BEITRA¨GE - LWL · 2001. 2. 1. · Theo Thomassen, „Archivarissen en records managers: zelfde...

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  • BEITRÄGEH a n s - J ü r g e n H ö ö t m a n n u n dK a t h a r i n a T i e m a n n

    Archivische Bewertung - Versuch eines praktischen Leitfadens zurVorgehensweise bei Aussonderungen im Sachaktenbereich . . . 1

    W o l f g a n g B o c k h o r s tPraktische Hinweise zur Erstellung einer Stadtgeschichte . . . . 12

    H o r s t C o n r a dDie Tecklenburger und Rhedaer Archivalien im FürstlichenArchiv Solms-Braunfels . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

    M i c h a e l H ä u s l e rBethel in der kirchlich-diakonischen Archivlandschaft . . . . . . 16

    A n e t t e B u r k h a r tDas Deutsche Tagebucharchiv e. V. in Emmendingen/Baden . . 19

    B i r g i t G e l l e rDie Restaurierung einer illuminierten Pergamenthandschrift des15. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

    K a r l D i t tPrinzipien und Perspektiven Landschaftlicher Kulturpolitikin Westfalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

    BERICHTE UND MITTEILUNGENNachruf Willy Timm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

    Arbeitsgruppe Diakoniegeschichte . . . . . . . . . . . . . . . 43

    Internationale wissenschaftliche Tagung des Stadtarchivs Dortmundam 14. Oktober 1999 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

    Schüler ins Archiv! Die neuen Richtlinien für das Fach Geschichtein der gymnasialen Oberstufe . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

    Tagung zur Geschichte der Juden in Ostwestfalen-Lippe:Vereinsgründung beabsichtigt . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

    Der Nachlass des Erbdrosten Maximilian Graf Droste zu Vischering(1794-1849) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

    Wissenschaftlicher Nachlass von Prof. Dr. Franz Petri (1903-1993)im Archiv des Landschaftsverbandes . . . . . . . . . . . . . . 51

    Ausstellung im Stadtarchiv Bad Oeynhausen:„Lebensbilder Bad Oeynhausener Frauen“ . . . . . . . . . . . 52

    Seminar der Bundeskonferenz der Kommunalarchive in Wernigerode 52

    Archivreferendare im Westfälischen Archivamt . . . . . . . . . . 52

    Fortbildungsprogramm der Archivschule Marburg . . . . . . . . . 52

    Besuch der Berufsschüler aus Düsseldorf und Essenim Westfälischen Archivamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

    2. Sitzung des Ausbilderarbeitskreises . . . . . . . . . . . . . 53

    Besuch aus Thüringen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

    Gläserner Leseraum für die Benutzung des Stadtarchivs Arnsberg . 53

    Zwangsarbeiter - Quellen in staatlichen, kommunalen undWirtschaftsarchiven, Tagung in Essen am 12. April 2000 . . . . . . 54

    Informationsveranstaltung für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter derAbteilungen Sozialhilfe und Hauptfürsorgestelle im Archiv desLandschaftsverbandes am 11. April 2000 . . . . . . . . . . . . 55

    Die Zivilstandsregister: Eine wichtige Quelle für die Bevölkerungs- undWirtschaftsgeschichte, vor allem aber für die Familienforschung . . 55

    AUS DEN ARCHIVEN IN WESTFALEN UND LIPPE 56

    HINWEISE AUF NEUE BÜCHER . . . . . . . . . . 57

    STELLENANZEIGEN – TAGUNGEN –FORTBILDUNGSVERANSTALTUNGEN . . . . . . . 62

    MITARBEITER DIESES HEFTES

    Dr. Wolfgang Bockhorst, WestfälischesArchivamt, 48133 Münster (Bo) — AnetteBurkhart, Deutsches Tagebucharchiv,Marktplatz 1, 79312 Emmendingen —Dr. Horst Conrad, Westfälisches Archiv-amt, 48133 Münster (Co) — Dr. Karl Ditt,Westfälisches Institut für Regionalge-schichte, Warendorfer Straße 14, 48133Münster — Dr. Werner Frese, Westfäli-sches Archivamt, 48133 Münster (Fs) —Birgit Geller, Westfälisches Archivamt,48133 Münster — M. Gosmann, Stadt-archiv Arnsberg, Rathausplatz 1, 59759Arnsberg — Josef Häming, Westfäli-sches Archivamt, 48133 Münster (Hg) —Michael Häusler, Archiv des Diakoni-schen Werkes der EKD, Altensteinstraße51, 14195 Berlin — Prof. Dr. Bernd Hey,Landeskirchliches Archiv, AltstädterKirchplatz 5, 33602 Bielefeld — Hans-Jürgen Höötmann, Westfälisches Archiv-amt, 48133 Münster (Hö) — RickmerKießling, Westfälisches Archivamt,48133 Münster (Kie) — Britta Leise, Stif-tung Westfälisches Wirtschaftsarchiv,Außenstelle Hoesch-Archiv, Eberhard-straße 12, 44145 Dortmund — MatthiasMeusch, Archivschule Marburg, Bis-marckstraße 32, 35037 Marburg — Eck-hard Möller, Stadtarchiv Harsewinkel,Postfach 1564, 33419 Harsewinkel —Brigitta Nimz, Westfälisches Archivamt,48133 Münster (Ni) — Rico Quaschny,Stadtarchiv Bad Oeynhausen, Bahnhof-straße 43, 32543 Bad Oeynhausen —Dr. Norbert Reimann, WestfälischesArchivamt, 48133 Münster (Rei) — Dr.Thomas Schilp, Stadtarchiv Dortmund,Märkische Straße 14, 44135 Dortmund— Stefan Schröder, Emdener Straße 31,48155 Münster — Reinhard van Spanke-ren, Diakonisches Werk der Evangeli-schen Kirche von Westfalen, Friesenring32/34, 48147 Münster — Dr. JürgenStrothmann, Karl-Wagener-Straße 75,44879 Bochum — Dr. Gunnar Teske,Westfälisches Archivamt, 48133 Münster(Ts) — Katharina Tiemann, West-fälisches Archivamt, 48133 Münster (Tie)— Hans Jürgen Warnecke, WestfälischeGesellschaft für Genealogie und Fami-lienforschung, 48133 Münster

    Diese Zeitschrift ist – wie alleanderen Publikationen desWestfälischen Archivamtes –auf säurefreiem und alterungs-beständigem Papier gedruckt.

  • BEITRÄGE

    Archivische Bewertung – Versuch eines praktischenLeitfadens zur Vorgehensweise bei Aussonderungen imSachaktenbereichvon Hans-Jürgen Höötmann und Katharina Tiemann

    1. Einleitung

    Bewertung wird immer wieder unbestritten als Kernauf-gabe der Archive definiert. Einen entsprechend breitenRaum nimmt dieses Thema auch in der fachlichen Dis-kussion ein. Es manifestiert sich auf Tagungen, (Fortbil-dungs-)Seminaren, Kolloquien, in archivischen Fachzeit-schriften und Fachpublikationen.

    Bei näherer Betrachtung befasst sich der überwiegendeTeil der Veröffentlichungen aber mit theoretischen Ab-handlungen zur Überlieferungsbildung. Beiträge mit kon-kreten, praxisorientierten Handreichungen zur Bewer-tung von Schriftgut bilden bislang eher die Ausnahmeund beziehen sich in der Regel auf Bestände mit demCharakter von massenhaft gleichförmigen Einzelfall-akten.1 Zudem ist die fachliche Diskussion und derenAusfluss auf die Literatur sehr stark von den staatlichenArchiven geprägt, so dass den Kommunalarchiven, vonwenigen Ausnahmen abgesehen, kaum anregende In-formationen für die tägliche Bewertungsarbeit zur Ver-fügung stehen.2

    Trotz der immensen Bedeutung, die der archivischenBewertung von Schriftgut zukommt, gibt es für diesenBereich kein eigenständiges Lehrbuch, vielmehr istdieser Themenkomplex selbst in den einschlägigenStandardwerken an seiner Bedeutung gemessen völligunterrepräsentiert. Woran es sowohl in den Fachpubli-kationen als auch in den Lehrbüchern mangelt, ist einean den praktischen Erfordernissen im kommunalenBereich orientierte methodische Auseinandersetzungüber die Vorgehensweise bei Aussonderungsarbeitenund Bewertungsentscheidungen. Hier stellen sich nichtnur für die Beschäftigten kleinerer Archive die konkre-ten Fragen, die sich bei jeder Aussonderungsaktionstetig wiederholen: Wie bereite ich mich kompetent aufeine Aussonderung vor, welche Gesichtspunkte sindzu beachten, welche Arbeitsschritte sind erforderlich?Sicherlich finden einzelne Arbeitsschritte und Hinweiseauf analytische Vorgehensweisen in der Literaturdurchaus Erwähnung.3 Was hingegen nicht hinrei-chend berücksichtigt wird, ist eine systematisierteÜbersicht derjenigen Vorarbeiten, die summiert letzt-endlich in eine Bewertungsentscheidung einmündenund die ohne Zweifel geeignet sind, die Entscheidungs-findung zu vereinfachen.

    Kenntnisse über die Entwicklung der Theoriediskussion,über die rechtlichen Grundlagen für Bewertung und überBewertungsmodelle sind ohne Zweifel hilfreich, bilden

    freilich auch nur einzelne Glieder in einer Kette von Ar-beitsschritten, die erforderlich sind, um die Wertigkeit ei-ner Registraturschicht beurteilen zu können.

    Es ist spekulativ zu hinterfragen, weshalb ein systemati-scher Leifaden zur Vorgehensweise bei Aktenaussonde-rungen bisher nicht vorliegt. Möglicherweise werden dieeinzelnen Schritte hin zur Bewertungsentscheidung alsselbstverständlich vorausgesetzt, erworben durch dieVerflechtung theoretischer Kenntnisse und praktischerErfahrungen, und die bewusste Reflexion der einzelnenBestandteile des Bewertungsvorganges wird wegen dervielfach noch spontan-subjektiv geprägten Bewertungs-entscheidung unbewusst in den Hintergrund gedrängt.Dafür mag auch die lange Zeit von der Archivwissen-schaft verfolgte Linie verantwortlich sein, das Schriftgutausschließlich aus dem geschichtlichen Kontext herauszu bewerten, ohne den immanenten administrativenWert zu berücksichtigen.4

    1 Eine herausragende Ausnahme ist die Publikation: Historische Über-lieferung aus Verwaltungsakten. Zur Praxis der archivischen Bewer-tung in Baden-Württemberg, hrsg. von Robert Kretzschmar, Stuttgart1997 (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württem-berg. Serie A, Landesarchivdirektion, Heft 7). Obwohl hier überwie-gend die staatliche Überlieferung thematisiert wird, bringt der Bandunter dem Themenschwerpunkt Rechtsgrundlagen und Arbeitsmetho-den auch wertvolle Anregungen, die archivspartenübergreifende Gel-tung haben. Bei der konkreten Bewertung der Unterlagen einzelnerVerwaltungszweige finden sich auch Beiträge über Akten der in Ba-den-Württemberg staatlichen Gesundheitsämter und zu Unterlagender öffentlichen Schulen.

    2 Das gerade in den Kommunalarchiven spürbare Unbehagen über dieForm und den Stand der Bewertungsdiskussion drückt sich anschau-lich aus in einem von Michael Martin auf dem 8. Deutsch-Niederländi-schen Archivsymposium 1995 in Groningen gehaltenen Beitrag mitdem Titel: „Anmerkungen eines Kommunalarchivars zum Stand deraktuellen Bewertungsdiskussion in der Bundesrepublik“, veröffentlichtin: Archivpflege in Westfalen und Lippe, Heft 41, 1995, S. 4-7.

    3 Exemplarisch sei hier benannt: Jürgen Treffeisen, „Im Benehmen mit... - Formen der Kooperation bei Bewertungsfragen mit den betroffe-nen Behörden. Erfahrungen des Staatsarchivs Sigmaringen“, in: His-torische Überlieferung aus Verwaltungsunterlagen (vgl. Anm. 1).

    4 Diese These einer verengten Sichtweite der Archivwissenschaft ver-tritt auch Theo Thomassen in einem Artikel, in dem er sich mit demKern des archivischen Berufsbildes und den gegenseitigen Beziehun-gen zwischen Archivaren und Records Managern auseinandersetzt.Vgl. Theo Thomassen, „Archivarissen en records managers: zelfdeprofessie, verschillende verantwoordelijkheden“, hier S. 189, in: Naareen nieuw paradigma in de archivistiek, Jaarboek 1999 der StichtingArchiefpublicaties, s-Gravenhage 1999.Erst die Problemstellungen beim Umgang mit der Archivierung digita-ler Informationen - aber auch die Rezeption Schellenbergs - habenwesentlich dazu beigetragen, sich wieder verstärkt und ganz bewusstmit Fragen der Schriftgutentstehung und -verwaltung auseinanderzu-setzen.

