolitisches Handeln im ausgehenden Mittelalter: Akteure und Ziele, hg. von Sonja DÜNNEBEIL—Christine OTTNER. (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu Johann Friedrich Böhmer, Regesta Imperii 27.) Böhlau, Wien-Köln-Weimar 2007. 472 S.

Der Sammelband ist die Frucht einer Tagung, die vom Institut fur Mitteialterforschung der Osterreichischen Akademie der Wissenschaften, Arbeitsgruppe „Regesten Kaiser Friedrichs III.", im Zusammenhang mit dem Forschungsprojekt „Österreich, Friedrich III. und Burgund. Die Anfange der Hegemonie" im März 2004 veranstaltet wurde. Tagung und Publikation lie-gen voll in dem Trend, der seit etwa 15 Jahren den Möglichkeiten von Außenpolitik in der Epoche werdender Staatlichkeit nachspürt. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei dem Ge-sandtschaftswesen, da sich an ihm methodische und definitorische Probleme einer ebenfalls im Trend liegenden Frage nach politischer Kommunikation, ihren Mitteln, Formen und Abläufen gut studieren lassen. Auch das Reich mit seiner eigenartigen, zwischen monarchischer Spitze und Landesförsten geteilten und durch Reichs- und Landtage noch weiter aufgesplitterten Ver-fassung, die konsequentes außenpolitisches Handeln per se in Frage stellte, eignet sich gut als Untersuchungsobjekt. Wie Christine Ottner in der Einleitung (S. 9-20) anmerkt, wurde auch versucht, die Themen der Diplomatiegeschichte auf interdisziplinäre Fragestellungen der Me-diävistik hin zu öffnen, etwa auf Rhetorik, Repräsentation, Zeremoniell und Institutionalisie-rung. Aber wie es das Schicksal vieler Tagungen und ihres schriftlichen Niederschlages eben ist: Ein durchgängiger roter Faden bleibt als nicht eingelöstes Postulat quer durch alle Beiträge, die nur einzelne Teilbereiche erhellen können, zu suchen. Den thematischen Schwerpunkt bilden die Verbindungen zum Westen, chronologisch überwiegt die Zeitspanne von etwa 1440 bis 1510. Die einzelnen Beiträge mögen hier kurz charakterisiert werden. Am Anfang stehen zwei

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eher allgemeine, auf Definitorisches gerichtete Aufsätze, die sich um das Charakteristische spät-mittelalterlicher Außenpolit ik im Gegensatz zu früh-neuzeitlicher bemühen: Paul-Joachim Heinig, Konjunkturen des Auswärtigen. „State formation" und internationale Beziehungen im 15. Jahrhunden (S. 2 1 - 5 7 ) , thematisiert in einer weit ausholenden Gesamtschau auf das Reich dessen außenpolitische Herausforderungen, wobei er auch die in den anderen Beiträgen ausge-sparten Bereiche wie die Papstschismen des 15. Jahrhunderts, die Osmanen, Ost- und Nordeu-ropa, die Iberische Halbinsel, Italien mit dem Papsttum als politische Mittelmacht, die ober-und mittelitalienischen Signorien und das Königreich Sizilien mit einbezieht. Deutlich wird dabei, dass es schon unter Friedrich III. und nicht erst unter Maximil ian ein habsburgisches außenpolitisches System gab. Sabine Wefers, Handlungsträger, Aktionsfelder und Potentiale von Außenpolitik im Spätmittelalter (S. 59—72), präsentiert nach Überlegungen zur engen Verflechtung zwischen dem „Inneren" und dem „Außen" des Reiches die Akteure der außen-politischen Handlungen des Reiches, konkretisiert am Freiburger Tag von 1497/98. Malte Prietzel, Reden als Waffen der Diplomatie. Rhetorik, Zeremoniell und Politik in den franzö-sisch-burgundischen Verhandlungen 1456 -1465 (S. 73 -96 ) , unterstreicht die Bedeutung der früher als leere Rhetorik abgewerteten prunkvollen Reden, die von den besten Diplomaten, Guil laume Fillastre, Jean de C lugny und anderen, gehalten wurden und fiir den untersuchten Zeitraum gut überliefert sind. Sie spielten eine große Rolle in der Selbstvergewisserung beider Seiten, sie beinhalteten stets auch Aussagen über allgemeinere politische Inhalte und Wertvor-stellungen und boten den Zuhörern nicht nur das Ergebnis der im kleinen Kreis und unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführten Verhandlungen, sondern lieferten auch grundlegende Deutungsmuster für die politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten. Sie sollten Emotio-nen schüren und sie zeigen, wie sehr sich der burgundische Länderkomplex schon zu einem Staatswesen entwickelt hatte und aus dem französischen Königreich herausgewachsen war. Gerrit Jasper Schenk, Friedrich III. in Besançon 1442 und in Metz 1473 oder: Von geglückten und gescheiterten HerrschertrefFen mit dem Burgunderherzog (S. 97 -141 ) , trägt möglichst viele historiographische und diplomatische Quellenzeugnisse zu diesen „Gipfeltreffen" zusam-men. Wie sie aber als „politische Anthropologie" gedeutet werden, die zur Voraussetzung „ein erweitertes Politikverständnis hat, das nicht allein Institutionen, Verträge und .staatliches Han-deln' von Machthabern erfassen, beschreiben und analysieren möchte, sondern alle Formen kulturell gebundenen Handelns der an politischen Prozessen Beteiligten" (S. 99), bleibt auch trotz wohlwollender Lektüre dieses längsten Beitrages schleierhaft. Auf der Schiene seiner Dis-sertation von 2003 beschreibt der Autor vor allem die repräsentativen Akte und das ausgeklü-gelte Zeremoniell. Die sprachliche Form seiner Absichtserklärungen dient weniger der Ver-ständlichkeit als dem Beweis seiner Wortgewandtheit (als Beispiel unter vielen möglichen: „daß . . . bei dieser Art von Kommunikat ion angesichts der Multivalenz von Zeichen, eines womög-lich nur halb intentionalen Agierens oder gar einer allzu artifiziellen .Bricolage' stets auch die Gefahr eines semiotischen Desasters gedroht haben muß", S. 102f.). Die Beschreibung selbst ist hingegen ganz traditionell erzählend und ereignisgeschichtlich orientiert und der Vergleich mit anderen HerrschertrefFen und Adventus-Zeremonien fallt erfreulicherweise klarer und überzeugender aus. Petra Ehm-Schocks, Der Tag von 1473 und die Grenzen des Reiches: Karl der Kühne, Friedrich III. und die Kurfürsten (S. 143-158) , betrachtet diesen quellenmäßig schon sehr gut erschlossenen „Höhepunkt in den Beziehungen von Kaiser und Herzog" (S. 145) unter dem Blickwinkel burgundischer Überheblichkeit und burgundischen Unverständ-nisses fiir die verfassungsmäßigen Eigenheiten des Reiches. Das Ziel Karls des Kühnen, in Trier für die Verheiratung seiner Tochter die Zusage zur Wahl zum römischen König und zukünfti-gen Kaiser noch vor Maximi l ian zu erhalten, wurde mit einem bisher nicht gesehenen Aufwand an Pomp und Protz verfolgt, aber selbst das bescheidenere Projekt einer Erhebung zum König von Burgund und/oder Friesland unter Einbeziehung wichtiger Reichslehen scheiterte am Wi -derspruch der Kurfürsten. Dabei scheint gerade die ostentative Prachtentfaltung Karls, die im-

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Literaturberichte 245

penale Ansprüche unmissverständlich signalisierte, die Abwehr der deutschen Fürsten und ih-rer Vertreter verstärkt zu haben. Sonja Dünnebeil, Handelsobjekt Erbtochter - Zu den Verhandlungen über die Verheiratung Marias von Burgund (S. 159-184), legt die Gründe dar, warum Maximilian unter den achtzehn bekannten Kandidaten für die beste Heiratspartie des Abendlandes den Sieg davontrug. Da Heiraten auch im ausgehenden Mittelalter in erster Linie ein politischer Schachzug waren, versprach sich Karl der Kühne von dieser Verbindung, die von Papst Pius II. schon 1463 erstmalig vorgeschlagen wurde, den größten politischen Vorteil, nämlich eine Standeserhöhung. Die Heiratsverhandlungen wurden trotz großer Diskretion beider Seiten bekannt und von Fürsten und Städten weiter verbreitet, da man sich wohl be-wusst war, dass diese Verbindung das bestehende europäische Bündnisgeflecht verändern wür-de. Aus diesem Grund beteiligten sich zahlreiche Machtträger an den Verhandlungen, zumin-dest mit Ratschlägen oder Versuchen der Beeinflussung, seit 1469 in besonderem Maße Herzog Sigismund der Münzreiche von Tirol. Die entscheidende Zustimmung Karls des Kühnen zur Eheschließung erfolgte knapp nach der ersten schweren Niederlage gegen die Schweizer bei Grandson, wobei der Uberzeugungsgabe der kaiserlichen Gesandten Georg Heßler und Ale-xander Numai erheblicher Verdienst zukam. Inge Wiesflecker-Friedhuber, Das Vertragswerk von Lyon-Blois-Hagenau 1503/05, die Diplomatie Maximilians I. zwischen Frankreich, dem Papst, Spanien und Venedig (S. 185-211): Dieses Vertragswerk wird als ein Fallbeispiel fur Außenpolitik betrachtet, mit welchem die „Erbfeindschaft" zwischen Maximilian und Ludwig XII. von Frankreich zu Ende gebracht werden und beiden Teilen Vorteile verschaffen sollte. Der französische König erhoffte sich die Belehnung mit dem Herzogtum Mailand, Maximilian und sein Sohn Philipp der Schöne erwarteten die Verheiratung zwischen dem späteren Kaiser Karl V. und Claudia, einer Tochter Ludwigs XII. Alles blieb jedoch nur Projekt, da Ludwig XII. das Heiratsversprechen nicht einzulösen gedachte. Manfred Hollegger, Anlaßgesandtschaften - Ständige Gesandtschaften - Sondergesandtschaften. Das Gesandtschaftswesen in der Zeit Maximilians I. (S. 213-225) : Die Intensivierung und Erweiterung der diplomatischen Bezie-hungen von England und Spanien im Westen bis nach Rußland und zum Osmanischen Reich im Osten sollten die Vormachtstellung des Hauses Osterreich in Europa erreichen. Etwa 300 Gesandte, darunter nur wenige Berufsdiplomaten zumeist italienischer Herkunft, wurden dazu eingesetzt. Ihre Auswahl erfolgte nach Sprachkenntnissen, Stellung bei Hof und Privatvermö-gen, ihr Handlungsspielraum war angesichts detaillierter Instruktionen zumeist klein. Susanne Fritsch, Zwischen Papst und König. Der Gesandte Leonello Chieregati (1484—1506) als Spiel-ball päpstlicher Außenpolitik (S. 227-237) , stellt einen päpstlichen Legaten vor, der vor allem im Reich im Zusammenhang mit der Heiligen Liga ab 1495 tätig wurde und Alexanders VI. schwankender Politik machtlos gegenüberstand. Michael Jucker, Innen- oder Außenpolitik? Eidgenössisches Gesandtschaftswesen zur Zeit der Burgunderkriege am Beispiel Hans Wald-manns und Adrians von Bubenberg (S. 239-258), widerlegt die lieb gewordene Vorstellung von einer kohärenten eidgenössischen Außenpolitik, die zur Staatswerdung und Rechtsstaat-lichkeit beigetragen und geradlinig auf die Neutralität von 1515 nach der Niederlage von Ma-rignano geführt haben solle, und betont hingegen ihre oft schwankende Ausrichtung und Ab-hängigkeit von rasch wechselnden inneren Verhältnissen, die sich in rudimentären und unberechenbaren eidgenössischen Tagsatzungen manifestierten. Die beiden genannten Expo-nenten der Züricher und Berner Politik hatten weiten Handlungsspielraum, betrieben eine aggressive Außenpolitik und nützten ihre Missionen wiederholt zum Interesse ihrer Städte und auch zum Eigeninteresse. Peter Niederhäuser, Damit sie bei dem Haus Österreich beleihen. Eid-genössische Kleinstädte und ihre Beziehungen zum Reich und zu Habsburg (S. 259-276) , verfolgt die Bemühungen Friedrichs III. um die kleinen Städte, die 1415 der Eidgenossenschaft angeschlossen wurden, während seiner Krönungsreise 1442 durch Bestätigung alter Privilegien. Während er im Aargau wenig Erfolg erzielte, konnte der Thurgau als habsburgisches Territori-um - freilich auch nur bis 1460 - stabilisiert werden. Klaus Krüger, Die Ehre der Stadt - die

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246 Rezensionen

Ehre der Hanse (S. 277-290), hat nichts mit Außenpolitik zu tun, sondern spürt dem Ehr-Begriff als rechdich-sozialer Kategorie in hansischen Quellen nach. Waltraut Winkelbauer, Mi-sit ergo Georgium de Plenavilla. Die Heiratsvorbereitungen Friedrichs III. im Spiegel von Reise-dokumenten des Georg von Volkersdorf (S. 291-340), schildert mit vielen, bisher unbekannten Details die diplomatische Mission Friedrichs III. zur Anbahnung seiner Ehe mit Eleonore, der Tochter des Königs Duarte von Portugal, auf die er durch den burgundischen Hof hingewiesen worden war. Georg von Volkersdorf, der auch biographisch vorgestellt wird, und Ulrich Riede-rer besuchten auf ihrer Brautschau-Reise nach Portugal 1448/49 auch Alfons V. von Aragón, seit 1442 König von Neapel-Sizilien, bei der Belagerung der toskanischen Hafenstadt Piombi-no, dann nach einer Audienz bei Papst Nikolaus V. in Rom die Gattin Alfons' V., Königin Maria, in Perpignan und König Juan II. von Kastilien in Medina del Campo. Nach dieser Vor-bereitung wurde 1450 die offizielle Heiratsverhandlung durch Eneas Silvius, der von Georg von Volkersdorf begleitet wurde, am Hof Alfons' V. in Neapel geführt. Der oberösterreichische Adelige erhielt durch König René von Anjou, Alfons V. von Aragon, Königin Maria und Juan II. von Kastilien fur seine Dienste eine Reihe von Urkunden und Auszeichnungen, die im Niederösterreichischen Landesarchiv aufbewahrt werden. Im Anhang zu dem reizvollen Beitrag finden sich zwei mit der Mission zusammenhängende Schreiben Alfons' V. ediert. Martin Wa-gendorfer, Der Blick des Humanisten - Außenpolitik in der „Historia Austrialis" des Eneas Silvius Piccolomini (S. 341-369), präsentiert einen Ausschnitt aus „diesem Glanzstück der österreichischen und humanistischen Geschichtsschreibung" (S. 342f.), das kürzlich durch den Autor bei den MGH ediert wurde. Der Besuch Friedrichs III. und seiner kurz zuvor angetrau-ten Gemahlin Eleonore zu Ostern 1452 bei Alfons V. von Neapel, bei dem das kaiserliche Paar mit einem außerordentlich reichen Aufwand empfangen und gefeiert wurde, findet einen selt-sam matten Niederschlag in der Historia Austrialis, obwohl sich „humanistisch" ergiebige The-men in großer Zahl ergeben hätten. Die Erklärung ist einfach, denn Eneas war aus Krankheits-gründen in Rom zurückgeblieben und war auf Informationen aus zweiter Hand angewiesen. Der Vergleich mit den während der Papstzeit verfassten Commentarii lässt damit die Historia Austrialis sehr viel weniger als „Ego-Dokument" erscheinen, als dies die ältere Forschung noch fest vertreten hatte. Stephan Selzer, Politik und Erscheinung: Der Freiburger Reichstag (1498) in kursächsischen Rechnungen (S. 371-392), wertet die in großer Vollständigkeit und De-tailfreudigkeit vorliegenden Rechnungen des Jahres 1498 aus, um die außerordentlich hohen Ausgaben des sächsischen Herzogs für Musik, Kunsthandwerk, Speisen und vor allem Kleidung als notwendiges Statussymbol und Mittel zur Feststellung seines Ranges unter den anderen Fürsten darzustellen. Als sehr nützlich für den Benützer erweist sich das als Anhang angefugte vollständige Verzeichnis der in allen Beiträgen verwendeten Literatur und ein Register der Orts- und Personennamen.

Wien Werner Maleczek

Tradieren, Vermitteln, Anwenden. Zum Umgang mit Wissensbeständen in spät-mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten, hg. von Jörg Rogge. (Beiträge zu den Historischen Kulturwissenschaften 6.) Akademie Verlag, Berlin 2008. 309 S., Abbil-dungen.

Der vorliegende Ergebnisband einer Mainzer Tagung „Wissen in der Stadt - Mainz und Erfurt im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit" vom Oktober 2006 ist gewiss nicht erheb-lich schlechter als die vielen vergleichbaren hochsubventionierten Verlagsprodukte, die dis-parate Wissensbestände zwischen zwei Buchdeckeln vereinen. Aber wenn im Reihenvorwort vollmundig die Transdisziplinarität beschworen wird, die „nicht eine additive Reihung von Disziplinen, sondern eine integrative Forschungshaltung" meine, und der Band diesen An-spruch nicht im Mindesten einlöst, so darf das nicht verschwiegen werden.

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Literaturberichte 247

Das Thema Wissen wird mit irritierender Beliebigkeit behandelt, und man fühlt sich an eine jener vormodernen Schutzmanteldarstellungen erinnert, bei denen die gesamte Ständewelt unter dem weiten Umhang Mariens Platz fand. Gut könnte man den Begriff Wissen gegen eines der anderen modernen Theorie-Versatzstücke wie Erfahrung oder Erinnerung oder Kom-munikation austauschen.

Zwei stadtgeschichtliche Darstellungen von den Stadtarchivaren Wolfgang Dobras (Mainz) und Rudolf Beni (Erfurt) stellen die Hauptschauplätze vor. Statt aber eine Fallstudie zu einer der beiden Städte anzuschließen, widmet sich Gerd Schwerhoff in seinem durchaus lesens-werten Beitrag den bekanntlich außerordentlich ergiebigen Schriften des Kölner Ratsherrn Hermann von Weinsberg (1518-1597). Es geht in dieser Sektion aber um „Wissen und politi-sches Handeln", also um vortheoretische Wissensbestände der Alltags- und politischen Kultur. Schwerhoff ist ein zu kluger Autor, als dass er nur über sein Dresdener Projekt über öffentli-che Räume schreiben würde, und bemüht sich auf Schritt und Tritt, die wissenssoziologische Dimension einzubringen, aber er ist doch weit mehr an Räumen als an Wissensbeständen interessiert, wenn er die Bedeutung von Haus, Kirche und Rathaus fur seinen Protagonisten schildert. Der Bezug auf den nicht-operationalisierbaren Wissensbegriff der Phänomenologen Berger und Luckmann verstärkt den Eindruck, dass das Thema Wissen den öffendichen Räu-men eher aufgepfropft wird. „Eine historische Wissenssoziologie der alteuropäischen Stadt", betont Schwerhoffbereits im ersten Satz, „ist tendenziell identisch mit ihrer Universalgeschich-te" (S. 61).

Der knappe Beitrag von Katharina Neugebauer über politische Alltagskultur im Spiegel spätmittelalterlicher Chroniken aus Erfurt und Hildesheim kann übergangen werden, denn was die Autorin an Befunden aus Härtung Cammermeisters Erfurter Chronik und dem Diari-um des Hildesheimer Bürgermeisters Henning Brandis erhebt, ist eher belanglos.

Theoretisch noch ambitionierter als Schwerhoffs Ausführungen sind Jörg Rogges „Überle-gungen zu Raumkonzepten und deren heuristischen Nutzen für die Stadtgeschichtsforschung (mit Beispielen aus Mainz und Erfurt im späten Mittelalter)". Ausfuhrlich wird das Thema Raum in der Geschichtswissenschaft diskutiert, von den 40 Seiten des Aufsatzes entfallen ganze zwölf auf die Exemplifizierung anhand von Mainz und Erfurt. Zerknirscht muss ich gestehen, dass ich nicht alles verstanden habe, und so recht leuchtet es mir nicht ein, wo der Erkennt-nisgewinn liegt, wenn sattsam Bekanntes im „Raum-Speak" umformuliert wird. Gerhard Hard hat vor kurzem darauf aufmerksam gemacht, dass sich der Begriff „Raum" ausgezeichnet eig-net, in Trivialitäten eine pompöse Bedeutsamkeit hineinzuraunen (in: Spatial Turn, Bielefeld 2008, S. 290f.). Ich zitiere aus Rogges Zusammenfassung seines Beitrags in der Einleitung: „Wenn sich eine Protestversammlung auf einem Platz oder vor dem Rathaus zusammenfand, entstanden politische Räume, die durch die Körper der Menschen gebildet wurden" (S. 14). Das „Wissen" bleibt jedenfalls ziemlich auf der Strecke.

Hat man die „innovativen" Beiträge hinter sich gebracht, darf man sich bei solider Haus-mannskost etwas ausruhen. Rainer Christoph Schwinges erkundet die Wirkung universitären Wissens, also von Universitätsabsolventen, auf die spätmittelalterlichen Städte sowohl hinsicht-lich der Angebots- als auch der Nachfrageseite. Die Nachfrage wird nicht etwa anhand von Erfurt oder Mainz, sondern am Beispiel der Universitätsstadt Köln erörtert. Dann aber geht es - man hätte fast nicht mehr damit gerechnet - tatsächlich zentral um eine der beiden Bei-spielstädte. Ulman Weiß stellt die Frühzeit der Stiftungsprofessur für evangelische Theologie Augsburgischen Bekenntnisses an der Erfurter Universität (1566-1632) dar, ein Aufsatz, der sprachlich wie inhaldich die anderen überragt. Hervorzuheben ist, dass hier Wissensbestände, wie man sie kennt, angemessen berücksichtigt werden: die gedruckte Publizistik der Professo-ren.

