LITERATURNACHRICHTEN · 2020. 10. 5. · Seite II LITERATURNACHRICHTEN /1 2018 14 Geschichten, die...

4
Als Schauspielerin Natalie Portman bei der Pariser Fashion Week das Dior-Shirt mit Adichies Slogan trug, wurde ihr Bild der am häufigsten geteilte Beitrag auf Instagram. Hier trägt Modebloggerin Chiara Ferragni das Statement-Shirt. Die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie hat in einer Rede, die um die Welt ging, Feminismus für alle gefordert und damit viel Furore gemacht. Beyoncé hat Teile daraus in einem Song verarbeitet, Dior hat T-Shirts mit dem Titel ihres Buches »We should all be feminists« als Aufschrift auf den Markt gebracht und mit der Hilfe von Models und Super stars wie Rihanna vermarket. Für noch mehr Glamour sorgt Adichie (die spätestens mit ihrem Roman »Americanah« als Autorin internationale Bekanntheit erreicht hat), indem sie sich für Modestrecken und Make-Up-Werbung zur Verfügung stellt und damit gleichzeitig für ihre Bücher wirbt. Eine ideale Botschaf- terin für Feminismus, für afrikanische Literatur, für kosmopolitische Litera- tur, für schreibende Frauen? Mit ihrer Art der Selbstvermarktung schafft Adichie auf jeden Fall für sich selbst und ihre Literatur größtmög- liche Sichtbarkeit. Und immerhin ver- mochten Autorinnen wie sie oder auch die ghanaisch-britische, sich selbst als Afropolitin bezeichnende Taiye Selasi auf eine in jedem Sinn globale Literatur aufmerksam zu machen. Und damit bekannt, anerkannt, respektiert. Oder anders gesagt: wahrgenommen in größerem Stil und vielleicht sogar vom Mainstream. Das ist nicht wenig. Und es ist auch gut, mit einem solchen Mani- fest daran zu erinnern, dass die Hälfte des Himmels von den Frauen noch er- obert werden will. Denn das ist in der Welt der Bücher, ebenfalls global gesehen, noch nicht geschafft. Erst recht nicht bei der Literatur aus Afrika, Asien, Lateinamerika Feminismus für alle oder einfach nur mehr Sichtbarkeit? und der arabischen Welt, also den Regionen, um die sich bei dem Verein Litprom e. V. alles dreht. Seit dessen Gründung im Jahr 1980 war unter den deutschen Übersetzungen nie mehr als ein Drittel von Frauen geschrieben. Ein ebenso deutliches Beispiel ist die Bestenliste »Weltempfänger«. Seit zehn Jahren werden jährlich 28 Titel aus Neuerscheinungen empfohlen, nie sind mehr als ein Drittel weibliche Autoren darunter. Wieso eigentlich? Ganz sicher nicht, weil sie schlechter schreiben. Zwei Erklärungsversuche: Zum einen scheint es ein Wahrnehmungspro- blem zu sein. Kann es sein, dass der Literatur von Männern immer noch (unbewusst) eine größere Bedeutung zugeschrieben wird? Dass Jurymit- glieder, egal ob beim Weltempfänger oder bedeutenden Buchpreisen oder anderen Rankings, ihren Blick zu- nächst auf die Bücher von Autoren lenken? Aus einem einfachen Grund: It’s a man’s world. Immer noch. Die Buchbranche allerdings ist weiblich, 80 Prozent Frauen erledigen die Ar- beit, in den Spitzenpositionen und in den wichtigen Gremien und Jurys hingegen sieht es anders aus. Kann es zum anderen sein, dass es neben den allseits bekannten strukturellen Problemen die Themen sind? Männer schreiben nun mal aus männlicher Perspektive und Frauen aus weiblicher. Und kann es sein, dass die Perspektive der Männer ein- fach als welthaltiger wahrgenommen wird? Kann es sein, dass wir, die Leser- *innen, die Juror*innen, diese Welt der Männer deshalb relevanter finden? Es ist schwer, den Verdacht los zu werden. Wie kommt es, dass das literarisch so gelungene Buch »Kellervogel« der Iranerin Fariba Vafi von einigen als Haus- frauenliteratur abgestempelt wird, nur weil es ganz aus der Sicht einer sol- chen geschrieben ist? Es geht darin um den Alltag einer Familie, einer fragilen Ehe in einer schwierigen Gesellschaft. Wie kommt es, dass die deutsche Krimi- Schriftstellerin Zoë Beck von Lektoren gefragt wird, wieso sie nicht gefälligere Bücher schreibt, solche, die Frauen gerne läsen nach einem anstrengenden Tag mit Doppelbelastung? Und wie kommt es, dass wir von der senegalesischen Schriftstellerin Ken Bugul hören wollen, was wir schon zu wissen glauben und dann verwirrt sind, wenn sie nichts von Unterdrückung erzählt? Sondern im Gegenteil temperamentvoll beschreibt, dass die Frauen ohnehin das stärkere Geschlecht sind und damit sowieso an der Macht? Das sind nur drei Beispiele, die deutlich machen, wie wir alle von unseren Wahrnehmungsmustern geprägt sind und unseren eigenen Klischeevorstel- lungen aufsitzen. Alle drei genannten Schriftstellerinnen machen und schrei- ben im Übrigen, was sie wollen. Fariba Vafi hat sich als Autorin durchgesetzt, In diesem Jahr feiern wir ein Jubiläum: Der LiBeraturpreis, der ausschließ- lich Schriftstellerinnen aus Afrika, Asien, Lateinamerika und der arabi- schen Welt auszeichnet, wird zum 30. Mal vergeben. Anlass für uns, diese Ausgabe den schreibenden Frauen zu widmen. Wussten Sie, dass die pakistanisch-britische Autorin Kamila Shamsie sogar gefordert hat, 2018 weltweit nur weibliche Autoren zu veröffentlichen? Allerdings ist nur ein einziger englischer Verlag dem Wunsch nachgekommen. Gleichwohl war ihr Aufruf für die Genderdebatte im globalen Literaturbetrieb sinnvoll. Wer hätte vor 30 Jahren gedacht, dass ein Preis nur für Frauen heute noch relevant sein könnte? Wir finden ihn nach wie vor wichtig und stellen Ihnen auf Seite 3 die von uns nomi- nierten Kandidatinnen vor. Das letzte Wort aber haben Sie, liebes Publikum. Wir laden Sie ein, mit abzustimmen und Ihre Lieblingsautorin zu wählen. Also: Lesen Sie schon mal los! Ihre Anita Djafari Liebe Leser*innen, © WONGE BERGMANN © PHOTO BY EDWARD BERTHELOT / GETTY IMAGES KICK OFF ZUM LIBERATURPREIS* SAVE THE DATE 23.5. 2018 Kick-off-Veranstaltung für das Publikums-Voting. Die Juroren stellen die Werke der Kandidatinnen vor im Haus am Dom, Domplatz 3, 60311 Frankfurt am Main * Powered by YogiTea Die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie hat in einer Rede, die um die Welt ging, Feminismus für alle gefordert und damit viel Furore gemacht. EDITORIAL 1/2018 Vier Ausgaben jährlich. Bei Litprom dreht sich alles um die Literatur aus Afrika, Asien, Lateinamerika und der arabischen Welt. www.litprom.de LITERATURNACHRICHTEN