    Hans-Jürgen Höötmann / Katharina Tiemann: Archivische Bewertung – Versuch eines praktischen Leitfadens

  • Das andere Extrem der leider größtenteils fehlendenpraxisbezogenen Orientierung dürfte dadurch gekenn-zeichnet sein, dass durch die intellektuelle Durchdrin-gung des Problems in der Theoriediskussion kein Raumbleibt, um für die alltägliche Praxis schematisch einenrelativ einfachen und gangbaren Weg aufzuzeigen.

    Allerdings zeigen die Erfahrungen, die das Westfäli-sche Archivamt bislang im Bereich der Archivpflegegemacht hat, dass eine grundlegende systematischeDarstellung derjenigen Arbeitsschritte, die zur Bewer-tungsentscheidung führen, in Form einer methodi-schen Darstellung durchaus gewünscht und auch er-forderlich ist. Nachgefragt wird eine möglichst detail-lierte Handlungsanleitung.

    2. Bewertung im Kontext kommunalarchivischerTätigkeit

    Bei der Auseinandersetzung mit der Bewertungspraxisim kommunalen Bereich ist im Hintergrund stets derkomplexe Aufgabenbereich von Kommunalarchiven zusehen, der nicht dem klassischen staatlichen Musterfolgt, das sich auch in den Archivgesetzen mit denSchlagworten Übernahme, Erhaltung, Erschließung undgegebenenfalls Erforschung und Veröffentlichung mani-festiert. Kommunale Archivarbeit heißt Wahrnehmungkultureller Aufgaben im weitesten Sinne unter der Prä-misse, dass die reinen archivfachlichen Aufgaben we-gen ihrer nicht unmittelbar sichtbaren öffentlichkeitswirk-samen Funktion überwiegend nicht als vordringlich gel-ten. Nun ist dieses erweiterte Aufgabenspektrum leidernicht verbunden mit einer dementsprechend erforderli-chen Personalausstattung. Diese Konstellation bedingtnotwendigerweise, dass das Zeitbudget für die archivi-schen Kernaufgaben nicht den Umfang besitzt, der zu-gunsten einer geregelten und kontinuierlichen Überliefe-rungsbildung aufgewendet werden sollte. Die Konse-quenz hat Franz Götz folgerichtig geschildert: „Das for-male Vorgehen bei der Bewertung von Schriftgut ... kannund muß dabei perfektioniert werden, auch im kommu-nalen Bereich“.5

    Eine Bestandsaufnahme zur Bewertungspraxis in rheini-schen Kommunalarchiven, die von einer Projektgruppeder Archivabteilung des Rheinischen Archiv- und Mu-seumsamtes durchgeführt wurde, stellt eindrücklich De-fizite bei der Handhabung des Bewertungsgeschäftesfest.6 Die Ursachen sind gerade im heterogen ausge-prägten Aufgabenbereich der Kommunalarchive vielfäl-tig und erfordern eine offensive Auseinandersetzung mitder Problematik.

    Eine für die kontinuierliche Bestandsbildung als muster-haft geltende Einflussnahme der Archive auf eine syste-matische und sachgerechte Organisation der Schriftgut-verwaltung zur späteren reibungslosen Übernahme indas Endarchiv und die regelmäßige Kontaktpflege zuden einzelnen Organisationseinheiten der Verwaltung istnicht nur für die kommunale Archivsparte eine Idealisie-rung, die überwiegend mit der praktischen Realität nichtsgemein hat. Vielmehr sind sogenannte „Ad-hoc-Bewer-tungen“ keine Seltenheit, die aus der Situtation herausresultieren, dass Organisationseinheiten der Verwaltungentweder von heute auf morgen Platz in ihren Altregist-raturen benötigen oder aber sich anläßlich eines Umzu-ges von lang gehorteten Altlasten befreien wollen. Unterdem entsprechend aufgebauten Zeitdruck ist es in sol-

    chen Situationen verständlich, wenn die Bewertungsent-scheidungen ohne die erforderlichen Reflexionen gefälltwerden. Wenn ein solcher im Grunde künstlich aufge-bauter Abgabedruck mit einer Unsicherheit über Bewer-tungsmaßstäbe und Bewertungsverfahren zusammen-fällt, führt diese Konstellation nicht selten dazu, dassdurch Totalarchivierungen eine Bewertung im eigentli-chen Sinne mit den daraus resultierenden Folgen wieRedundanz und der unnötigen Überfrachtung der Maga-zinflächen überhaupt nicht mehr stattfindet.

    Ein professioneller Umgang mit der Bewertungsproble-matik jenseits überkommener fragwürdiger Rechtferti-gungen wie die des Fingerspitzengefühls dürfte eingrundlegender Baustein sein, um das allgemein zu spü-rende Unbehagen bei der Ausübung des Bewertungsge-schäftes zu lindern; eine Voraussetzung, die nach denbisherigen Kenntnissen über Bewertungsrückstände beiden Kommunalarchiven und der damit akut verbunde-nen Gefahr von Überlieferungsverlusten dringend erfor-derlich ist.

    Der Historiker Wolfgang J. Mommsen betonte, deutlichwie bislang kein anderer, in seiner Rede anlässlich derEröffnung des 62. Deutschen Archivtages 1991 in Aa-chen die alleinige Verantwortung der Facharchivare und-archivarinnen hinsichtlich der Beurteilung von Archiv-würdigkeit:7

    „Es liegt jenseits der Kompetenz des Fachhistorikers,den Archivaren Marschrouten an die Hand zu geben,wie sie angesichts einer solchen Situation mit der wach-senden Flut von Archivalien staatlicher und auch nicht-staatlicher Provenienz fertig werden sollen. Dafür fehlenihm die notwendigen Informationen. Es ist dies Sacheder Archivwissenschaft, konstruktive Wege zu bahnenund pragmatische Lösungen zu finden, die über den Taghinaus Bestand haben.“

    Überlieferungsbildung in Archiven hat rechtssicherndenCharakter, sie verleiht dem Verwaltungshandeln die not-wendige Transparenz, sie bildet einen Teil gesellschaft-licher Realität ab bzw. spiegelt - ergänzt durch die nicht-amtliche Überlieferung - das gesellschaftliche und politi-sche Leben in der jeweiligen Bezugsgröße Stadt, Lan-desteil, Staat etc. Die Erreichung der genannten Ziele istnur dann möglich, wenn in den Archiven der Bewertungnicht nur theoretisch, sondern auch praktisch ein hoherStellenwert beigemessen wird, entscheidet doch letztlichdie Bewertungstätigkeit der Archive darüber, welcheAussagen später über die jetzige Zeit getroffen werdenkönnen.

    5 Franz Götz, „Schriftgutbewertung und Aufstellung von Bewertungska-talogen durch Kommunalarchivare“, in: Der Archivar, Jg. 43, 1990,H. 4, Sp. 559 ff. Anzufügen ist, dass wegen der vorbeschriebenenEigenheit kommunaler Archivarbeit gerade im kommunalen Bereicheine Perfektionierung erforderlich ist.

    6 Matthias Buchholz, Angelika Raschke und Peter K. Weber, „Vom un-geliebten und schwierigen Geschäft der archivischen Bewertung.Eine Bestandsaufnahme zur Bewertungspraxis in rheinischen Kom-munalarchiven“, in: Archivkurier 11/97, hrsg. vom Landschaftsver-band Rheinland - Rheinisches Archiv- und Museumsamt, Abt. Archiv-beratungsstelle Rheinland sowie Matthias Buchholz, „Archivische Be-wertung - eine Kernaufgabe als Krisenmanagement? Bestandsauf-nahme zur Bewertungspraxis in rheinischen Kommunalarchiven“, in:Der Archivar, Jg. 51, 1998, H. 3, Sp. 399 ff.

    7 Wolfgang J. Mommsen, „Historisches Erinnern. Die Tradition histori-scher Quellen und die historische Forschung. Vortrag zur Eröffnungdes 62. Deutschen Archivtages“, in: Der Archivar, Jg. 45, 1992, H. 1,Sp. 19-28.

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    Archivpflege in Westfalen und Lippe 52, 2000

    Hans-Jürgen Höötmann / Katharina Tiemann: Archivische Bewertung – Versuch eines praktischen Leitfadens

  • Hartmut Weber weist in einem Aufsatz mit aller Deutlichkeitdarauf hin, dass zudem mit erheblichen Folgekosten zurechnen ist, wenn keine Bewertung erfolgt und das ausge-sonderte Registraturgut stattdessen komplett übernommenwird.8 Der Verzicht auf eine fachgerechte Bewertung istjedoch nicht nur eine Kostenfrage, sondern erschwert fürNutzerinnen und Nutzer den Zugang, da sie sich durcheine große Menge von Informationen arbeiten müssen, uman die wesentliche Überlieferung zu gelangen.

    Die vorangestellten Überlegungen waren auch Anlassfür ein Fortbildungsseminar, das das Westfälische Ar-chivamt in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv Rheinezum Thema Bewertung von Sachakten im Frühjahr 1999durchgeführt hat. Dabei sollten anhand einer archivrei-fen Überlieferung der Stadtverwaltung Rheine im Rah-men einer dreitägigen praktischen Übung, der die Aktenaus der Altregistratur des Fachbereichs Bildung, Kulturund Sport zugrunde lagen, Bewertungsentscheidungenvorbereitet, diskutiert und getroffen werden. Von derpraktischen Fragestellung ausgehend stellten die Teil-nehmenden grundsätzliche Überlegungen zur archivi-schen Bewertung an. Angeregt durch die Erfahrungenund Ergebnisse dieses Seminars soll an dieser Stelleder Versuch gewagt werden, die Thematik aufzugreifenund insbesondere zu veranschaulichen, auf welchenGesichtspunkten und nachvollziehbaren Maßstäben einesachlich fundierte Bewertungsentscheidung beruht.9

    Im folgenden soll die Arbeitsthese untermauert werden,dass das Grundgerüst verantwortungsvoller Bewer-tungsentscheidungen auf nachvollziehbaren Kriterienbasiert, die insbesondere im formalen Bereich schonvorentscheidenden Charakter für oder wider eine Archiv-würdigkeit haben. Dabei soll nicht in Abrede gestellt wer-den, dass es eine allgemein verbindliche archivischeWerttheorie, die auf rein objektiven Kriterien besteht, niegeben wird, denn zu unterschiedlich sind die verwal-tungsinternen Vorgaben und die Anforderungen der in-teressierten Öffentlichkeit, die nicht nur im Verhältnis dereinzelnen Archivsparten nebeneinander sondern auchuntereinander gelten. Was grundsätzlich zu begrüßenist, denn sonst wäre die Folge eine wohl kaum gewollteUniformität der Überlieferung, in deren Konsequenz dieArchive zu gesichtslosen, austauschbaren Körpern wür-den. Gerade die Forschung dürfte von der Vielfalt archi-vischer Überlieferung, die sich bei subjektiven Bewer-tungsentscheidungen notwendigerweise einstellt, profi-tiert haben und auch weiterhin profitieren.

    Die vorliegende methodische Ausarbeitung, die als kon-krete Handlungsanleitung zur Bewältigung von Proble-men im Aussonderungs- und Bewertungsbereich im ar-chivischen Alltagsgeschäft gedacht ist, bezieht sich ins-besondere auf den Sachaktenbereich unter Ausschlussder Registraturen mit massenhaft gleichförmigen Schrift-gut. Gleichwohl gibt es natürlich in diesen Bereicheneine Vielzahl von Überschneidungen, doch werden hierdie für Massenakten geltenden besonderen Bewertungs-verfahren (Sample-Bildung) nicht berücksichtigt.

    3. Bewertungsvorbereitung

    Archivische Bewertung kann nur dann sinnvoll erfolgen,wenn sie langfristig vorbereitet wird. Bewertung beginntnicht erst mit der konkreten Begutachtung von Akten, diezur Übernahme angeboten werden, sondern rundet viel-mehr eine aus zahlreichen Arbeitsschritten bestehende

    Tätigkeit ab. Die konkrete Aktenbewertung ist damit einenotwendige Folge zahlreicher Vorüberlegungen, die ausdem Zusammentragen von Informationen im Vorfeld er-wachsen. Ohne eine genaue Kenntnis der Aufgaben undOrganisationsstrukturen der zu betreuenden Verwaltungist eine fachgerechte Bewertung nicht möglich.