An dieser Stelle hat man die Hoffnung bereits aufgegeben, man würde über die reichen Wissens-Speicher in Mainz und Erfurt, über die Archive und Bibliotheken oder die Bücher der

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248 Rezensionen

Bürger und Gelehrten (etwa die einzigartige Erfurter „Amploniana") ausführlich belehrt. Die nächsten beiden Beiträge widmen sich - soviel Interdisziplinarität muss sein! - musikwissen-schaftlichen Spezialthemen. Welche Texte der mittelalterlichen Musiktheorie in Erfurt überlie-fert sind, fragt Peter Niedermüller. Dass jeder Leser weiß, wer dieser Amplonius war, setzt er (wie die anderen Autoren) einfach voraus. Nicht weniger spezialistisch traktiert Christoph Hust die wohl im Benediktinerkloster St. Jakob entstandene Musiktheorie-Handschrift II 375 der Stadtbibliothek Mainz. Deren „restaurierende" Tendenz mit der Forschung über die von der Wiederentdeckung „alter" Texte geprägte monastische Erinnerungskultur der Zeit oder über „retrospektive Tendenzen" um 1500 in Verbindung zu setzen kommt ihm nicht in den Sinn.

Der letzte Beitrag setzt dem Band die Krone auf: „Legende oder Wirklichkeit? Das Wis-sen um städtische Klostergründungen in der Historiographie des Mittelalters und der Frühen Neuzeit" von Anette Pelizaeus. Die Kunsthistorikerin hat ein Buch über die Predigerkirche in Erfurt geschrieben, und daher erfahren wir außerordentlich viel über die Baugeschichte der Dominikanerklöster in Eisenach und Erfurt sowie des Klosters Rupertsberg in Bingerbrück, während die im Titel angekündigte Traditionsbildung denkbar unverständig behandelt wird. Jegliche quellenkritische Reflexion fehlt (ebenso wie eine Interpretation der Zeugnisse); bei dem Eisenacher Dominikanerkloster wird noch nicht einmal die Quel le des Legendenberichts ange-geben. Der Rupertsberger Legendenbericht zu Hildegard von Bingen wird nach einer im Litera-turverzeichnis fehlenden Schrift Como, Sagen und Legenden (einer lokalen Sagensammlung von 1919) referiert. Dass Falckensceins Erfurter Historia als „Civitatis Erfurtensis" im Text angeführt wird, stimmt bereits bedenklich. Dass zweimal von „chronalischen Nachrichten" die Rede ist, ist dann nur noch peinlich. Manche Aufsätze sind schlicht und einfach nicht druckfähig.

Dankbar bin ich, dass dieses Buch mein Wissen um die Unzulänglichkeiten unserer Wis-senschaftskommunikation bereichert hat.

Neuß Klaus Graf

Peter BAUMGART, Univers i tä ten im konfes s ione l len Zeitalter. G e s a m m e l t e Beiträge. (Re format ionsge sch ich t l i che S t u d i e n u n d T e x t e 149 . ) AschendorfF , M ü n s t e r 2 0 0 6 . X , 5 1 9 S . , 16 A b b .

Der Würzburger Frühneuzeithistoriker Peter Baumgart (geb. 1931 Berlin) zählt zu den Pionieren der modernen, quellenbasierten Universitätsgeschichtsforschung, die sich seit den sechziger Jahren verstärkt etabliert hat. Hatte die Hochschulforschung fur das Mittelalter seit dem 19. Jahrhundert wesentliche Grundlagen geschaffen, so ist die Erforschung der Frü-hen Neuzeit erst in den letzten fünf Jahrzehnten ins Zentrum des Interesses gerückt und hat neue Forschungsperspektiven eröffnet. Ein Spiegelbild dieser Entwicklung ist die vorliegende Sammlung universitätsgeschichtlicher Arbeiten zur konfessionellen Epoche, welche der Autor zwischen 1961 und 1995 an verschiedenen Orten publiziert hat. Es wurden fünfzehn einschlä-gige Abhandlungen aus diesem Arbeitsfeld in dem vorliegenden Band in ihrer ursprünglichen Fassung abgedruckt. Auf eine Einarbeitung neuerer Literatur wurde verzichtet, die Texte jedoch formal an die Vorgaben der Reihe angepasst. Ein sechzehnter Aufsatz wird hier zum ersten Mal veröffentlicht: „D ie Breslauer Leopoldina zwischen Habsburg und Preußen, 1 7 0 2 - 1 8 1 1 " .

Baumgart beleuchtet den Universitätstypus der konfessionellen Epoche, der sich in mehre-ren Aspekten von den mittelalterlichen Generalstudien als auch von den Hochschulen der Auf-klärungszeit und noch mehr von denen der nachfolgenden „Humboldtze i t " unterschied. Als besonders prägende Charakteristika dieses Typus nennt er im Vorwort drei Faktoren, und zwar „die Dominanz der Landesherrschaft als Ausdruck früher deutscher Territorialstaatlichkeit, der durchgängig vom Humani smus geprägte Bildungshorizont, wie er durch die Artes-Studenten den Studierenden vermittelt wurde und schließlich die allenthalben konfessionsgebundene Orientierung der Hochschulen" .

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Li tera turber ichte 249

Als Untersuchungsob jekte und Beispiele dieses Typus' boten sich d e m Autor insbesondere die 1575 von Kaiser Maximil ian II. z u m Generals tudium erhobene protestantische Academia Julia in H e l m s t e d t (Gründer Herzog Jul ius von Braunschweig-Wolfenbüttel) sowie die im glei-chen Jahr v o m Kaiser privilegierte fürstbischöfliche Universität zu Würzburg (Gründer Fürst-bischof Jul ius Echter von Mespelbrunn) . Beiden Hochschulen war jeweils die G r ü n d u n g eines Gymnasium illustre vorangegangen.

Grund legende E i n f ü h r u n g in die Thematik bieten die beiden einleitenden Aufsätze „ D i e deutschen Universitäten im Zeichen des Konfess ional i smus" und „Humani s t i s che Bildungsre-form an deutschen Universitäten des 16. Jahrhunderts" . Sie beleuchten die organisatorischen Strukturen der vormodernen Universität sowie die Erneuerung des Bi ldungsgutes im Zeichen eines pädagogisch-didakt i sch ausgerichteten Univers i tätshumanismus u n d der im Reich kon-kurrierenden Konfess ionen eingehend. Es wird dabei die deutsche Bi ldungs landschaft plastisch vor Augen geführt , die von den Zielen der jeweiligen Landesherrn und der von diesen ver-ordneten Konfess ionen geprägt waren. Als tendenzielle Zielsetzung wird die Instrumentali-sierung von B i ldung , Wissenschaft und Religion für die Fest igung politischer oder kirchlicher Macht deutl ich. Dabe i bildete die humanist i sche Bi ldungsbewegung die eigentliche geistige Basis der universitären Lehre, welche Generat ionen von Lutheranern, Reformierten und Ka-tholiken gleichermaßen zu Dienern der Kirche und des Staates erzogen haben (He inz Liebig) . Als Einzeluntersuchungen werden zu diesem Kapitel Arbeiten zur Gründungsgesch ichte von Würzburg u n d He lmstedt angefugt , in denen auch die beiden Privilegien Maximi l i ans II. einer Analyse unterzogen werden.

In einem weiteren Abschnitt s ind f ü n f Beiträge über die Jul ius-Universi tät zu Helmstedt versammelt , wobei neben der Gründungsgeschichte und der M i t w i r k u n g des D a v i d Chyträus auch die Ause inandersetzung mit d e m Landes furs tentum sowie die Frage der Universitätsauto-nomie behandelt werden. Wichtig erscheint auch die Betrachtung der wirtschaftl ichen Situati-on der Helmstedter Universitätsprofessoren a m Ausgang des 16. J ahrhundert s . D e n Anfängen der fürstbischöfl ichen Julius-Universität zu Würzburg sowie der dor t erfolgten Bi ldungsre form unter der Ä g i d e des Reichsfreiherrn Karl Theodor von Dalberg s ind weitere drei Aufsätze ge-widmet .

In den abschl ießenden Kapiteln wird zunächst auf die Gründungsgesch ichte der ersten genuin protestantischen Hochschule a u f Reichsboden im landgräfl ich-hessischen M a r b u r g eingegangen. Weiters wurden Aufsätze zur Bildungs- und Universitätsgeschichte des 18. Jahr-hunderts beigegeben, darunter die Untersuchung der Breslauer L e o p o l d i n a als „jesuitischer Semiunivers i tät" im habsburgischen Schlesien von ihrer G r ü n d u n g ( 1 7 0 2 ) an bis in die preu-ßische Zeit, sowie zu den universalen Reformbestrebungen a u f religiös-geistigem Gebiet , getra-gen insbesondere von Got t f r ied Wilhelm Leibnitz und August H e r m a n n Francke. Schließlich sprengt das abschl ießende Kapitel den zeitlichen Untersuchungsrahmen u n d widmet sich allge-mein der „Universität als europäischer Bi ldungsinst i tut ion" , die „aus den Bi ldungseinrichtun-gen keiner anderen Hochku l tur " abzuleiten sei, „weder aus der für das .europäische D e n k e n ' grundlegenden griechisch-römischen Welt [ . . . ] noch aus d e m is lamischen oder jüdischen Kul-turkreis [ . . . ] " . H ins i chd ich der Frage, ob die heutige Universität noch mehr als den N a m e n mit ihren historischen Vorgängern gemein habe, sei jedenfalls Vorsicht bei der „isolierenden Betrachtung" einzelner Phänomene walten zu lassen, die keine Rückschlüsse a u f das G a n z e erlaubten. Wir fänden zwar auffällige Kontinuitäten im Bereich der Inst i tutionen und ihrer Organi sa t ions formen, dagegen haben sich die wissenschaftliche Ausr ichtung und die Lehre sowie die soziale D i m e n s i o n grundlegend verändert.

Insgesamt bietet diese Aufsa tz sammlung , die durch ein Ortsregister u n d ein Personen- u n d Sachregister erschlossen ist, eine unverzichtbare Grundlage fur frühneuzeitl iche Forschungen im Bereich der Universitätsgeschichte.

Wien Kurt Mühlberger

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Kathrin UTZTREMP, Von der Häresie zur Hexerei. „Wirkliche" und imaginäre Sek-

ten im Spätmittelalter. ( M G H Schriften 59.) Hahn, Hannover 2 0 0 9 . XXIX, 7 0 3 S.

Das umfangreiche Buch von Kathrin Utz Tremp, das im Rahmen des Schweizer For-schungsprojekts „Les débuts de la chasse aux sorcières au bas Moyen Age: Sources et recher-ches" entstanden ist, gilt dem „häretischen Substrat" der Hexerei, dem Weg von den häreti-schen Sekten und Häretikerverfolgungen des Spätmittelalters zu den Hexenverfolgungen der Frühen Neuzeit, der Suche nach verbindenden Elementen zwischen „echten" Sekten (Katharer und Waldenser), imaginären Sekten, die im Zuge der Häretikerverfolgung kreiert wurden (Lu-ziferianer, „Sekte" vom Freien Geist), und der imaginären Hexensekte. Beim Herstellen und Aufzeigen dieser Zusammenhänge moniert die Autorin Defizite, die auch der Epochengrenze und der dadurch meist getrennten Behandlung mittelalterlicher Häresie und neuzeitlicher He-xenprozesse in der Forschung geschuldet sind.

Einführend werden fünf Hexentraktate - der bekannteste die in den 1430er Jahren im Aostatal verfassten Errores Gazariorum - auf häretische Elemente in der Beschreibung der He-xensekte befragt und die prominentesten Darstellungen der Anfänge der Hexenverfolgung, von Jeffrey Burton Russell bis Carlo Ginzburg, auf die Rolle der Häresie bei der Entstehung der Hexerei, die Verortung dieser Entstehung und die „Realität" der Hexerei - Gradmesser hierfür sind auch die als grundlegend resümierten Aufsätze Herbert Grundmanns „Der Typus des Ketzers in mittelalterlicher Anschauung" und „Ketzerverhöre des Spätmittelalters als quel-lenkritisches Problem".

Den Hauptteil über die Sekten des Mittelalters eröffnen die südfranzösischen Katharer: Ergänzend zu Malcolm Lambert und Emmanuel Le Roy Ladurie filtert die Autorin aus den Verhörprotokollen im Inquisitionsregister des Bischofs Jacques Fournier von Pamiers insbe-sondere Rituale wie das Consolamentum, das Mel ioramentum, Elemente wie die nächtliche Versammlung und die Denunziation von Anwesenden, von welchen sich eine Brücke zur He-xerei schlagen lässt. Komplexer ist die Einordnung der Waldenser, die als kirchenkritischer innerer Feind für gefahrlicher galten als die Katharer, in die Vorgeschichte der Hexerei: Ein Synkretismus zwischen Waldensern und Luziferianern wird von den Inquisitoren einerseits hergestellt (Konrad von Marburg) , andererseits aber auch verworfen (Peter Zwicker, Ende des 14. Jahrhunderts); die Waldenserprozesse, die 1335, 1373, 1387/88 in Piémont stattfanden und die die Autorin in Auseinandersetzung mit Grado Merlos Edition untersucht, fördern waldensische, katharisch-dualistische und magisch-hexerische Elemente zutage; „unabdingbare Voraussetzung für die Entwicklung von der Häresie zur Hexerei" (S. 254) ist weiters die Ein-richtung einer ständigen Inquisition, welche die Häretiker sucht und findet und die Inhalte der Abweichungen ausdehnt.

Die „imaginäre Sekte" der Luziferianer, in welcher Elemente aus der Lehre der Katharer aufscheinen, „entstand" im Zuge der Häretikerverfolgung Konrads von Marburg ( 1231 -1233 ) und fand ihre Verbreitung über das Schreiben Gregors IX. Vox in Rama und das Handbuch des „Passauer Anonymus": Anhand der Studien von Alexander Patschovsky, der die sukzessive Ab-löse der inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Häresie durch deren Verteufelung aufgezeigt hat, geht die Autorin dem Teufelsanbeter-Stereotyp, das auch ein Hexenstereotyp ist, im Rah-men der Häretikerverfolgung in Deutschland, Böhmen und Osterreich im 13. und 14. Jahr-hundert nach. Um die „Konstruktion" einer Sekte, der „Sekte" vom Freien Geist, handelt es sich auch bei den Fragenkatalogen, die ausgehend von den Beginendekreten auf dem Konzil von Vienne 1311/1312 bei den Prozessen gegen die Beginen im 14. Jahrhundert herangezogen wurden (Robert Lerner, The Heresy of the Free Spirit in the Later Middle Ages).

Ein weiteres Bindeglied zwischen Häresie und Hexerei stellt neben der Diabolisierung die Kriminalisierung der Häresie dar: Der Ketzerprozess wird (mit Winfr ied Trusen) als durch den Einfluss des römischen Rechts mit dem crimen laese maiestatis modifizierter Inquisitionspro-

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Literaturberichte 251

zess gezeigt, der Hexenprozess als weiterentwickelter Ketzerprozess, wobei sich die Stellung des Angeklagten kontinuierlich verschlechtert (Anwendung der Folter, 1252, nach Innocenz' IV. Bulle Ad exstirpanda\ Todesurteil nicht bei Rückfalligkeit, sondern bei Erstverurteilung etc.). Dazu kommt die ,Ungleichung der Magie an die Häresie", die mit der Teufelsanbetung als Bindeglied und der Übertragung der Untersuchung über die Magie an die Inquisition an der „Entstehung" der Hexensekte beteiligt ist. Verschränkte Waldenser- (1399, 1430) und Hexen-prozesse (1429, 1437-1442) im Rahmen der Einrichtung einer ständigen Inquisition machen Freiburg in der Westschweiz zum „Laboratorium", in dem sich der Bedeutungswandel von Invektiven (vaudois), Änderungen im Prozessrecht und der Einfluss der Angst vor der aggres-siven, „echten" Sekte der Hussiten auf den Umgang mit der imaginären Hexensekte aufzeigen lassen. Der Ubergang von der häretisch geprägten Hexerei zur Hexerei mit Malefizien wird an-hand von Hexenprozessen in der Westschweiz (Dommartin, Neuenburg) des 15. Jahrhunderts dargestellt; die Autorin fächert allerdings in unterschiedliche „Prozesslandschaften" auf und verzichtet auf den Anspruch, Ort (über den Alpenraum hinaus präzisierend) und Zeitpunkt der „Entstehung" der Hexensekte dingfest machen zu können.

Eine Aufgliederung nach Jahrhunderten arbeitet resümierend das häretische Substrat der Hexenbilder und den Transport desselben durch Inquisition und Inquisitionsprozesse heraus.

Das vorliegende Werk wirkt wohl gelegendich als Montage, das Verhältnis der aus jeweils einem „Leitbuch" bzw. -artikel bzw. -autor referierten Passagen zu detaillierten Auswertungen der Quellen aus den Forschungsschwerpunkten der Autorin bleibt mitunter unausgewogen. Eine „exemplarische" Geschichte der spätmittelalterlichen Häresien „mit dem Fluchtpunkt der Hexensekte" konzipiert und zu weiteren Fragestellungen angeregt zu haben, ist jedoch unbe-stritten ein Verdienst.

Wien Andrea Sommerlechner

Pays bourguignons et autrichiens ( X I Y - X V T siècles): une confrontation institutio-nelle et culturelle. Rencontres ¿'Innsbruck, 2 9 septembre au 2 octobre 2 0 0 5 , hg. von Jean-Marie CAUCHIES-Heinz NOFLATSCHER. (Publication du Centre européen d'études bourguignonnes [ X T V - X V T s.] 46 . ) Centre européen d'études bourguignonnes ( X T V -XVT s.), Neuchâtel 2 0 0 6 . 2 9 9 S., Abb.

Das rührige Centre européen d'études bourguignonnes, das sich der Erforschung der Ge-schichte des spätmittelalterlichen burgundischen Zwischenreiches widmet, veranstaltete im Herbst 2005 seine Jahrestagung in Innsbruck und wählte aus nahe liegenden Gründen zum Thema die facettenreichen Beziehungen zwischen dem Herrschaftsbereich der Habsburger und jenem der Herzöge von Burgund, die schließlich durch die Heirat zwischen Maximilian und der Erbprinzessin Maria zum Aufstieg des Hauses Osterreich zur europäischen Großmacht führten. Die Beziehungen reichten bis in das 14. Jahrhundert zurück, denn mit der Erwerbung der Freigrafschaft Burgund durch Philipp den Kühnen wurden die Habsburger zu Nachbarn und damit zu Mitspielern im Mächtekonzert, an dem neben den regionalen Gewalten bald alle vom Hundertjährigen Krieg Betroffenen beteiligt sein sollten. Es ist unbestritten, dass die Habsburger immer die Juniorpartner waren, denn die gewaltige Wirtschaftskraft der burgun-dischen Territorien und die kulturelle Überlegenheit des glanzvollen westeuropäischen Hofes mit seinen prachtvollen Residenzen ließ den Herzögen im deutschen Südosten nur die Rolle des Empfangenden, auch wenn Friedrich III. kompensatorisch geschickt das Prestige und die rechtliche Vorrangstellung des Reichsoberhauptes einzusetzen verstand. Da der Großteil der burgundischen Erbschaft nach der langen kriegerischen Auseinandersetzung mit den franzö-sischen Königen für Maximilian und seine Kinder gerettet werden konnte, verlagerte sich der Schwerpunkt der habsburgischen Herrschaften nach Westen, zumindest bis zum frühen Tod Philipps des Schönen. Vor diesem Hintergrund sind die Beiträge des sorgfaltig redigierten Sam-

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252 Rezensionen

melbandes angesiedelt, der neben polit ischer Geschichte und Verfassungs- und Verwaltungs-geschichte auch die Kunst- , Kultur- und Sprachgeschichte in zeitlicher Erstreckung bis ins 16 . Jahrhundert behandelt . K n a p p mögen sie hier vorgestellt werden.