Transcript of LITERATURNACHRICHTEN · 2020. 10. 5. · Seite II LITERATURNACHRICHTEN /1 2018 14 Geschichten, die...

Page 1: LITERATURNACHRICHTEN · 2020. 10. 5. · Seite II LITERATURNACHRICHTEN /1 2018 14 Geschichten, die auf dem Flussnetz des Mekong-Delta spielen. Und auf den umliegenden »Endlosen Feldern«.

Als Schauspielerin Natalie Portman bei der Pariser Fashion Week das Dior-Shirt mit Adichies Slogan trug, wurde ihr Bild der am häufigsten geteilte Beitrag auf Instagram. Hier trägt Mode bloggerin Chiara Ferragni das Statement-Shirt.

Die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie hat in einer Rede, die um die Welt ging, Feminismus für alle gefordert und damit viel Furore gemacht. Beyoncé hat Teile daraus in einem Song verarbeitet, Dior hat T-Shirts mit dem Titel ihres Buches »We should all be feminists« als Aufschrift auf den Markt gebracht und mit der Hilfe von Models und Super stars wie Rihanna vermarket. Für noch mehr Glamour sorgt Adichie (die spätestens mit ihrem Roman »Americanah« als Autorin inter natio nale Bekanntheit erreicht hat), indem sie sich für Mode stre cken und Make- Up-Werbung zur Verfügung stellt und damit gleichzeitig für ihre Bücher wirbt. Eine ideale Botschaf-terin für Feminismus, für afri kanische Lite ratur, für kosmopolitische Litera-tur, für schreibende Frauen?

Mit ihrer Art der Selbstvermarktung schafft Adichie auf jeden Fall für sich selbst und ihre Literatur größt mög-liche Sichtbarkeit. Und immerhin ver-mochten Autorinnen wie sie oder auch die ghanaisch-britische, sich selbst als Afropolitin bezeichnende Taiye Selasi auf eine in jedem Sinn globale Litera tur aufmerksam zu machen. Und damit bekannt, anerkannt, respektiert. Oder anders gesagt: wahr genommen in größerem Stil und vielleicht sogar vom Mainstream. Das ist nicht wenig. Und es ist auch gut, mit einem solchen Mani-fest daran zu erinnern, dass die Hälfte des Himmels von den Frauen noch er-obert werden will.

Denn das ist in der Welt der Bücher, ebenfalls global gesehen, noch nicht geschafft. Erst recht nicht bei der Literatur aus Afrika, Asien, Lateinamerika

Feminismus für alle oder einfach nur mehr Sichtbarkeit?

und der arabischen Welt, also den Regionen, um die sich bei dem Verein Litprom e. V. alles dreht. Seit dessen Gründung im Jahr 1980 war unter den deutschen Übersetzungen nie mehr als ein Drittel von Frauen geschrieben. Ein ebenso deutliches Beispiel ist die Bestenliste »Weltempfänger«. Seit zehn Jahren werden jährlich 28 Titel aus Neuerscheinungen empfohlen, nie sind mehr als ein Drittel weibliche Autoren darunter. Wieso eigentlich? Ganz sicher nicht, weil sie schlechter schreiben. Zwei Erklärungsversuche: Zum einen

scheint es ein Wahrnehmungspro-blem zu sein. Kann es sein, dass der Literatur von Männern immer noch (unbewusst) eine größere Bedeutung zugeschrieben wird? Dass Jurymit-glieder, egal ob beim Welt empfänger oder bedeutenden Buchpreisen oder anderen Rankings, ihren Blick zu-nächst auf die Bücher von Auto ren lenken? Aus einem einfachen Grund: It’s a man’s world. Immer noch. Die Buchbranche allerdings ist weiblich, 80 Prozent Frauen erledigen die Ar-beit, in den Spitzenpositionen und in