    Zu einer adäquaten Vorbereitung zählen Informationsbe-suche in den Dienststellen sowie das Anlegen einer Ma-terialsammlung zum Organisationsgefüge und zur Ak-tenüberlieferung.10

    Informationsbesuche in den Dienststellen, unabhängig voneiner Aktenübernahme, dienen der Kontaktpflege zwi-schen dem Archiv und dem Registraturbildner. Die Ge-spräche, vorzugsweise mit der Dienststellenleitung und derVerwaltungsleitung, sollen Aufschluss geben über die Auf-gabenwahrnehmung der Dienststelle, ihr Organisationsge-füge, die aufgabenbedingte Zusammenarbeit mit anderenDienststellen etc. Darüber hinaus sollte dahingehend Über-zeugungsarbeit geleistet werden, dass in den einzelnenDienststellen Ansprechpersonen benannt werden, die mitder Schriftgutverwaltung betraut sind und insbesondere fürdie Archive als Informanten tätig werden.11 Der Ge-sprächstermin sollte auch zum Anlass genommen werden,einen Einblick zu nehmen in die Registratur oder zumin-dest in den „Abstellraum für Altakten“, sofern, wie häufig inKommunalverwaltungen, eine zentrale Registratur mit ent-sprechendem Registraturpersonal nicht mehr existent ist.Eine stichprobenartige Durchsicht der Akten vermitteltbereits einen Einblick in die Überlieferung der Dienststelle.

    Verschiedene Organisationshilfsmittel schaffen Transpa-renz hinsichtlich der Verwaltungsstruktur. Der Aufgaben-gliederungsplan listet systematisiert nach Aufgaben-

    8 Kosten für 1 lfd. m. Akten: Übernahme regalfertig 300 DM, Verpak-kung 300 DM, Lagerung in Fahrregalen im Magazin jährlich 42 DM,Erschließung Findbuch 3000 DM, Konservierung 2000 DM mind., In-standsetzung 14.000 DM mind., Verfilmung 800 DM mind.; Angabennach Hartmut Weber, „Bewertung im Kontext der archivischen Fach-aufgaben“, in: Bilanzen und Perspektiven archivischer Bewertung,hrsg. v. Andrea Wettmann, Marburg 1994 (Veröffentlichungen der Ar-chivschule Marburg Nr. 21), hier S. 74.

    9 Eine nicht unwesentliche Erfahrung, die sich im Verlauf des Seminarsherausstellte, ist die Tatsache, dass zwar ein dem Bewertungvorgangzugrunde liegendes systematisches Grundgerüst als vordringlich an-gesehen wurde, aber bei der konkreten Bewertungsentscheidung pri-mär immer zuerst und oftmals auch ausschließlich der inhaltlicheWert der Akte als Bewertungskriterium diente. Hier scheint das Kern-problem in der Bewertungspraxis zu liegen: Formalkriterien findenwegen der dominanten Stellung und der nahezu ausschließlichen Be-trachtung des inhaltlichen Wertes keine Anwendung bei der Bewer-tungsentscheidung. Ein Ergebnis der praktischen Übung in Rheine,dass nämlich eine Vielzahl von Akten, die von den Semiarteilneh-mern ursprünglich als archivwürdig eingestuft worden war, unter Hin-zuziehung formaler Kriterien als kassabel bewertet werden konnte,dürfte repräsentativen Charakter haben. Es ist erforderlich, verstärktdie Dominanz der Formalkriterien in den Vordergrund der Bewer-tungsdiskussion zu stellen und in Anlehnung an die Methoden derAktenkunde zuerst die genetischen und analytischen Faktoren derAkten zu untersuchen, bevor man sich deren inhaltlichen Werten zu-wendet. Insofern wäre auch eine stärkere Verknüpfung der Studienfä-cher Aktenkunde und Bewertung während der Ausbildung/des Studi-ums wünschenswert, um so zu einem ausgeprägteren Verständnisfür die Bedeutung der Formalkriterien zu gelangen.

    10 Zu den folgenden Ausführungen sei an dieser Stelle zusätzlich aufden Beitrag von Jürgen Treffeisen, Im Benehmen mit ... - Formen derKooperation bei Bewertungsfragen mit den betroffenen Behörden. Er-fahrungen des Staatsarchivs Sigmaringen, verwiesen (vgl. Anm. 3).

    11 Franz-Josef Jakobi/Hannes Lambacher, „Auf dem Weg zum Zwi-schenarchiv? - Zur Zusammenarbeit zwischen Archiv und kommuna-len Dienststellen in Fragen der Schriftgutverwaltung, Aktenaussonde-rung und Bestandsbildung“, in: Archivpflege in Westfalen und Lippe,Heft 32, 1990, S. 20-27.

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    Archivpflege in Westfalen und Lippe 52, 2000

    Hans-Jürgen Höötmann / Katharina Tiemann: Archivische Bewertung – Versuch eines praktischen Leitfadens

  • hauptgruppen und Aufgabengruppen sämtliche Aufga-ben einer Kommune auf, die gewöhnlich wahrgenom-men werden. Die Systematisierung ist die Grundlage fürdie Bildung von Organisationseinheiten, denen be-stimmte Zuständigkeiten zugewiesen werden. Bislanggab es im Bereich der Kommunen acht Aufgabenhaupt-gruppen: Allgemeine Verwaltung (1), Finanzen (2),Recht, Sicherheit und Ordnung (3), Schule und Kultur(4), Soziales, Jugend und Gesundheit (5), Bauwesen(6), Öffentliche Einrichtungen (7), Wirtschaft und Ver-kehr (8). Der Verwaltungsgliederungsplan baut mit derBildung von Organisationseinheiten zur Aufgabenwahr-nehmung auf dem Aufgabengliederungsplan auf. Im Zu-ge der Verwaltungsreformbestrebungen der letzten Jah-re sind die Strukturen allerdings z.T. erheblich verändertworden. So ist das Amt als klassische Organisationsein-heit nicht mehr in allen Kommunen existent, Aufgabenpräsentieren sich als Produkte, so dass als neues Orga-nisationshilfsmittel das Produktbuch in den Archiven Be-achtung finden sollte. Produktbücher beschreiben u.a.die Aufgaben einer Dienststelle, ihre Auftragsgrundla-gen, ihre Einbindung in das Verwaltungsgefüge etc. Or-ganisationspläne bilden die hierarchische Struktur einerVerwaltungseinheit mit grober Sachgliederung nach Zu-ständigkeit und Verantwortlichkeit ab. Der Geschäftsver-teilungsplan ordnet Aufgaben einer Stelle bzw. einerPerson zu. Über manche Dienststellen existiert auchaussagekräftige Literatur (Festschriften o.ä.), die zu-meist einen guten Überblick über Aufgabenwahrneh-mung und Organisationsgefüge vermitteln.

    Zu Hilfsmitteln, die die Aktenüberlieferung einer Dienst-stelle transparent machen, zählt der Aktenplan, ein Soll-Verzeichnis nach Betreffeinheiten. Im Gegensatz dazubietet das Aktenverzeichnis einen Nachweis über tat-sächlich geführte Akten mit Angaben wie Aktenzeichen,Inhalt, Laufzeit, aktenführende Stelle, Umfang, Aufbe-wahrungsfrist und Verbleibnachweis.

    Ein für die Archive wichtiges Arbeitsinstrumentarium stel-len Aufbewahrungsfristen dar. Unterlagen, die von derVerwaltung für den laufenden Geschäftsbetrieb nicht mehrbenötigt werden, können erst nach Ablauf gesetzlicher

    Aufbewahrungsfristen bewertet werden. Dies gilt nicht fürVerwaltungen, die ein Zwischenarchiv führen, das archiv-fachlich betreut wird. Hier kann aus Gründen der Arbeits-ökonomie die Bewertung bereits mit der Übernahme indas Zwischenarchiv erfolgen, so dass nach Ablauf derAufbewahrungsfristen archivwürdig befundene Akten di-rekt in das Archiv überführt werden können. Für die kom-munale Schriftgutverwaltung hat die Kommunale Gemein-schaftsstelle (KGSt) in Köln entsprechende Fristen zu-sammengestellt.12 Die dort gemachten Angaben sind imeinzelnen genau zu überprüfen, ein Anspruch auf Voll-ständigkeit und Richtigkeit besteht nicht.13

    4. Bewertungsverfahren

    Grundsätzlich gibt es drei mögliche Verfahrensweisen wiedie Bewertung von Akten vorgenommen werden kann.

    Kommunalarchive werden sehr häufig mit ad-hoc-Über-nahmen konfrontiert, die von den Dienststellen nicht wei-ter vorbereitet sind. Dies ist z.B. der Fall, wenn Umzügeanstehen, dringend neuer Platz geschaffen werden mussetc. Hier wird in der Regel eine Einzelbewertung vor Ortvorgenommen, d.h. jede Akte wird im Hinblick auf ihre Ar-chivwürdigkeit geprüft. Vorteilhaft bei diesem Verfahren istzunächst einmal die genaue Kenntnis des tatsächlichenAkteninhalts. Allerdings, handelt es sich um einen größe-ren Aktenbestand, der eventuell noch nicht einmal durcheinen Aktenplan strukturiert ist, besteht die Gefahr, dassder Überblick verloren geht und eine notwendige Einord-nung in den Gesamtzusammenhang, auch der bereits vor-handenden Überlieferung, faktisch nicht mehr leistbar ist.Die Folge: die Bewertung bleibt eine ausgenommen per-sonen- und situationsgebundene Einzelfallentscheidung.

    Ein weiteres Verfahren, abhängig vom Arbeitseinsatz derabgebenden Dienststelle, ist die Listenbewertung. Anhandeiner Aussonderungsliste mit den Hauptbestandteilen lfd.Nr., Aktenzeichen, Aktentitel, Laufzeit und Aufbewah-rungsfrist, die von der abgebenden Dienststelle erstelltwird, kann eine erste Bewertung bereits im Archiv vorge-nommen werden, was das Bewertungsverfahren deutlichbeschleunigt. Zudem werden zunächst einmal alle Aktennachgewiesen, die zur Aussonderung anstehen mit demVorteil, dass auch kassabel eingestufte Akten nachweis-bar bleiben zugunsten einer erhöhten Transparenz derBewertungsentscheidung. Erfolgt jedoch die Bewertungnur auf der Grundlage der Aussonderungsliste, sind Fehl-entscheidungen wahrscheinlich, da der Aktentitel in vielenFällen mit dem tatsächlichen Akteninhalt nicht überein-stimmt. Die Listenbewertung darf daher nicht ohne einestichprobenartige Aktenautopsie erfolgen.

    Die Erstellung von Bewertungskatalogen bietet sich vor-wiegend bei einer Dienststelle an, die über eine geord-nete Zentralregistratur auf der Grundlage eines Akten-planes verfügt, von der das Archiv als Folge von Regist-raturbesuchen mit stichprobenartiger Durchsicht der Ak-ten eine gute Kenntnis hat. Auf der Grundlage des Ak-tenplans sind die wesentlichen Inhalts- und Struktur-merkmale der vorkommenden Aktengruppen zu be-schreiben und nach Prüfung der formalen wie inhaltli-

    12 Kommunale Schriftgutverwaltung: Aufbewahrungsfristen, Anhangzum KGSt-Bericht Nr. 16/1990 i.d.F. v. Dezember 1995, hrsg. v. d.KGSt, Köln 1995.

    13 Vgl. auch Formalkriterium „Dauernde Aufbewahrung“, S. 7.

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    Archivpflege in Westfalen und Lippe 52, 2000

    Hans-Jürgen Höötmann / Katharina Tiemann: Archivische Bewertung – Versuch eines praktischen Leitfadens

  • chen Kriterien (s.u.) mit einer entsprechenden Wertung -archivwürdig/nicht archivwürdig - zu versehen. Der damitzustande gekommene Bewertungskatalog wird bei jederanstehenden Aussonderung erneut angewendet. DerVorteil dabei ist, dass Transparenz und Kontinuität derBewertungsentscheidung für längere Zeit gesichert sind,allerdings birgt das Verfahren die Gefahr von Überliefe-rungsverlusten, da nicht angemessen auf Veränderungenin der Dienststelle reagiert werden kann und mögliche Be-sonderheiten nicht berücksichtigt werden. Fehlentschei-dungen bei der Bewertung werden zudem kontinuierlichfortgeschrieben, wenn die weitere Gültigkeit des Bewer-tungskataloges nicht immer wieder überprüft wird.

    Keines der beschriebenen Verfahren kann und sollte fürsich allein in Reinform angewendet werden, ist doch dasArchiv von vielen äußeren Faktoren abhängig, die es nur

    sehr bedingt steuern kann. Anhand der beschriebenenVor- und Nachteile sollte jedoch aufgezeigt werden, wel-che Verfahren eher für eine kontinuierliche, transparenteBewertungsentscheidung geeignet sind.