Jean Richard, Les relations dynastiques entre Bourgogne et Autriche de 1 2 8 5 à l 'avènement du duc Charles (S. 5 - 1 2 ) , ist ein eindrucksvoller Beweis, dass der Nestor der französischen Burgund- (und Kreuzzugs-) Forschung mit 8 5 Jahren die aktuelle wissenschaftliche Diskussion mühelos beherrscht. Behandelt werden: D i e 1 3 9 2 geschlossene Eheverbindung zwischen Leo-pold IV., dem Zweitältesten Sohn des Habsburgers Leopold II I . , und Katharina, einer Tochter Philipps des Kühnen von Burgund, deren besitzrechtliche Folgen sich nach Leopolds Tod ( 1 4 1 1 ) noch Jahrzehnte hinziehen sollten. Weiters die in den Vierzigerjahren des 15. Jahrhun-derts einsetzenden B e m ü h u n g e n Philipps des G u t e n u m ein vom Reich in Lehensabhängigkeit stehendes Königreich, das Friedrich I I I . gewähren sollte. N u r gestreift werden die langen Ver-handlungen, die zur Ehe von 1 4 7 7 fuhren sollten. S o n j a Dünnebei l , D e r Orden vom Goldenen Vlies zwischen Burgund und dem Hause Osterreich (S. 13—30), stellt die - letztlich vergebli-chen - B e m ü h u n g e n Maximi l ians dar, einen österreichischen Zweig des Ordens zu gründen und diesen überhaupt für die eigenen Zwecke einzuspannen. Es gelang ihm, etwa ein Vierte! der neuen Mitgl ieder aus d e m Reich und aus der habsburgischen Familie wählen zu lassen, die freilich bei den Kapitelsitzungen fast nie anwesend waren. J ean-Mar ie Yante, Le prince et l ' économie . Bourgogne - Pays Bas - Autr iche ( X I V - X V siècles) (S. 31—44), fragt nach den Mögl ichkei ten einer wirkungsvollen Wirtschaftspol i t ik , zunächst der burgundischen Herzöge, dann ihrer habsburgischen Nachfolger. Er sieht sie bei prinzipiell begrenzten Möglichkeiten am ehesten im Straßen- und Münzwesen und im Bergbau. D i e österreichische Wirtschaftsge-schichte k o m m t wegen sehr sektorieller Benützung der Forschungsliteratur zu kurz. J ean-Mar ie Moegl in , „Welches" et .A l lemands" dans l'espace bourguignon, germanique et suisse du Χ Ι Ι Γ au X V siècle (S. 4 5 - 7 5 ) , diskutiert im Lichte jüngst vorgebrachter Argumente für einen natio-nalen Antagonismus zwischen Deutschen und Franzosen während der Burgunderkriege deren Stichhaltigkeit , k o m m t aber zu d e m Schluss, dass in gemischtsprachigen Gebie ten das Zusam-menleben leidlich funktionierte und die adeligen Eliten die Notwendigkeit der Sprachbeherr-schung erkannten, über die Sprachgrenze hinweg ihre Familienverbindungen knüpften und auch diesseits und jenseits der Sprachgrenze Dienstverpfl ichtungen eingingen, freilich eher von O s t e n nach Westen als umgekehrt . Auch im Fall von Fehden zwischen Angehörigen beider Volksgruppen waren die Konfl ikte stets machtpoli t ischer oder territorialer, nie jedoch ethni-scher Natur, wenn auch die Historiographen ihre Berichte mit alten Stereotypen vom Volks-charakter und der prinzipiellen Verschiedenheit von „Deutschen" und „Welschen" aufluden. J e a n - M a r i e Cauchies , Das burgundische Vorbild (le modèle bourguignon) et sa „réception" dans les principautés habsbourgeoises: arguments et perplexité (S. 7 7 - 9 0 ) , betrachtet skeptisch die seit d e m Beginn des 2 0 . Jahrhunderts als erwiesen bestehende Abhängigkeit der maximilianei-schen Verwaltungsreformen vom burgundischen Vorbild. In einzelnen Bereichen, über einzel-ne Personen mögen Ent lehnungen geschehen sein, aber die Modernisierung der Verwaltung während der Jahrzehnte u m 1 5 0 0 ist ein allgemein europäisches P h ä n o m e n , das mehr mit umfassender Verschrif t l ichung und Professionalisierung als mit Kopieren eines Modells zu tun hat. Manfred Hollegger, Burgundische Regierungs-, Verwaltungs- und Finanztechniken in Ö s -terreich? Z u m Inst i tut ionentransfer u m 1 5 0 0 (S. 9 1 - 1 0 3 ) , bestätigt diesen Befund von der österreichischen Seite her: Es gibt keine eindeutigen Belege für burgundische Regierungs- , Ver-waltungs- und Finanztechniken in Österreich. D i e Kennzeichnung von parallelen, teils zeirver-schobenen Entwicklungen bei der Ausbi ldung von Staatlichkeit und der sie tragenden Institu-t ionen trifft die geschichtl iche Wirkl ichkei t besser. Sabine Weiss, D e r Postkurs. D i e institutionalisierte Nachr ichtenverbindung zwischen Österreich und den Niederlanden seit Maximi l ian I. (S. 1 0 5 - 1 1 3 ) , schildert die seit 1 4 9 0 eingerichtete und der venezianischen Fami-lie Taxis übertragene Postverbindung, die zunächst Innsbruck und Mecheln , bald aber viele der

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Literaturberichte 253

habsburgischen Residenzen in ganz Europa verband und damit eine der Voraussetzungen fur die weit ausgreifende Politik der Habsburger wurde. Paul-Joachim Heinig, Akteure und Media-toren burgundisch-österreichischer Beziehungen im 15. Jahrhundert (S. 115-144), nimmt in den Blick: die Markgrafen von Baden-Hachberg und einige habsburgfreundliche Männer am Hof Philipps des Guten, darunter den Herren von Neufchâtel, weiters für die Zeit Maximilians die regional verquickten, teils miteinander konkurrierenden Ratsgruppen, die er in der Franche-Comté und im Luxemburgischen rekrutierte. Wirksam befördert wurden die burgundisch-ös-terreichischen Beziehungen überdies durch etliche Herrschaftsträger im Reich, die traditionell gute Verbindungen in den Westen hatten, namentlich die Markgrafen von Baden, die Grafen/ Herzöge von Württemberg und die Grafen von Nassau. Georges BischofF, Un „condottiere" austro-bourguignon, Frederic Cappler (v. 1440, t 1506) (S. 145-160), zeichnet die Lebensge-schichte dieses aus den Vorlanden stammenden kleinen Adeligen nach, der als Militärhaupt-mann an vielen Kriegsschauplätzen ab den Sechzigerjahren des 15. Jahrhunderts zu finden war und seinen größten Sieg im Krieg Sigismunds von Tirol gegen Venedig bei Calliano im Trenti-no 1487 erfocht. Der Haudegen, ein Vorläufer der Landsknechtführer des 16. Jahrhunderts, war für die zahlreichen Unternehmungen Maximilians unentbehrlich, aber es gelang dennoch nicht der soziale Aufstieg der Familie. Hans Cools, Quelques hommes de cour originaires des pays germaniques aux Pays-Bas à l'époque de Maximilien I" (S. 161-170), handelt neben an-deren von den Herzögen von Kleve, von einigen Mitgliedern der Markgrafenfamilie von Ba-den, von Veit von Wolkenstein und den Brüdern Martin und Paul von Polheim, die das inter-nationale Geflecht der habsburgischen Herrschaften repräsentierten. Renate Prochno, Die Inszenierung der Herzöge von Burgund in ihren Portraits und ihre habsburgische Nachfolge (S. 171-189), verfolgt die Geste, mit der auf den Portraits der burgundischen Herzöge ein bestimmter Anhänger besonders vorgewiesen wird, auf jenen der habsburgischen Nachfolger und interpretiert sie als bewusst gewähltes, den Rang unterstreichendes Charakteristikum, das Kontinuität signalisieren sollte. Laetitia Gorter-Van Royen, Les chasses de Marie de Habs-bourg, reine de Hongrie et de Bohême, régente des Pays-Bas (S. 191-202), verfolgt die bei der Jagd eingesetzten Tiere der späteren Gemahlin Ludwigs II., nämlich Pferde, Hunde und Fal-ken, die besonders nach ihrer Rückkehr als Regentin der Niederlande 1531 als Statussymbole eine große Rolle spielten. Jeroen Duindam, The Burgundian-Spanish legacy in European court life: a brief reassessment and the example of the Austrian Habsburgs (S. 203-220) , geht den Wurzeln des spanischen Hofzeremoniells nach, das freilich keine geradlinige Übernahme eines burgundischen Vorbildes war, und schließt grundsätzliche Überlegungen zum Kulturtransfer in der frühen Neuzeit an. Rudolf Flotzinger, Musikalische Interkulturalität? Zur Rezeption westlichen Komponierens in den Ländern der Habsburger bis gegen Ende des 15. Jahrhunderts (S. 221-234) , verfolgt franko-flämische Musiker und ihre Werke in österreichischen Hofkapel-len und Bibliotheken, in denen sie seit dem späten 14. Jahrhundert nachzuweisen sind. Am Anfang steht Jacobus de Holandia, ein Kantor bei Albrecht IV. (1395-1404) , und seitdem trugen die „Niederländer" immer einen Teil der österreichischen höfischen Musikkultur. Aus den erhaltenen Handschriften zu schließen war das Repertoire breit und die Beeinflussung der heimischen Komponisten groß. Dominique AJlart, Ernest d'Autriche, gouverneur des Pays-Bas (1594—1595). Portrait d'un amateur de peinture et analyse du contenu de sa collection (S. 235-258) : In seiner etwa ein Jahr dauernden Funktion als Generalgouverneur der Nieder-lande (Januar 1594 bis zu seinem Tod im Februar 1595) enttäuschte der jüngere Bruder der Kaiser Rudolf II. und Matthias bei den ihm zugedachten Aufgaben als Friedensstifter und Hersteller der inneren Ordnung, aber als passionierter Kunstsammler hinterließ er eine tiefe Spur - nicht nur gewaltige Schulden, sondern eine große Sammlung, die nach seinem Tod nicht beisammen blieb, von der aber einige Brueghel-Gemälde des Wiener Kunsthistorischen Museums zu den erlesensten Stücken zählen. Hans Goebl, Die autographen französischen Brie-fe Kaiser Maximilians an seine Tochter Margarethe. Eine kurzgefasste linguistische Analyse

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254 Rezensionen

(S. 259-273): Nach dem Zeugnis seiner autobiographischen Schrift „Weißkunig" erlernte Ma-ximilian die französische Sprache von seiner ersten Frau, Maria von Burgund. Die Untersu-chung der etwa 40 französischen Briefe weitgehend privaten Inhalts an seine Tochter Margare-the zeigt eine gute Sprachbeherrschung mit reichem Wortschatz, was auf keinerlei Schwierigkeiten bei der Mitteilung auch recht komplexer Sachverhalte hinweist. Er setzte sich freilich souverän über viele der zeitgenössischen Sprach- bzw. Schreibnormen hinweg, was auch damit gut zu erklären ist, dass die Briefe alleine fur die Augen seiner Tochter bestimmt waren. Ursula Stampfer, Niederländische Drucke in der Hofbibliothek Erzherzog Maximilians III. (S. 273—284): Der vierte Sohn Kaiser Maximilians II. hinterließ als Regent Tirols und der Vorlan-de bei seinem Tod 1618 in Innsbruck eine stattliche Büchersammlung von etwa 1800 Hand-schriften und Drucken, von der ein Katalog angelegt wurde. Die heutige Bibliotheksheimat ist nur mehr zum kleineren Teil zu ermitteln. Etwa ein Sechstel davon wurde in den Niederlanden gedruckt, wobei die Theologica eindeutig überwiegen. An zweiter Stelle stehen historische Wer-ke, an dritter die gerade in den Niederlanden hoch entwickelte Kartographie. Martina Fuchs, Herzog Karl der Kühne in der österreichischen Historiographie - eine Spurensuche (S. 285-299), mustert die Standardwerke zur „Osterreichischen Geschichte" seit dem frühen 19. Jahrhundert, wobei die Verpfändung der Vorlande an Karl den Kühnen im Jahr 1469, das Trierer Treffen 1473 und die burgundische Heirat 1477 die Ansatzpunkte bieten. Der Bedeu-tung gerecht werden nach Auffassung der Autorin nur Alfons Huber (1885) und Alois Nieder-stätter (1996). Der reiche Sammelband hat leider einen Mangel, der nicht übergangen werden soll, nämlich das Fehlen eines Registers. Da derartige wissenschaftliche Publikationen sehr sel-ten vom Anfang bis zum Schluss gelesen werden, sollte man ihren Ertrag nicht von vornherein verbergen, sondern die Herausgeber mögen neben der Mahnungs- und Redaktionsarbeit auch noch die zwei Wochen Registerherstellung auf sich nehmen. Die Zahl der Benützer würde sich vervielfachen.

Wien Werner Maleczek

Hofwirtschaft. Ein ökonomischer Blick auf Hof und Residenz in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. 10. Symposium der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Gottorf/Schleswig, 2 3 . - 2 6 . September 2006, hg. von G e r h a r d F O U Q U E T - J a n H I R S C H B I E G E L - W e r n e r PARAVICINI. ( R e s i d e n z e n f o r s c h u n g 2 1 . )

Thorbecke, Ostfildern 2008 . 510 S.

Es ist tatsächlich erstaunlich, dass sich die Residenzen-Kommission erst in den letzten Jahren mit dem Thema der Hofwirtschaft als Schwerpunkt befasst hat. Denn bekanntlich ist der Hof ja ein beachtlicher Wirtschaftskörper und die Ausgaben dort werden gewöhnlich mit Verschwendung gleichgesetzt. Aber ist es tatsächlich so, dass das Geld, das in den Luxus fließt, völlig unkontrolliert dort landet? Dies ist eine der Fragestellungen, die der jüngste Band 21 der Residenzenforschung aufwirft und der im Jahr 2006 im Symposium der Residenzen-Kommis-sion in Gottorf/Schleswig diskutiert wurde. Andere Themen befassen sich mit der Erörterung, ob Verschwendung fur den spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Hof eine Notwendigkeit war bzw. welche Prioritäten die Herrscher bei knappen finanziellen Mitteln setzten. Natürlich auch nicht uninteressant ist die Einnahmeseite der Hofhaltung, denn die Einnahmen - welcher Art auch immer - mussten ja die nicht unbedeutenden Ausgaben finanzieren.

Der Band spannt damit einen weiten Bogen, der in vier Abschnitten mit 22 Beiträgen die vielfältigen Aspekte der Hofwirtschaft zur Diskussion stellt.

Als Einstieg in das Thema berichtet Arnold Esch über die Hofwirtschaft des Papstes, der Kurie in Rom. Seine Untersuchung betrachtet die Hofwirtschaft gewissermaßen von außen. Er stellt zur Diskussion, welche wichtige Rolle ein - in seinem Fall spezieller - Hof für eine Residenz bedeutet. An Hand von Zollregistern und der Analyse der Anwesenheitsperioden der

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Literaturberichte 255

Kurie in Rom gelingt es ihm nachzuweisen, wie wirtschaftlich bedeutend der Hof fur die Stadt Rom war. Diese Diagnose wird auch graphisch unterstürzt.

In dem ersten Abschnitt des Symposions wurde die Frage erörtert, ob Verschwendung eine Notwendigkeit darstelle. Antworten dazu versuchen Stephan Selzer, Klaus Neitmann und Jean-François Lassalmonie an Hand von Fallbeispielen zu geben. Torsten Fried legt dazu die theoretischen Antworten der Zeit dar. Unbestritten in deren Zusammenschau war, dass Geld, Repräsentation und Herrschaft in einem wesentlichen Zusammenhang stehen. Diese Faktoren bestimmen den fürstlichen Stand des Herrschers. Aber die richtige Verwendung von Geld war das Entscheidende. Dazu gehört Freigebigkeit, Repräsentation, aber keine Verschwendung. Die beiden Fallbeispiele von Stephan Selzer und Klaus Neitmann beziehen sich auf nachgeborene Fürstensöhne, die im Norden Europas als Hochmeister des Deutschen Ordens bzw. als bischöf-licher Koadjutor ihre Residenzen hatten. In beiden Fällen wurde angestrebt, einen ihrer fürst-lichen Herkunft angemessenen Hof zu fuhren, ohne dabei auf die finanziellen Möglichkeiten Bedacht zu nehmen. Jean-François Lassalmonie schneidet in seinem Beitrag über Ludwig XI. von Frankreich die Frage an, ob ein Fürst eine ausgedehnte Hofhaltung für Repräsentation und Selbstdarstellung benötige. Als Ergebnis kommt Lassalmonie zu dem Schluss, dass die Prioritäten Ludwigs XI. andere waren: Seine Ausgaben konzentrierten sich auf seinen persön-lichen Komfort, seine Sicherheit (Militär) und auf Zuwendungen zur Bindung Getreuer an seine Person.

Der zweite Abschnitt des Symposiums beschäftigte sich mit der Frage der ökonomischen Organisation eines Hofes. Unter den sechs Beiträgen des vorliegenden Bandes befassen sich drei mit organisatorischen Maßnahmen. Mark Mersiowsky skizziert die Entwicklung der Fi-nanzverwaltung und Finanzkontrolle in den deutschen Territorien vom 12. bis zum 16. Jahr-hundert. Das damalige „Verwaltungswollen" (ein von Mersiowsky vorgeschlagener Begriff) richtete sich dabei nach den Bedürfnissen des Fürsten, nämlich der Sicherung der Ressourcen für den eigenen Bedarf. Eine spezielle organisatorische Einrichtung zum Zweck der Kosten-kontrolle des Kaiserhofes war die Hofbuchhaltung. Mark Hengerer gibt einen Überblick zur Entwicklung der kaiserlichen Hofbuchhaltung seit der Zeit Kaiser Ferdinands I. bis zur Reform der Hofkammer und der Buchhaltung im Jahr 1717. Dem Beitrag ist eine Edition der Instruk-tion für den Hofbuchhalter aus dem Jahr 1583 angeschlossen. Schließlich war die Errichtung einer Hofordnung ebenfalls ein organisatorisches Instrument, um ein sparsames Wirtschaften zu erzwingen. Harriet von Natzmer schildert die über die Veranlassung der Stände von Kurfürst Joachim II. von Brandenburg erlassene Hofordnung, bei der es sich vordergründig um die Beschreibung des Hofstaates handelte. Doch war sie als Grundlage für eine verbesserte Wirt-schaftsführung gedacht und wurde auch so genutzt.

Die anderen Berichte über das Symposium zu diesem Thema beziehen sich auf konkretes wirtschaftliches Verhalten der Fürsten. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang die Schilderung des ökonomischen Verhaltens des portugiesischen Hofes bei der kommerziellen Ausbeutung der neuen Entdeckungen, die Ulf Christian Ewert mit seinem Beitrag „Der Fürst als Unternehmer" gibt. Es wurden für Interessenten verschiedene Anreizsysteme geschaffen, damit diese bereit waren, das nicht unbeträchtliche finanzielle Risiko zu tragen und die nöti-gen Anfangsinvestitionen zu tätigen. Andererseits sollte dadurch ein eventuelles Risiko für den Fürsten vermieden bzw. minimiert werden.

Unternehmerisches Verhalten zeigt auch das Beispiel der „reichen Herzöge" von Nieder-bayern, das Walter Ziegler vorstellt. Die unterschiedlichen Einkommensstrukturen der beiden Residenzen Landshut und Burghausen wurden bewusst eingesetzt, um die Ausgaben jeweils gezielt von diesen beiden Quellen abzudecken. Vergleichsweise bescheiden war die Ein-kommenslage der beiden Linien der Kurfürsten von Sachsen zwischen 1486 und 1547. Uwe Schirmer gibt einen detaillierten Einblick in die Wirtschaft der Höfe, es ist aber infolge großer Schwankungen der Ein- und Ausgaben kaum eine einheitliche Entwicklung zu erkennen.

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256 Rezensionen

Die Rolle der Eigen- und Fremdfinanzierung wird in dem Abschnitt „Woher kommt das Geld?" behandelt . Nicht überraschend kann Werner Rösener berichten, dass die Eigenfinan-zierung aus dem Kammergut bis zum 15. Jahrhundert an Bedeutung verlor und zunehmend eine Finanzierung durch Steuern und Kredite notwendig wurde. Er spannt dazu einen weiten Bogen, sowohl was den zeitl ichen Rahmen , wie auch die verschiedenen Fürstenhöfe Deutsch-lands betrifft. Dieser Uberbl ick macht deutl ich, welche unterschiedl ichen Größen und damit Strukturen die Fürstenhöfe hatten und welche Veränderungen sich im Übergang vom Spät-mittelalter bis ins 15. Jahrhundert ereignet haben. Die Beispiele sind daher nur sehr bedingt vergleichbar. Für Frankreich erörtert Lydwine Scordia den Grundsatz, dass der König von sei-nem eigenen Vermögen zu leben habe, und die Frage der Rechtfert igung von Steuern an Hand der zeitgenössischen philosophischen Strömungen. Als Schlussfolgerung stellt sie fest, dass der Grundsatz „le roi doit vivre du sien" im Ubergang zur Frühen Neuzeit nicht mehr zeitgemäß war, da das Königsgut nicht in ausre ichendem Umfang vorhanden war.

Drei Fallbeispiele unterstreichen die Bedeutung von Krediten. Das Beispiel, das Josef Hrdl icka vorlegt, ist der Adelshof der Herren von Neuhaus/Jindrichüv Hradec. Interessant ist in diesem Fall, dass die Finanzgeschäfte in e inem Netzwerk von Patronage und Verwandtschaft abgewickelt wurden. Uber die gegensätzlichen Situat ionen von reicheren und ärmeren Fami-lien berichten die zwei weiteren Beiträge. Bernd Fuhrmann schildert die prekäre finanzielle Lage Konrads von Weinsberg, der offenbar sein gesamtes Leben lang, soweit man das an den fragmentarischen Informat ionen über Ausgaben und Einnahmen beurtei len kann, nur durch Umschuldungen und teilweisen Verkauf von Gütern sein soziales Prestige bewahren konnte. Die reiche ritterliche Famil ie der Rantzau war hingegen in der Lage, königl iche Höfe und Ade-lige mit finanziellen Mit te ln zu versorgen.

Die Dimension, die Peter Rauscher in seiner Untersuchung über die Hofzahlamtsbücher der kaiserlichen Hofkammer behandelt , ist e ine andere. Sein Beitrag bietet einen Uberblick über die Finanzierungsströme des Kaiserhofs im Zei t raum von der Mit te des 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts . Der zeitl iche Rahmen liegt damit in einer späteren Epoche als die übrigen Beiträge. Dies liegt daran, dass die Hofzahlamtsbücher erst später einsetzen. Die Quellenbasis ist al lerdings unvergleichl ich reichhalt ig. Methodisch werden einige Perioden herausgegriffen, mit umfangre ichem Zahlenmater ia l dargestellt und analysiert . Wegen des riesigen Datenvolu-mens und der langen Betrachtungszeit können leider nur punktuel le Einblicke in die Finanzie-rungsstruktur des Kaiserhofes geboten werden. Ein roter Faden lässt sich daraus zwangsläufig nicht erkennen.