den wichtigen Gremien und Jurys hingegen sieht es anders aus. Kann es zum anderen sein, dass es neben den allseits bekannten strukturellen Problemen die Themen sind? Männer schreiben nun mal aus männlicher Perspektive und Frauen aus weiblicher. Und kann es sein, dass die Perspektive der Männer ein-fach als welthaltiger wahrgenommen wird? Kann es sein, dass wir, die Leser-*innen, die Juror*innen, diese Welt der Männer deshalb relevanter finden? Es ist schwer, den Verdacht los zu werden. Wie kommt es, dass das literarisch so gelungene Buch »Keller vogel« der Iranerin Fariba Vafi von einigen als Haus-frauenliteratur abgestempelt wird, nur weil es ganz aus der Sicht einer sol-chen geschrieben ist? Es geht darin um den Alltag einer Familie, einer fragilen Ehe in einer schwierigen Gesellschaft. Wie kommt es, dass die deutsche Krimi-Schrift stellerin Zoë Beck von Lektoren gefragt wird, wieso sie nicht gefälligere Bücher schreibt, solche, die Frauen gerne läsen nach einem anstrengenden Tag mit Doppelbelastung? Und wie kommt es, dass wir von der senegalesischen Schriftstellerin Ken Bugul hören wollen, was wir schon zu wissen glauben und dann verwirrt sind, wenn sie nichts von Unterdrückung erzählt? Sondern im Gegenteil temperamentvoll beschreibt, dass die Frauen ohnehin das stärkere Geschlecht sind und damit sowieso an der Macht?

Das sind nur drei Beispiele, die deutlich machen, wie wir alle von unseren Wahr nehmungsmustern geprägt sind und unseren eigenen Klischee vor stel-lungen aufsitzen. Alle drei genan nten Schriftstellerinnen machen und schrei-ben im Übrigen, was sie wol len. Fariba Vafi hat sich als Autorin durchgesetzt,

In diesem Jahr feiern wir ein Jubiläum: Der LiBeraturpreis, der ausschließ-lich Schriftstellerinnen aus Afrika, Asien, Lateinamerika und der arabi-schen Welt auszeichnet, wird zum 30. Mal vergeben. Anlass für uns, diese Aus gabe den schreibenden Frauen zu widmen. Wussten Sie, dass die pakistanisch-britische Autorin Kamila Shamsie sogar gefordert hat, 2018 weltweit nur weibliche Autoren zu ver öffentlichen? Allerdings ist nur ein einziger englischer Verlag dem Wunsch nachgekommen. Gleichwohl war ihr Aufruf für die Genderdebatte im globalen Literaturbetrieb sinnvoll. Wer hätte vor 30 Jahren gedacht, dass ein Preis nur für Frauen heute noch relevant sein könnte? Wir finden ihn nach wie vor wichtig und stellen Ihnen auf Seite 3 die von uns nomi-nierten Kandidatinnen vor. Das letzte Wort aber haben Sie, liebes Publikum. Wir laden Sie ein, mit abzustimmen und Ihre Lieblingsautorin zu wählen. Also: Lesen Sie schon mal los!

Ihre Anita Djafari

Liebe Leser*innen,

© W

ON

GE

BER

GM

AN

N

© PHOTO BY EDWARD BERTHELOT / GETTY IMAGES

KICK OFF ZUM LIBERATURPREIS* SAVE THE DATE 23.5.2018 Kick-off-Veranstaltung für das Publikums-Voting. Die Juroren stellen die Werke der Kandidatinnen vor im Haus am Dom, Domplatz 3, 60311 Frankfurt am Main

* Powered by YogiTea

Die nigerianische Schrift stellerin Chimamanda Ngozi Adichie hat in einer Rede, die um die Welt ging, Feminismus für alle gefordert und damit viel Furore gemacht.

EDITORIAL

1/2018 Vier Ausgaben jährlich. Bei Litprom dreht sich alles um die Literatur aus Afrika, Asien, Lateinamerika und der arabischen Welt.www.litprom.de

LITERATURNACHRICHTEN

Page 2: LITERATURNACHRICHTEN · 2020. 10. 5. · Seite II LITERATURNACHRICHTEN /1 2018 14 Geschichten, die auf dem Flussnetz des Mekong-Delta spielen. Und auf den umliegenden »Endlosen Feldern«.

LITERATURNACHRICHTEN 1/2018Seite II

14 Geschichten, die auf dem Flussnetz des Mekong-Delta spielen. Und auf den umliegenden »Endlosen Feldern«. Darin erzählt Nguyen Ngoc Tu von Entenzüchtern, Erntehelfern und Scha-luppen-Besitzern. Sie gehen Ehen ein und lassen sich wieder scheiden, sie treiben Handel, und manchmal geht ein Kind im Fluss verloren. Viele von ihnen quält ein tiefer Kummer; häufig irren sie umher auf der Suche nach Familienmitgliedern oder ehemaligen Geliebten. Die Erzählungen der 1976 geborenen Autorin haben existenzielle Wucht. Ob aus der sehr persönlichen Ich- Pers pektive oder wenn sie mehrere Personen in den Blick nimmt – stets erzählt sie da-von, wie zart und ver letzlich die Menschen in ihrem Inneren sind und wie hart die Schale ist, die sie sich über die Jahre zulegen müssen. Sie schildert ein ärmliches Leben, das von Wetterlagen, Ernten und Traditionen geprägt ist, die persönlichem Glück oft abträglich sind. Ein Leben am und auf dem Wasser. Diese Le-benswelt mutet archaisch an. Von der nahegelegenen Metropole Ho- Chi-Minh- Stadt ist nichts zu spüren. Nur gelegentlich werden räumliche Abgeschlossenheit und auch Zeitlosigkeit durch-brochen, wenn etwa ein korrupter Funktionär erwähnt wird oder Staats bedienstete kommen, um die Enten der Züchter zu keulen, weil die Vogelgrippe ausgebrochen ist. Die Geschichten sind kurz und dicht, nur jeweils 10–15 Seiten lang. Ihre stilistische Präzision verleiht ihnen eine besondere Intensität.

