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Literaturberichte Rezensionen Die Inschriften des Bundeslandes Kärnten. Teil 2: Die Inschriften des Politischen Bezirks St. Veit an der Glan, gesammelt und bearbeitet von Friedrich Wilhelm LEITNER. (Die Deutschen Inschriften 65 = Wiener Reihe 2. Band, Teil 2.) ÖAW, Wien 2008. CXVIII, 611 S„ 263 Abb. 1982 hat Friedrich W. Leitner den ersten Kärntner Inschriftenband publiziert. Darin sind die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Inschriften der zwei Politischen Bezirke Spittal an der Drau und Hermagor bis zum Jahr 1650 transkribiert und kommentiert zu finden (Die Deutschen Inschriften 21, Wiener Reihe 2/1). Nun, 26 Jahre später, konnte Leitner endlich einen zweiten Band folgen lassen, und zwar einen, der mindestens doppelt so umfangreich wie sein Vorgänger ist, obwohl darin die Inschriften nur eines einzigen Politischen Bezirks enthal- ten sind; doch im Falle des Bezirkes St. Veit an der Glan handelt es sich, geschichtlich gesehen, um die Kärntner Zentralregion, deren Inschriftendichte außerordentlich genannt werden muss: Der Katalogteil (S. 3—476), wiederum bis zum Jahr 1650 reichend, umfasst 766 Nummern, von denen nicht weniger als 630 (82,2 %) im Original erhalten sind. Leitner, als langjähriger Direktor des Landesmuseums Kärnten in Klagenfun „einer der besten Kenner der Kärntner Landesgeschichte und besonders mit Fragen der Genealogie und Heraldik vertraut" (S. VII), breitet erwartungsgemäß schon in der ausfuhrlichen Einleitung (S. XI-CXVIII) eine kaum zu überblickende Fülle an durchwegs fundierter Information vor dem Leser aus. Auf „Historische Grundlagen zum Bezirk St. Veit an der Glan" folgen verknappte ge- schichtliche Monographien der Städte Friesach, St. Veit, Straßburg, des Marktes Gurk und der Burg Hochosterwitz, also derjenigen Plätze, die zugleich die ergiebigsten Inschriftenstandorte sind und als solche anschließend auch vorgestellt werden; erst dann werden mit Blick auf die Inschriften deren „Personenkreis und seine soziale Gliederung" sowie zuletzt als einschlägiger Schwerpunkt „Die Schriftformen" und „Die Inschriftenträger" behandelt. Bei der Besprechung eines Bandes mit solcher Materialfiille ist man als Rezensent überfor- dert, es sei denn, man wählt nur Weniges - epigraphisch allerdings nicht Unwesentliches - aus, was im Folgenden versucht wird. Die mittelalterliche Inschriftengeschichte des bearbeiteten Bezirkes beginnt im 12. Jahr- hundert, aus dem immerhin sechs Zeugnisse einer Romanischen Majuskelschrift erhalten sind, darunter das Südportal-Tympanon des Gurker Domes (Kat.-Nr. 1, Abb. 1) und die älteste beschriftete Glasscheibe Österreichs aus der Weitensfelder Filialkirche, darstellend Maria Mag- dalena mit Namen im Halbkreis um den Nimbus (Kat.-Nr. 3, Abb. 2). Aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts kommen weitere fünf Belege dazu. M1ÖG 117(2009) Brought to you by | University of Kentucky Libraries Authenticated Download Date | 10/1/14 2:54 AM

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Literaturberichte

Rezensionen

Die Inschriften des Bundeslandes Kärnten. Teil 2: Die Inschriften des Politischen Bezirks St. Veit an der Glan, gesammelt und bearbeitet von Friedrich Wilhelm LEITNER. (Die Deutschen Inschriften 65 = Wiener Reihe 2. Band, Teil 2.) ÖAW, Wien 2008 . CXVII I , 611 S „ 263 Abb.