Schl ießl ich befasste sich der vierte Abschnitt der Tagung mit speziellen Fällen von Ausga-ben königl icher oder fürstl icher Höfe unter dem Titel „Wohin geht das Geld?". Interessante Er-kenntnisse kann Elisabeth Lalou an Hand der Abrechnungen des Hofes Phil ipps des Schönen von Frankreich vorlegen. Sie stellt fest, dass dieser König einfach und sparsam wirtschaftete, wenn es nicht der Ehre Gottes, der Jungfrau Mar ia oder der Familie der Kapetinger diente. Die hohen Kosten, die eine Wal l fahrt in das Hei l ige Land verursachte, werden von Carola Fey in ei-ner Kosten-Nutzen-Überlegung relativiert. Den Ausgaben, die Pfalzgraf Ottheinr ich von Pfalz-Neuburg durch seine Pilgerreise nach Jerusalem verursachte, werden die immater ie l len und ma-teriellen Vorteile durch Rel iquien, Erinnerungsstücke und Ehrengeschenke gegenübergestel lt . In se inem Beitrag befasst sich Gabriel Zei l inger mit Herrenspeise und Hofversorgung am Hei-delberger Hof. Die Ausgaben für Küche und Keller lassen sich aus der Küchenordnung und der Abrechnung des Küchenschreibers des Heidelberger Hofes gut ableiten. Denn natürl ich ist der Alltagsbedarf eines Hofes ein nicht unbedeutender Kostenfaktor.

Das Thema ist weit gesteckt und umfasst viele unterschiedl iche Aspekte der Höfe, w ie dies Werner Paravicini in seiner Einlei tung anfuhrt : der Hof als Zent rum politischen Handelns , als soziales Zentrum, als Haushalt , Verwaltung, Regierung. All diese Gesichtspunkte haben auch eine ökonomische Fassette. Aber Hof ist nicht gleich Hof. Das ist einerseits die Schwäche einer

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Literaturberichte 257

solchen Untersuchung, gleichzeitig aber auch der besonders interessante Aspekt daran. Das Symposion versuchte, wie dies Enno Bünz in seiner Zusammenfassung erwähnt, dai Thema Hofwirtschaft in einem Uberblick von Höfen verschiedener Art und Größe, unterschiedlicher geographischer Lage und gesellschaftlicher Stellung zu erörtern. Damit ist nur natürlich, dass kein geschlossenes Bild entstehen kann, sondern ein Mosaik, vor allem aus dem alten Reich, das durch Beispiele aus dem französischen Königshof ergänzt wird. Insgesamt vermittelt der Band jedenfalls einen interessanten und vielseitigen Eindruck der Hofwirtschaft verschiedener Ausprägungen und fügt sich wertvoll in die Reihe der Residenzenforschung ein.

Wien Hansdieter Körbl

Faszinierende Frühneuzeit . Reich, Frieden, Ku l turund Kommunika t ion 1 5 0 0 - 1 8 0 0 .

Festschrift für Johannes BURKHARDT zum 65 . Geburtstag, hg. von Wol fgang E. J . WE-

BER-Regina DAUSER. Akademie Verlag, Berl in 2008 . 270 S.

Die an Tolstoi gemahnenden Antagonismen Krieg und Frieden dienen als textliches und bildliches Generalmotto der Festschrift anlässlich des 65. Geburtstages des Augsburger Frühneuzeitlers Johannes Burkhardt, der für die Etablierung des Faches „Frühe Neuzeit" im deutschen Sprachraum Wesentliches in der ihm eigenen Pointierung geleistet hat. Die Frühe Neuzeit als Faszinosum wird in insgesamt 13 inhaltlich gewichtigen Beiträgen (neun Männer, vier Frauen) vorgestellt, gedruckt von der ebenfalls einschlägig frühneuzeidich ausgewiesenen Druckerei „Thomas Müntzer" aus Bad Langensalza - dem Zufall und seiner frühneuzeitlichen Verortung wurde hier wenig Raum überlassen. Eine prominente Riege von Gratulanten der älteren und neueren Frühneuzeitforschung versammelt sich in diesem Band.

Karl Otmar Freiherr von Aretin (S. 15-26) stemmt sich einen ganzen Beitrag lang ge-gen das von Peter C. Hartmann 2006 vorgeschlagene Modell eines föderalistischen Heiligen Römischen Reiches. „Teutschland wird auf teutsch regiert", so die von Johann J. Moser vor-geschlagene Sichtweise. Ebenfalls Schlachtfelder bzw. den Zusammenhang von Herrschafts-repräsentation und frühneuzeitlicher Kriegsbeute, von politischer Positionierung und Visu-alisierung des Politischen behandelt Heinz Schilling (S. 61-73) . Die Münchner Kriegsbeute 1632, böhmische Kriegsbeute der I640er-Jahre oder der dänische Thronhimmel lassen sich auch als verdinglichte Ansprüche geraubter herrschaftlicher Repräsentationskultur verstehen. Den Wandel der Referenzen von Christianitas hin zum maßgebenden Referenzmodell Europa in den Friedensverträgen der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts untersucht Heinz Duchhardt (S. 51-60) . Das „Denken in europäischen Kontexten um 1700" (die „Europa-Formel") erhielt einen deutlichen Auftrieb in dieser noch zu wenig quellenkundlich untersuchten Textgattung. Die Bündnispolitik der Reichskreise und ihre diffizile Legitimierung (Bündnisse innerhalb/ außerhalb des Reiches) auf der Grundlage der breit auslegbaren Reichsverfassung stehen im Zentrum der auf die politischen Semantiken abzielenden Überlegungen von Susanne Friedrich (S. 27-50) . „Die jeweils nötigen und möglichen Argumente richteten sich zum einen nach dem Bündnistyp und den Bündnispartnern, zum anderen aber auch nach der zeitlichen Stellung des Bündnisses" (S. 49). Für eine neue Sicht auf die als Freiheitskampf vorgestellte Reformations-zeit - eine Art soziales, gesellschaftliches und politisches „Laboratorium" der Neuzeit in Bezug auf politische Pluralität - macht sich Georg Schmidt (S. 75-94) in seinem Beitrag stark, die Bedeutung des Schmalkaldischen Bundes als Institutionalisierung der protestantischen Kräfte wird dabei vor dem Hintergrund der neueren reichsgeschichtlichen Forschung betont. Die Augsburger Abschiedsvorlesung Rolf Kießlings (S. 95-112) verortet die konfessionelle und territoriale Politik der schwäbischen Reichsstädte des 16. Jahrhunderts zwischen einem italie-nischen, auf dem Stadtrepublikanismus fußenden Modell und dem Schweizer Modell („Tur-ning Swiss"), das stärker die Stadt-Land-Beziehungen betonte. Die Antwort der schwäbischen Reichsstädte lag dazwischen: „Die Reichsstädte zielten auf eine politische Struktur, in der sie

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258 Rezensionen

ihre eigene Zentralität optimal", etwa durch Bündnisse zwischen Adel und Städten, „entfalten konnten" (S. 111).

Knapp vor dem Halbzeitpfiff des Bandes steuert Wolfgang Behringer noch grundsätzliche konzeptionelle Überlegungen zu einer noch nicht geschriebenen Sportgeschichte der Frühen Neuzeit bei (S. 115-134) und läutet damit den zweiten, auch den Fuggern gewidmeten Teil („Kultur und Kommunikation") ein - der jubilar leitet das Fugger-Archiv in Dillingen. Die Fugger fungierten im 16. Jahrhundert auch als Vermittler von Rackets und Bällen für die eu-ropäischen Höfe. Neben dem Jeu de paume (Tennis) und dem Pallone könnte man die Karus-selle (etwa am Wiener Hof) oder auch die Läuferbewerber in den frühneuzeitlichen Städten als Untersuchungsfeld heranziehen. Die engen Verflechtungen und die Zielgerichtetheit von geschäftsfördernden Geschenken und den Kerngeschäften der Fugger, dem Handel, arbeitet Mark Häberlein (S. 135-149), gestützt auf die edierte Korrespondenz von Hans Fugger (ed. Christi Karnehm), heraus. Die Verbuchung der Geschenke in den Buchhaltungen bezeugt die geschäftliche Relevanz des Schenkens, aber auch die soziale Strategie der Augsburger Familie. Das lange Gedächtnis der Fugger in Kreditangelegenheiten zeigt der Beitrag von Stephanie Haberer (S. 151-162) auf, weil noch in den 1820er-/1830er-Jahren versucht wurde, aushaf-tende Schulden der Fugger bei der spanischen Krone einzutreiben! Exakte und professionelle Archivführung, schon von Anton Fugger im zweiten Kodizill seines Testaments 1560 ange-ordnet, ermöglichte es, (nur anscheinend verjährte) RückZahlungsforderungen über mehrere Jahrhunderte „à jour" zu halten. Das sattelfeste Familiengedächtnis stand gegen das „vergess-liche" Gedächtnis der Schuldner. Die bislang kaum erforschte und vernachlässigte bäuerliche Nebenerwerbsarbeit (Flachsanbau, Spinnen, Brauen und Branntweinherstellung, Tabakanbau etc.) nimmt Jutta Schumann (S. 163-184) in einem faszinierenden, an die deutsche Proto-industrialisierungsforschung anschließenden Beitrag in den Blick. Als Gründe für die wirt-schaftsgeschichtliche Geringschätzung der bäuerlichen Nebenerwerbsarbeit nennt die Autorin den „Vorrang der Landwirtschaft vor der Stadtwirtschaft, die Einschätzung des Landes als Ab-satzmarkt für die Stadt und die Ausgrenzung der Nebenerwerbsarbeit aus dem Wissensbereich Landwirtschaft bzw. die Ignorierung traditioneller bäuerlicher Zusatzarbeit in dem sich neu entwickelnden Technologiesektor" (S. 184). In Fortführung ihrer richtungsweisenden Arbei-ten zum frühneuzeitlichen weiblichen Augsburger Zunfthandwerk bietet Christine Werkstetter (S. 185-217) eine mikrogeschichtliche Falldarstellung eines Scheidungsprozesses der zweiten Ehe der ungewöhnlichen und äußerst geschäftstüchtigen (mit männlichem Geiste begab te[n), S. 193) Augsburger Kattunfabrikantin Anna Barbara Gignoux (1725-1796) . Die Analyse der als Ego-Dokumente angesehenen Scheidungsakten zeigt die unterschiedliche Interessenslage einer aus wirtschaftlichen Überlegungen geschlossenen Ehe und die methodischen Schwierigkeiten bei der Interpretation der Akten. „Viva il coltello" - die Kunst der Kastraten und das lange als zu negativ dargestellte, „kritische" Verhältnis von Mozart zu diesen Sängern, vor allem zum Salzburger Kastraten Francesco Ceccarelli (1752-1824), behandelt Paul Münch (S. 219-238). Wenn auch in den späten Wiener Mozartopern Kastraten keinen Platz mehr fanden, so behan-delten die Mozarts den exemplarisch abgehandelten Salzburger Kastraten freundschaftlich.

Abschließend räsoniert Wolfgang Reinhard (S. 239-256) über die zwischen Mikro- und Makropolitik angesiedelten Netzwerke in der Politik („Kleine Politik ganz groß"). Unter an-derem am Beispiel der Dissertation des Mitherausgebers Wolfgang Weber („Priester der Clio") zeigt Reinhard auf, dass das Aufzeigen „alter Nazi-Seilschaften" und Netzwerke auf den Lehr-stühlen bundesdeutscher Universitäten in den 1980er-Jahren ein ebenso mutiger wie kar-rierehemmender Schritt war. „Die älteren Lehrstuhlinhaber hingegen, das Establishment des Faches, schritten zur Hinrichtung, zunächst durch autoritative Rezensionen mit bisweilen sach-lich unzutreffenden Beanstandungen". Ein anschließendes Habilitationsstipendium des DFG wurde vom anonymen Gutachter mit dem Hinweis abgelehnt, „mit einer derartigen Disserta-tion käme er [Wolfgang Weber] für die akademische Laufbahn nicht mehr in Frage" (S. 241).

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Liceraturberichte 259

Im Anschluss daran darf die Ö f f n u n g der Archive der verschiedenen nationalen Fördereinrich-tungen mit Spannung erwartet werden! Reinhards Überlegungen zu „Freunden, Gönnern und Getreuen" reichen bis in die jüngste politische Vergangenheit - die Aktualität frühneuzeitlicher Machtmittel wird damit mehr als deutlich. Nützlich ist neben der von den Herausgebern ver-fassten biographischen, von Dresden nach Augsburg führenden Einleitung (S. 7 - 1 2 ) auch das Schriftenverzeichnis des Jubilars (S. 2 5 9 - 2 6 6 ) .

Nicht nur der Geehrte, sondern auch der Leser darf sich über die qualitativ hoch ste-henden, inhaltlich zum Teil sehr anregenden Beiträge freuen, die das Freundes- und Schüler-netzwerk des Jubilars, seine thematische Schwerpunktsetzung, aber auch seine Persönlichkeit spiegeln. Einige der Text eignen sich zudem gut als Einfuhrungstexte fiir den akademischen Lehrbetrieb.

Wien Martin Scheutz

M a r i a v o n U n g a r n ( 1 5 0 5 - 1 5 5 8 ) . E i n e Renai s sancef i i r s t in , hg . v o n M a r t i n a F U C H S -

O r s o l y a RÌTHELYI unter M i t a r b e i t von Ka t r in SIPPEL. ( G e s c h i c h t e in der E p o c h e Kar l s

V. B a n d 8 . ) A s c h e n d o r f f , M ü n s t e r 2 0 0 7 . 4 1 6 S .

Die Universität Wien darf seit Jahren - dank der erfolgreichen Wiener Reichstagsaktenedi-tion und der Aktivitäten von Martina Fuchs und Alfred Köhler - als Z e n t r u m der Erforschung des 16. Jahrhunderts gelten. Der vorliegende Band, der achte der Reihe zur „Geschichte in der Epoche Karls V.", versucht die verstreute, zwischen den Niederlanden, Österreich, Spanien und Ungarn angesiedelte Forschungslage zu Maria von Ungarn, die lange im Schatten ihrer Brüder Karl V. und Ferdinand I. stand, zu bündeln und interdisziplinär die Forschungen der letzten zwei Jahrzehnte zu dokumentieren. Maria von Ungarn, prokuratorisch 1515 anlässlich des Wiener Kongresses mit Ludwig von Ungarn verheiratet, verbrachte die Zeit nach 1516 in Inns-bruck und Wien (bis 1521) und zog 1521 nach Ungarn (Krönung 1521 in Stuhlweißenburg, Hochzeit 1522 in Ofen , Krönung zur böhmischen Königin 1522 in Prag). N a c h dem Tod Lud-wigs bei Mohács 1526 flüchtete Maria von Pressburg nach Ofen, eine „zweite Statthalterschaft" nach 1528 lehnte die Witwe entschieden ab. Nach d e m endgültigen Verlassen Ungarns nahm sie 1531 (bis 1555) die schwierige Statthalterschaft in den Niederlanden an. Ihre letzten beiden Lebensjahre verbrachte sie in Spanien. Trotz der im Titel suggerierten biographischen Annähe-rung an das gesamte Leben der „Renaissancefiirstin" stehen vor allem die kurzen ungarischen Jahre im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes, die Regentschaft in den Niederlanden wird in einigen wenigen Beiträgen gestreift.

Gernot Heiß, dessen 1971 erschienene Dissertation noch immer wichtiges Referenzwerk der Forschungen zu Maria von Ungarn ist, und Orsolya Rétheiyi, die 2 0 0 5 / 2 0 0 6 eine umfang-reiche Ausstellung in Budapest (samt Katalog) zu dieser Monarchin mitorganisierte, bieten einen fundierten Forschungsüberblick (S. 1 1 - 2 3 ) . Niederländische, französische, spanische, ungarische, tschechische Forschungen über „diejenige der ungarischen Königinnen, die ihre wirtschaftliche und politische Machtposit ion, welche ihr aus ihrem Besitz erwuchs, a m besten nutzte" (S. 13), werden resümiert und kurz vorgestellt. Als Auftakt des Bandes behandelt Enikô Spekner die Ereignisgeschichte und den rechtlichen Gehalt der habsburgisch-jagiellonischen Heiratsverträge 1506, 1515 (Wiener Vertrag) und 1520 (S. 25—46). Der Beitrag, welcher die ungarisch-böhmische Königin vielleicht a m besten als Person verständlich macht , s tammt von Laetitia Gorter-van Royen (S. 4 7 - 5 8 ) , die Maria von Ungarn als flinke, ironische und verwal-tungstechnisch versierte „Korrespondentin" , gestützt auf die angekündigte Briefedition Marias mit Karl V. (bzw. mit Nicolas Perrenot de Granvelle), charakterisiert. Während Karl als Fami-lienoberhaupt akzeptiert wurde, gestaltete sich das Verhältnis zu Ferdinand, nicht nur wegen seiner Schulden bei ihr, schwierig. Schon lange beschäftigte die Forschung die Frage nach d e m Verhältnis der Habsburgerin zur protestantischen Bewegung. Markus Hein zeichnet die Ver-

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260 Rezensionen

mittlungsebenen der Reformation nach Ungarn bzw. zum ungarischen Hof nach (S. 261-272) , während sich Rudolf Keller mit dem letztlich ungeklärten persönlichen Verhältnis von Maria von Ungarn und Manin Luther beschäftigt (S. 2 7 3 - 2 8 1 ) . In Antwort auf die Frage nach ei-ner möglichen Wiederverheiratung Marias mit Johann Szapolyai gab Luthers „Trostbrief von 1531 vor allem eine seelsorgerliche Antwort auf die persönlichen Probleme der Monarchin. Unbekannte böhmische und vatikanische Quellen zur Schlacht bei Mohács werden von An-tonin Kalous kurz vorgestellt (S. 103-112) ; im Anhang finden sich zwei Editionen. Lose ver-bunden zur Gesamtthematik sind die inhaltlich ausgezeichneten Beiträge von Katalin Szende (S. 113-132) zu den Städten Westungarns in der Zeit Mariai und zum oberungarischen Städ-tebund 1526-1536 von István H. Németh (S. 133-152) . Die Städte Ungarns waren von den unsicheren Verhältnissen nach 1526 besonders betroffen, Maria von Ungarn trat als resolute Vertreterin ihrer genuinen Interessen auf. Breiteren Raum nehmen im vorliegenden Sammel-band - durchaus in Fortführung der Forschungen von Heiß - die Behandlung der direkt Maria unterstehenden Güter ein: das Gut, Besitz Diósgyór (József Bessenyei, S. 153-160) , der Ein-fluss der Monarchin auf die ungarischen Bergstädte und damit die Kremnitzer Münzprägung (Márton Gyöngyössy, S. 161-177) und die aufwändige Verwaltung der Güter Marias (István Kenyeres, S. 179-207) . Maria konnte aus ihren Besitzungen in Ungarn in den 1540er-Jahren jährlich 25.000 ungarische Gulden lukrieren, dieser Betrag verdeutlicht die jahrzehntelangen angestrengten Bemühungen Ferdinands dieser Güter auch selbst Herr zu werden.

Zum Kernthema des Bandes zählen die Beiträge zur Hofhaltung Marias von Ungarn in Pressburg, Ofen und Prag. Die Veränderung der Hofhaltung von Maria (und Anna) in Inns-bruck (1516) und in Wien bzw. in späterer Zeit untersucht anhand der Hofamtslisten Jacqueli-ne Kerkhoff (S. 2 0 9 - 2 2 0 ) ; ihre 2008 veröffentliche Dissertation belegt die Vorbildwirkung des burgundischen Modells, aber auch die Differenzen zum ungarischen H o f („Teilzeitarbeiter"). Die aus 8 0 - 9 0 Personen bestehende Ofener Hofhaltung beschreibt Orsolya Réthelyi näher, während Géza Pálfíy (S. 2 4 5 - 2 6 0 ) den Wechsel der ungarischen Aristokratie nach 1526 an den anfänglich als feindlich empfundenen Hof Ferdinands I. vorstellt. Die Musik am Hof Marias (Peter Kiräly, S. 363-379 ) , die kunstgeschichtliche Beschreibung der Ofener und der Prager Residenz (Käroly Magyar, S. 381-399) , die italienischen Künstler (Árpád Mikó, S. 347-362) und die Dramen am Wiener und Ofener H o f am Beispiel von Benedictus Chelidonius und Bartholomaeus Frankfordinus Pannonius (Gábor Farkas Kiss, S. 2 9 3 - 3 1 2 ) werden in einer Mischung aus Prosopographie und thematischer Annäherung noch näher vorgestellt. Das seit über zehn Jahren laufende, erfolgreiche Wiener Projekt der Habsburg-Panegyrik steuert durch Elisabeth Klecker das Beispiel der Klage Marias über den Tod ihrer Schwester, der Königin von Dänemark (mit Edition), von Caspar Ursinus Velius bei (S. 313-330) .

Mehrere Spezialuntersuchungen zu Humanisten, Geistlichen und führenden Persönlich-keiten am H o f Marias runden das insgesamt durch die unausgewogene Forschungslage beding-te heterogene Bild des Bandes ab: Der Olmützer Bischof Stanislaus Thurzó (Martin Rothkegel, S. 283-291 ) , der Bischof von Erlau Tamás Szalaházy (István Fazekas, S. 9 1 - 1 0 2 ) , der Oberst-hofmeister der Königin Wilhelm von Brandenburg (Zoltán Csepregi, S. 59 -72 ) und der u. a. durch seinen Mohács Bericht berühmte Humanist Stephan Brodarics (Péter Kasza, S. 7 3 - 8 9 ) werden in vorwiegend prosopographischen Beiträgen vorgestellt. Überraschend geringe Spu-ren hinterließ Maria von Ungarn in der deutschsprachigen Belletristik, lediglich Leopold von Sacher-Masoch und Rudolf Heubner benutzten sie als Kontrastfigur zum „letzten König der Magyaren", wie Martina Fuchs (S. 3 3 1 - 3 4 6 ) darlegt.