Weiterlesen zum Thema und den Literaturtagen auf

www.litprom.de/literaturtage

»FEMINISMUS FÜR ALLE« FORTSETZUNG

in ihrem Land ist sie erfolgreich, ihre Bücher wurden übersetzt, und in Deutsch-land hat sie 2017 den LiBeraturpreis bekommen. Zoë Beck ist erfolgreich mit ihren Krimis und mischt sich laut vernehmlich ein in gesellschaftliche und poli-tische Diskussionen. Und Ken Bugul ist ebenso erfolgreich zur Ikone geworden, die genug Selbstironie besitzt, um uns wortgewandt genau damit auf die Schip-pe zu nehmen. Fariba Vafi ist mit ihrem zurückhaltenden Auftreten das krasse Gegenteil vom maximalen Adichie-Glamour. Als sie bei den Litprom-Literatur-tagen gefragt wurde, ob sie das von Adichie promotete T-Shirt mit der Auf-schrift We should all be feminists tragen würde, hat sie das weit von sich ge-wiesen, ebenso wie ihre Kolleginnen Claudia Piñeiro und Yvonne Owour aus Argentinien bzw. Kenia. Nein, niemals würden sie ihre Kunst – und nichts ande-res ist Schriftstellerei – einer Ideologie, einem Slogan, einem wie auch immer gearteten -ismus unterordnen. Das ist absolut nachvollziehbar. Ist es doch immerhin ein enormer Fortschritt, dass Literatur von Frauen nicht mehr in der Ecke Frauenliteratur zu finden ist, wie damals in den 1970er Jahren, als auf dem Höhepunkt der zweiten Frauenbewegung jeder große Publikumsverlag seine Frauenreihe hatte und damit – nebenbei bemerkt – gutes Geld verdient hat. Weil es ein enormes Bedürfnis gab, endlich über die Lebens welt von Frau-en zu lesen, dafür hat man damals schon mal deutliche Abstriche bei der lite-rarischen Qualität gemacht.

Heute ist das anders. Literatur von Frauen wird mit den gleichen Maßstäben gemessen wie die der Männer. Sie braucht keinen »Minderheitenbonus« und auch keine Quote. Aber den Blick zu schärfen und mit (idealerweise gut dotier-ten!) Preisen ausschließlich für Werke von Schriftstellerinnen den Blick auf diese zu lenken, kurz: zu größerer Sichtbarkeit beizutragen als einer Form des Empowerments – das halten wir nach wie vor für wichtig. Dabei müssen uns nicht alle auf Highheels entgegenkommen. Wir schauen auch auf die, die das auf leisen Sohlen, aber umso beharrlicher tun. Auch hier plädieren wir für Viel-falt. Neben Entspannung und Unterhaltung ermöglicht uns Lesen auch das Ein-tauchen in andere, uns unbekannte Welten, Lebensformen, Denkweisen. Und wenn es gut läuft, lehrt uns die Lektüre vielleicht, dass es in der globalisierten Welt keine einfachen Antworten auf unsere Fragen gibt, auch wenn uns das so manche weismachen wollen. Und wenn es richtig gut läuft, dürfte allmählich allen klar werden, dass die Frage nach der Gleichberechtigung überall auf der Welt schon lange nicht mehr nur Sache der Frauen ist. Sie tut allen gut. Und damit wären auch wir dann bei Adichie und ihrem Feminismus für alle.

Die Senegalesin Ken Bugul vertritt auf dem Eröffnungspodium der 7. Litprom-Literaturtage

»Kartographien des Weiblichen« ihre provokanten Thesen zur Rolle der Frau in Afrika

Anita Djafari ist Geschäfts-

leiterin von Litprom

Katharina Borchardt ist Literaturredakteurin und Moderatorin bei SWR2

und Weltempfänger-Jurorin.

Eine Stricherin, die erst zum Hausmädchen und dann zur San-tería-Halbgottheit wird? Ein Goya verehrender Maler, der durch ein Zeitloch fällt und sich einer Freibeuterbande anschließen muss? Eine Künstlerkolonie, die zugleich eine Mission für Klima- und Artenschutz verfolgt? Und das alles in der Karibik, genauer gesagt in der Dominikanischen Republik: 2001, im 17. Jahrhun-dert und 2037. Das scheint Ihnen zu viel für einen Roman? Dann kennen Sie Rita Indiana noch nicht: Die schafft das alles auf knappen 160 Seiten. Ein Text, mitreißend und eingängig wie ein guter Song (na so was, Rita Indiana feiert auch mit ihrer Merengue-Band Los misterios Erfolge!). Wer es wagt, kann sich bei aller Action von den Ten takeln in viele faszinierend kluge Tiefen von Philosophie, Politik und Geschichte mit hinabziehen lassen. Eine frische, wagemutige und unbeküm-merte Fiktion quer durch die Zeiten, in der Realität, Traum und Mythos auf ganz natürliche Art ne beneinander stehen und bei-ßende Fragen an die Gegenwart stellen.