1982 hat Friedrich W. Leitner den ersten Kärntner Inschriftenband publiziert. Darin sind die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Inschriften der zwei Politischen Bezirke Spittal an der Drau und Hermagor bis zum Jahr 1650 transkribiert und kommentiert zu finden (Die Deutschen Inschriften 21, Wiener Reihe 2/1). Nun, 26 Jahre später, konnte Leitner endlich einen zweiten Band folgen lassen, und zwar einen, der mindestens doppelt so umfangreich wie sein Vorgänger ist, obwohl darin die Inschriften nur eines einzigen Politischen Bezirks enthal-ten sind; doch im Falle des Bezirkes St. Veit an der Glan handelt es sich, geschichtlich gesehen, um die Kärntner Zentralregion, deren Inschriftendichte außerordentlich genannt werden muss: Der Katalogteil (S. 3—476), wiederum bis zum Jahr 1650 reichend, umfasst 766 Nummern, von denen nicht weniger als 630 (82,2 %) im Original erhalten sind.

Leitner, als langjähriger Direktor des Landesmuseums Kärnten in Klagenfun „einer der besten Kenner der Kärntner Landesgeschichte und besonders mit Fragen der Genealogie und Heraldik vertraut" (S. VII), breitet erwartungsgemäß schon in der ausfuhrlichen Einleitung (S. XI-CXVIII) eine kaum zu überblickende Fülle an durchwegs fundierter Information vor dem Leser aus. Auf „Historische Grundlagen zum Bezirk St. Veit an der Glan" folgen verknappte ge-schichtliche Monographien der Städte Friesach, St. Veit, Straßburg, des Marktes Gurk und der Burg Hochosterwitz, also derjenigen Plätze, die zugleich die ergiebigsten Inschriftenstandorte sind und als solche anschließend auch vorgestellt werden; erst dann werden mit Blick auf die Inschriften deren „Personenkreis und seine soziale Gliederung" sowie zuletzt als einschlägiger Schwerpunkt „Die Schriftformen" und „Die Inschriftenträger" behandelt.

Bei der Besprechung eines Bandes mit solcher Materialfiille ist man als Rezensent überfor-dert, es sei denn, man wählt nur Weniges - epigraphisch allerdings nicht Unwesentliches - aus, was im Folgenden versucht wird.

Die mittelalterliche Inschriftengeschichte des bearbeiteten Bezirkes beginnt im 12. Jahr-hundert, aus dem immerhin sechs Zeugnisse einer Romanischen Majuskelschrift erhalten sind, darunter das Südportal-Tympanon des Gurker Domes (Kat.-Nr. 1, Abb. 1) und die älteste beschriftete Glasscheibe Österreichs aus der Weitensfelder Filialkirche, darstellend Maria Mag-dalena mit Namen im Halbkreis um den Nimbus (Kat.-Nr. 3, Abb. 2). Aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts kommen weitere fünf Belege dazu.

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430 Literaturberichte

Die Übergangszeit zur Gotischen Majuskel ist um die Mitte des 13. Jahrhunderts anzuset-zen, doch weist auch ζ. B. eine Grabplatte von 1278, nämlich die älteste eines Gurker Bischofs, epigraphisch durchaus noch spätromanische Züge auf (Kat.-Nr. 16, Abb. 17). Schöne gotische Majuskelbuchstaben dagegen bietet eine 1971 freigelegte Wandmalerei aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in der Straßburger Filialkirche Hl. Geist (Kat.-Nr. 49, Abb. 51).