    An dieser Stelle ist nochmals ausdrücklich darauf hinzu-weisen, dass eine kontinuierliche Überlieferungsbildungregelmäßiger Aussonderungen bedarf. Finden Ausson-derungen in unregelmäßigen Zeitabständen statt, führtdies nicht selten auch zu einer Verschlechterung desKontaktes zum Registraturbildner. Mögliche Folgen sindabsehbar: unkontrollierte Kassationen durch die Dienst-stellen selbst werden wahrscheinlicher, oder aber dasArchiv wird auf diese Weise sehr viel häufiger zu Not-übernahmen gezwungen, eine adäquate Vorbereitungbleibt aus, was sich wiederum negativ auf die Bewer-tungsarbeit auswirkt.14

    5. Bewertungskriterien

    Die Bewertungsvorbereitung bildet das maßgebliche Ge-rüst für die bei der Aussonderung im einzelnen zu be-achtenden und festzulegenden Bewertungskriterien.Diese können grob in zwei Kategorien unterteilt werden:Neben dem formalen Bewertungskriterium, das sich ins-besondere durch objektivierbare Arbeitsschritte kenn-zeichnen lässt, steht ein als inhalts- und überlieferungs-kritisch zu bezeichnender Bewertungsansatz mit einerweitestgehend subjektiven Prägung.

    Zwischen diesen beiden Bewertungskriterien bestehteine logische Reihenfolge. Das Bewertungsverfahrenmuss zwangsläufig immer mit der Prüfung der Formalkri-terien beginnen, da in diesem Bereich bereits ohne Prü-fung des inhaltlichen Wertes der Unterlagen eine Ent-

    scheidung für die Kassation oder aber auch die Totalar-chivierung erfolgen kann, die eine weitere Beschäftigungquellenkritisch-inhaltsbezogener Art überflüssig macht.Zu beachten ist jedoch bei einer Kassationsentschei-dung, ob die Unterlagen gegebenenfalls als Ersatzüber-lieferung für eine bereits - aus welchen Gründen auchimmer - vernichtete Aktengruppe, die gleichwohl als ar-chivwürdig einzustufen ist, dienen können.

    Von zentraler Bedeutung bei der Bewertung sind mög-lichst objektivierbare Kriterien, anhand derer die Archiv-würdigkeit von Registraturgut ermittelt werden kann.

    14 Ein Bewertungsverfahren erfordert Transparenz und ist daher grund-sätzlich mit einem Bewertungs- bzw. Kassationsprotokoll abzuschlie-ßen. Vgl. hierzu S.9.

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  • 5.1. Formale Bewertungskriterien

    Aufgrund der Einstufigkeit des Verwaltungsaufbaus bei denTrägern kommunaler Selbstverwaltung und des dadurchnicht vorhandenen mehrstufig-hierarchischen Aufbaus mitseinem charakteristischen Geflecht von Über- und Unter-ordnungsverhältnissen kann sich im Gegensatz zu denstaatlichen Verwaltungsträgern die Prüfung formaler Krite-rien weitestgehend auf die Vermeidung von Mehrfachüber-lieferungen in einer Verwaltungsstufe beschränken.

    Diese sind insbesondere in Verwaltungsbereichen zu er-warten, in denen von bestimmten Ämtern übergreifendeQuerschnittsaufgaben wahrzunehmen sind. Zu denkenist hier etwa an das Hauptamt, das Personalamt, dasHochbauamt, das Rechtsamt und die Kämmerei.

    In Anlehnung an das beim Bundesarchiv entwickelte Fe-derführungsprinzip ist bei solchen Überlieferungen zu prü-fen, welche Stelle eine Angelegenheit federführend unddamit entscheidungsprägend bearbeitet hat.15 Dabei istgrundsätzlich davon auszugehen, dass bei der federfüh-renden Stelle alle sachrelevanten Fakten bis zum Ab-schluß eines Vorganges greifbar sind. Als Beispiel maghier die Aktenüberlieferung zum Entwurf und Bau vonHochbauten dienen: Solche Akten werden bei jeder Neu-,Um- und Ausbaumaßnahme von der betroffenen Dienst-stelle für ihre eigenen Belange selbst geführt. Fachlich zu-ständig ist jedoch das Hochbauamt, in dessen Überliefe-rung sich die wesentlichen Unterlagen zu Planung undAusführung und die grundlegenden Entscheidungspro-zesse befinden. Somit besteht aufgrund der Federführungdes Hochbauamtes im Bereich der verwaltungseigenenBauten grundsätzlich nicht die Notwendigkeit, diese Über-lieferung bei denjenigen Verwaltungseinheiten zu über-nehmen, die zwar unmittelbar von der Baumaßnahmebetroffen und bei der Planung beteiligt sind, aber derenBetätigung nur mitwirkenden Charakter trägt.

    Es ist aber zu beachten, dass bei einer strikten Anwen-dung dieses Prinzips die entscheidungsinternen Unterla-gen des lediglich mitwirkenden Amtes zur Kassation frei-gegeben werden, dass aber je nach dem Grad der Aus-übung qualitativer Beteiligung und des Umfanges etwaigerkonträrer Positionen sich allerdings auch bei der mitwir-kenden Stelle eine Schriftgutübernahme empfehlen kann.

    In der Konsequenz hat dies zur Folge, dass bei Ausson-derung im Bereich der Sachakten in vielen Fällen bei derBeteiligung mehrerer Ämter an einer Aufgabe die jeweili-ge Gegenüberlieferung gesichtet werden muss. Der da-durch verursachte zeitliche Mehraufwand bei der Bewer-tung hat gleichwohl zum einen unter dem Gesichtspunktder damit verbundenen vermehrten Repräsentanz desArchivs in den einzelnen Organisationseinheiten durch-aus positive Nebenfolgen für das Verhältnis und die Zu-sammenarbeit zwischen Archiv und Verwaltung, nichtzuletzt wegen der als Folge des verstärkten Kommunika-tionsflusses aktiveren Wahrnehmung des Archivs durchdie Verwaltung. Zum anderen dürfte in vielen Fällen eineumfassendere Übersicht über den Zustand der Altregi-straturen gewonnen werden, die der Überlieferungsbil-dung im Archiv nur zuträglich sein kann.

    Neben diesen auf horizontaler Ebene angesiedeltenMöglichkeiten der mehrfachen Überlieferung bei grund-sätzlich gleichrangig auf einer Funktions- und Hierar-chieebene stehenden Ämtern gibt es bei den Verwal-

    tungsträgern der kommunalen Selbstverwaltung eben-falls in aller Regel den Bereich der Mehrfachüberliefe-rung auf vertikaler Ebene.

    In der Überlieferung der Verwaltungsspitzen finden sichwegen deren Aufgaben und Stellung, die gekennzeichnetist durch eine führungsorganisatorische Funktion inner-halb der Verwaltung, aber auch durch ihre Rolle beim poli-tischen Willensbildungsprozeß,16 naturgemäß Akten zumgesamten Aufgabenspektrum der Verwaltung. Der Ver-bleib des daraus erwachsenen Registraturgutes ist erfah-rungsgemäß abhängig von der Größe der Kommune. Inden meisten Fällen dürfte das Schriftgut in die Registraturdes Hauptamtes eingegliedert sein, aber insbesondere beigroßdimensionierten Verwaltungen kann auch eine eigen-ständige Registraturschicht bestehen.17 Die aufgrund derherausgehobenen Stellung des Registraturbildners ge-knüpften Erwartungen auf eine umfassende und aussage-kräftige Überlieferung erfüllen sich jedoch oftmals nicht.Abgesehen von öffentlichkeitsrelevanten Unterlagen (z.B.Reden, Repräsentationsangelegenheiten) und Akten zurdirekten Ausübung der Leitungsfunktion (z.B. Beigeordne-tenkonferenzen) ist die Gegenüberlieferung in den Ämterndurch ihre größere Geschlossenheit und Komplexität einerArchivierung grundsätzlich vorzuziehen.18

    Allerdings gilt bei der Mehrfachüberlieferung auf vertika-ler Ebene entsprechend dem Kriterium der Federführungdas Motto, die jeweilige Gegenüberlieferung mit in dieBewertungsentscheidung einzubeziehen.

    Selbstverständlich trifft diese Feststellung auch auf andereder Dienststellenleitung unmittelbar unterstellte Einheitenmit Querschnitts- und Repräsentations-/Öffentlichkeits-

    15 Hans-Dieter Kreikamp, „Das Bewertungsmodell des Bundesarchivs -Federführung als Bewertungskriterium“, in: Bilanz und Perspektivenarchivischer Bewertung (vgl. Anm. 8).

    16 Vgl. Uwe Winkler-Haupt, Gemeindeordnung und Politikfolgen. Einevergleichende Untersuchung in vier Mittelstädten, München 1988 (In-nenpolitik in Theorie und Praxis, Bd. 12). Das Ergebnis der Untersu-chung für die nordrhein-westfälischen Städte Gladbeck und Lünen,wonach die Stadtdirektoren wegen ihrer engen Kontakte zu den Mei-nungsführern im Rat grundsätzlich zu den Vorentscheidern im politi-schen Willensbildungsprozeß zählen (S. 89), ist sicherlich auf dasGros der Gemeinden in Nordrhein-Westfalen übertragbar, allerdingsist die Ausprägung dieser Stellung sehr abhängig von der Person desStadtdirektors und dessen Amtsverständnis. Dabei ist zu beachten,dass sich diese Konstellation in Nordrhein-Westfalen durch die Um-setzung der neugestalteten Gemeindeordnung des Jahres 1994grundlegend geändert hat (vgl. Anm. 17).

    17 Inwiefern sich die Organisationsstrukturen in Bezug auf die Schrift-gutverwaltung der Verwaltungsspitze aufgrund der neuen Bestimmun-gen der Gemeindeordnung für das Land Nordrhein-Westfalen i.d.F.vom 14.07.1994 mit der Abschaffung der Doppelspitze Bürgermei-ster/Stadt- oder Gemeindedirektor und der Einführung der Direktwahldes Bürgermeisters, der nun auch nach der letzten Kommunalwahl1999 flächendeckend in allen Gemeinden Nordrhein-Westfalens alsVerwaltungschef fungiert, grundlegend ändern, bleibt abzuwarten.

    18 Vertikale Überlieferungsstrukturen können insbesondere vor der Rea-lisierung der kommunalen Strukturreform vorgelegen haben, wennsich aus einzelnen Ämtern eigenständige Einrichtungen formierten,die allerdings nicht souverän, sondern dem ursprünglichen Amt ver-antwortlich waren und somit trotz relativer Selbständigkeit in einemUnterordnungsverhältnis standen. Solche Verselbständigungen ka-men insbesondere im Kulturbereich vor, wenn beispielsweise einzel-ne Kultureinrichtungen wie Bibliothek, Musikschule, Museum etc. ausdem Kulturamt ausgegliedert wurden. Entscheidungsprägende Aktendürften bei solchen Konstruktionen regelmäßig im Ursprungsamt ge-führt worden sein. Mit Umsetzung der neuen Steuerungsmodelle undder damit verbundenen dezentralen Ressourcenverantwortung undgleichberechtigten Produktverantwortlichen liegen ggf. solche vertika-len Überlieferungsstrukturen nicht mehr vor, sind jedoch bei der Be-wertung von Altregistraturen bis zum Ausgang der 90er Jahre zu be-achten.

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  • funktion (z.B. Pressereferat) und für die nicht deren Orga-nisationsgewalt unterstehende Bestandteile der Verwal-tung (z.B. Rechnungsprüfungsamt) und unabhängigeOrgane der Dienststellenverfassung (z.B. Personalrat) zu.

    Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass formale Be-wertungskriterien zur Prüfung von Mehrfachüberlieferun-gen in der Kommunalverwaltung kaum Rationalisie-rungspotentiale bieten. Sie dienen vielmehr dazu, redun-dante Überlieferungsformen zu vermeiden und somitdem Benutzer ein zielorientiertes und effektives Arbeitenim Archiv zu ermöglichen.

    Auch die Archivfähigkeit ist ein Bewertungskriterium for-maler Art. Archivfähig sind die Unterlagen, wenn die Ver-waltung nicht mehr auf sie zurückgreifen muß und sienach Ablauf der Aufbewahrungsfristen zur Aussonde-rung anstehen. Eine vorhergehende Bearbeitung durchdas Archiv ist grundsätzlich unökonomisch, sofern Ver-waltung und Archiv nicht über ein funktionierendes Zwi-schenarchiv verfügen. Denn zum einen dürfen diejeni-gen Akten, die noch den vorgeschriebenen Aufbewah-rungsfristen unterliegen, vom Archiv aber als kassabelbewertet worden sind, nicht vernichtet werden, was inder Praxis eine Vielzahl von Komplikationen nach sichzieht. Zum anderen besteht die Gefahr, dass das Archivals verlängerte Registratur der Verwaltung in Anspruchgenommen wird und somit Ressourcen zweckentfrem-det werden, die dem Archiv an anderer Stelle fehlen.