Der herausragende ungarische Stadthistoriker András Kubinyi ( 1 9 2 9 - 2 0 0 7 ) resümierte in einer seiner letzten Arbeiten (S. 4 0 1 - 4 1 2 ) - schon gezeichnet von Krankheit - den vorlie-genden Band. „Meine Meinung über Maria ist [ . . . ] positiv. Sie vertrat damals [1521-1526] nicht die habsburgischen, sondern die ungarischen Interessen" (S. 403) . Ein umfangreicher, biographischer und die neuen Ergebnisse verarbeitender Aufsatz zur ebenso entschlossenen

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Litera turberichce 261

wie kompetenten Regentin Maria hätte diesem Band und auch der weit verzweigten For-schung gut getan, weil damit auch eine verbindliche Klammer für diese zwischen den nati-onalen Historiographien angesiedelte Herrscherpersönlichkeit geschaffen worden wäre. Der erfahrenen Herausgeberin Martina Fuchs und dem versierten Ubersetzer Géza Deréky ist ne-ben der ungarischen Herausgeberin Orsolva Réthelyi und Katrin Sippel zu danken, die die übersetzten Beiträge in ein gut lesbares Deutsch gebracht haben, eine ebenso schwierige wie häufig unbedankte Arbeit! Der vorliegende Band macht viele Forschungsergebnisse der regen ungarischen Forschung der letzten Jahrzehnte damit für die deutschsprachige Forschung erst-mals zugänglich, ein zusammenfassendes Bild über die ungarische Monarchin zeichnet sich aber erst ab.

Wien Martin Scheutz

Daniel DAMLER, Imperium Contrahens. Eine Vertragsgeschichte des spanischen Weltreichs in der Renaissance. (Historische Forschungen 27.) Franz Steiner, Stuttgart 2 0 0 8 . 634 S. Zahlreiche Abb.

Die Vorstöße der iberischen Königreiche - der Kronen Portugals und Kastiliens - in au-ßereuropäische Regionen seit dem 15. Jahrhundert gehören zweifellos zu den wichtigsten Er-eignissen ihrer Zeit. Nicht umsonst stellt die - bekanntermaßen keineswegs sofort realisierte - „Entdeckung" des später als Amerika bezeichneten und bisher in der .Alten Welt" unbe-kannten Kontinents und dessen anschließende Kolonialisierung eine gängige Zäsur zwischen „Mittelalter" und „Neuzeit" dar. Zum selben Themenbereich und ebenfalls zum erweiterten Schulbuchwissen gehört der Vertrag von Tordesillas vom 7. Juni 1494, in dem beide Mächte ihre globalen Einflusssphären absteckten. Doch nicht nur zwischen den gekrönten Häuptern spielten vertragliche Abmachungen eine wichtige Rolle im Prozess der iberischen Expansion. Vertraglich geregelt waren beispielsweise auch die Beziehungen der Konquistadoren und deren Finanziers zu ihren Monarchen.

Sich mit den Verträgen der spanischen Krone in der Phase der Entstehung ihres Welt-reiches zu beschäftigen, ist daher ganz ohne Zweifel nahe liegend, zumal wenn dies - wie im vorliegenden Fall - im Rahmen einer rechtswissenschaftlichen Dissertation (angenommen an der Universität Tübingen) geschieht. So klar das Thema auf den ersten Blick zu sein scheint, so schwierig ist es jedoch, Aufbau, Gliederung, roten Faden und die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung in wenigen Worten zu umreißen. Das Werk beginnt mit einem „Prolog" („Das spanische System"), in dem in den Themenkomplex eingeführt und der Aufbau des Buches länger erläutert wird (S. 31-33) . Da beide Vertragspartner vorrangig stets bestrebt sind, ihren eigenen Nutzen zu maximieren (S. 27), kann die Untersuchung - so der Autor - „möglicher-weise einen Beitrag dazu zu leisten, das Wissen um die Evolution des homo oeconomicus zu erweitern." (S. 28) Gestützt auf eine bemerkenswert breite, im Fall des behandelten Themas freilich unmöglich auch nur annähernd vollständige Quellen- und Literaturbasis, behandelt das Werk ein äußerst weites Themenspektrum: angefangen von der „Kapitulation von Santa Fe" zwischen den Katholischen Königen Ferdinand und Isabella und Christoph Kolumbus vom 17. April 1492 (im Quellenzitat, S. 38, irrtümlich 1392/Mil CCCLXXXXII) , über die Seekriegsführung im Mittelmeer, Kunst und Architektur bis hin zu Finanzverwaltung und Kre-ditwesen („Buch 1"). Der zweite Hauptteil („Buch 2") beschäftigt sich mit dem Vertragsrecht im weiteren Sinn, u. a. mit der äußeren Form der Schriftstücke, dem Einfluss der politischen Theorie und schließlich - relativ knapp - mit den Juristen als Funktionselite. Chronologisch reicht das Werk vom ausgehenden 15. Jahrhundert bis in die Regierungszeit Philipps II. ( t 1598), ohne dass einzelne Themen über diesen gesamten Zeitraum abgehandelt würden. Der Abschnitt zur Kommunikation mit Hilfe der Post widmet sich z. B. lediglich den beiden ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts (S. 294—303). Neben dem Aufgreifen dieser Vielzahl von

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262 Rezensionen

Einzelthemen versteht sich das Werk gleichzeitig auch als Synthese der breiten Forschungen der letzten Jahre zu Karl V. und Philipp II . (S. 3 3 ) . Eine Zusammenfassung der Ergebnisse ist nicht vorhanden, statt dessen endet der Text mit e inem Epilog („Kunstwerk der Habgier" ) .

Die schwer überschaubare Gl iederung des Buches mag auch dem Autor bewusst gewe-sen sein, der seinen Text durch zwei Verzeichnisse (eine gröbere „Inhaltsübersicht" und ein „Inhaltsverzeichnis") erschlossen hat. Auch die Uberschriften der Kapitel (eingeteilt ist der Hauptteil in zwei „Bücher" , bestehend aus mehreren „Kapiteln" , die sich wiederum aus „Ab-schnit ten" zusammensetzen) dienen offenbar der inhaltlichen Erschließung des Textes, die über das durchschnitt l iche M a ß hinausgehen (vgl. ζ. B . die Überschrift : 1. Buch, 3 . Kapitel, 4 . Abschnitt : „Philipp II. und die Reize des Nordens. D e r Vertrag über die Orangen für Aranjuez. D i e „gute Regierung" des Gartens und die Kontroverse um das Wirken der Saisonarbeiter. Die Rolle Granvelles bei der Anwerbung von Gärtnern aus Flandern") . Diese Vorliebe des Autors fur eine „barocke" Sprache und stilistische Spielereien (ζ. B. bei der Beschreibung eines Bildes [Abb. 1/S. 5 3 3 ] , S. 19: „So wie Kolumbus da steht, seiner Sache sicher, frei und unbedrängt, versinnbildlicht er den Vertrag, jeden Vertrag, den Vertrag an sich, wie er versinnbildlicht die weltstürzende Tat , die ihn berühmt machen sollte, berühmt wie einen G o t t . " O d e r offenbar unter Bezug auf historistische Kunst , S. 3 5 : „Als geronnene Erinnerungen des 19. und 2 0 . Jahrhunderts an goldene und blutige Zei ten, als Erinnerungen an Unterdrückung, Freiheit oder eigene G r ö ß e haben solche Beschreibungen trotzdem ihren Wert , denn erst diese Erinne-rungen ermöglichen ein Mi tempf inden , ohne das eine Katharsis nicht denkbar ist .") und sehr häufige, zum Teil recht lange Originalzitate in spanischer Sprache mögen zwar von Leserin zu Leser in höchst unterschiedlichen M a ß e n geschätzt werden, zu e inem besseren Verständnis der Argumentat ion tragen sie jedoch insgesamt wohl wenig bei. Ahnliches gilt fur die zahlreichen, qualitativ höchst unterschiedlichen Abbildungen. Bei der Verwendung der Vornamen wäre es sinnvoll gewesen, sich entweder für die spanischen oder deutschen Varianten zu entscheiden (z. B. S. 4 1 , Juan aber Ferdinand).

Abgesehen von sprachlichen Hürden, die in dieser Form nicht notwendig gewesen wä-ren, stellt sich die Frage nach dem Rezipientenkreis des Werkes. Zweifellos ist es nützlich, wissenschaftliche Debat ten auch jenen zugänglich zu machen, die der Originalsprache (in die-sem Fall des Spanischen) nicht mächt ig sind; andererseits besteht dabei i m m e r die Gefahr, a m eigentlichen wissenschaftlichen Fachpubl ikum vorbei zu publizieren, schließlich dürfte der deutschsprachige Rezipientenkreis einer so detaillierten „Vertragsgeschichte des spanischen Weltreichs" äußerst beschränkt sein. Es wäre daher - sollte dies nicht sowieso bereits angedacht sein - zu wünschen, dass die wichtigsten Ergebnisse des Buches als Aufsätze in straffer Form in spanischsprachigen (rechts)historischen Fachzeitschriften publiziert werden. D e n n wie vom Autor selbst ausfuhrlich erörtert wird, ist nicht nur das „spanische System" Gegenstand des Werks, sondern auch die spanische historiografische Tradit ion sein wissenschaftlicher R a h m e n . In diesen sollte es eingepasst und diskutiert werden. Das T h e m a und die Materialfulle der Un-tersuchung hätten es sicherlich verdient.

W i e n Peter Rauscher

S a b i n e ULLMANN , G e s c h i c h t e a u f der l angen B a n k . D i e K o m m i s s i o n e n des R e i c h s -

hof ra t s u n t e r K a i s e r M a x i m i l i a n I I . ( 1 5 6 4 — 1 5 7 6 ) . ( V e r ö f f e n t l i c h u n g e n des I n s t i t u t s fur

E u r o p ä i s c h e G e s c h i c h t e M a i n z , A b t e i l u n g fur U n i v e r s a l g e s c h i c h t e 2 1 4 = B e i t r ä g e zur

Soz ia l - u n d V e r f a s s u n g s g e s c h i c h t e des A l t e n R e i c h e s 1 8 . ) V o n Z a b e r n , M a i n z 2 0 0 6 .

4 5 5 S „ 3 K a r t e n , 6 A b b .

D e r Reichshofrat als Höchstgericht und eine der drei a u f Reichsebene angesiedelten Ins-t i tutionen im Heiligen Römischen Reich wird in der Forschung seit den ausgehenden 1 9 9 0 e r Jahren zunehmend beachtet . Jedoch zwingt der immense, in seinem U m f a n g nach wie vor nur

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Literaturberichte 263

annähernd schätzbare und kaum erschlossene Archivalienbestand des Reichshofrats im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien neben zeitlichen Fokussierungen zur Eingrenzung auf soziale oder regionale Prozessgruppen, Prozessaufkommen, Verfahrensformen oder normative Zugänge. In ihrer Habilitationsschrift unternimmt Sabine Ulimann den gelungenen Versuch, mehrere die-ser Ansätze für eine Verfahrensart zu bündeln. Zunächst untersucht sie das generelle Prozessauf-kommen an Kommissionsverfahren während der Regierungszeit Maximilians II. (1564—1576) quantitativ, um sodann die verhandelten Konfliktlagen und Akteure des Reichs über seine Regionen in den Blick zu bekommen sowie die Systemkompatibilität dieser Verfahren zu hin-terfragen. Dabei geht sie von der These aus, dass der Reichshofrat auch vor seiner Konsolidie-rungsphase um 1 5 8 0 in großem Umfang Streitigkeiten aus dem Reichsgebiet behandelte und bereits vor den Normierungen durch die Reichshofratsordnungen in entscheidendem Maße am „konfessionellen Konfliktmanagement" (S. 11) beteiligt war, somit als Stabilisierungsfaktor im Reich zu werten sei. Gerade an den kleineren regionalen, konfessionell überformten Verfas-sungskonflikten im Gefolge des Augsburger Religionsfriedens werde dabei ein „wesentliche[r] Kanal, mit dem der Kaiser seinen Einfluss im Reich geltend machen konnte und mit dem aktive Friedenspolitik betrieben wurde" (S. 18) deutlich.

Die zunächst vorgenommene institutions- und verfassungsgeschichtliche Beschreibung des Reichshofrats während der Regierungszeit Maximilians II. in Kapitel I (S. 19—43) nimmt nicht nur das Reichskammergericht als Vergleichsinstitution in den Blick, sondern auch die während des gewählten Zeitraums am Reichshofrat involvierten Richter bzw. deren soziale Profile (S. 39—42). In diesem in der Literatur für den Reichshofrat bislang kaum verfolgten An-satz verweist Ulimann darauf, dass deutliche regionale Schwerpunktbildungen und Patronage-Klientelbeziehungen bei der Besetzung von Reichshofratsstellen unter Maximilian II. erkenn-bar sind. Eine genauere Vertiefung dieser Beobachtungen wäre hier wünschenswert gewesen, wenngleich verständlicherweise nicht im Fokus der gewählten Fragestellung stehend.

Die nachfolgende Kapitelstrukturierung bildet, für Leserinnen gut nachvollziehbar, die drei verschiedenen methodischen Zugangsweisen der Studie ab: quantitativ, regional- und verfah-rensgeschichtlich. Die in Kapitel II (S. 4 4 - 1 1 0 ) vorgenommene quantitative Aufschlüsselung der Prozessfrequenzen mit Kommissionseinsetzung nach Verfahrensaufkommen, personeller, sachlicher und räumlicher Verteilung folgt dabei in etwas modifizierter Form den seit Ranieri benutzten Analyseschemata, die aus Studien zum Reichskammergericht zunehmend auf den Reichshofrat übertragen werden. Ulimann kann zeigen, um nur einige Ergebnisse herauszustel-len, dass die Kommissionstätigkeit des Reichshofrats im 16. Jahrhundert unerwartet wesentlich höher anzusetzen ist als im 17. Jahrhundert, was sie auf spätmittelalterliche dezentrale Traditi-onslinien reichsrichterlicher Funktionen wie Austragsgerichtsbarkeit oder bündische Gerichts-barkeit zurückführt, die von der eigentlich zentralisiert angelegten Institution Reichshofrat in adaptierter Form erfolgreich integriert werden konnten. In räumlicher Perspektive spiegle sich dabei der Zusammenhang zwischen Komplexität und Konfliktanfalligkeit der jeweiligen terri-torialen Situation mit einem höheren Bedarf an richterlicher Schlichtungstätigkeit wider, wobei zwar erwartungsgemäß eine Überzahl an Kommissionen im ldeinräumigen Süden zu finden sei, jedoch auch der oftmals als reichsfern betrachtete Norden durchaus als integriert betrachtet werden könne. Bemerkenswerterweise sei in sozialer Aufschlüsselung ein konfessionelles Über-gewicht an protestantischen kleinen Reichsständen auszumachen, was einerseits die räumliche Verteilung widerspiegle, vor allem aber zeige, dass die in der - auch zeitgenössischen - Literatur oft angenommene konfessionelle Hemmschwelle seitens der Protestanten, dieses kaiserliche Ge-richt anzurufen, wie später in der Regierungszeit Rudolphs II., nicht erkennbar ist. Hauptsäch-lich behandelten die Kommissionsverfahren im Untersuchungszeitraum verfassungsbedingte Strukturprobleme wie Widersprüche des Territorialverfassungsrechts, Divergenzen im Reichs-kirchenrecht und Besonderheiten dynastischer Hausgesetze, wobei die Kommissionen zumeist aus dem regionalen und vielfach dem benachbarten Umfeld heraus konstituiert wurden.

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Die sich daraus ergebenden regionalpolitischen Implikationen reichshofrätlicher Kom-missionsverfahren, die „als Formen zwischenständischen Ausgleichs im engeren räumlichen Umfeld zu begreifen" seien (S. 111), beschreibt Ul lmann als zentrales Charakteristikum. Aus-gehend davon positioniert sie Kapitel III (S. 111 -197 ) als „regionalgeschichtlichen Ansatz" und konzentriert sich auf die regionale Reichweite der Kommissionen, die ausgeprägten Hand-lungsspielräume der Kommissare vor Ort sowie die Art und Weise der Rückbindung an den Reichshofrat. Dabei wird dessen Funktion innerhalb der Kommissionsverfahren als Schaltstelle fur den kommunikativen Austausch der Parteien und zur Verfahrensbeschleunigung beschrie-ben. Vor allem trete dessen auf Friedenswahrung und Schlichtung ausgerichtete Handlungs-norm hervor, die in der Kommunikation mit den Kommissionen immer wieder zum Ausdruck komme und damit regional verankert werde. Die räumliche Ausdehnung und Anbindung an bestimmte Kommissionshöfe oder Städte werden, dies sei positiv hervorgehoben, zusätzlich über Karten visualisiert, die die intensiven Kommissionstätigkeiten „im Norden" und „im Sü-den" eindrücklich aufzeigen. Damit wird zwar der in Kapitel II beschriebenen Integration des Nordens in den Reichsverband nicht unbedingt gefolgt, sondern wiederum eine Zweiteilung des Reiches festgeschrieben, jedoch zeigt sich deutlich, im Gegensatz zum 17. und 18. Jahr-hundert, (noch) die Begrenztheit der Reichskreise als Wirkungsgrenzen, da die Kommissi-onsnetze teils weit darüber hinausgingen und vielmehr an die reichsständische Position der Kommissare als regionale Ordnungsmächte gebunden waren. Zudem hebt Ullmann das „Ideal einer guten Nachbarschaft" (S. 196) als politisches Konzept im Kommissionswesen hervor, das nicht zuletzt seinen Niederschlag in der Auswahl der Kommissare durch die Parteien sowie das Ubergewicht an Kommissionen zur Güte, also Schlichtungsgremien mit dem Ziel eines Vertra-ges, fand. Damit sei eine lange Traditionslinie gegenseitig gewährter Rechtshilfe im regionalen Verbund fortgesetzt worden.

Da jedoch immer wieder auch Kommissionsversuche scheiterten, abgebrochen werden mussten oder gar nicht realisiert wurden, wird in Kapitel IV (S. 198-295) die Frage nach der Systemkompatibilität der Verfahren aufgeworfen. Ul lmann formuliert hier die These, dass die Funktion der Verfahren nicht darin bestanden habe, „eine offene Situation zur Entscheidung zu bringen, sondern die Wahrung des Rechtsfriedens erwuchs vielmehr unmittelbar während und aus dem gerichtlichen Handeln" (S. 199), womit sie zu Recht den retrospektiven Blick der anhaltenden Diskussion um die mangelnde Effektivität der reichshofrätlichen Verfahren hinterfragt. Unter Rückgriff auf Luhmanns Systemtheorie definiert sie die Reichweite der Au-tonomie der Kommissionen als Schlüsselindikator für die Bindungswirkung der Verfahren, die anhand dreier Einzelfallanalysen aufgezeigt werden. Ul lmann kommt zu dem Ergebnis, dass im reichshofrätlichen Kommissionsverfahren beispielsweise durch die aktive Einflussnahme der Parteien auf die Verfahrensmodi, durch die freie Wahl , den experimentellen Charakter und die flexible Kombination von schriftlicher und mündlicher Kommunikation sowie durch den konstruktiven Umgang mit Zeit bzw. Terminierung eine strukturelle Offenheit des Verfahrens gegeben war, die stets Verhaltensalternativen ermöglichte. Die Kommissionen funktionierten demzufolge systemgerecht und anpassungsfähig, wobei Langsamkeit und Komplexität als sys-temspezifische Lösungsansätze zu sehen wären.

Ob und inwieweit Ullmanns regional- und verfahrensgeschichtlicher Ansatz, der für die Kommissionsverfahren überzeugend nutzbar gemacht wurde, auf die in ihrem gewählten Un-tersuchungszeitraum nicht behandelten anderen rund 70% reichshofrätlicher Verfahren An-wendung finden könnte, bleibt offen und wird leider nicht diskutiert. Dies betrifft auch den Stellenwert kommissioneller Verfahren in der reichshofrätlichen Gerichtspraxis und die Frage, ob in den herausgearbeiteten Konfliktfeldern überdurchschnitdich häufig mit Kommissionen gearbeitet wurde, ob sich also eine Koppelung von Streitgegenständen und Verfahrensformen erkennen lässt. Verfahrensrechtlich bleibt unklar, ob der von Ul lmann definierte Schlüsse! indi-kator der Autonomie der Kommissionen in den direkt am Reichshofrat verhandelten Verfahren

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Literaturberichte 265

eine Entsprechung finden könnte . Denn es sind sowohl Überschneidungen in Hinbl ick auf Verfahrensmaxime und Terminierungsflexibilität als auch gravierende Unterschiede in Hin-blick auf die rein schriftl iche Verfahrensfuhrung, die den Parteien u. a. durch eine stärkere Formalisierung weniger Einflussmöglichkeiten bot, in den nichtkommissionellen Verfahren vorhanden.

Dessen jedoch ungeachtet bietet Ul imanns Studie neben umfangreichem neuen quantita-tiven Datenmater ia l , das eine erste Einschätzung der Kommissionstätigkeit auf der Basis von Aktenmaterial für die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts überhaupt erst möglich macht , eine beeindruckende, präzise Gesamtschau des reichshofrätlichen Aktionsradius und seiner Wirk-möglichkeiten in den vielgestaltigen Regionen des Reiches. Sie stellt dabei erstmals die beson-dere friedenswahrende, überkonfessionelle Funktion dieser Institution in den komplexen kon-fessionellen Konfl iktgemengelagen nach dem Augsburger Religionsfrieden heraus. Dass sich dies vor allem aus den flexiblen Verfahrensmechanismen her schreibt, die - wenn auch nicht analog - sich in anderen Verfahrensformen am Reichshofrat wieder finden lassen sollten, wird für weitere Forschungen zur Verfahrensgeschichte am Reichshofrat sicherlich impulsgebend sein.