Rita Indiana lässt bitten

Silke Kleemann ist freie Übersetzerin aus dem Spanischen, Literaturkritikerin

und Autorin. Sie engagiert sich auch als Kulturvermittlerin.

Rita Indiana DOMINIKANISCHE REPUBLIK

»Tentakel«

Wenig persönliches Glück

Nguyen Ngoc Tu VIETNAM »Endlose Felder«

© ANKE KLUSS

Rita Indiana »Tentakel«

La mucama de Omi cunlé, 2015.

Aus dem dominikanischen Spanisch von Angelica Ammar.

Verlag Klaus Wagenbach 2018, 160 Seiten

© R

ITA

IND

IAN

A

Nguyen Ngoc Tu »Endlose Felder«

Erzählungen. Aus dem Vietnamesischen von

Günter Giesenfeld und Marianne Ngo in Zusammenarbeit

mit Aurora Ngo und Nguyen Ngoc Tan.

Mitteldeutscher Verlag 2017, 272 Seiten

© P

RIV

AT

1 » Wölfe in der Nacht« Ángel Santiesteban KUBA

Erzählungen. S. Fischer, 272 Seiten. Aus dem Spanischen von Thomas Brovot

2 » Die schwere Hand« Dror Mishani ISRAEL

Krimi. Paul Zsolnay Verlag, 288 Seiten. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke

3 » Die Insel der Freundschaft« Durian Sukegawa JAPAN

Roman. Dumont, 350 Seiten. Aus dem Japanischen von Luise Steggewentz

4 » Das Brautkleid« Ismat Chughtai INDIEN

Erzählungen. Lotos Werkstatt, 200 Seiten. Aus dem Urdu von Christina Oesterheld

5 » Der Sonnenschirm des Terroristen« Iori Fujiwara JAPAN

Krimi. cass, 352 Seiten. Aus dem Japanischen von Katja Busson

6 » Imani« Mia Couto MOSAMBIK

Roman. Unionsverlag, 288 Seiten. Aus dem Portugiesischen von Karin von Schweder-Schreiner

7 » Rot vor Augen« Lina Meruane CHILE

Roman. Arche, 208 Seiten. Aus dem Spanischen von Susanne Lange

WELTEMPFÄNGERFRÜHLING 201838. Litprom-Bestenliste

www.litprom.de

Die Jury: Ilija Trojanow (Vorsitz), Katharina Borchardt, Anita Djafari, Andreas Fanizadeh, Claudia Kramatschek, Ulrich Noller, Ruthard Stäblein, Insa Wilke und Thomas Wörtche

Page 3: LITERATURNACHRICHTEN · 2020. 10. 5. · Seite II LITERATURNACHRICHTEN /1 2018 14 Geschichten, die auf dem Flussnetz des Mekong-Delta spielen. Und auf den umliegenden »Endlosen Feldern«.

LITERATURNACHRICHTEN 1/2018Seite III

Weiterlesen zu den vorgestellten Büchern auf

www.litprom.de/beste-buecher/liberaturpreis/nominiert-2018/

Phantastisch abgründig erzählt Nona Fernández die chilenische Leistungs-gesellschaft als Folge der Militätdik-tatur und verbindet persönliche mit kollektiven Traumata. Insa Wilke

»Die Straße zum 10. Juli« Nona Fernández CHILE Roman. Aus dem Spanischen von Anna Gentz. Septime, 336 Seiten

Das Mekong-Delta südlich von Ho-Chi-Minh-Stadt: Hier schippern Nguyen Ngoc Tus Figuren über den Fluss und gehen ihren Geschäften nach. Sehnsuchtsvolle Geschichten – knapp und dicht erzählt. Katharina Borchardt

»Endlose Felder« Nguyen Ngoc Tu VIETNAM Erzählungen. Aus dem Vietname-sischen von Günter Giesenfeld und Marianne Ngo. Mitteldeutscher Verlag, 264 Seiten

Wer hat schon vom Chagos-Archipel gehört? Wer Shenaz Patels intensive Annäherung über das Unrecht liest, das den Menschen von dort bis heute angetan wird, vergisst diesen Namen nicht mehr. Insa Wilke

»Die Stille von Chagos« Shenaz Patel MAURITIUS Roman. Aus dem Französischen von Eva Scharenberg. Weidle, 160 Seiten

Trishas Reise wird zur Zeitreise: in die Geschichte ihrer Familie bis zu den Anfängen an einem Fluss in Bengalen und in die politisch bewegte Geschich te des Landes, ja des indischen Subkontinents. Poetisch, wuchtig, zärtlich. Claudia Kramatschek

»Kalkutta« Shumona Sinha INDIEN/FRANKREICH

Roman. Aus dem Französischen von Lena Müller. Nautilus, 192 Seiten

Dem autobiographischen Stoff gewinnt Kim Thúy in kunstvoll gesetzten Miniaturen berührende Facetten ab: Wie sich aus Traditionen befreien, die Halt und Grenzen bedeuten? Wie Fremde in Heimat verwandeln? Claudia Kramatschek

»Die vielen Namen der Liebe« Kim Thúy KANADA/VIETNAM

Roman. Aus dem Französischen von Andrea Alvermann und Brigitte Große. Kunstmann, 144 Seiten

Ein psychologisch fein erzählter Roman über jugendliche Selbstzwei-fel, Liebessehnsucht sowie die Ober-flächlichkeit und Verklemmtheiten unserer medialisierten Gesellschaft. Andreas Fanizadeh