Um die Wende zum 15. Jahrhundert setzt sich dann die Gotische Minuskel durch und ver-drängt endgültig die Majuskel , auch wenn dieser weiterhin die Versalien entnommen werden. „Die Minuskelschrift verlangt vom Steinmetzen durch die zahlreichen Schaftbrechungen ein besonderes Formgefühl und künstlerische Fertigkeit" (S. L1X). Belege für diese Schriftform gibt es zur Genüge, stehen doch insgesamt 185 original erhaltene Inschriften in Gotischer Minuskel zur Wahl . Herausgegriffen seien lediglich vier Beispiele. Um 1430/1440 werden die in der St. Veiter Stadtpfarrkirche 1986 -1988 freigelegten Wandmalereien (Kat.-Nr. 100, Abb. 80) da-tiert, „die neben der guten Erhaltung auch wegen der zahlreichen Spruchbänder und Beschrif-tungen beeindrucken" (S. CHI); beispielsweise ist auch das lange lateinische Tedeum Wort für Wort zu lesen (nur die Schlussverse fehlen). Ins Jahr 1470 gehört dann eine „schöne erhabene Schrift mit einer ausgewogenen Raumeintei lung" (S. LXXIII) auf dem höchst kunstvollen figu-ralen Grabdenkmal zweier Gurker Bischöfe, die darauf lebensgroß einträchtig nebeneinander stehen (Kat.-Nr. 156); die ganzseitige Abb. dieses Grabmals, das sich in der Straßburger Stadt-pfarrkirche befindet, hat im Inschriftenband einen Ehrenplatz gleich nach dem Titelblatt. Aus demselben Jahr 1470 stammt eine ebenfalls künstlerisch hochwertige Wappengrabplatte in der Friesacher Stadtpfarrkirche (Kat.-Nr. 157, Abb. 97); es ist die erste solche Platte, die eine hori-zontale Gliederung der Inschrift aufweist. Sie „gehört zu den besten Beispielen dieser Art von Grabdenkmälern in Kärnten und ist der Salzburger Kunstepoche der Grabmalplastik um die Mitte des 15. Jahrhunderts zuzurechnen" (S. 116). Einen Höhepunkt der Grabmalkunst stellt dann zweifellos das figurale Grabdenkmal des 1516 verstorbenen Salzburger Vizedoms Baltha-sar I. von Thannhausen in der Friesacher Dominikanerkirche dar (Kat.-Nr. 257, ganzseitige Abb. 137); das von der Inschrift umrahmte Bildfeld zeigt beeindruckend die überlebensgroße Figur eines Ritters. Dies ist übrigens das erste solcherart gestaltete Grabmal eines Adeligen.

Im 16. Jahrhundert kann, zumindest bis zu dessen Mitte, die Gotische Minuskel ihre dominierende Stellung in etwa noch behaupten, doch schon um 1530 wird die Kapitalis (auch Renaissance-Kapital is genannt) häufiger und gewinnt um 1550 schließlich die Oberhand. Aus viel früheren Jahren freilich gibt es bereits Beispiele fur die Frühhumanistische Kapitalis; das älteste ist eine Gedenk- bzw. Stifterinschrift außen an der Südwand der Straßburger Stadt-pfarrkirche aus dem Jahr 1454 (Kat.-Nr. 131, Abb. 79) , während sonst im Kärntner Raum die Frühhumanistische Kapitalis erst ab 1515/1520 vorkommt.

Die Renaissance-Kapitalis ist nun jene Schriftform, welcher - neben der ab 1550 eben-falls auftretenden Fraktur (vgl. z. B. Kat.-Nr. 451 , Abb. 186) - „das absolute Ubergewicht im Schriftgebrauch" (S. LXII) zukommt, und zwar nicht nur während der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, sondern auch darüber hinaus bis zum Ende des Bearbeitungszeitraumes. Es gilt jedoch zu beachten, „dass sich diese Schriftform dann im Laufe des 16. Jahrhunderts immer weiter von den klassischen Proportionen entfernt und immer mehr als eigenständige und regi-onal unterschiedliche Schrift entwickelt hat" (S. LXII). Wiederum kann nur auf ganz wenige der vielen Kapitalis-Beispiele hingewiesen werden. Ein Epitaph „vor 1549" im Gurker Dom (Kat.-Nr. 381, Abb. 167) zeigt bereits eine „für den Bearbeitungsraum typische Kapitalis, mit fast .klassischen' Buchstabenformen, mit Abbreviaturen, Ligaturen, eingestellten Buchstaben und entsprechenden Kürzungszeichen" (S. LXIV). Eine ähnliche Vielfalt an Buchstabenkom-binationen und Kürzungen weist die um ein Vierteljahrhundert jüngere 27-zeilige Inschrift auf, welche die Grabplatte von Bischof Sagstetter in der Straßburger Stadtpfarrkirche wie eine durchgängige Musterung von oben bis unten ausfüllt (Kat.-Nr. 476 „vor 1573", Abb. 191); und doch ist das Schriftbild insgesamt ein auffallend anderes als dasjenige auf dem Epitaph.