Graz Verena Kasper

Klaus MALETTKE, D i e B o u r b o n e n . B a n d I: V o n H e i n r i c h IV. bis L u d w i g X I V .

1 5 8 9 - 1 7 1 5 . B a n d I I : V o n L u d w i g X V . bis L u d w i g X V I . 1 7 1 5 - 1 7 8 9 / 9 2 . B a n d I I I : V o n

L u d w i g X V I I I . b is zu L o u i s P h i l i p p e 1 8 1 4 - 1 8 4 8 . K o h l h a m m e r , S t u t t g a r t : B a n d I : 2 0 0 8 .

3 0 4 S . , 2 S t a m m t a f e l n , 4 K a r t e n . B a n d I I : 2 0 0 8 . 2 9 8 S . , 2 S t a m m t a f e l n , 3 K a r t e n . B a n d

I I I : 2 0 0 9 . 2 4 0 S . , 2 S t a m m t a f e l n , 2 K a r t e n .

Klaus Male t tke kann als Altmeister der deutschsprachigen Forschung zum Frankreich der Frühen Neuzeit bezeichnet werden. Vor über 3 0 Jahren ( 1 9 7 6 ) veröffentlichte er seine Stu-die über „Oppos i t ion und Konspiration unter Ludwig X I V . " , der 1 9 7 7 eine Monographie über Colber t folgte. 1 9 9 4 publizierte er eine Biographie Ludwigs XIV . , „daneben" finden sich weitere Monographien und herausgegebene Werke zur französischen Frühneuzeit und zu den deutsch-französischen Beziehungen in einem europäischen R a h m e n . D i e Kontinuierl ichkeit seines Schaffens u n d seiner wissenschaftlichen Gewissenhaftigkeit haben Malet tke viel Aner-kennung auch außerhalb der Geschichtswissenschaft gebracht. Nicht von ungefähr ist er Off i -zier der französischen Ehrenlegion und Träger des Verdienstkreuzes 1. Klasse des Verdienstor-dens der Bundesrepublik Deutschland. Malettke gehört einer Historikergeneration an, die mit den Mit te ln der Wissenschaft für die deutsch-französische Freundschaft arbeitete, ohne sich irgendwelchen kurzlebigen politischen Zielen anzudienen oder unterzuordnen.

Das dreibändige Werk zu den Bourbonen, die wie die Valois von den Kapetingern herzu-leiten sind, stellt durchaus auch eine S u m m e der bisherigen Forschungen und Publikationen des Vf . dar, auch wenn diese sich nicht in der Dynastiegeschichte erschöpfen. Ebenso wenig erschöpft sich die vorliegende Dynastiegeschichte allein in einer solchen Geschichte , sondern ergibt ein Uberbl ickswerk zur französischen Frühneuzeit, das sicher nicht alles behandelt , son-dern Schwerpunkte in der politischen Geschichte setzt, aber weit mehr bedeutet , als acht aus-fuhrliche Herrscherbiographien.

Gle ichwohl entsteht die Geschlossenheit des Werks aus der gleichmäßig eingesetzten zen-tralen Perspektive, die sich in den acht Herrscherbiographien (Heinrich IV., Ludwig X I I I . , XIV. , XV. , X V I . , X V I I I . , Karl X . , Louis-Philippe) entfaltet. Malet tke versucht, soweit es die Quel len und Forschungen hergeben, so nah wie möglich an die Menschen , die diese Herr-scher waren, heranzukommen. Dies gelingt oft, nicht zuletzt, weil wir ζ. B . in den Journalen der königl ichen Leibärzte höchst wertvolle Quellen besitzen. Geburt , Kindheit , Erziehung, Erwachsenwerden, Funkt ionen ausüben; Regieren, Herrschen, Lieben; Sexualität, Krankhei-

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266 Rezensionen

ten; Intrigieren, Töten lassen, Versagen, Obsiegen etc. werden mit den Gestalten der nächsten und etwas weiteren Umgebung und deren Biographien, soweit sinnvoll, verbunden. Wenn der Fokus, jene acht Könige, eindeutig ist, so vernachlässigt der Autor in dem Werk deren Mütter, Frauen und Mätressen keineswegs. Kinder und Enkel tummeln sich zahlreich, werden aber, so-weit sie nicht Thronfolger oder Regent/in werden, knapper behandelt. Kurz werden als Prolog die Vorgeschichte der Bourbonen bis zu Heinrich IV., dem ersten bourbonischen König, und als Epilog deren Nachgeschichte bis in die allerjüngste Gegenwart behandelt.

Der Schwerpunkt der politischen Geschichte, der sich den Traditionen geschichtswis-senschaftlicher Herrscherbiographien gemäß aus der Biographie entwickelt, wird durch Ab-schnitte zu Kunst, Literatur und Musik, zu Wirtschaft und Gesellschaft und natürlich zu den Großereignissen wie der Französischen Revolution klar erweitert. Freilich konzentriert sich Malettke auf soziale Eliten, auch wenn etwa Bauernaufstände wie im 17. Jahrhundert zur Spra-che kommen.

Forschungsprobleme und offene Forschungsfragen werden pflichtbewusst angesprochen, obwohl der Autor betont, sich mit dem Werk, darin ja nur den Intentionen der Dvnastiege-schichten des Kohlhammer-Verlags folgend, weniger an die Fachkollegenschaft denn an inte-ressierte Laien und natürlich Studierende zu wenden. Vor den Fachkollegen braucht sich das Werk aber ganz bestimmt nicht zu „verstecken".

Das Interesse an Dynastien, an der Geschichte bestimmter Adelsfamilien, an Einzelbio-graphien von Herrscherinnen und Herrschern oder anderen bedeutenden Persönlichkeiten, das seit Jahren herrscht und für ein reichhaltiges Angebot an entsprechenden Monographien, Lexika oder Sammelbänden sorgt, gründet nicht zuletzt in der anhaltenden Präsenz mancher dieser Dynastien und Familien in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft - und keineswegs nur in Society-Magazinen - , in ihrem faktischen Einfluss, der bezeichnenderweise nach 1989 eine wahre Renaissance erlebte, sicher auch in dem Umstand, dass Europa nach wie vor stark von Monarchien, und seien sie nun doch mittlerweile demokratisch-konstitutionelle, geprägt wird. Hinzu kommt ein populäres Interesse an allem, was sich den Unbilden, Allfälligkeiten, Zu-fällen und Wirrnissen von Jahrhunderten zum Trotz ge- und erhalten hat wie so manches Adels- und Herrscherhaus. Die Bourbonen gibt es immer noch, auch wenn sie im Gegensatz beispielsweise zu den Habsburgern, um ein nicht mehr regierendes Haus zu wählen, seit der Mitte des 20. Jahrhunderts keine politische Rolle mehr spielen.

Malettkes Bourbonen-Trilogie kann als rund und gelungen gelten, und wer etwas über das frühneuzeitliche Frankreich im allgemeinen wissen will, ohne auf unterhaltsame Ausfüh-rungen zu Fragen wie ob das gerade mal fünfzehn Jahre alte Königspaar Anna von Osterreich und Ludwig XIII . in der Nacht vom 28. auf den 29. November 1615 den Beischlaf vollzogen hat oder doch nicht, verzichten zu müssen, kann Einstieg, Auffrischung oder Erweiterung des Wissensstandes mit dieser Trilogie angehen.

Wien Wolfgang Schmale

W o l f g a n g SCHMALE, G e s c h i c h t e u n d Z u k u n f t der E u r o p ä i s c h e n Identität . K o h l -h a m m e r , S tu t tgar t 2 0 0 8 . 2 4 6 S.

Bereits der Titel des Buches von Wolfgang Schmale lässt aufhorchen - enthält er doch die beiden Begriffe Geschichte und Zukunft - ein unorthodoxes Begriffspaar für einen Historiker. Doch genau das hat sich der Autor vorgenommen: die Ausprägungen europäischer Identität seit dem 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart zu skizzieren und aufgrund der Analyse der Eu-ropäischen Integration einen neuen Denkansatz fiir die Auseinandersetzung mit Europäischer Identität aus historischer Sicht bereitzustellen.

Dabei geht der Autor in vier Schritten vor: Im ersten Abschnitt des Buches gibt er einen For-schungsüberblick, in dem er zu Recht die Unschärfe des Identitätsbegriffs und die Beeinflussung

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Literaturberichte 267

der historischen Forschung zum Thema Europäischer Identität durch die politischen Entwick-lungen kritisiert. Konsequenterweise versucht der Autor eine eigene Definition von Identität, die er „auf der Grundlage sozialer Zusammenhänge" untersucht. Dergestalt ist die zentrale Untersu-chungsfrage die „nach einem Europäischen Kollektiv mit einer Selbstdefinition als europäisch", wobei diese Begriffe jeweils nicht als statisch und fest, sondern als veränderlich angenommen werden. Zu Recht weist Schmale mit dieser Erläuterung auf den Denkfehler hin, dass ein Identi-tätsbildungsprozess gleichsam unabhängig von Raum und Zeit einem bestimmten Ziel zustrebe.

Der zweite Abschnitt des Buches untersucht die Existenz Europäischer Identität durch tünf Jahrhunderte - beginnend mit dem 15., in dem durch die aufkommende Türkengefahr ein für die Identitätsbildung und -abgrenzung unabdingbarer .Anderer" in Erscheinung trat. Neben der Untersuchung von Europabildern und ihrer Verwendung arbeitet Schmale die par-tielle Existenz eines Europäischen Demos in der Frühen Neuzeit heraus (Herrscherdynastien, Eliten). Weiters wird eindrücklich die Emblematik Europäischer Identität durch die Jahrhun-derte skizziert. In der Geschichtsschreibung und in Abhandlungen findet sich zwar häufig ein Europabezug, doch wird der Begriff „Europäische Geschichte" (im Singular) erstmals von Vol-taire verwendet. In der Aufklärung wird ein Wechsel des Denkrahmens fassbar: Europa wird nicht mehr als Körper gedacht, sondern als System. Zudem stellt sich die Frage nach Alteri-tätsdiskursen, also der Abgrenzung, die Europa und Europäer gegenüber Dritten vornahmen. Hier zeigt sich, dass das europäische Denken lange Zeit vom Gefühl der eigenen Überlegenheit geleitet war. Nicht zuletzt sucht Schmale nach „Europäischer Öffentlichkeit" und „Europäi-scher Identität" seit dem 16. Jahrhundert, die er in der Frühen Neuzeit durch die verfugbare Infrastruktur (Post, Buchdruck) und die Verkehrssprachen der Zeit (Latein, französisch) sowie einen gemeinsamen Wissenskanon als teilweise vorhanden ansieht.

Im dritten Teil des Buches zeichnet der Autor die Entwicklung der Europäischen Einigung, jetzt bezogen auf das Projekt E G / E U , nach dem Zweiten Weltkrieg nach, wobei er sich wiede-rum auf die dahinter stehenden Leitmotive konzentriert. Dabei wurde eine Zielidee der E W G in den Augen der europäischen Eliten, nämlich sich als dritte, ökonomische Weltmacht zwi-schen U S A und U D S S R zu positionieren, zunehmend überdacht und machte seit den 1980er Jahren Platz für eine dezidierte, nach innen gewandte, reflexive Identitätspolitik. Trotz der Versuche der Vereinheitlichung wurden nun auch die Widersprüche und Verschiedenheiten in Europa zunehmend akzeptiert. D e facto existiert nämlich kein Europäischer Demos und wird vielleicht in dieser Form nach nationalstaatlichem Vorbild auch nie existieren.

Der vierte Teil schließlich - immerhin fast ein Drittel des gesamten Buches - setzt sich mit der Zukunft der Europäischen Identität auseinander. Hier versucht Schmale, den Blick auf die EU (die er etwas verengend untersucht) vom Nationalstaat als gängigem Vergleichsmus-ter zu lösen. Schmale schlägt dagegen vor, die E U und damit auch die Europäische Identität als Netzwerk zu verstehen. Der Meistererzählung, die die Erfolgsgeschichte einer Nation zur Identitätstiftung schildert, stellt der Autor einen Hypertext gegenüber, der offen und beliebig erweiterbar ist und trotzdem aufgrund der Nerzwerkstruktur eine große Stabilität aufweist. Bezogen auf die Europäische Identität bedeutet dies einen Paradigmenwechsel, der nicht mehr ausschließlich Gemeinsamkeiten betont, um ein Abgrenzungskriterium zu schaffen, sondern seine Stärke aus der Vielfalt unterschiedlicher Elemente bezieht.

D e m Autor ist es gelungen, die Existenz von Elementen europäischer Identität und deren unterschiedliche Ausprägungen über vier Jahrhunderte bis in die Gegenwart nachzuzeichnen. Trotz der Belege fur eine stets in gewisser Weise vorhandene europäische Identität ist jedoch ungewiss, ob die Menschen selbst diese Identität bewusst wahrnahmen. Dementsprechend be-legen die angeführten Beispiele zunächst lediglich die Existenz von Europabildern und länder-übergreifenden Strukturen, wie etwa einen gemeinsamen Wissenskanon. Aber auch auf dieser Abstraktionsebene handelt es sich um einen interessanten Befund - beweist er doch das konti-nuierliche Vorhandensein eines europäischen Denkrahmens und dessen Adaptierung.

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268 Rezensionen

In Bezug auf die seit Jahrzehnten geführte Diskussion über Demokratie und Legitimität suprastaatlicher Organisationsformen wie der E G / E U und die damit verbundene Frage nach der Existenz bzw. Entstehung Europäischer Öffentlichkeit ist Wolfgang Schmale ein neuer, kreativer Diskussionsansatz gelungen: Danach müsse die EU losgelöst vom Vergleich mit Na-tionalstaaten als Netzwerk mit Hypertext gesehen werden, aus dem der Einzelne Sinn und Bedeutung für seine Europäische Identität produzieren kann.

Insofern ist das Buch sowohl geeignet, sich einen Überblick über Europäische Identität in historischer Perspektive zu verschaffen, als auch dafür, neue Wege für die Diskussion und Bewertung Europäischer Identität einzuschlagen.

Augsburg Oswald Bauer

Iris RITZMANN, Sorgenkinder. Kranke u n d behinderte M ä d c h e n und Jungen im 18. J ahrhunder t . Böhlau , K ö l n - W e i m a r - W i e n 2 0 0 8 . X , 3 2 0 S.

Die Buchpublikation „Sorgenkinder" der Schweizer Medizinhistorikerin Iris Ritzmann ist - trotz gewisser Defizite in der begrifflichen Durchdringung und in der empirischen Analyse mancher Materien, auf die noch einzugehen sein wird - eine höchst aufschlussreiche und auf profunden Quellenstudien erarbeitete Übersichtsdarstellung zum medizinischen und gesell-schaftlichen Umgang mit kranken und behinderten Kindern in der Vormoderne.

Die Arbeit fußt auf der Untersuchung von publizierten und archivalischen Quellen aus ausgewählten geographischen Regionen, nämlich der deutschsprachigen Schweiz und „Süd-deutschland". Hierbei fällt auf, dass die habsburgischen Erblande, aber auch das Kurfürsten-tum Bayern n i c h t mit einbezogen wurden, dagegen aber die Pfalz und die Landgrafschaft Hessen-Kassel. Eine derartiger Untersuchungsraum, dessen Festlegung offenkundig auch nach dem Kriterium der Zugänglichkeit und Reichhaltigkeit relevanter Quellenmaterialien erfolgte, ist sicher zulässig, wird aber durch den Ausdruck „Süddeutschland" jedenfalls nicht zutreffend charakterisiert. Die Autorin beklagt im Übrigen eine geringe schriftliche Überlie-ferung in den katholischen Regionen und meint, das Nicht-Vorhandensein von „Protokoll-büchern" „scheint der Normalfall in katholischen Institutionen gewesen zu sein" (S. 11). Für Waisenhäuser, die in der betreffenden Passage direkt angesprochen sind, mag das der Tendenz nach zutreffen, sicher nicht aber - wie man bei der Lektüre glauben könnte - auch für andere katholische Fürsorge-Institutionen, namentlich im Bereich der Krankenfürsorge, wo der Grad der Verschriftlichung wesentlich von der jeweiligen Trägerorganisation abhing und teilweise schon im 17. Jahrhundert ein sehr hoher Biirokratisierungs- und Rationalisie-rungsgrad erreicht war.

Was den zeitlichen Rahmen der Untersuchung betrifft, so wird dieser nicht durch eine gegenstandsbezogene Periodisierung festgelegt, sondern folgt, indem „das 18. Jahrhundert" be-trachtet wird, runden Summen der europäischen Zeitrechnung, was gewisse Nach-, aber auch klare Vorteile mit sich bringt. So vermeidet die Autorin etwa eine Einengung der Untersu-chung auf eine „Medizin der Aufklärung" und stellt die berechtigte Frage, inwieweit ein solches „nachträgliches Konstrukt" (S. 58) der Medizinhistoriographie überhaupt analytisch tragfähig ist - war doch die Medizin bis über das Ende des 18. Jahrhunderts hinaus stark von traditio-nellen, voraufklärerischen Ideen und Praxen geprägt, welche zudem eine beachtliche Hetero-genität aufwiesen (S. 36-38 ) . Dies trotz des zweifellos gegebenen Umstandes, dass im Verlauf des 18. Jahrhunderts auch in der Medizin rationalistische und „pädagogische" Ansprüche, die ja für die Aufklärungsbewegung typisch waren, zunehmende Bedeutung erlangten. Auf dem Gebiet der Kinderheilkunde äußert sich diese Tendenz, die sich mit ärztlichen Durchsetzungs-strategien gegenüber der Konkurrenz durch nicht-akademische Berufsgruppen sowie Traditio-nen der „Laienbehandlung" gut verbinden ließ, vor allem in einer .Abwertung der weiblichen Kleinkinderbetreuung" (S. 75), wie die Autorin schlüssig nachweisen kann.

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Literaturberichte 269

Allerdings hatten die ärztlichen Auffassungen von „guter" Behandlung kranker und ge-sunder Kinder durchaus nur begrenzten Einfluss auf die soziale Praxis, wie Rirzmann durch ihr sozialhistorisch ausgerichtetes Vorgehen zeigen kann: Nach Kapitel 1, das konzeptuelle und methodische Fragen erörtert (S. 1 -23) , sowie Kapitel 2, das einen Überblick über die Ideengeschichte der Medizin im Hinblick auf die Pädiatrie gibt und die schon angesproche-nen ärztlichen „Professionalisierungsstrategien" erörtert (S. 24—86), folgt nämlich in Kapitel 3 (S. 8 7 - 1 2 0 ) eine zwar im Umfang eher knapp gehaltene, aber inhaltlich weit gefächerte Vorstel-lung des „medizinischen Marktes" im 18. Jahrhundert. Zuallererst wird hierbei - zweifellos zu Recht - die überragende Bedeutung der h ä u s l i c h e n P f l e g e , besonders jener durch die Mütter der kranken Kinder, betont. Auch die sicher sehr verbreitete Hinzuziehung von Personen aus dem näheren sozialen Umfeld ohne spezielle Ausbildung, aber mit gewissen medizinischen und pflegerischen Kenntnissen, wird erwähnt, sodann natürlich der in seiner Bewertung lange um-strittene Bereich der „irregulären Heiler". Ritzmann spricht sich hier, den neueren sozial- und kulturhistorisch orientierten Arbeiten zur Thematik folgend, dafür aus, nicht unkritisch den „Kurpfuscher"-Diskurs der ärztlichen und obrigkeitlichen Quellen zu übernehmen, weist aber auch daraufhin, dass dies „nicht dazu verleiten [sollte], jede Kritik an irregulären Heilkundigen im vornherein als unzutreffend abzutun" (S. 99). Im Bereich der obrigkeitlich anerkannten Heilkundigen sind neben den Ärzten und Apothekern für die Frühe Neuzeit natürlich generell auch die Tätigkeiten von Badern, Barbieren und Chirurgen zu beachten, für den Bereich der Kinderheilkunde aber besonders auch jene von Hebammen und „Kindsfrauen", wenngleich hierzu bedauerlicherweise eher wenig Informationen vorhanden sind (S. 100). Dies gilt nach Ritzmann auch für die Tätigkeiten von Krankenwärterinnen und Krankenwärtern in Hospitä-lern, wobei ihr insofern Recht zu geben ist, als eine gegenüber dem ärztlichen Handeln deutlich schlechtere Quellensituation gegeben ist. Dass „sich die Spitalsgeschichtsschreibung über diese Berufe leider meist aus [schweigt]", erscheint bei Berücksichtigung rezenterer Publikationen aber als nicht (mehr) zutreffendes Urteil; immerhin widmet sich die „Pflegegeschichte" in nicht unerheblichem Maß der Krankenpflege in vormodernen Hospitalorganisationen.