»Lügnerin« Ayelet Gundar-Goshen ISRAEL Roman. Aus dem Hebräischen von Helene Seidler. Kein&Aber, 336 Seiten

Han Kang findet Worte und eine zärtlich-poetische Form für das vermeintlich Unbeschreibliche. Extrem berührend und sehr mutig. Anita Djafari

»Menschenwerk« Han Kang SÜDKOREA Roman. Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee. Aufbau, 224 Seiten

In fast nüchterner, lakonischer Sprache, durchsetzt mit poetischen, nie sentimentalen, manchmal humorvollen Einspreng seln wird vom Sterben und Vergehen erzählt. Anita Djafari

»Mein pochendes Leben« Ae-ran Kim SÜDKOREA Roman. Aus dem Koreanischen von Sebastian Bring. cass, 320 Seiten

30 JAHRE LIBERATURPREIS

Der LiBeraturpreis zeichnet schreibende Frauen aus dem Globa-len Süden aus. Verliehen wird dieser besondere Literaturpreis jährlich an eine Schriftstellerin aus Afrika, Asien, Lateinamerika oder der arabischen Welt auf der Frankfurter Buchmesse. Nomi-niert sind die Frauen, die im Vorjahr mit einem ins Deutsche übersetzten Titel auf der Litprom-Bestenliste Weltempfänger vertre ten waren.

Die Leitungen für die Abstimmung sind ab 23. Mai auf der Webseite www.litprom.de freigeschaltet.

Der Preis wurde 1987 von der Initiative LiBeraturpreis im Ökume-nischen Zentrum Christuskirche e. V. ins Leben gerufen und wird seit 2013 von Litprom mit Unterstützung der Frankfurter Buch-messe und Yogi Tea verliehen. Er ist mit der Einladung zur Frank-furter Buchmesse verbunden sowie einem Preisgeld von 3000 Euro und der Förderung eines Schreibprojekts für Mädchen oder Frauen im Heimatland der ausgezeichneten Autorin.

Der ursprüngliche Anlass, diesen Preis zu stiften, war die Beob-achtung, dass im entwicklungspolitischen Diskurs viel von der materiellen Armut in den Ländern des Südens die Rede war, je-doch kaum von deren kulturellem Reichtum. Zudem fiel die gerin-ge Zahl von übersetzten Werken auf, die von Frauen geschrieben waren. Diesen wollte man größere Aufmerksamkeit verschaffen. Gleichzeitig sollte der LiBeraturpreis Anregung sein, die eigenen Wahrnehmungsmuster bei der Betrachtung der Welt zu hinter-fragen. Das konnte nach Meinung der Gründer*innen unter ande-rem durch das Lesen von Literatur gelingen.

An diesem Grundgedanken hat sich bis heute nichts geändert, und der LiBeraturpreis als Beitrag zur besseren Sichtbarkeit von Autor*innen aus aller Welt ist heute so wichtig wie zur Zeit seiner Gründung.

Das sieht auch Ines Pohl, Chefredakteurin der Deutschen Welle, so, die 2017 die Schirmherrschaft für den LiBeraturpreis über-nommen hat: »Die Gleichberechtigung von Männern und Frauen ist ein wichtiges Element in der Wertewelt der Deutschen Welle. Deshalb ist es mir eine besondere Ehre, mit dieser Auszeichnung das Augenmerk auf die literarische Arbeit von herausragenden Frauen zu richten, die aus Weltregionen stammen, in denen Lite-ratur auch ein Werkzeug sein kann, um genau dafür zu kämpfen.«

1 Shumona Sinha© EDITION NAUTILUS

2 Nona Fernández© MARCELO LEONART

3 Ayelet Gundar-Goshen © KATHARINA LÜTSCHER

4 Nguyen Ngoc Tu© PRIVAT

5 Ae-ran Kim© DAHUIM PAIK

6 Han Kang© BAEK DAHUM

7 Shenaz Patel© WEIDLE VERLAG

8 Kim Thúy© BENÔIT LEVAC

Das sind die Kandidatinnen für 2018

Die Entscheidung, wer Preisträgerin 2018 wird, treffen die Leser*innen durch Public Voting.

1

5

2

6

3

7

4

8

Page 4: LITERATURNACHRICHTEN · 2020. 10. 5. · Seite II LITERATURNACHRICHTEN /1 2018 14 Geschichten, die auf dem Flussnetz des Mekong-Delta spielen. Und auf den umliegenden »Endlosen Feldern«.

LITERATURNACHRICHTEN 1/2018Seite IV

Cash ist neunzehn und allein auf der Welt. Manchmal nimmt sie ihren Pool-partner Jim, verheiratet, zwei Kinder, mit auf ihre Bude. Manchmal hält auch ihr Mentor, Sheriff Wheaton, die Hand über sie. Aber im Prinzip ist sie mut-terseelenallein mit ihrem Ran chero, ihrem Billardqueue und mit den Song-zeilen, die sich wie von selbst in ihrem Kopf bilden, wenn sie ackert. Ackern muss sie, denn nur so kann sie unabhängig sein. Ihre Mutter war betrunken in den Graben gefahren.

Herausgeber Litprom e. V.