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Rezensionen 431

Aus dem Inschriftenreichtum, den die Burg Hochosterwitz birgt, sei zumindest das „stei-nerne Testament" des Bauherrn Georg II. Khevenhüller von 1576 erwähnt. Die weißmarmor-ne Tafel mit der vielzelligen Kapitalis-Inschrift ist im westseitigen Arkadengang des Burghofs angebracht. Darauf ist unter anderem auch die Verfugung des Bauherrn zu lesen, „dass diese Burg niemals von seinem Namen und seiner Familie abkommen soll" (S. 311) ; noch heute befindet sich Hochosterwitz tatsächlich im Besitz der Familie Khevenhüller.

Mit zwei Kapitalis-Inschriften auf Grabmälern aus dem letzten Jahrzehnt des 16. Jahr-hunderts soll die Aufzählung ausgewählter Beispiele ihren Abschluss finden. In der Friesacher Stadtpfarrkirche ragt seit der Wiederentdeckung und Neuaufstellung 2004/05 das schmale fi-gurale Grabdenkmal des 1594 im Alter von 32 Jahren verstorbenen Propstes Johann Jakob von Basseyo ca. 4 m hoch empor (Kat.-Nr. 574, Abb. 221, 221a) ; auf den zwei Schrifttafeln begegnet uns eine Kapitalis, die durch die Klarheit ihrer Ausführung besticht. Etwa zeitgleich wurde für die 1596 verstorbene Veronika Zingl, Schwester zweier Fürstbischöfe, eine Wappen-grabplatte geschaffen, die nun im Lapidarium des Schlosses Straßburg aufbewahrt wird. Auch im Falle dieser Platte kann man von zwei Schrifttafeln sprechen; die obere bietet ein sieben-zeiliges, der Lutherbibel entnommenes Schriftzitat in einer stark vergrößerten, feierlich anmu-tenden Kapitalis, während auf der unteren mit gleichem Umfang die elfzeilige Grabinschrift Platz finden muss, was nur mit einer dementsprechend kleinformatigen, gedrängt wirkenden Kapitalis erreicht wird.

Bei der Vielzahl der Inschriften in Kapitalis - mit 246 im Original erhaltenen Belegen ganz eindeutig die dominierende Schriftform im Bezirk St. Veit - würde man erwarten, dass auch die Werkstättenforschung fundig geworden ist. Es lässt sich jedoch „als einzige gesicher-te Werkstatt" (S. LXIV) nur die des Bildhauers Martin Pacobello in KJagenfurt nachweisen. Ihr werden das dreieinhalb Meter hohe figurale Grabdenkmal des 1611 verstorbenen Gurker Weihbischofs Karl von Grimming im Gurker Dom (Kat.-Nr. 634 , Abb. 234f.) sowie drei fi-gurale Kindergrabplatten zugeschrieben (Kat.-Nr. 637, 661 u. 663 , Abb. 236f.) ; die darauf zu findende Schriftform ist ausschließlich die Kapitalis.

Unter den Inschriftenträgern sind die Grabmäler mit etwa 170 Belegen (rund 23 %) wie üblich am häufigsten vertreten. An zweiter Stelle rangieren dann schon die - freilich mehr-heitlich nur kopial überlieferten - Glocken mit etwa 100 Belegen (13 %) ; in keinem anderen Bundesland haben nämlich so viele alte Glocken „überlebt" wie in Kärnten. Das epigraphische Interesse hält sich bei Glockeninschriften allerdings in Grenzen, hinken sie doch in der Schrift-entwicklung fast durchwegs zeitlich nach.