Sehr sorgsam reflektiert erfolgt sodann in Kapitel 4 (S. 121-162) eine Annäherung an die Thematik der „retrospektiven Diagnostik". Die Autorin spricht sich hierbei klar gegen ein „Verständnis von Mensch als einem rein kulturellen Wesen" aus (S. 122) und damit gegen eine Reduktion der Menschen-Wissenschaften auf die „Geistes"-Wissenschaften. Zugleich plä-diert Ritzmann aber auch dafür, die Kritik an der traditionellen, oft ahistorisch operierenden und universalistisch orientierten Medizinhistoriographie ernst zu nehmen. Dementsprechend sei, im Anschluss an Charles Rosenberg, etwa zu unterscheiden „zwischen stark, weniger stark und kaum kulturell beeinflussten Krankheiten" (S. 123) und sollte naturwissenschaftlichen Erkenntnissen nicht dogmatisch die Relevanz für (medizin-)historische Forschung abgespro-chen werden. In der konkreten Erörterung zeitgenössischer Krankheitsbezeichnungen vollzieht Ritzmann sodann nur vorsichtig und teilweise Gleichsetzungen mit modernen diagnostischen Etiketten und operiert auch mit der Zuordnung zu Systemkreisen bzw. Diagnosegruppen (Fie-bererkrankungen, Krankheiten des Verdauungssystems u. ä.). O b bei der Erörterung des dann ausfuhrlich behandelten Bereichs der institutionellen Betreuung behinderter Kinder jedoch die zeitgenössischen Krankheitsbezeichnungen adäquat interpretiert wurden, scheint dem Rezen-senten mehr als fraglich: Das „verrückt" bzw. „furios"-Sein in Quellen des 18. Jahrhunderts kann, selbst wenn es sich bei den beschriebenen Personen um Kinder bzw. Jugendliche han-delte und eine dauerhafte Hospitalisierung stattfand, nicht einfach pauschal als „geistig be-hindert" „übersetzt" werden. Immerhin ist an die Möglichkeit des Vorliegens (chronifizierter) psychischer Erkrankungen - bzw. auch ausgeprägte Verhaltensstörungen - zu denken, welche aber im gesamten betreffenden Abschnitt keine Erwähnung finden! Auch die kurze Erörterung der einschlägigen Terminologie des Zedler'schen „Universal-Lexicons" ist alles andere als über-zeugend (S. 154).

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270 Rezensionen

Ungleich gehaltvoller, auch was die systematische Auswertung des Quellenmaterials an-geht, sind dagegen die Ausführungen zur Praxis der Kinderchirurgie und ärztlichen Kinderme-dizin in Kapitel 5 (S. 163—234). Hier wird eine Vielzahl von konkreten Behandlungen „kleiner Patienten" geschildert, die v. a. im Krankenjournal des Zürcher Spitalschirurgen Johann R. Burkhard und den klinischen Aufzeichnungen des damaligen Zürcher Studenten Heinrich Glättli dokumentiert sind und die 1780er Jahre betreffen. Die sorgfältige Auswertung dieser Quel len durch die als Medizinerin wie als Historikerin ausgebildete Autorin liefert ein sehr genaues Bild zahlreicher damaliger fachmedizinischer Verfahren in ihrer t a t s ä c h l i c h e n An-wendung. Darüber hinaus erörtert Ritzmann eingehend die in den Dokumenten sichtbar wer-denden Einstellungen der betreffenden Mediziner, aber auch der Eltern und anderer Beteiligter gegenüber den erkrankten Kindern. In diesem Zusammenhang räumt die Autorin gründlich auf mit den gelegentlich immer noch „herumgeisternden" Vorstellungen, in der Vormoderne hätte es erstens kaum emotionale Bindungen zwischen Eltern und (kleinen) Kindern gegeben und hätten zweitens Arzte den Willen ihrer Patienten, besonders bei „unmündigen" Personen, meist pauschal negiert. Anhand des bearbeiteten Quellenmaterials wird im Gegenteil das häu-fige Vorhandensein eines sehr empathischen und engagierten Zugangs zu leidenden Kindern deutlich (z. B. S. 206f.) . Es hätte aber ergänzt werden sollen, dass solche Haltungen sicher nicht immer anzutreffen waren - immerhin dokumentieren die meisten Que l l en des Medizinalsys-tems eben nicht Fälle, in denen sich Eltern u m ihre kranken Kinder n i c h t kümmerten.

Einen „kühlen", primär durch ökonomische Motive geprägten Z u g a n g zu kindlichem Leid schreibt Ritzmann ausdrücklich aber nur „den Obrigkeiten" zu, wie in Kapitel 6 (S. 2 3 5 - 2 7 6 ) deutlich wird, das sich „Kinderpatienten in Waisenhäusern" widmet. Das Vorherrschen derar-tiger Wahrnehmungsmuster lässt sich fur solche Disziplinierungsanscalten, die vornehmlich für Angehörige von „Randgruppen" und „Unterschichten" zuständig waren, unschwer feststellen. Das Vorhandensein einer emotionalen Antei lnahme a m Leben - bzw. auch Sterben - von Kindern erscheint der Autorin deswegen bipolar ausgeprägt („direkt beteiligte Erwachsene": Ja, „unbeteiligte Obrigkeit" : Nein, S. 283 ) , ein pauscha l i e render , d e r T e n d e n z n a c h aber wohl berechtigter Schluss.

Insgesamt handelt es sich bei dieser Neuerscheinung u m einen sehr lesenswerten und wich-tigen Beitrag zum noch keineswegs ausreichend beforschten Feld der Behandlung kranker Kin-der in der Vormoderne.

Graz Carlos Watzka

C a m i l l a G . KAUL, Fr iedr ich B a r b a r o s s a im Kyf ïhâuser . B i lder e ines na t iona len M y -thos im 19 . J a h r h u n d e r t . T e x t b a n d , K a t a l o g b a n d . (Atlas . B o n n e r Be i t räge zur K u n s t -geschichte , Ν F. 4 / 1 - 2 . ) B ö h l a u , K ö l n - W e i m a r - W i e n 2 0 0 7 . 9 1 4 ( T e x t b a n d ) u. 148 ( K a t a l o g b a n d ) S . , d a v o n 3 2 u n p a g i n i e r t , m i t S W - A b b i l d u n g e n .

Wenn eine Dissertation einen U m f a n g von - inklusive des Katalogbandes - mehr als ein-tausend Seiten hat, so erweckt das beides: Respekt vor einer wahrhaften Kärrnerarbeit, zugleich aber auch Skepsis, ob ein derartiger U m f a n g den Leser wie Nutzer nicht mehr abschreckt als tatsächlich zu fesseln vermag. Dazu tritt die Beobachtung, dass eigentlich nicht recht zu verstehen ist, warum der mit Friedrich Barbarossa verbundene, von dieser Persönlichkeit und den sich u m sie rankenden Legenden ausgehende, ja best immte nationale Mythos nur - und dies ganz streng - für das 19. Jahrhundert untersucht und nicht doch auch die Spätphase des wilhelminischen Deutschland bis 1918 in Betracht gezogen wird. Wiewohl angesichts des ganz of fenkundig als histoire totale intendierten Werks und dessen schieren Umfangs beinahe der Autorin unzumutbar, zeigt sich als schmerzhaft empfundenes Desiderat dann auch noch die Epoche des Dritten Reichs, für die Mittelalter-Rezeption wie zugleich auch Barbarossa-Mythos („Unternehmen Barbarossa") gleichfalls zu thematisieren wären.

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Literaturberichte 271

Was die Arbeit in jedem Fall weit über eine kunstgeschichtliche Studie hinaus erhebt, das ist die Einbeziehung eines breit gefassten historischen wie auch literaturwissenschaftlichen An-satzes. Sie legt damit in jedem Fall einen Standard, der längere Zeit hindurch halten wird. Mit großer Umsicht und analytischer Genauigkeit geht sie an eine mehr denn als Skizze zu bezeich-nende Darstellung der Grundlagen heran, indem sie einer - trotz aller Bewunderung doch et-was zu knapp geratenen - „(Kürzest)"Biographie des ersten staufischen Kaisers einen Abschnitt zu Prophetien und Sagen im Kontext des entrückten Kaisers folgen lässt. In der Folge werden Beobachtungen zu „Geschichtsauffassung, Mittelalterrezeption und Historienmalerei zu Be-ginn des 19. Jahrhunderts" (S. 49-65) dargeboten, um sodann in einem ungeheuer breiten chronologisch angelegten Bogen dem Phänomen „Barbarossa im Kyffhäuser" von der Ära der Freiheitskriege und Restauration bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nachzugehen. Eindrucks-voll gelingt der Autorin insbesondere die Schilderung des Höhepunktes der Rückbesinnung auf das mittelalterliche Kaisertum im Kontext der Reichsbildung von 1871. Sie bringt dabei auch eine Reihe von Beobachtungen aus dem und zum alltäglichen Leben, wie das Prahlen mit dem Tragen von Barbarossa-Barten oder Straßenbenennungen nach mittelalterlichen Kaisern und vieles andere mehr. Die Stilisierung des ersten deutschen Kaisers, Wilhelms I., als „Barba-blanca", die ihre Auswirkungen nicht zuletzt im Denkmal wie in der Architektur zeigt, nimmt einen gewichtigen Platz im Buch ein, und dabei wird auch nicht auf Beispiele aus dem Bereich der Illustration und freien Graphik wie der Karikatur vergessen. Festkultur und Festwesen wie auch das fur das 19. Jahrhundert generell, das wilhelminische Deutschland speziell so wichtige Vereinswesen sind ein weiteres, abschließendes Feld, auf dem Frau Kaul ihrer Themenstellung nachgeht.

Äußerst lesenswert ist nicht zuletzt die Zusammenfassung, das Resümee („Friedrich Bar-barossa im Kyffhäuser - ein wandelbarer Mythos", S. 753-767), in dem sie das am Kyffhäuser anknüpfende, freilich weit darüber hinaus reichende und fur jegliches Verständnis der deut-schen Entwicklung des nationalen Zeitalters völlig unverzichtbare Ideenkonstrukt des Barba-rossa-Mythos exemplarisch erschließt. Mit wenigen Worten weist sie hier auch noch auf den weitgehend veränderten Stellenwert der historischen Persönlichkeit wie zugleich ihrer Wir-kungsweisen nach 1945 hin, und wenigstens hier hätte man sich eine zumindest ansatzweise Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Ära, deren Fehlen schon eingangs beklagt wurde, erwartet.

Das im Anhang zum Buch gebotene „Chronologische Verzeichnis der literarischen Re-zeption" (S. 769-801) von 1790 bis 1910 stellt ein ganz wunderbares Hilfsmittel für jegliche künftige Auseinandersetzung mit der Thematik dar. Eine solche kann angesichts der Fülle des Dargebotenen freilich für längere Zeit ausbleiben, das vorliegende Kompendium wird auch in die Zukunft hinein seinen hohen Wert behalten. Dass die Bibliographie insgesamt 87 Seiten umfasst (S. 802-888) , kann angesichts der bisherigen Ausführungen nicht weiter verwundern. Das Personenregister erschließt den Band zusätzlich, es wäre freilich überlegenswert gewesen das Register durch Einbeziehung auch der Ortsnamen zu erweitern. Enttäuschend wirkt der zweite Band der Dissertation, der einen Katalog von Abbildungen zur Rezeption Friedrich Barbarossas im Kyffhäuser enthält, gegliedert in fünf Abschnitte, von der Malerei über die Bildhauerei, Denkmäler und Denkmalprojekte, Freie und angewandte Graphik bis hin zu Festen und lebenden Bildern. Der von der Autorin gebotene Hinweis, dass dem Bemühen, alle Katalognummern auch mit Abbildungen zu versehen, das Streben nach ausreichender Qualität der Bilder geopfert wurde, nimmt man dabei durchaus mit Bedauern zur Kenntnis. Völlig ohne Erläuterung bleibt der letzte Teil des Katalogbandes, der von S. 117 an auf einer Anzahl unpaginierter Seiten nicht weniger als 68 weitere (zusätzliche) Abbildungen enthält, zu denen allerdings - im Unterschied zu den fünf eigentlichen Katalogteilen - keine dem übrigen Katalogband vergleichbaren Erläuterungen geboten werden und auch jeglicher Bildnachweis fehlt. Es handelt sich dabei inhaltlich um ein nicht ganz klar verständliches Sammelsurium

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272 Rezensionen

an Beispielen fur die künstlerische Barbarossa-Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert: Sie umfasst zum Teil mittelalterliche Darstellungen Friedrichs I. (Nr. 35: Dom von Freising; Nr. 36: Kreuzgang von St. Zeno in Reichenhall), Darstellungen des 19. Jahrhunderts von Zeitge-nossen des Kaisers, ebensolche Darstellungen im Hinblick auf dessen Vorgänger (Nr. 9: Otto III. in der Gruft Karls des Großen) oder Nachfahren (Nr. 11: Tod Friedrichs II.), aber auch Porträts von mit einschlägigen Arbeiten hervor getretenen Künstlern bzw. anderen Persönlich-keiten des 19. Jahrhunderts (etwa Nrr. 29 .1-29 .3) , welche im Textband selbst Erwähnung finden.

In Summe ein in vieler Hinsicht gewichtiges Werk, das beinahe den Charakter eines Hand-buchs hat, das Desiderata erkennen lässt, die freilich im Kontext des Buches nur hätten ange-deutet werden können. Gleichwohl vermisst man jegliche, auch noch so kurze Andeutung in diese Richtungen. Ein wenig ratlos bleibt der Rezensent mit Hinblick auf den abschließenden Teil des Katalogs zurück, und auch die mangelnde Qualität der Abbildungen lässt einen schalen Geschmack zurück. Für eine Dissertation freilich ist die Neuerscheinung tatsächlich von he-rausragender Qualität, der künftige Forschungen zu anderen Facetten der Rezeptionsgeschichte der frühstaufischen Epoche erst werden nacheifern müssen.

Wien Ferdinand Opll

Eva Mar i a WERNER, Die Märzminis ter ien . Regierungen der Revolut ion von 1848/49

in den Staaten des Deutschen Bundes. (Schriften zur polit ischen Kommunika t ion 3.)

V & R unipress, Gött ingen 2009 . 337 S.

Das Geschehen des Revolutionsjahres 1848/49 zählt zweifellos zu den am meisten er-forschten Themen der deutschen Geschichte - und doch lassen sich immer wieder Fragestel-lungen finden, die bisher unbeachtet geblieben sind, nicht zuletzt erklärbar aus der Tatsache, dass das politische wie das historische Interesse an dem Revolutionsjahr auf den Ablauf des Geschehens, auf die Erforschung und die Darstellung der Ereignisse und auf die revolutio-nären Veränderungen in den einzelnen deutschen Ländern ausgerichtet war und nur selten der Versuch gemacht wurde, durch vergleichende Studien Einsicht in den Gesamtcharakter der Revolution zu gewinnen. So wird ζ. B. immer wieder in den Einzeldarstellungen auf die besondere politische, soziale, administrative Situation verwiesen, aus der heraus es im März in den deutschen Ländern zur Berufung revolutionärer Regierungen kam, aber bis heute fehlt es an Versuchen, durch vergleichende Forschungen die Strukturen und die personellen wie politi-schen Voraussetzungen sichtbar zu machen, die für die Bildung und das Wirken der in diesem Revolutionsmonat ernannten Regierungen entscheidend waren. Eva Maria Werner hat sich zur Aufgabe gestellt, diesen, den Beginn der Revolutionen von 1848 markierenden Schritt einer neuen Art der Regierungsbildung, die Berufung der schon von Zeitgenossen verschiedentlich so genannten „Märzregierungen" in vergleichender Forschung zu untersuchen. Mit Recht stellt sie einleitend fest, dass als Voraussetzung ihrer Untersuchung der Begriff „Märzministerium" und vor allem auch der Begriff der „Märzminister" zu hinterfragen ist. Entscheidend für sie ist in dem Abschnitt, der die Konstituierung der Märzministerien untersucht, das Faktum, dass die Bildung dieser Regierungen durch den Druck der Öffentlichkeit bewirkt wurde. Dies verleitet sie jedoch dazu, auch jene Regierungen unter den Begriff der „Märzregierung" zu er-fassen, die erst zu einem späteren Zeitpunkt des Revolutionsjahres gebildet wurden. Das fuhrt zu der doch etwas seltsam anmutenden Einordnung der im Oktober 1848 in Anhalt-Bernburg konstituierten Regierung in die Kategorie der Märzministerien, einer Klassifizierung, die nicht nur in der Namenseinordnung bedenklich ist, sondern die doch auch das Faktum verwischt, dass ein im Oktober 1848 gebildetes Ministerium in einem vom März dieses Jahres bereits völlig verschiedenen allgemeinen politischen Klima ernannt worden ist. Von den im Anhang II angeführten, in deutschen Staaten gebildeten 25 „Märzregierungen" sind nur 16 wirklich im

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Li tera turber ichte 273

März gebildet, man kann sicherlich auch die beiden im April in Anhalt-Dessau und Hessen-Nassau gebildeten Regierungen noch unter diesem Begriff erfassen, doch die sieben zwischen Ende Mai und Oktober 1848 ernannten Regierungen verwischen durch ihre Einbeziehung in die komparative Untersuchung deren Ergebnis, so wie es auch fragwürdig ist, wenn in der Untersuchung davon gesprochen wird, dass jemand im Mai oder Herbst 1848 zum „Märzmi-nister" ernannt wurde.

Diese zeitliche Ausweitung der in die Untersuchung einbezogenen Regierungen ist umso weniger verständlich als Werner sich - mit Recht - aus Gründen des Umfangs gezwungen sieht, darauf zu verzichten, die Regierungsleistungen und die Beurteilung der einzelnen Minister in allen Staaten des Deutschen Bundes in ihre Untersuchung aufzunehmen: Sie beschränkt sich - mit wohldurchdachten Argumenten, die ihre Auswahl durch Hinweis auf den typischen Charakter der ausgewählten Länder begründen - darauf, die Märzministerien des Fürstentums Lippe-Detmold, der Königreiche Hannover und Württemberg und des Kaiserreichs Osterreich in die systematische vergleichende Auswertung einzubeziehen.

Die auf dieser Basis erarbeitete Kollektivbiographie der Märzminister steht nicht nur the-matisch und in der Präsentation im Zentrum des Buches, sondern demonstriert eindrucksvoll, wie nützlich und ergebnisreich diese komparative Betrachtung und statistische Anordnung der geographischen Herkunft und der sozialen, beruflichen und politischen Lebensläufe der im März 1848 in Regierungsämter berufenen Minister ist: Die Daten von 133 Männern sind in diesem Abschnitt des Buches ausgewertet, ihre Zugehörigkeit zu den Generationen, die Wege der Ausbildung, die geographische wie gesellschaftliche Herkunft, politische Erfahrungs-bereiche, publizistische Tätigkeit, berufliche Karrieren, dargestellt in Tabellen, Grafiken und Übersichten, machen die Ergebnisse dieser Untersuchung sichtbar, deren Auswertung in ihrem Inhaltsreichtum in dieser Rezension nicht im Einzelnen dargestellt werden kann. Es wäre al-lerdings doch zu überlegen, inwieweit die bereits erwähnte, bis in den Herbst 1848 reichende zeitliche Ausdehnung der Einordnung als Märzminister die Gesamtauswertung der erfassten Daten verändert, und es wäre doch auch darüber zu diskutieren, ob das bloße Faktum, dass jemand im März 1848 zum Minister bestellt wurde, nicht Personen in die Auswertung einbe-zieht, die deren Aussagen relativieren, weil sie gar nicht als Repräsentanten einer Neuordnung in die Regierung einbezogen worden sind. Der im März 1848 in die österreichische Regierung aufgenommene Kolowrat kann nicht in den Typus „Märzminister" integriert werden; Minis-ter, die im Sommer oder Herbst 1848 in Regierungen berufen wurden, sind aus einer vom Frühjahr völlig verschiedenen Konstellation heraus ernannt worden, ihre soziale Herkunft, ihr beruflicher und politischer Werdegang ist nicht zwangsläufig typisch für den „echten" März-minister.

Doch diese Überlegungen können und sollen nicht die in dieser Dissertation erbrachte wissenschaftliche Leistung in Frage stellen, sie sind nicht als Kritik gedacht, sondern vielmehr als Anregung, die in dieser Untersuchung vorgelegte komparative Erforschung und Auswer-tung der Revolutionsgeschichte systematisch zu einem umfassenderen Forschungsprojekt aus-zuweiten.

Wenn zuletzt doch noch an dem Buch Kritik geübt wird, so trifft es nicht die Autorin, son-dern die Betreuerinnen der Dissertation und den für die Drucklegung verantwortlichen Verlag: Es grenzt einfach an Unfug, wenn eine Darstellung von 267 Seiten durch 1277 Anmerkungen verunstaltet wird und innerhalb von wenigen Zeilen dreimal mit der Angabe „vgl." auf die gleiche Quelle verwiesen wird (ζ. B. Anm. 96 bis 98). Eine Straffung dieses „wissenschaftlichen Apparats" hätte die Lesbarkeit - und damit auch die Aussagekraft - der so inhaltsreichen Dis-sertation ganz entschieden verbessern können, ohne dass die wissenschaftlichen Aussagen und Argumente in Frage gestellt worden wären.

Wien Fritz Fellner

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274 Rezensionen

Österreichische Histor iker 1900—1945. Lebens läufe u n d Karrieren in Österreich, Deut sch land u n d der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtl ichen Porträts, hg. von Karel HRUZA. Böhlau , W i e n - K ö l n - W e i m a r 2 0 0 8 . 8 5 9 S „ 4 4 Abb .