Redaktionsadresse

Braubachstr. 16,

60311 Frankfurt am Main

Verantwortliche Redakteurin

Anita Djafari

Redaktion Joscha Hekele,

Petra Kassler und Hanna Kopp

Redaktionsassistenz Marie Thomas

Mitarbeiter*innen dieser Ausgabe

Katharina Borchardt, Tobias Gohlis,

Silke Kleemann, Andrea Pollmeier

Gestaltung www.textgrafik.com

Copyright LiteraturNachrichten

Leserbriefe [email protected]

Vorstand

Erster Vorsitzender Juergen Boos

Zweite Vorsitzende Monika Bilstein

Die LiteraturNachrichten erscheinen

vier Mal jährlich mit Unterstützung durch

das Auswärtige Amt mit dem Ziel,

Literatur aus den Ländern Afrika, Asiens,

Latein amerikas und der arabischen Welt

bekannter zu machen.

Herausgeber und verantwortlich im Sinne

des Presserechts ist der gemein nützige

Verein Litprom e. V.

Litprom widmet sich seit 1980 der Vermitt-

lung außereuropä ischer Literaturen und

der Übersetzungs förderung mit Mitteln des

Auswärtigen Amts und des Schweizer

SüdKulturFonds und wird unterstützt von

Brot für die Welt – Evangelischer Entwick-

lungsdienst.

Litprom organisiert regelmäßig Veran stal-

tungen und gibt vierteljährlich die Empfeh-

lungsliste »Weltempfänger« heraus sowie

einen kostenlosen Newsletter.

Neue Mitglieder sind willkommen:

Eine Mitgliedschaft kostet

€ 85,- (für Einzelpersonen) oder

€ 275,- (Verlage, Gesellschaften

öffentlichen Rechts).

Formulare zum Download unter

www.litprom.de

Spendenquittungen werden ausgestellt.

Konto

IBAN DE71 5001 0060 0020 3916 01

BIC (SWIFT-CODE): PBNKDEFF

Litprom e. V.

Braubachstraße 16

60311 Frankfurt am Main

T +49 69 2102-143

[email protected]

www.litprom.de

Edwidge Danticat

»Der verlorene Vater«

Aus dem Englischen

von Susanne Urban,

Unionsverlag TB 2013

Cash heißt eigentlich Renee Blackbear und gehört wie ihre Erfinderin Marcie Rendon der Anishinabe White Earth Nation an. Manches, was Marcie Ren-don ihre Protagonistin erfahren lässt, ist wohl selbst erlebt. Beide beginnen 1970 am Moorhead State College in Minnesota ihr Studium. Marcie Ren-don, Jahrgang 1952, ist Dichterin, Song- und Theaterautorin. Sie be-zeichnet ihre Stücke, Gedichte und jetzt ihren ersten Kriminalroman »Am Roten Fluss« als Versuche, ihren Leuten einen Spiegel zu zeigen, in dem sie sich erkennen können.»Am Roten Fluss« ist Kriminalroman, Entwicklungsroman und Anklage ge-gen ein System, das die Familien zerreißt und die Identität der Native Americans zerstört. Es ist ohne Larmoyanz geschrieben, ein mitrei-ßendes Stück Literatur. Cash lässt sich nichts bieten, weder am Pool-

tisch noch von Vorgesetzten. Seit ih-rem elften Lebensjahr arbeitet sie als Landarbeiterin. Als sie vom Tod eines Kollegen aus der Red Lake Reserva-tion rund hundert Meilen nördlich hört, nimmt sie selbst die Spur auf. Träume helfen ihr weiter, und schnel-ler als das in der Reservation zustän-dige FBI, findet sie die Witwe und die sieben Kinder des Opfers. Sie hilft ihnen, der Sklaverei des Pflegschafts-systems zu entkommen, schlägt sich mit Verdächtigen, entdeckt und über-führt schließlich die Mörder. Doch nicht der durchaus spannende Kriminalfall macht dieses Buch so faszinierend, sondern die nüchtern, mit kühlem Blick und schwarzem Hu-mor dargestellten Verhältnisse. Wer einmal an einer Reservatsgrenze ge-standen hat, hat sie schlagartig als Scheidelinie zwischen Erster und Drit-ter Welt innerhalb der USA erkannt.

Und alles, was sich, von außen be-trachtet, dahinter befindet, ist Kli-schee oder Niemandsland. Gegen bei-des, gegen die Verkennung wie die Leere, schreiben die großen amerika-nisch-indianischen Autoren wie Sher-man Alexie oder Louise Erdrich an. Und jetzt kommt Marcie Rendon dazu.

Kühler Blick ins Reservat

Seitdem, da war Cash drei Jahre alt, befand sie sich in der Obhut der Coun-ty-Verwaltung. Sie kam bei den Far-merfamilien der Umgebung in Pflege. Die Farmer waren vor zwei, drei Ge-nerationen aus Skandinavien einge-wandert und hatten das Land von der US-Regierung geschenkt bekommen. Genauer, das Land, das den Großel-tern von Cash gehört hatte. Das der Staat ihnen weggenommen und den Einwanderern gegeben hatte.

Tobias Gohlis ist freier Literaturkritiker und

Herausgeber der monatlich erscheinenden

Krimibestenliste.

Andrea Pollmeier ist freie Kulturjournalistin

und Literaturkritikerin.

Marcie Rendon USA »Am Roten Fluss«

Edwidge Danticat HAITI/USA »Der verlorene Vater«

»Mein Vater ist verschwunden«. Schon die ersten vier Worte geben den Schreck wieder, der in neun auf-einander folgenden Geschichten Ton angebend bleibt. Nüchtern, nahezu abweisend distanziert nähert sich die haitianische Autorin einer Frage, die Nachkommen tyrannischer Herr-schaft oft nur insgeheim an ihre Vor-fahren richten: »Was hast Du in dieser Zeit getan?«. Der Schreck, den Danti-cat beschreibt, gilt zunächst der be-

sorgten Tochter, die während einer Reise ihren Vater verloren glaubt und eine Vermisstenanzeige aufgibt. Trotz der sachlichen Erzählhaltung ent-steht beim Lesen spontane Nähe. Man lauscht den Gedanken der Tochter, er-fährt, dass sie Künstlerin ist und eine Skulptur gestaltet hat, die das Wesen ihres Vaters ideal zu verkörpern scheint. Selbst auf Fremde wirkt die Skulptur wie der Inbegriff väterlicher Liebe.