    Eine besondere Rolle nimmt in diesem Zusammenhangdie Schriftgut-Klassifizierung „dauernd aufzubewahren“ein. Diese Kategorie basiert auf gesetzlichen Grundla-gen sowie auf örtlichen Vorgaben und Erfahrungen. Dasoben bereits erwähnte Verzeichnis der Aufbewahrungs-fristen, das dem KGSt-Bericht zur kommunalen Schrift-gutverwaltung angefügt ist, dürfte in den meisten Ver-waltungen als Richtschnur für die Bestimmung der Auf-bewahrungsfristen dienen.

    Der in Nordrhein-Westfalen für das staatliche Schriftgutgeltenden gesetzlichen Bestimmung, wonach die als„dauernd aufzubewahren“ klassifizierten Unterlagengleichsam archivwürdig sind,19 folgen auch viele Kommu-nalarchive. Vom Standpunkt des Quellenwertes ausge-hend, sind jedoch längst nicht alle Unterlagen mit einerdauernden Aufbewahrungsfrist per se auch archivwürdig.Es ist immer zu berücksichtigen, dass die Begrifflichkeit„dauernd aufzubewahren“ eine zeitliche Relativität be-inhaltet, die abhängig ist von der ursächlichen Festlegungder Aufbewahrungsfrist. Dabei ist zu bemerken, dass dieFristenfestlegung oftmals auf Erfahrungswerten beruht,die willkürlich in Aufbewahrungsfristen umgesetzt werden,die in der Folge mehr oder minder offiziellen Charaktertragen. In vielen Fällen wäre es konsequenterweise hilf-reich und sicherlich auch realisierbar, eine dauernde Auf-bewahrungsfrist kritisch zu hinterfragen und statt der dau-ernden Aufbewahrung eine zeitlich begrenzte Frist festzu-legen - auch wenn die entsprechenden Fristen möglicher-weise weit über die bisherige zählbare Höchstfrist von 30Jahren20 hinausreichen sollten. Im Endeffekt könnte dasKommunalarchiv durch solche Spezifizierungen, sofern esder staatlichen Vorgabe der Gleichsetzung von dauernderAufbewahrung und Archivwürdigkeit folgt, seine Magazin-flächen von nicht archivwürdigem Ballast befreien.

    Das gilt natürlich nicht für Unterlagen, die der Rechtssi-cherung des Archivträgers dienen. In seiner Funktion als

    Dienstleister für die eigene Verwaltung in Verbindung mitder Gewährleistung von Rechtssicherheit sind entspre-chende Quellen selbstverständlich im Archiv unabhän-gig vom Quellenwert zu magazinieren. Allerdings schei-nen diejenigen Fälle, in denen Unterlagen zum Nach-weis von Rechtstiteln tatsächlich dauernd vorgehaltenwerden müssen, bei einer kritischen Prüfung eher geringzu sein. Und die Archivwürdigkeit von Dienstjubiläen, Or-ganistenbesoldungen und Goldenen Hochzeiten, diesämtlich im KGSt-Katalog der Aufbewahrungsfristen als„dauernd aufzubewahren“ klassifiziert worden sind,dürfte mehr als fragwürdig sein. Demzufolge ist die Vor-gabe der dauernden Aufbewahrung grundsätzlich nur beiUnterlagen mit rechtssicherndem Charakter als formalesBewertungskriterium geeignet. In diesen Fällen erfolgtohne weitere Prüfung des inhaltlichen Wertes die Über-nahme ins Archiv. In allen anderen Fällen ist eine automa-tische und somit unkritische Archivierung ohne Reflexionder nachfolgend beschriebenen inhalts- und überliefe-rungsbezogenen Bewertungskriterien nicht ratsam.

    5.2. Inhaltlich-überlieferungskritische Bewertungskriterien

    Bevor im einzelnen mögliche Kriterien zu erläutern sind,soll an dieser Stelle der Begriff der Archivwürdigkeit amBeispiel einer kommunalen Archivsatzung noch einmalverdeutlicht werden:

    „Archivwürdig sind Unterlagen, die für die Stadtge-schichte Dortmunds, die Wissenschaft und Forschungunter Berücksichtigung ihrer politischen, rechtlichen,wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Bezü-ge von bleibendem Wert sind. Das Stadtarchiv entschei-det über die Archivwürdigkeit der Unterlagen“.21

    Diese zu einem sehr frühen Zeitpunkt, noch vor dem Ar-chivgesetz Nordrhein-Westfalens vom 16.05.1989 erlas-sene Satzung ist nicht sehr hilfreich für die archivischeBewertung. Es stellt sich unweigerlich die Frage, nachwelchen Kriterien sich der bleibende Wert von Unterla-gen bestimmt. Auch andere Archivgesetze oder kommu-nale Satzungen, wenngleich sie z.T. andere Schwer-punkte setzen,22 bieten wenig Hilfestellungen für diekonkrete Bewertungsarbeit. Bewertung ist eine sehrkomplexe Aufgabe, geht sie doch von verschiedenenAnsatzpunkten aus: von den zu bewertenden Unterla-gen, von den Aufgaben einer Provenienz, von einem be-stimmten Realitätsausschnitt, der dokumentiert werdensoll, bis hin zur gesamtgesellschaftlichen Realität. DieBewertung nach inhaltlichen Gesichtspunkten wird sub-

    19 Archivgesetz Nordrhein-Westfalen, hier: § 2, Abs. 2, Satz 3. Textab-druck in: Der Archivar, Jg. 43, 1990, H. 2, Sp. 237 ff.

    20 Die 30-Jahre-Frist ist die zählbare Höchstfrist nach dem KGSt-Ver-zeichnis der Aufbewahrungsfristen (vgl. Anm. 12). Dass zwischen der30-jährigen Frist und der dauernden Aufbewahrung keine Zwischen-stufen mehr existieren und es sich bei den KGSt-Fristen häufig umVon-bis-Angaben handelt, untermauert die These, wonach mit demTerminus „Dauernde Aufbewahrung“ nicht zwangsläufig eine zeitlichunbegrenzte, in die Ewigkeit reichende Aufbewahrung charakterisiertwerden muß.

    21 Auszug (§ 2, Abs. 2) aus der Satzung für das Stadtarchiv der StadtDortmund v. 09.06.1987. Textabdruck in: Dortmunder Bekanntma-chungen, 19.06.1987.

    22 z. B. Archivgesetz Sachsen-Anhalt v. 28.06.1995, § 2, Abs. 4: „Ar-chivwürdig sind Unterlagen, denen für die Gesetzgebung, Rechtspre-chung, Regierung und Verwaltung, für die Wissenschaft und For-schung, für das Verständnis von Geschichte und Gegenwart, zurRechtswahrung oder zur Sicherung berechtigter Interessen bleiben-der Wert zukommt“. Textabdruck in: GVBl. LSA Nr. 22/1995, S. 190.

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  • jektiv bleiben, dennoch gibt es verschiedene Kriterien,anhand derer die Annäherung an nachvollziehbare Be-wertungsentscheidungen erleichtert wird.

    Die Untersuchung des Entstehungskontextes, d.h. ins-besondere die Untersuchung der Stellung der abgeben-den Dienststelle mit ihren Aufgaben im Verwaltungsge-samtgefüge ist bereits i.d.R. mit der Überprüfung derFormalkriterien Mehrfachüberlieferung/Federführung er-folgt, nicht so die Wertung der Aufgaben, d.h. eine Ein-schätzung darüber, welche Bedeutung einer bestimmtenAufgabe beizumessen ist.

    Eng damit verbunden ist die Frage, inwieweit die Unter-lagen Organisation, Aufgaben und Verfahrensweisen ei-ner Verwaltung widerspiegeln (Evidenzwert). Die Beur-teilung des Evidenzwertes als alleiniges Kriterium für dieArchivwürdigkeit von Unterlagen schafft jedoch für dieNachwelt nur ein sehr eingeschränktes und für viele Fra-gestellungen unzureichendes Bild,23 so dass der Beur-teilung des Informationswertes eine große Bedeutungbeigemessen werden muss, d.h. konkret, welche Aussa-gen anhand der Akten über bestimmte Personen, Ob-jekte und Ereignisse getroffen werden können. Ohnehier auf die Theoriediskussion näher eingehen zu wol-len, ist in diesem Zusammenhang ausgehend von derdie Bewertungsdiskussion in den 90er Jahren prägen-den Rezeption Schellenbergs durch Angelika Menne-Haritz24 die praktische Erfahrung von Jürgen Klooster-huis festzuhalten, dass „aus der Natur der Akten die Do-minanz des Informationswertes zu konstatieren ist“.25

    Das Kriterium Inhalt ist vermutlich insbesondere im kom-munalen Bereich die häufigste Bewertungsbegründung,es ist die am wenigsten objektivierbare Größe und damitauch ein streitbares Kriterium. Letztlich bleibt die Ent-scheidung, welche Akten aufgrund ihres Quellenwertesdauernd aufzuheben sind, jedem Archivar/jeder Archiva-rin selbst überlassen. Die Forderung nach allgemeinenDokumentationsprofilen, d.h. verbindliche Aufstellungender zu archivierenden Quellen, konnte sich im Gegen-satz zur ehemaligen DDR in der Bundesrepublik nichtdurchsetzen. Die Archivierung ist damit sehr stark perso-nenabhängig, sie eröffnet allerdings auch, gute Sach-und Fachkenntnisse vorausgesetzt, die Chance einerhinreichenden Berücksichtigung örtlicher Besonderhei-ten, die eine zentral abgestimmte Überlieferungsbildungin aller Regel nicht leisten kann.

    Die Bewertungsentscheidung sollte aber nicht eine iso-lierte Entscheidung sein. Wenngleich die Beurteilung derArchivwürdigkeit von Unterlagen nach dem ArchivgesetzNordrhein-Westfalens allein in die Zuständigkeit des Ar-chivs fällt 26, ist es oftmals vorteilhaft, wenn im Rahmender vorbereitenden Gespräche in den Dienststellen dieEinschätzung der Verwaltungsfachleute eingeholt wird.Zweierlei Gründe sprechen dafür. Zum einen haben sieals unmittelbar Betroffene die beste Kenntnis von denUnterlagen. Sie kennen ihren Entstehungszusammen-hang und können vor allem die Wertigkeit der Unterla-gen aus Verwaltungssicht beurteilen, ein durchaus wich-tiger Anhaltspunkt für die Bewertungsentscheidung.Diese Einschätzung gilt einschränkend überwiegend fürdie Unterlagen, die sich noch im laufenden Geschäftsbe-trieb befinden. Sobald die Geschäftsvorgänge jedochabgeschlossen sind, machen Archive häufig die Erfah-rung, dass die Akten für die Verwaltungsbeschäftigtenschnell an Wertigkeit verlieren und z.T. auch entspre-

    chend nachlässig gehandhabt werden. Hier können Ge-spräche zwischen Archiv und Verwaltung im Rahmendes Bewertungsgeschäftes durchaus bewusstseinsbil-denen Charakter haben, indem die Archive vor allemZiele der Archivierung und archivfachliche Kriterien zurBeurteilung der Archivwürdigkeit benennen. Die Alt-registratur kann dadurch eine Aufwertung erfahren, vonder die Archive nur profitieren können.

    Darüber hinaus empfiehlt sich ein fachlicher Austauschmit Kolleginnen und Kollegen in anderen Archiven. Hier-bei wird es in erster Linie um die Beurteilung des Quel-lenwertes einer Überlieferung gehen. Archive, die ihrebegründeten Bewertungsentscheidungen hinsichtlichbestimmter Quellengattungen im Rahmen eines Erfah-rungsaustausches transparent machen, unterstützenandere bei ihren Überlegungen. Wie schon mehrfach er-wähnt, bleibt die Bewertungsentscheidung subjektiv, be-stimmt vom Zeitgeist, die nicht zuletzt auch unbewusstdurch persönliche Vorlieben geprägt ist. Diskussionenim Kollegenkreis können auch dazu dienen, die eigenenEntscheidungen zu hinterfragen und gegebenenfalls zukorrigieren.