Auf den Katalogteil, dessen Kommentare bisweilen zu regelrechten Abhandlungen gedie-hen sind (z. B. Kat.-Nr. 10), folgen die Register. Von ihnen seien einige erwähnt, die erkennen lassen, dass die Ergebnisse der Inschriftenarbeit auch fur andere Fachbereiche gewinnbringend verwertet werden können; solche Register sind die der Wappen, der Stände und Berufe, der Künstler, Gelehrten und Handwerker, der Bibel- und Schriftstellerzitate oder auch das deut-sche Glossar. W o überall im Bezirk St. Veit und darüber hinaus die Inschriften des Katalogteils sich befinden (bzw. im Falle kopialer Überlieferung sich befunden haben), darüber gibt die „Tabellarische Übersicht der Inschriftenstandorte" Auskunft, ergänzt durch eine Karte der-selben (Tafel CHI). In einem Anhang 1 sind nicht nur Glockengießerzeichen, sondern auch Hausmarken und Hauszeichen sowie Meisterzeichen abgebildet. Anhang 2 schließlich widmet sich jüdischen Grabsteinen.

Die Tafeln I bis CIII bilden den besonders wertvollen Schlussteil des Bandes. Die auf eine präzise Wiedergabe der Inschriften bedachten, ausnahmslos hochwertigen 263 Abbildungen sind auch stilvoll arrangiert. Ihnen verdankt man gerade in epigraphischer Hinsicht die not-wendige Veranschaulichung des „bloß" verbalisierten Wissens.

Resümierend wird man Walter Koch zustimmen können, wenn er meint, beim vorliegen-den Band handle es sich um ein „Kompendium zur Kärntner Geschichte und Sozialstruktur

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4 3 2 Literaturberichte

von der M i t t e des 12. Jahrhunderts bis in die frühere Neuzei t " ; zugleich biete der B a n d „wert-volles Vergleichsmaterial fur eine komparativische Auswertung innerhalb des ganzen deutschen Sprachraumes" (S. V I I ) .

Wi lher ing Rainer Schraml

L u d w i g S terners H a n d s c h r i f t der B u r g u n d e r k r i e g s c h r o n i k des Peter v o n M o l s h e i m

u n d d e r S c h w a b e n k r i e g s c h r o n i k des J o h a n n L e n z m i t d e n v o n S t e r n e r b e i g e f u g t e n A n -

h ä n g e n . B e s c h r e i b u n g der H a n d s c h r i f t u n d E d i t i o n d e r S c h w a b e n k r i e g s c h r o n i k , hg .

von Fr ieder SCHANZE. ( I l l u m i n a t i o n e n . S t u d i e n u n d M o n o g r a p h i e n 7 . ) A n t i q u a r i a t B i -

b e r m ü h l e u n d H e r i b e r t T e n s c h e r t , R a m s e n / S c h w e i z - R o t t h a l m ü n s t e r 2 0 0 6 . 3 5 3 S . , 7

A b b . , 1 6 Farb ta fe ln .

D i e im Besitz des herausgebenden Antiquariats bef indliche Sammelhandschr i f t mit his-toriographischen Werken zu den eidgenössischen Burgunderkriegen und dem „Schwaben-krieg" - oder, je nach Standpunkt : Schweizerkrieg - von 1 4 9 9 wurde 2 0 0 1 faksimiliert und erhält nun einen Begleitband mit K o m m e n t a r und Edi t ion . Ludwig Sterner, der a m Krieg von 1 4 9 9 te i lnahm, dann einige Jahre als Notar im schweizerischen Freiburg lebte und ab 1 5 1 0 Stadtschreiber in Biel war, kopierte 1 5 0 0 / 1 5 0 1 die beiden genannten C h r o n i k e n und fugte Abschriften einiger politischer Dichtungen an. Schl ießl ich ist eine Kopie des Freiburger „Vennerbriefs", der Stadtordung von 1 4 0 4 , be igebunden. Il lustrationen waren vorgesehen, sind aber nicht ausgeführt worden. D e r Herausgeber gibt e inen knappen Abriss der zeitweise turbulenten Biographie des Notars, beschreibt sechs identifizier- bzw. erschließbare B ü c h e r seiner wohl umfangreichen Bibl iothek und weist die Sterner zugeschriebene Autorschaft einer Freiburger Kriegschronik zurück, bevor er sich der detaillierten Beschreibung der S a m m e l -handschrift zuwendet. Schanze erachtet ihre Niederschrift durch Sterner selbst aufgrund gesi-chert eigenhändiger Eintragungen desselben in anderen Handschr i f ten als erwiesen, wobei er das a u f anderem Schriftniveau erstellte Notariatsregister aus d e m Vergleich a u s n i m m t . Weiters rekonstruiert er, soweit möglich, die Entstehungs- u n d Besitzergeschichte und stellt die beiden ursprünglich selbständige Bucheinhei ten bi ldenden Hauptte i le vor. Er ordnet die Abschrift von Peters von Molshe im Freiburger C h r o n i k der Burgunderkriege, einer Bearbe i tung der Berner C h r o n i k Diebold Schillings, in die sonstige Uberl ieferung ein und stellt auch fur zwei in die C h r o n i k integrierte und andere von Sterner angefugte Historienl ieder - darunter das so genannte „Lied vom Ursprung der Eidgenossenschaft" , das aber ebenso wie die anderen enthaltenen Lieder vorwiegend die Zeit der Burgunderkriege behandelt - kurze Inhaltsanga-ben und weitere Handschrif ten und D r u c k e zusammen. E in offenbar zeitloses Lied über die „Macht des Pfennigs" trug Sterner als Interpretationsgrundlage der zuvor geschilderten Kriege ein.