In dieser atmosphärisch klug vorbe-reiteten Situation erfährt die Ich-Er-zählerin, dass die Narbe im Gesicht des Vaters nicht dem Opfer, sondern dem einstigen Täter zugefügt worden ist. Ihr Vater ist nicht als Verfolgter aus Haiti geflohen, sondern war Fol-terer des im Buch nicht mit Namen bezeichneten Diktators Duvalier. Das Bekenntnis des inzwischen wieder ge-fundenen Vaters erschüttert die vor-behaltlose Tochterliebe tief, und es braucht kaum weiterer Worte, um die Tragik dieses Augenblicks spürbar zu machen. Dieser Schreck zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichten. Schritt für Schritt zeigen sie, wie nah sich je-weils Opfer und Täter kommen. Dies geschieht nicht nur in Haiti, sondern vor allem auch in der scheinbaren Sicherheit New Yorks. Hier arbeitet der Vater der Ich-Erzählerin jetzt als

Friseur, hierhin flieht auch der Junge, dessen Eltern er einst erschossen hatte. Jahrzehnte später erkennt der nun erwachsene Mann den Mörder, mietet sich in seinem Haus ein und schleicht in der Nacht in dessen Schlafzimmer, um ihn zu töten. Nur die Sorge, sich in der Person zu irren, lässt ihn zögern.In unterschiedlichen Konstellationen schildert die Autorin die Folgen der grausamen Geschichte Haitis. Nahezu beiläufig werden diese Traumata, die »in jede Nische des Lebens dringen« sichtbar. Schon ein Kirchgang am Weih nachtsabend kann sie wach ru-fen. Inmitten der Betenden meint die Tochter des Friseurs einen Mann er-kannt zu haben, der steckbrieflich wegen »Verbrechen am haitianischen Volk« gesucht wird. Der Gesuchte wird, anders als Personen der offi-ziellen Geschichte Haitis, in der Erzäh-

Das Bekenntnis des Täters

NACHSCHLAG:

AUS DEM REGAL HER VORGEHOLT VON ANDREA POLLMEIER

KRIMI-KOLUMNE:

lung mit Namen genannt: Emmanuel Constant. Wer die aktuelle Geschichte Haitis kennt, weiß, dass sich mit die-sem Namen die Fortdauer von Unheil bis in die Gegenwart verbindet.

Erstveröffentlichung LiteraturNachrichten 107

Der Andere Literaturklub führt so ganz ohne schweres Gepäck, ohne Verspätungen bei der Abfertigung und fast klimaneutral um die Welt, und das auch noch abseits jeglicher Trampelpfade. Wie das? Mit Büchern aus fast allen Weltregionen. Die Route 2018: Abflug in Südkorea, Stopover in Chile, zurück nach Sri Lanka. Und dann nur mit Frauen an Bord nochmals rund um

den Globus. Zwischendurch kommen die Autor*innen zu uns und bringen ihre Welten und Werke mit: zu Welt-empfänger-Salons und zur Frankfur-ter Buchmesse. Mitglieder im Klub haben dabei freien Eintritt! Ein tolles Angebot für literarische Globetrotter. Dieses ganz spezielle Around-the-World-Ticket für 2018 kann man bei Litprom jederzeit kaufen und auch verschenken.

Das Programm 2018 Ae-Ran Kim

»Mein pochendes Leben«

Aus dem Koreanischen von Sebastian

Bring. Cass Verlag, 320 Seiten

Nona Fernández

»Die Straße zum 10. Juli«

Aus dem chilenischen Spanisch

von Anna Gentz. Septime Verlag,

336 Seiten

»Vollmond hinter fahlgelben Wolken«

Eine Anthologie.

Juergen Boos und Anita Djafari (Hg.).

Unionsverlag, ca. 320 Seiten

Anuk Arudpragasam

»Die Geschichte einer kurzen Ehe«

Aus dem Englischen von Hannes Meyer.

Hanser Berlin, 224 Seiten

Der Andere LiteraturklubEin Angebot für literarische Globetrotter

COVERGESTALTUNG © IRENA GERMANO

BILDNACHWEISE: AE-RAN KIM © DAHUIM PAIK

ANUK ARUDPRAGASAM © HALIK AZEEZ

MARYSE CONDÉ © JACQUES SASSIER

NONA FERNÁNDEZ © MARCELO LEONART

Edwidge Danticat hat 2000 den LiBeratur-

preis bekommen für den Roman »Die süße

Saat der Tränen«, übersetzt von Beate Thill.

Claasen 1999 (vergr.).

© R

EBEC

CA

MA

CD

ON

ALD

©

DAV

ID S

HA

NK

BO

NE

Impressum

Marcie Rendon

»Am Roten Fluss«

Aus dem Englischen

von Laudan & Szelinski,

Ariadne im Argument

Verlag, 2017

ANT

Vollmond hinter fahlgelben Wolken Eine Anthologie

Die Straße zum 10. JuliNona Fernández CHL

Mein pochendes LebenAe-ran Kim

KOR SRI

Die Geschichte einer kurzen EheAnuk Arudpragasam