Der Sammelband mit der Schilderung von Lebensläufen und Karrieren von 19 österreichi-schen Historikern verdient es, dass zunächst die eindrucksvolle Forschungsleistung hervorge-hoben wird, aus der heraus die Porträts gestaltet worden sind. Jeder der Autoren präsentiert in seiner Darstellung eine bemerkenswert profunde Kenntnis der relevanten allgemeinen historio-graphischen und der speziellen biographischen Literatur, in jedem Beitrag ist die Beschreibung des jeweiligen wissenschaftlichen Werkes verbunden mit einer bis in die Einzelheiten der Le-bensgeschichte eingehenden Erfassung und Auswertung ungedruckter Quellen in öffentlichen und privaten Archiven. Jeder einzelne Beitrag dokumentiert in umfangreichen und überaus detaillierten Anmerkungen die Gründlichkeit der Quellenforschung, aus der die Darstellung hervorgegangen ist. Fast ist dieser Dokumentation zu viel Gewicht beigemessen, denn allzu oft nimmt der penible Anmerkungsapparat auf den einzelnen Seiten mehr Raum ein als der darstellende Text. Das Hauptgewicht aller Beiträge liegt mehr auf der Schilderung der Lebens-geschichte als auf der Einordnung der Werke in den Zusammenhang einer historiographischen Interpretation.

Jedes der in diesem Band vereinten Porträts beeindruckt durch die Forschungsleistung und dokumentiert doch auf geradezu erschreckende Weise, dass die genaueste Kenntnis und Auswertung der Quellen nicht vor Fehlinterpretationen schützt, wenn man aus ideologischer Voreingenommenheit, wenn man aus dem Wissen des Nachgeborenen glaubt, das Verhalten der Vorfahren moralisch be- und verurteilen zu dürfen, wenn man, geblendet von dem Urteil der Nachwelt, nicht imstande ist, eine vergangene Epoche in ihrer Realität zu erkennen.

Das Unbehagen über den Grundcharakter dieses Sammelwerkes hat seinen Ursprung jedoch schon in der Überlegung, welche Grundsätze fur die Auswahl der darin präsentierten Historiker maßgebend gewesen sein mögen. „Lebensläufe und Karrieren in Osterreich, Deutschland und der Tschechoslowakei" 1900 bis 1945 lautet der Untertitel des Werkes. Es konnten natürlich nicht alle in jenem Zeitraum wirkenden Historiker in das Werk aufgenommen werden, der Herausgeber musste eine Auswahl treffen - und es war unvermeidbar, dass diese Entscheidung, wie jede Auswahl, von subjektiven Überlegungen bestimmt wurde. Der Herausgeber gibt nicht bekannt, nach welchen Kriterien er jene 26 Historiker (Universitätsprofessoren, Archivare, Bib-liothekare) ausgesucht hat, von denen aus verschiedenen, nicht näher erläuterten Schwierigkei-ten auf die Publikation von sieben Beiträgen (Otto Brunner, Lothar Groß, Adolf Helbok, Ger-hard Ladner, Oswald Redlich, Heinrich Srbik, Hermann Wopfner) verzichtet werden musste. Kurz erwähnt er in dem Vorwort zehn Historiker und Historikerinnen, die seinem Empfinden nach eine Berücksichtigung verdient hätten, doch seltsamerweise fehlen in dieser Aufzählung so bedeutende Namen wie Alfred F. Pribram, Ludo Moritz Hartmann, Friedrich Engel-Janosi, Heinrich Kretschmayr, Ludwig Pastor, Ignaz Ph. Dengel, Hugo Hantsch, Historiker, die zwei-felsohne für die österreichische Geschichtswissenschaft zwischen 1900 und 1945 bedeutsamer waren als Paul Heigl, der, 1934 wegen seiner Verstrickung in den nationalsozialistischen Juli-putsch von seiner Stellung als Bibliothekar des Instituts für österreichische Geschichtsforschung entlassen, zwischen 1938 und 1945 Generaldirektor der Nationalbibliothek war, aber nie be-deutsame historische Forschungen betrieben hat, oder Wilfried Krallert, der Geograph, dessen Tätigkeit im Dienste der SS und später im Wiener Ost- und Südosteuropainstitut kaum als historiographische Leistung bewertet werden kann. Es ist wohl aus der Herkunft des Herausge-bers zu erklären, dass den österreichischen Historikern, die an der Universität Prag gelehrt haben (Harold Steinacker, Hans Hirsch, Theodor Mayer, Eduard Winter, Heinz Zatschek) beinahe eine Vorrangstellung eingeräumt ist, die sich vor allem in dem Umfang der Beiträge über Hirsch und Zatschek dokumentiert. Mit Johann Loserth und Raimund F. Kaindl sind zwei weitere

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Litera turber ichte 275

Historiker vertreten, die an Universitäten außerhalb des heutigen Österreichs den Hauptteil ihrer Laufbahn verbracht haben, dann aber an der Universität Graz wirkten, wo auch Anton Meli, Hans Pirchegger und Mathilde Uhlirz gelehrt haben. Ot to Stolz und Richard Heuberger sind Tiroler, und neben den später in Wien wirkenden Südtirolern Emil von Ottenthai und Leo Santifaller sind Ludwig Bittner und Wilhelm Bauer die beiden einzigen Wiener; bei dem fur die Universität Wien repräsentativen Alfons Dopsch wird die Herkunft aus Böhmen und das Interesse an der Erforschung des slawischen Raumes betont.

Wenn man die einzelnen Beiträge miteinander vergleicht, dann kann man eine merkwür-dige Feststellung machen: Es wird bei fast allen Beiträgen besonderes Gewicht auf die Frage gelegt, wie weit der betreffende Historiker „völkisch" oder „großdeutsch" gesinnt war und wie eng er institutionell oder in seiner politischen Einstellung dem Nationalsozialismus verbunden war. Es wird durch diese Betrachtungsweise nicht nur der Eindruck erweckt, als sei die ös-terreichische Geschichtswissenschaft ideologisch besonders eng mit dem Nationalsozialismus verbunden gewesen, sondern es wird einigen der Historiker direkt moralische Veranrwortung für die Verbrechen des NS-Regimes zugeschrieben, es wird ihnen unterstellt, dass sie in voller Kenntnis der Verbrechen dem Regime gedient haben. Es wird aus dem Wissen des Jahres 2000 ein wissenschaftliches Verhalten be- und verurteilt, das in eine völlig andere Konstellation ein-gebettet war. Man hätte - so urteilt der Herausgeber - in den „fünf Jahren zwischen 1933 und 1938 Zeit gehabt, die Errichtung und Etablierung des NS-Regimes in Deutschland ,νοη außen' zu beobachten" und hätte doch „anscheinend keine Angst oder Abscheu vor dieser Diktatur" gehabt. Was der Historiker Hruza heute weiß, konnten die Historiker der 1930er Jahre nicht wissen, nicht nur die Anschlussfreunde, sondern auch die Gegner des Regimes waren damals geblendet von den propagandistisch so erfolgreich präsentierten Leistungen im Dritten Reich, und die Meldungen über Entrechtung der Juden und die Verfolgung von Regimegegnern nah-men sich bis in die ersten Kriegsjahre weit weniger gefahrlich aus als die Meldungen und das Wissen, das man in jenen fünf Jahren über das Geschehen in der Sowjetunion zu hören bekam. Die historische Situation der Jahre von 1933 bis 1945 ist viel zu komplex, um mit Schuldvor-würfen an jene abgetan zu werden, die das Unglück hatten damals zu leben. Das Bekenntnis zu einem nationalen Sozialismus und die Uberzeugung von einer Verpflichtung zu einer kulturel-len Führungsrolle der Deutschen sind nicht verschieden von dem idealistischen Anspruch des amerikanischen manifest destiny. Damals so wie heute wird weltanschaulicher Idealismus zu machtpolitischer Vernichtungspolitik missbraucht. Niemand wird Schostakowitsch vorwerfen, dass er durch sein künsderisches Wirken mitschuldig wurde an den Untaten des Stalinismus, wie Helmut Maurer in seinem Beitrag über Theodor Mayer über dessen Führungspositionen in der deutschen Mediävistik urteilt, obwohl Maurer doch selbst in seinem Beitrag berichtet, mit welchem persönlichen Engagement der Präsident der Monumenta Germaniae Histórica darum gekämpft hat, gegenüber Partei und Regierung die wissenschaftliche Integrität des Unterneh-mens zu wahren. Seltsam mutet es an, wenn die Darstellung von Mayers so verdienstvollem Bemühen, in Konstanz eine neue Heimstätte für die Mittelalterforschung zu schafFen, von Maurer mit der fast zynisch anmutenden Bemerkung eingeleitet wird: „Anstatt sich mit seiner persönlichen Vergangenheit auseinander zu setzen, sah er sich seit Beginn der 50er Jahre von neuen Aufgaben voll und ganz in Anspruch genommen."

Der Herausgeber hat, wie er selbst in der Einleitung festhält, den Mitarbeitern ein striktes Seitenlimit von ca. 30 Druckseiten vorgeschrieben. Es wirkt deshalb besonders unangenehm, dass sein eigener Beitrag über Heinz Zatschek sich über 116 Seiten erstreckt, wobei die detail-verliebte, aber höchst informative, wenn auch stark politisch-subjektiv verfasste Darstellung noch durch den Abdruck von elf in der Darstellung ausfuhrlich verwerteten Dokumenten im vollen Wortlaut ergänzt wird.

Auch Andreas Zajic hat das Recht erhalten, das allen anderen vorgeschriebene Limit weit zu überschreiten. Sein Aufsatz über Hans Hirsch ist ebenso detailverliebt, bringt eine Menge

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276 Rezensionen

interessanter Informationen zu den persönlichen und institutionellen Daten im Lebenslauf von Hans Hirsch, behandelt dazu aber auf mehr als einem Dutzend Seiten Informationen über die politische und wissenschaftliche Karriere von Walter Wache, die für das Wirken von Hirsch uninteressant und irrelevant sind. So kritisch diese beiden Autoren den politischen Ansichten und dem Engagement der österreichischen Historiker gegenüber sich verhalten, so seltsam naiv und unkritisch mutet der Beitrag von J i f i Nèmec über Eduard Winter an, dessen mehr als formale institutionelle Bindung an das Reinhard Heydrich Institut fast nebensächlich behandelt wird.

Den Herausgeber „stimmt es nachdenklich", dass die in diesem Band porträtierten Histo-riker das Dritte Reich nicht als „menschenverachtende Diktatur empfunden haben" - vielleicht könnte dieses Nachdenken dazu fuhren, dass er die Zeit zwischen 1918 und 1945 als weltweit beherrscht von menschenverachtenden Diktaturen erkennt und sich die Frage stellt, inwieweit nicht die Kriminalisierung der beruflichen Tätigkeit im Dritten Reich und die daraus abgelei-tete Entlassung der meisten in jenen Jahren wissenschaftlich engagierten Historiker aus ihren Berufen und der Ausschluss von wissenschaftlicher Forschung die betroffenen Historiker daran gehindert hat, sich offen mit dem Problem ihrer Verstrickung in das menschenverachtende System auseinanderzusetzen. Wenn die Autoren der Beiträge zu diesem Band ihre Darstellung nicht nur auf schriftliche Quellen aufgebaut, sondern auch, wie es in der Zeitgeschichte ge-fordert wird, Zeitzeugen, jüngere Schüler und Mitarbeiter, befragt hätten, so hätte sich wohl manches Urteil modifizieren - und mancher faktische Irrtum verhindern lassen. Die Gegen-überstellung der Subjektivität der Zeitzeugen mit der Subjektivität der nachgeborenen Forscher hätte wohl manches Urteil objektiver werden lassen.

Erklären und verstehen, urteilen und nicht verurteilen sollte die Grundhaltung des His-torikers sein: in einigen der Beiträge dieses Sammelbandes wird gegen diese wissenschaftliche Grundhaltung verstoßen. Doch bleibt als Leistung der Autoren dieses Werkes das Faktum, dass aus der Forschung heraus unschätzbares Material zu den Biographien und den Bibliographien erarbeitet und präsentiert wird, wozu als weiteres Positivum des Sammelbandes zu rühmen ist, dass der wissenschaftliche Apparat nicht nur umfangreich, sondern auch reichhaltig und wohl koordiniert gestaltet ist. Diese eindrucksvolle wissenschaftliche Leistung ist sichtbar einer intensiven Redaktionsarbeit durch den Herausgeber zuzuschreiben. Es ist bemerkenswert, wie viel zeitliches und arbeitsintensives Engagement in der Planung und der Verwirklichung des Sammelbandes der Herausgeber seinem Werk gewidmet haben muss, das er doch neben seiner Stellung als Abteilungsleiter der Regesta Imperii und der damit verbundenen beruflichen Ar-beitsverpflichtung an der Osterreichischen Akademie der Wissenschaften aus seinem persönli-chem Interesse an der Geschichte der Geschichtswissenschaft initiiert und geleitet hat.

Wien Fritz Fellner

Das Alemannische Institut. 7 5 Jahre grenzüberschreitende Kommunikation und

Forschung ( 1 9 3 1 - 2 0 0 6 ) . (Veröffentlichungen des Alemannischen Instituts Freiburg i.

Br. 75), hg. vom Alemannischen Institut Freiburg i. Br. e. V., in Kommission im Verlag

Karl Alber, Freiburg-München 2 0 0 7 . 3 3 6 S„ zahlreiche S/W-Abb.

Wenn in heutiger Zeit ein landeskundliches Institut sein 75-jähriges Bestehen feiern darf, ist das gewiss ein Anlass, einen „Jubiläumsband" zu veröffentlichen, der Rechenschaft über das Geleistete abgibt und zeigt, welche Verbindungen das Institut zu anderen Institutionen und Per-sonen der Landeskunde und Geschichtsforschung in Europa unterhält. Das Forschungsgebiet des 1931 gegründeten Instituts erstreckt sich auf den schwäbisch-alemannischen Sprachraum in Deutschland, Frankreich, Schweiz, Liechtenstein und Vorarlberg, auf einen Raum also, der vom Elsaß bis Bayerisch-Schwaben und vom Raum Stuttgart bis Chur, Zermatt und Freiburg i. Ü. reicht und in dessen Mitte der Bodensee und der Oberrhein liegen. Es liegt auf der Hand,

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Literaturberichte 277

dass das Vorhaben, diesen Raum als eine historische Größe zu erforschen, während der ersten 25 Jahre des Bestehens des Instituts mit politischen Komponenten und Aspekten verbunden war oder in Verbindung gebracht wurde. Dieses Thema wird insgesamt erfreulich kritisch in mehreren Beiträgen behandelt und macht die Lektüre des „Jubiläumsbandes" nicht nur fur an der Geschichte des schwäbisch-alemannischen Sprachraums interessierte Leser, sondern auch für jene, die sich mit der der Entwicklung der deutschsprachigen Geschichtsforschung im 20. Jahrhundert befassen, zu einer aufschlussreichen und auch spannenden Lektüre.

Das Buch enthält sieben einleitende Beiträge (Grußworte und Festvorträge), denen zwei zur allgemeinen Geschichte des Instituts folgen: Franz Quarthai handelt die Zeit 1931-1945 ab, Konrad Sonntag von 1945 bis in die Gegenwart. Dem schließen sich acht biografiege-schichtliche Beiträge über Personen an, die wesentlich mit Werden und Wirken des Instituts verbunden waren: Ulrike Hörster Philipps handelt über Joseph Wirth, Jürgen Klöckler über Theodor Mayer, Jörg Stadelbauer über Friedrich Metz, R. Johanna Regnath über Arthur Allgei-er, Renate Liessem-Breinlinger über Martin Wellmer, Konrad Sonntag über Wolfgang Müller, Volker Schupp über Bruno Boesch und Bernhard Mohr über Wolf-Dieter Sick. Nachfolgend referieren Kurt Sonntag und Jörg Stadelbauer über das Haus Mozartstraße 30 in Freiburg, in welchem das Institut ein halbes Jahrhundert lang bis 2005 untergebracht war, und Jürgen Michael Schmidt über die Außenstelle des Instituts in Tübingen. Auf zwei Texte zum The-ma „erinnerte Geschichte - erzählte Geschichten" folgen die Satzungen des Instituts sowie ausfuhrliche Auflistungen der Publikationen, Veranstaltungen, Mitglieder und Mitarbeiter des Instituts sowie verschiedene Verzeichnisse; allerdings fehlt ein Register.

Das Institut wurde 1931 auf Initiative des aus Freiburg stammenden deutschen Reichsin-nenministers Joseph Wirth in seiner Heimatstadt gegründet und dotiert und zunächst von der Stadt getragen. Gemäß seiner ersten Satzung hatte es die damaligen wissenschaftspolitischen Strömungen entsprechende identitätsstiftende „Aufgabe, das alemannische Volkstum und sein Kulturgut zu erforschen und zu pflegen, um damit der Wissenschaft zu dienen und die Hei-matliebe zu stärken" (S. 211) . Wahrend die ersten Jahre vor allem von einer Zuwendung zur Früh- und Vorgeschichte geprägt wurden, brachte die „Gleichschaltung" des Instituts 1934 eine neue Satzung und seit 1935 den neuen, dem Lehrkörper der Freiburger Universität ange-hörenden „wissenschaftlichen Leiter" (nicht „Führer"!). Theodor Mayer, der erste Leiter, gab dem Institut eine Ausrichtung auf mittelalterliche Landesgeschichte, veranlasste die Umbe-nennung in „Oberrheinisches Institut für geschichtliche Landeskunde" und war bestrebt, die Institutstätigkeit vor einer allzu plumpen politischen Instrumentalisierung zu bewahren, was ihn in Konflikt mit dem nationalsozialistischen Oberbürgermeister Freiburgs brachte. Freilich war unter den gegebenen Umständen eine durchgehend von Politik unbelastete Forschungstä-tigkeit des der Westdeutschen Forschungsgemeinschaft angegliederten Instituts in einem grö-ßeren Rahmen kaum möglich. Bei der großen, von Mayer organisierten Institutstagung, die 1936 in St. Märgen stattfand, referierte u. a. mit Kleo Pleyer einer der exponiertesten national-sozialistischen „Wissenschaftler".

1938 wurde - nach Mayers Weggang an die Universität Marburg - der umtriebige Geograf Friedrich Metz als kommissarischer Leiter des Instituts eingesetzt, der das wieder ,Allemani-sches Institut" benannte Unternehmen einem breiten Themenspektrum (u. a. auch verstärkt der Erforschung des „Volkstums") und einem größeren Publikum öffnete. Das Institut genoss in Folge weiterhin die Unterstützung des Reichsinnenministeriums, gleichzeitig wollten ver-schiedenen Organe und Personen (ζ. B. Stadt Freiburg, Universität Freiburg, NS-Dozenten-bund) die Institutstätigkeit beeinflussen und stießen auf den Widerstand Metz', der sich mit Unterstützung des Ministeriums durchsetzen konnte und bis 1945 die Institutsleitung behielt. Vom geografischen Forschungsbereich des Instituts verblieb seit 1940 nur noch die Schweiz au-ßerhalb des „Großdeutschen Reiches", und es sind die Kontakte einiger Schweizer Historiker, so v. a. Hektor Ammans, mit dem Institut, die ein interessantes Thema bilden.

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1951 wurde das Institut als (von Stadt und Universität Freiburg unabhängiger) eingetra-gener Verein wieder offiziell ins Leben gerufen, wobei Metz, 1945 als Universitätsprofessor suspendiert, 1952-1962 erneut die Leitung übernahm und beständig fur die Existenzsicherung des Instituts eintrat, das 1965 in der Universitätsstadt Tübingen eine Außenstelle einrichten konnte. Auf M e n folgten in der Leitung Wolfgang Müller, Wolf-Dieter Sick und Hans-Ulrich Nuber. Die von der Institutstätigkeit erfassten Themen gehören an der Volkskunde, Geschichte in allen Epochen seit der Vor- und Frühgeschichte sowie Kirchen-, Rechts- und Kunstgeschich-te, Geografie und Geologie und werden über das Allemannische Jahrbuch, Publikationsreihen, Vorträge und Exkursionen vermittelt. Im Gegensatz zu früheren Zeiten ist seit einigen Jahr-zehnten die Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern und Interessierten aus dem benachbarten Ausland (Frankreich, Schweiz, Osterreich) nicht durch politische Ambitionen getrübt und von gegenseitigem Respekt und Freundschaft bestimmt. Um den Eindruck einer allzu engen Be-grenzung auf alemannische landeskundliche bzw. -geschichtliche Themen, um dem (in Zeiten einer fast schon überhitzt betriebenen internationalen Verflechtung auch in den Geisteswissen-schaften) möglicherweise zu postulierenden Vorwurf des Provinzialismus entgegen zu wirken, wird heute die „grenzüberschreitende Kommunikation und Forschung" des Instituts beson-ders betont. Uber aktuelle Belange des Instituts (Vorträge, Publikationen usw.) informiert die Homepage www.alemannisches-institut.de.

Der gelungene „Jubiläumsband" fuhrt den Leser in summa zu einem runden Bild der Ge-schichte des Instituts und seiner umfangreichen Tätigkeit aus einer kritischen „Innensicht". Zu empfehlen ist zusätzlich die Konsultation der Artikel Bernd Grüns „Alemannisches Institut" und „Friedrich Metz" und Michael Fahlbuschs „Hektor A m m a n " im Handbuch der völki-schen Wissenschaften. Personen - Institutionen - Forschungsprogramme - Stiftungen, hg. von Ingo Haar-Michael Fahlbusch-Matthias Berg (München 2008) 2 1 - 2 7 , 3 8 - 4 3 und 409^415. Als Wunsch bleibt, dass die Geschichte des Instituts von seiner Gründung bis zumindest zur zweiten Ara Metz einen Bearbeiter finden möge, denn die Institutsgeschichte bietet sich an, als aussagekräftiges Beispiel fur Auf- und Umbrüche und fur erfolgreiche Wege, aber auch für Irrwege in der deutschsprachigen Wissenschaft des 20. Jahrhunderts zu stehen. Dem gegen-wärtigen Institut ist - nach einem gewissen Abebben der kulturgeschichtlichen Flut in der Wissenschaftslandschaft - weiterhin eine langjährige Tätigkeit auf seinen Forschungsfeldern zu wünschen.

Wien Karel Hruza

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