    Ein Ziel archivischer Überlieferungsbildung ist die Doku-mentation gesellschaftlichen Lebens, dessen Verände-rungen und zeittypischen Phänomene.27 Die Berück-sichtigung potentieller Fragestellungen der Forschungkann bei der Bewertungsentscheidung hilfreich sein, siesollte jedoch nicht entscheidungsbestimmend sein, zu-mal die Forschung nur Teilaspekte herausgreifen kann.Archive haben dagegen die Aufgabe, kontinuierlich undwertfrei Informationen zu überliefern, wobei dies, wie be-schrieben, nur bedingt möglich ist. Die Entstehungszeitvon Unterlagen kann in diesem Zusammenhang auchein Bewertungskriterium sein, um wesentliche Zeitepo-chen zu dokumentieren. So werden etwa Akten aus derZeit des Nationalsozialismus besonders genau zu prüfen

    23 Ein deutlicher Kritiker der reinen Evindenzwerttheorie ist Norbert Rei-mann. In seinem Beitrag „Anforderungen an die archivische Bewer-tung von Öffentlichkeit und Verwaltung“, in: Bilanz und Perspektivenarchivischer Bewertung (vgl. Anm. 8) heißt es: „Ich möchte nach-drücklich davor warnen, die Dokumentation der Tätigkeit der ver-schiedenen Registraturbildner zum grundlegenden Prinzip und Zielder archivischen Bewertung hochzustilisieren. Ich kann mir beim bes-ten Willen nicht vorstellen, welche Gewinne künftige Generationendavon haben sollten, dass sie aufgrund einer exakten evidenz- undprovenienzorientierten Bewertung in die Lage versetzt werden, dieFunktion und Kompetenz möglichst vieler unterschiedlicher Verwal-tungsbehörden nachvollziehen zu können. [...] Dem möchte ich dienachdrückliche Betonung des Informationswertes von Registratur-und Dokumentationsgut entgegenhalten“.

    24 Theodore R. Schellenberg, Die Bewertung modernen Verwaltungs-schriftguts. Übers. und hrsg. von Angelika Menne-Haritz, Marburg1990 (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg Nr. 17).

    25 Jürgen Kloosterhuis, Akteneditionen und Bewertungsfragen, hier S.168, in: Bilanz und Perspektiven archivischer Bewertung (wie Anm.8).

    26 Vgl. Hans Schmitz, Archivgesetz Nordrhein-Westfalen, Einführungund Textabdruck, in: Der Archivar, Jg. 43, 1990, H. 2, hier: Sp. 234(Kommentierung) und Sp. 237 (Text: § 2, Abs. 2, Satz 2).

    27 Seit langem besteht ein allgemeiner Konsens darüber, dass das amt-liche Schriftgut allein das gesamte politische, wirtschaftliche, gesell-schaftliche und kulturelle Leben nicht angemessen dokumentierenkann und es vielmehr weiterer Quellen bedarf, um dies annäherndleisten zu können. Die Beschränkung des Beitrages auf die Bewer-tung von Sachakten erlaubt in diesem Zusammenhang allerdingskeine Ausführungen zu Bewertungskriterien für den besonders fürKommunalarchive wichtigen Bereich des Sammlungsgutes. Vgl. GötzBettge, „Nichtamtliches Archivgut - Ballast oder Notwendigkeit?, in:Aufgaben kommunaler Archive - Anspruch und Wirklichkeit“ (Texteund Untersuchungen zur Archivpflege 9, hrsg. v. Norbert Reimann,Münster 1997.

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  • sein, auch schon vor dem Hintergrund, dass die Quellen-lage häufig reduziert ist. Zu beklagen sind kriegsbe-dingte Verluste etwa durch Bombenangriffe, und auchbewußte Aktenvernichtungen von Nationalsozialistengegen Kriegsende können nicht ausgeschlossen wer-den.

    Die Notwendigkeit der Bildung einer Ersatzüberlieferungkann ebenfalls gegeben sein. Die gestörte Quellenüber-lieferung aus der Zeit des Nationalsozialismus ist einBeispiel für die notwendige Bildung einer Ersatzüberlie-ferung. Sie muss grundsätzlich in Krisenzeiten erwogenwerden, wenn anzunehmen ist, dass die Überlieferungnicht regelmäßig und vollständig dem Archiv angebotenwird bzw. das Archiv nur Überlieferungsreste in den Ver-waltungen sichern kann. Ersatzüberlieferung kann je-doch genausogut notwendig werden, wenn kein regel-mäßiger Kontakt zwischen der Verwaltung und dem Ar-chiv besteht, und als Folge in der Verwaltung wilde Kas-sationen vorgenommen werden. So ist z.B. denkbar, aufAkten aus dem sonst weitgehend kassablen BereichKassen- und Rechnungswesen einer Dienststelle zu-rückzugreifen, sofern die eigentlichen Sachakten nichtmehr greifbar sind. Ein Beispiel aus dem Landesjugend-amt in Münster: Für die Zeit der 50er und 60er Jahresollte die Fördertätigkeit des Landesjugendamtes in Be-zug auf die politische Bildungsarbeit mit Jugendlichennachgewiesen werden. Die originären Förderakten wa-ren nicht mehr nachweisbar, wohl aber die dazugehöri-gen Rechnungsunterlagen. Da diese Akten im Gegen-satz zu den heutigen noch sehr viel ausführlicher undauch aussagekräftig waren, wurde erwogen, die Rech-nungsunterlagen als Ersatz für die nicht mehr vorhande-nen Förderakten zu archivieren. Es ergab sich damit einannähernd vollständiges Bild der damaligen Fördertätig-keit.

    Bewertungsentscheidungen anhand der vorgestelltenKriterien verlangen grundsätzlich eine Transparenz. Da-her ist stets ein Bewertungs- bzw. Kassationsprotokollzu führen. Das Protokoll nennt im Idealfall die aktenaus-sondernde Stelle, es enthält zeitliche Angaben zum Be-wertungsvorgang, die namentliche Nennung des Archi-vars/der Archivarin, den Umfang der zu bewertendenAktenmenge und eine begründete Bewertungsentschei-dung. Zu kassierende Akten können, sofern möglich,summarisch nach Aktenplanposition aufgeführt werden.Die Dienststelle sollte dazu angehalten werden, die ar-chivwürdig befundenen Akten in einer Aussonderungsli-ste zusammenzustellen, die bis zu einer ausführlichenVerzeichnung als vorläufiges Findmittel dient. Mit zuneh-mender Rationalisierung in den Verwaltungen wird es je-doch für die Archive immer schwieriger, diese Forderungdurchzusetzen. Dies gilt auch für solche Archive, diediese Verpflichtung der Dienststellen in ihrer Satzungfestgeschrieben haben.

    6. Archivische Kernthesen zur Bewertung

    Die vorangegangenen Ausführungen verdeutlichen,dass Bewertung ein Vorgang ist, dessen Komplexitäteine stetige, konzentrierte Reflexion bei jeder Aussonde-rung erfordert. Im Gesamtprozess einer Aussonderung,die sich in einzelne Bearbeitungsstufen gliedert, bei de-nen die intensive, gewissenhafte Bewertungsvorberei-tung als Grundlagenarbeit zu einer gründlich abgewoge-nen Bewertungsentscheidung führt, die dann in das dar-auf resultierende Bewertungsergebnis mündet (vgl. Ab-

    bildung S. 11), sind vielschichtige Gesichtspunkte zu be-achten. Diese lassen sich insbesondere im Bereich derBewertungskriterien nicht einheitlich festsetzen.

    Die damit zu konstatierende Variationsbreite, die jedemBewertungsvorgang innewohnt, sollte allerdings nichtdarüber hinwegtäuschen, dass es freilich allgemeingül-tige und prägnante Kernthesen zur archivischen Bewer-tung gibt, die die Grundlage jeder Bewertungsentschei-dung bilden. Sämtlich vorbeschriebenen Bearbeitungs-stationen subsumieren sich unter diesen im Grunderecht überschaubaren Maximen, die Fixpunkte bei je-der Beschäftigung mit Bewertungsfragen sein sollten:(vgl. Tabelle auf Seite 10)

    7. Schlussbemerkungen

    Sicherlich ist die Entscheidung im Aktenkeller nicht sel-ten eine sehr einsame, wie Gerd Steinwascher die Aus-sonderungssituation sehr treffend schildert, 28 und ge-rade in kleineren Archiven fehlen bislang vielfach nochArbeitsinstrumentarien, um sich sowohl auf kurzem We-ge mit anderen Kollegen und Kolleginnen auszutau-schen, als auch Erfahrungen ausgiebiger zu diskutieren.Aber durch die bewusste Anwendung eines Kriterienka-taloges sollte zumindest erreicht werden können, dasssich die in vielen Fällen schwierige Bewertungsentschei-dung nicht noch mit einem schlechten Gewissen wegendes oftmals als unzureichend empfundenen Bewer-tungsverfahrens nach dem Prinzip des Fingerspitzenge-fühls vermengt.

    28 Gerd Steinwascher, „Archivische Bewertung in der Ausbildung“, hierS. 101, in: Bilanz und Perspektiven archivischer Bewertung (vgl.Anm. 8).

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  • Die formalisierten Bewertungskriterien, die vom altge-dienten Provenienzprinzip über Schellenberg und demFederführungsmodell des Bundesarchivs bis hin zumProjekt der vertikalen und horizontalen Bewertung in Ba-den-Württemberg reichen, sind zwar in der Praxis alsBewertungshilfsmittel von überaus hoher Bedeutungund liefern ihren Beitrag dazu, dass objektivierbare Maß-stäbe Einfluss auf die Bewertungsentscheidung nehmen- gleichwohl dürfen aber auch sie nicht darüber hinweg-täuschen, dass es normierte Bewertungsmaßstäbe, dieauch dem inhaltlichen Wert des VerwaltungsschriftgutesRechnung tragen, nicht gibt.29

    Allerdings ist immer ganz bewusst zu berücksichtigen,dass sehr wohl vor der inhaltlichen Bewertung vonSchriftgut etliche objektivierbare Arbeitsschritte erfolgenmüssen, die die Voraussetzung für die Wertung des In-formationsgehalts der Akten bilden und die es ermögli-chen, den beachtlichen Ermessensspielraum für die Ar-chivare und Archivarinnen soweit einzugrenzen, dasseine auch für Außenstehende nachvollziehbare Bewer-tungsentscheidung getroffen werden kann.

    Wobei nochmals zu betonen ist, dass es hundertprozen-tig objektivierbare Bewertungsentscheidungen geradebei Sachakten in aller Regel nicht geben wird. Letztend-lich ist die Feststellung, ob die Unterlagen bedeutendeInformationen für die Forschung beinhalten, auch immergeprägt von zeitgenössischen Wertvorstellungen, die

    den kulturellen, sozialen und nicht zuletzt politischen Zeit-geist widerspiegeln.30 Dass dieser auch das Denken undHandeln der bewertenden Personen, ob nun bewusst oderunbewusst, maßgeblich beeinflusst, dürfte außer Fragestehen. Dessen ungeachtet muss die Bewertung jedochuneingeschränkt dazu dienen, der Ermittlung und Darstel-lung der gesellschaftlichen Wirklichkeit31 gerecht zu wer-den und geht demzufolge mit diesem hohen Anspruchüber den freien Gestaltungswillen und das schon so häu-fig strapazierte Fingerspitzengefühl weit hinaus.

    29 Entsprechend hoch ist auch der jeweilige Arbeitsaufwand bei der Be-wertung von Sachbearbeiterregistraturen. Zumal in einer Vielzahl die-ser Registraturen die Ausarbeitung von Bewertungsmodellen nichtsachgemäß ist, da u.a. im Gegensatz zur staatlichen Verwaltung aufkommunaler Ebene keine horizontale Dekonzentration auftritt unddemzufolge ein Modell nicht auf eine Vielzahl von Behörden mit iden-tischen Aufgabenkreis umgesetzt werden kann.Eine andere Situation liegt bei gleichförmigen Massenakten vor. Hierist die Nichtanwendung von Bewertungsmodellen arbeitsökonomischkaum zu vertreten.

    30 Vgl. Josef Henke, „Quellenschicksale und Bewertungsfragen“, in:Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 41. Jahrgang, München 1993,hier insbesondere S. 76 f. Henke führt u.a. aus, dass sich Bewer-tungsentscheidungen „niemals in einem völlig gesellschaftsfreienRaum vollziehen können“ und ggf. auch politisch bedingt sein kön-nen.

    31 Ein engagierter Beitrag zur umfassenden Verantwortung der Archivehinsichtlich dieses Zieles, das u.a. Sensibilität für die gesamtgesell-schaftliche Entwicklung voraussetzt, stammt von Herbert Obenaus,Archivische Überlieferung und gesellschaftliche Wirklichkeit, in: DerArchivar, Beiband 1, Siegburg 1996.

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    Archivpflege in Westfalen und Lippe 52, 2000

    Hans-Jürgen Höötmann / Katharina Tiemann: Archivische Bewertung – Versuch eines praktischen Leitfadens

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    Hans-Jürgen Höötmann / Katharina Tiemann: Archivische Bewertung – Versuch eines praktischen Leitfadens

  • Praktische Hinweise zur Erstellung einer Stadtgeschichte

    von Wolfgang Bockhorst

    Konzeption

    Im Folgenden sollen einige eher praktisch ausgerich-tete Hinweise für die Erstellung einer Stadt- und Orts-geschichte erfolgen, wobei besonderes Augenmerk aufdie Rolle und Tätigkeit des Kommunalarchivs bei derErarbeitung einer Stadtgeschichte gerichtet wird. DerBeitrag basiert hauptsächlich auf eigenen Erfahrungenund ist in ähnlicher Form auf einem Seminar des West-fälischen Archivamtes zum Thema „Methoden und Pro-bleme der Ortsgeschichtsschreibung“, das am 7. und8. Dezember 1999 in Münster stattfand, vorgetragenworden.

    Anlass für die Erstellung einer Stadtgeschichte ist meistein Jubiläum, das sich aus der ersten urkundlichen Er-wähnung oder einem anderen für die Geschichte desOrtes wichtigen Datum ergibt. Die Feier eines Jubiläumszu einem bestimmten Termin impliziert, dass ein Fertig-stellungsdatum festgelegt ist, das nach Möglichkeit er-reicht werden muss. Das Buch zur Stadtgeschichte istvom jeweiligen Auftraggeber, meist der Stadt oder einemörtlichen Geschichtsverein, fest in die Feierlichkeiten fürdas Jubiläum eingeplant. Zudem sind die Absatzchan-cen für ein solches Werk zweifellos dann am besten,wenn die Stadt und ihr Jubiläum immer wieder auf derTagesordnung stehen.

    Der zeitliche Rahmen für die Erstellung einer Stadtge-schichte richtet sich zuerst nach Form und Umfang. EineOrtsgeschichte, die von einem einzigen Autor verfasstwird, wird naturgemäß mehr Zeit in Anspruch nehmenund hinsichtlich der Fertigstellung zeitlich auch wenigergenau einzuschätzen sein als eine von einem Autoren-kollektiv geschriebene Stadtgeschichte. Für eine termin-gerecht zu einem Jubiläum zu erstellende Stadtge-schichte eignen sich am ehesten 1. die kleine Stadtge-schichte, die einen Überblick zur Stadtgeschichte gebensoll, 2. die Stadtgeschichte, die von einem Autorenkol-lektiv verfasst wird, 3. die Stadtgeschichte im Bild, 4. derStadtführer, 5. die Stadtchronik. Von diesen fünf Artenbenötigt die von einem Autorenkollektiv geschriebeneStadtgeschichte je nach Umfang zwischen 4 und 6 Jah-ren, während die übrigen Arten in kürzerer Zeit und weit-gehend allein vom Stadtarchiv produziert werden kön-nen.

    Hinsichtlich ihres Anspruchs ist die von mehreren Bear-beitern verfasste Stadtgeschichte gewiss am höchsteneinzuschätzen, denn sie will nicht nur den bisherigenWissensstand zusammenfassen und den bisher erreich-ten Erkenntnisstand dokumentieren, sondern verlangtauch von den gewonnenen Autoren eigene weiterführen-de Forschungen. Auch dieser Anspruch ist bei der zeit-lichen Planung zu berücksichtigen.

    In der gegenwärtigen Stadtgeschichtsschreibung wirddie Erstellung einer Ortsgeschichte durch ein Autoren-kollektiv aus mehreren Gründen bevorzugt, denn gleich-zeitig können zu bestimmten Themen oder Epochenausgewiesene Experten eine Stadtgeschichte erstellen,die zum Zeitpunkt ihres Erscheinens in allen Teilen aktu-

    ell und auf dem neuesten Stand ist. Gerade für eine sol-che Stadtgeschichte sind aber genaue Planungen hin-sichtlich ihres Aufbaues und Inhaltes sowie ständigeKontakte mit den Autoren notwendig, damit es nicht zuÜberschneidungen und Widersprüchen kommt. Zu be-achten ist auch die durch die Auftraggeber immer wiedererhobene Forderung, eine einwandfreie wissenschaftli-che Darstellung in einer verständlichen und lesbarenForm zu erstellen.

    Die Aufgaben des Stadtarchivs bei der Erstellung einerStadtgeschichte durch mehrere Mitarbeiter können viel-fältig sein:

    1. Erstellen von Bibliographie, Quellenverzeichnis oderChronik für die Mitarbeiter,

    2. Betreuung der Mitarbeiter,3. redaktionelle Bearbeitung der einzelnen Beiträge,4. Herstellung des Registers,5. Überwachung des Drucks.

    Liegt auch die Herausgeberschaft beim Stadtarchiv, sohat dieses auch

    7. die Mitarbeiter zu gewinnen und8. mit diesen Aufbau und inhaltliche Konzeption der

    Stadtgeschichte abzustimmen.

    Jede Stadtgeschichte wird ihr eigenes Aussehen habenmüssen, das sich individuell nach den Ereignissen undEntwicklungen zu richten hat, die die Geschichte einerStadt bestimmt haben, dennoch lassen sich eine Reihevon Themen nennen, die in irgendeiner Weise entwederselbständig behandelt oder innerhalb eines größerenBeitrages angesprochen werden sollten. Themen einerStadtgeschichte können sein:

    LageVor- und Frühgeschichte

    Mittelaltererste Erwähnung (Deutung des Namens)vorstädtische Geschichte (Kirchspiel, Burg)StadterhebungStadtrecht, Verfassung, GerichtTopographieHandwerk, Zünfte, GildenHandelsverbindungen (Hanse)KirchengeschichteSozialstrukturStellung der Stadt im Umland (Fehden)

    NeuzeitReformation (soziale Unruhen)Bildung, Kultur (Schulwesen, Chronistik)Wirtschaft, Handel, GewerbeBevölkerung30jähriger Kriegstädtische VerwaltungStadtbild im 18. Jahrhundert (Reisebeschreibungen)Veränderungen um 1800 (Franzosenzeit, Säkulari-sation)

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    Archivpflege in Westfalen und Lippe 52, 2000

    Wolfgang Bockhorst: Praktische Hinweise zur Erstellung einer Stadtgeschichte

  • 19. und 20. JahrhundertNeuordnung 1815StadtverfassungRevolution 1848räumliche Entwicklung, BevölkerungswachstumVerkehrswesen, EisenbahnIndustriepolitisches Leben, WahlenVereinswesen, KulturMilitärwesen, Garnison1. WeltkriegWeimarer RepublikNationalsozialismus (Schicksal der jüdischen Bevöl-kerung)2. WeltkriegWiederaufbauaktueller Zustand der Stadt

    Hinzukommen Themen, die für eine Stadt charakteri-stisch sind. In Werl, Salzkotten und Westernkotten spiel-te etwa die Gewinnung von Salz eine große Rolle, Telgtewar und ist ein Wallfahrtsort, Rietberg war als Grafenre-sidenz herrschaftlich geprägt, Geseke ist ohne das orts-ansässige Stift nicht zu denken. Jeder Ort hat seine Be-sonderheiten und diese Besonderheiten herauszuarbei-ten und damit das Unverwechselbare zu zeigen, ist eineder grundlegenden Aufgaben einer Stadtgeschichte.

    Organisation

    Für die erfolgreiche Organisation einer Stadtgeschichtesollten eine Reihe von Vorgaben zwischen dem Auftrag-geber einerseits und dem Herausgeber und den Mitar-beitern bzw. Autoren andererseits geklärt sein. Dabei istganz wichtig: soll ein Jubiläum gefeiert werden, so ist zu-nächst genau und möglichst von einer unabhängigenStelle zu prüfen, ob das Jubiläumsdatum überhauptstimmt und es sinnvoll ist, gerade dieses Jubiläum zufeiern.

    Einigkeit muss dann bestehen über die Art der Stadtge-schichte und ihre Gliederung. Grob muss der Umfangdes Werkes bestimmt sein. Kein Autor kann seitengenauauf den Umfang seines Beitrages festgelegt werden,doch sollte ihm hierzu eine ungefähre Angabe gemachtwerden, die aus der Gewichtung des Einzelbeitrags in-nerhalb des Gesamtrahmens abzuleiten ist. Im Rahmeneiner auf etwa 700 Seiten festgelegten Stadtgeschichtekann ein Beitrag zur Geschichte der Post nicht längersein als die Behandlung der Industrialisierung im 19.Jahrhundert. Das Ziel, eine die Geschichte einer Stadtangemessene und abwägende Darstellung herauszu-bringen, hat sich auf Inhalt und Umfang zu erstrecken.Steht der Erscheinungstermin aufgrund eines Jubiläumsvon Anfang an fest, so muss der zeitliche Rahmen sostrukturiert werden, dass nach der Erarbeitung der Bei-träge noch genügend Zeit für die redaktionelle Bearbei-tung und den Druck bleibt. Bei einem knappen Zeitrah-men unter drei Jahren kann der Einsatz von Arbeitsbe-schaffungsmaßnahmen bei der redaktionellen Arbeitsinnvoll sein, um das Stadtarchiv zu entlasten.

    Auch der Kostenrahmen muss geklärt sein. Von ihmhängen Honorare, Reisekosten, Ausstattung, Satz undDruck ab. Informationen über entstehende Kosten sollteman sich bei Städten holen, die schon eine Stadtge-schichte herausgebracht haben. Auch sollte frühzeitigeine unverbindliche Auskunft bei einem Verlag über

    mögliche Kosten für Satz und Druck eingeholt werden.Unter Umständen ergeben sich hieraus Vorgaben tech-nischer Art für die Autoren.

    Vom Auftraggeber muss festgelegt werden, wer wofürzuständig sein soll. Herausgeberschaft und Redaktionkönnen, müssen aber nicht in einer Hand sein. Häufigwird als Herausgeber ganz bewusst jemand von außengenommen, um eine gewisse Objektivität zu erreichenund den Herausgeber aus dem möglichem Gezänk in-nerstädtischer Interessengruppen herauszuhalten.Hauptaufgaben des Herausgebers sind die Erarbeitungeiner Konzeption und die Gewinnung und Pflege der Au-toren. Er hat auch zwischen den Autoren zu vermitteln,wenn es um Abstimmungen inhaltlicher Art geht, und dieäußere Form, insbesondere die Zitierweise, der Beiträgefestzulegen. Die Redaktion kann beim Herausgeberoder beim Stadtarchiv liegen. Sie beinhaltet die Kontrolleder Beiträge auf ihre äußere Form und die Umsetzungaller Beiträge zu einem Buch. Die Redaktion hat für dieErstellung eines Index zu sorgen und mit dem Verlagoder der Druckerei wegen der Ausstattung des Werkes(Einband, Satzspiegel, Layout etc.) zu verhandeln.

    Herausgeber und Redaktion sind für die Kontaktpflegezu den mitarbeitenden Autoren zuständig. Wenigstenseine Zusammenkunft aller Autoren sollte möglichst amAnfang des Projektes stattfinden, um allgemein interes-sierende Fragen abzuklären und die Autoren miteinan-der bekannt zu machen. Im Laufe der Zeit kann es dannsinnvoll sein, die für einen bestimmten Zeitraum oderThemenschwerpunkte zuständigen Autoren zusammen-zuführen, um notwendige Abstimmungen vorzunehmen.Mit der Gewinnung der Autoren müssen deren Rechteund Pflichten abgeklärt sein. Insbesondere ist festzule-gen, wie umfangreich die einzelnen Beiträge sein sollenund in welcher Form sie abzuliefern sind. Einigkeit mussüber das Honorar erzielt sein, für das der Autor seinenBeitrag zur Veröffentlichung abliefert. Die inhaltliche Ver-antwortung für einen Beitrag liegt bei seinem Verfasser,doch muss dem Herausgeber ein gewisses Eingriffs-recht vorbehalten bleiben, wenn es um die Beseitigungvon Widersprüchen zwischen zwei verschiedenen Bei-trägen und um formale Kriterien geht. Ob es sinnvoll ist,zwischen dem Auftraggeber und den Autoren Verträgeüber die Erstellung eines Beitrages zur Stadtgeschichtezu schließen, ist eine offene Frage. Ein Vertrag bedeutetfür die Autoren lediglich einen gewissen moralischenDruck, seinen Beitrag zu dem ihm festgesetzten Terminabzuliefern. Er bindet aber auch den Auftraggeber aneinen Autor und an dessen Produkt.

    Wenn ein Vertrag zwischen Auftraggeber und Autor ge-schlossen wird, sollte dieser aber folgende Punkte re-geln:

    1. Arbeitsthema,2. Umfang,3. Form, in der der Beitrag abzugeben ist (Diskette),4. Abgabetermin,5. Eingriffsrecht des Herausgebers,6. Honorar,7. Ersatz für Kosten, die dem Autoren in Zusammen-

    hang mit der Bearbeitung seines Beitrags entste-hen (Kosten für Kopien und Filme, Reisekosten?)

    8. Übergang der Veröffentlichungs- und Nutzungs-rechte an den Auftraggeber,

    9. Belegexemplare für den Autor.

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    Wolfgang Bockhorst: Praktische Hinweise zur Erstellung einer Stadtgeschichte

  • Ob ein Vertrag geschlossen wird oder nicht, in jedemFall ist den Autoren einzuschärfen, bei ihren Recher-chen auf mögliche Abbildungen für die Stadtgeschichtezu achten und diese dem Herausgeber und/oder der Re-daktion anzugeben.

    Etwa ein Jahr vor dem ins Auge gefassten Erscheinungs-termin, wenn ein Teil der Beiträge schon vorliegt und sichder Umfang ungefähr abschätzen lässt, sollten die Ver-handlungen mit Verlag und Druckerei aufgenommen wer-den. Es sind Angebote einzuholen, in denen für Satz undDruck folgende Punkte berücksichtigt werden müssen:

    1. Art der an die Druckerei gelieferten Vorlage,2. Auflagenhöhe,3. Format,4. Umfang,5. Korrekturvorgänge (bei Abgabe von Disketten

    reicht ggf. ein Korrekturvorgang),6. Papier,7. Einband und Schutzumschlag,8. Bindung,9. Zahl der Schwarz-weiß- und Farbabbildungen.

    Zu klären ist darüber hinaus, ob der Druckerei sämtlicheVorlagen, also alle Beiträge und Abbildungen, gleichzei-tig abzuliefern sind oder ob sich der Druck in Etappenauf einen etwas längeren Zeitraum erstrecken kann.Letzteres bedeutet für die Redaktion, die sonst bei denKorrekturen unter hohem Zeitdruck steht, eine enormeEntlastung. Auskunft muss die Druckerei schließlich dar-über geben, wie hoch sich die Kosten für eventuell not-wendige Nachauflagen belaufen.

    Sofern die Stadt als Auftraggeber über eine eigene Pu-blikationsreihe verfügt, wird sie ihre Stadtgeschichte indieser Reihe erscheinen lassen. Ist dies nicht der Fall,ist zu überlegen, ob die Stadtgeschichte im Selbstverlagherauskommen soll oder in einem Verlag. Beim Erschei-

    nen im Selbstverlag liegen Lagerung und Vertrieb dergesamten Auflage sowie die Werbung bei der Stadt, diedann auch selbst den Preis bestimmt und allein den Er-lös einnimmt. Wegen der Einnahmeseite mag derSelbstverlag für eine Stadt interessant sein, zu beden-ken ist aber, dass die Verbreitung über einen Verlag we-sentlich einfacher und weit gestreuter erfolgen kann. Er-zeugnisse im Selbstverlag zählen zur sogenanntengrauen Literatur, an die Interessenten nur mit großenMühen gelangen. Auch bedeutet für der Vertrieb für dasStadtarchiv oder die städtische Verwaltung eine großeBelastung mit Verpackung, Versand, Rechnungstellungund Zahlungskontrolle.

    Erscheint das Werk in einem Verlag, ist die Bestellungüber den Großhandel und im Buchhandel möglich. Esbedeutet allerdings auch eine Verteuerung des Produk-tes, da der Verlag seine Aufwendungen für die Werbungund Lagerhaltung hereinholen muss und ebenso wie derBuchhandel zusätzlich noch etwas verdienen möchte.Vom Preis für ein Buch, das in einem Verlag erscheintund über den Buchhandel bezogen wird, erhält die Stadtals Auftraggeber und Träger der Herstellungskosten et-wa die Hälfte.

    Auch wenn die Stadtgeschichte in einem Verlag er-scheint, kann sich die Stadt den Vertrieb für eine festge-legte Anzahl von Büchern oder für einen gewissen Zeit-raum in der eigenen Stadt vorbehalten. Dies sindPunkte, die mit dem Verlag auszuhandeln sind, die sichaber auf den von Stadt und Verlag gemeinsam festzu-setzenden Preis niederschlagen dürften.

    Literaturhinweise: W. Ehbrecht, „Thesen zur Stadtge-schichtsschreibung heute“, in: Westf. Forschungen 34(1984), S. 29-48; D. Grothmann, „750 Jahre Stadt Salz-kotten“ - Genese eines Heimatbuches, in: Mitteilungendes Vereins für Geschichte an der Universität-GH Pa-derborn Nr. 11 (1998), Heft 2, S. 105-108.

    Die Tecklenburger und Rhedaer Archivalien im FürstlichenArchiv Solms-Braunfels

    von Horst Conrad

    Dank des freundlichen Entgegenkommens der „Fürst zuSolms-Braunfels’schen Familienstiftung“ wurde es mög-lich, die in Braunfels befindlichen Archivalien der ehemali-gen Grafschaft Tecklenburg und der Herrschaft Rheda zuverfilmen. Es handelt sich um 60 zum Teil recht umfangrei-che und mehrbändige Archivalien, die zum überwiegen-den Teil die Grafschaft Tecklenburg betreffen. Auf dieHerrschaft Rheda haben nur einige wenige Stücke Bezug.Die Filme können im Westfälischen Archivamt benutztwerden. Eine Kopie erhält das Archiv in Braunfels.

    Die Archivalien erwuchsen in Braunfels durch Erbansprü-che, welche das Haus Solms-Braunfels an Tecklenburgund Rheda erhob. Die Ansprüche entstanden durch dasTestament des 1534 verstorbenen Grafen Otto VIII. vonTecklenburg, welches die Vererbung der Grafschaft in dermännlichen Linie vorsah. Die männliche Linie der Grafenvon Tecklenburg erlosch 1589 mit dem Tode des Grafen

    Otto von Tecklenburg, des zweitältesten Sohnes des Gra-fen Otto VIII. Dessen erstgeborener Sohn Conrad (Cordt),der mit Mechtild, einer Tochter des Landgrafen Philipp desGroßmütigen, verheiratet war, hatte nur eine Tochter,Anna, die den Grafen Eberwin zu Bentheim und Steinfurtehelichte. Der älteste Sohn aus dieser Ehe, Arnold, tratdas Tecklenburgische und Rhedasche Erbe an.

    Hiergegen prozessierte der Graf Philipp von Solms, dermit Anna von Tecklenburg, dem fünften Kind des GrafenOtto VIII. von Tecklenburg verheiratet war. Die Klagewurde 1576 vor dem Reichskammergericht in Speyereingereicht. Erst nach 110 Jahren, am 13./23. Dezember1686 erging ein Urteil zugunsten der Kläger, welchesaber durch das Haus Bentheim-Tecklenburg nicht aner-kannt wurde. Nach weiteren zehn Jahren am 30. Okto-ber 1696 und am 17. Juli 1697 ergingen abermals zweiUrteile des seit 1689 in Wetzlar ansässigen Reichskam-

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    Horst Conrad: Die Tecklenburger und Rhedaer Archivalien im Fürstlichen Archiv Solms-Braunfels

  • mergerichtes, welche die Restitution der fraglichen Län-deransprüche an das Haus Solms-Braunfels festlegten.Am 29. Oktober 1697 unterstrich das Reichskammerge-richt die Solmser Ansprüche, in dem es ein „mandatumde exequendo“ an den ausschreibenden Fürsten desNiederrheinisch-Westfälischen Reichskreises erließ. DerReichskreis wurde damit ermächtigt, das Urteil notfallsmit militärischer Gewalt durchsetzen zu können. Das Di-rektorium des Reichskreises, zu welchem u. a. auch derMarkgraf Friedrich III. von Brandenburg gehörte, setztezunächst jedoch Subdelegierte ein, die schlichten soll-ten. Als die Verhandlungen fehlschlugen, immittierte dasDirektorium des Reichskreises den Grafen Wilhelm Mo-ritz von Solms-Braunfels in jeweils 3/8 Anteile der Graf-schaft Tecklenburg und der Herrschaft Rheda. BeideProzessparteien mußten sich schließlich auch über dieentgangenen Einkünfte (fructus percepti) einigen. Diesgeschah 1699 in Lengerich. Da Graf Johann Adolph vonBentheim-Tecklenburg die seit 1576 aufgelaufenen Ab-sprüche nicht begleichen konnte, musste er in Lengerichseinem Widerpart, dem Grafen Wilhelm Moritz vonSolms-Braunfels nunmehr gänzlich das Schloss Teck-lenburg überlassen mit 3/4 der Einkünfte aus der Graf-schaft Tecklenburg sowie 1/4 der Einkünfte aus der Herr-schaft Rheda. Graf Wilhelm Moritz verpflichtete sich da-gegen, sich an der Tilgung der Tecklenburger Landes-schulden zu beteiligen und die noch unverheiratetenTöchter des Grafen Johann Adolph von Bentheim-Teck-lenburg zu alimentieren. In einem weiteren Nebenrezesswurde die Verheiratung eines Sohnes des Grafen JohannAdolph, Johann August, mit der Tochter des Grafen Wil-helm Moritz, Sophie, vereinbart. Die Regierung sollte un-geteilt durch beide Häuser erfolgen. Das Reichskammer-gericht bestätigte den Vergleich am 4. Dezember 1699.

    Der sich über 120 Jahre hinziehende Streit - der sichnoch dadurch verworren hatte, indem der Landgraf Carlvon Hessen-Kassel aufgrund einer alten Erbvereinigungzwischen Hessen und Tecklenburg Ansprüche angemel-det hatte, die aber 1696 durch das Reichskammergerichtabgewiesen worden waren, schien dadurch zum Ab-schluss gekommen zu ein. Graf Wilhelm Moritz ließ sichals neuer Mitlandesherr ein neues Wappen „Solms-Tecklenburg“ entwerfen, welches im Schildhaupt nun-mehr auch die Tecklenburger Seerosen, den LingenerAnker und den Rhedischen Löwen aufnahmen. In Teck-lenburg selbst konstituierte sich eine Solmser Landesre-gierung. Der Solmser Rat Moritz Meyer fertigte in die-sem Zusammenhang für seinen Dienstherren die be-kannte historisch-geographische Beschreibung der Graf-schaft Tecklenburg und der Herrschaft Rheda an. Dochder Streit entflammte erneut, als der jüngere Bruder desGrafen Johann Adolph von Bentheim-Tecklenburg,Friedrich Moritz, den Fall vor das Gericht des Reichshof-rates in Wien brachte und damit mehrere Mandate desReichskammergerichts, welche die Hinzuziehung einesweiteren Gerichtes untersagt hatten, missachtete. DasReichskammergericht erließ daher am 23. August 1700ein Auxiliarmandat, welches dem Grafen Wilhelm-Moritzzu Solms-Tecklenburg militärischen Beistand zusicherte.Mit der praktischen Durchführung wurde der Branden-burgischen Markgraf Friedrich III. beauftragt. Dieser ließdaraufhin 200 Soldaten unter Major Schwerheim vonBielefeld nach Tecklenburg verlegen. Das Marschzielwurde zunächst geheim gehalten. Als das Kontingentdurch das Fürstbistum Osnabrück marschieren musste,wurde den dortigen Behörden beschieden, man ziehelediglich in ein Manöver. Am 8. September 1700 trafen

    die Soldaten in Tecklenburg ein. Der Streit drohte da-durch zu eskalieren. In Tecklenburg kam es fast zu einerInsurektion, da die Tecklenburger Bürger sich anschick-ten, das Schloss mit Waffengewalt verteidigen zu wollen.Am 12. September 1700 berichtete Moritz Meyer ausTecklenburg nach Braunfels, den Solmser Beamten inTecklenburg werde ihre Ermordung angedroht. Am glei-chen Tag schrieb sein Kollege, der Solmser Rat Roh-meyser (auch Rohmeuser genannt), nach Braunfels, dieBewohner Tecklenburgs hätten in ihre „desperatation“ denbrandenburgischen Abgesandten Hymmen „nicht alleingantz bas undt verächtlich tractiret, sondern auch vonden eingerückten Brandenburgischen trouppen, ohn-erachtet aller gethaner newerlicher remonstrationen zunehmen, sich sogar geweigert, daß sie viele burger ausden statt hinauf gezogen, sich zu gewehr gestelet undtdem herrn geheimbden rath deutlich zu verstehen gege-ben, daß sie den Eingang deren Brandenburgischen mitpulwer undt bley verwehren würden. Der junge graff [d. i.Johann August 1680-1701] lasset sich gegen jedermannvernehmen, daß er das schloß eher nicht quittiren wür-de, man trage ihn dann todt hinaus und die comtesseEleonora soll sich heraus gelassen haben, daß wenn dieSolmischen durch hülff der Brandenburger obtiniren undtdas schloß emportiren sollten, sie aus dem fenster hin-aus springen wolte etc. Ewer Hochwohlgeborenen Gna-den berichtete ich dieses zu dem ende unterthenigst, da-mit dieselbe ersehen mögen, wie die desperation beydiesen verbitterten leuthen überhandt genommen“ (Ar-chiv Solms-Braunfels, A 48, 2 p. 35-38).