Für die Reimchronik des Schulmeisters und späteren Stadtschreibers J o h a n n Lenz ist Ster-ners Handschrift die einzige Überlieferung. D e m g e m ä ß werden Autor und Werk , letzteres in inhaltlichen Paraphrasen fiiir jeden Abschnitt , hier eingehender vorgestellt, ebenso die darin enthaltenen und die von Sterner beigegebenen Ereignislieder. C h r o n i k und Lieder dieses zwei-ten Teils werden ediert. D e r D r u c k eines auch abgebildeten Briefs von Lenz an seine früheren Arbeitgeber in Freiburg über eine Pfarrerwahl (S. 7 4 , Tafel 15) zeigt, in welche Schwierigkeiten man sich bringt, wenn man einen Naturabdruck der editorischen Wiedergabe vorzieht und die Groß- und Kleinschreibung der Handschrift übernehmen möchte . In der Edit ion der C h r o n i k Lenz', die den Hauptteil des Bandes e inn immt , wird mi t entschuldigendem Verweis a u f das Faksimile dankenswerterweise darauf verzichtet und eine leichte Normalis ierung samt das Ver-ständnis stützender Interpunktion eingeführt, o h n e sich allerdings v o m langen -s- zu trennen. Erläuterungen zur Lautung der Vokale und zur sich nicht unmitte lbar erschließenden Metr ik

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Rezensionen 433

sollen die Lektüre erleichtern. Eine Unterscheidung zwischen dem paläographischen Apparat und den recht eingehenden und meist hilfreichen Sachanmerkungen, die auch Parallelüberlie-ferungen und Irrtümer ausweisen, unterbleibt. Ein Namenregister erschließt den Editionsteil. Die nützliche Karte des Kriegsschauplatzes am Innendeckel benennt den zum Einbruch der Bündner in den Vinschgau fuhrenden Sieg, wie auch sonst gebräuchlich, nach Calven, wäh-rend im Text und im Register von der „Schlacht bei Glums" die Rede ist; der von Josef Ried-mann - unter Schweizer Beteiligung! - 2001 herausgegebene Tagungsband zum Ereignis und seiner literarischen und historiographischen Verarbeitung bleibt unberücksichtigt.

Die gereimte Chronik selbst beginnt mit der Wanderung des Autors in einen paradiesi-schen (S. 146 Z. 39) Wald - die ihn als interessierten Birdwatcher erweisen würde, wären die ein Konzert gebenden Vogelarten tatsächlich alle im Wald anzutreffen - und zu einem Einsied-ler, der dann als fragender Dialogpartner die Stichworte für die Erzählung der Ereignisse gibt und sie kommentiert. Sonst ist die Rolle der diese beklagenden (S. 174 Z. 45) Natur weniger freundlich: Erdbeben, Überflutungen, Himmelserscheinungen und Missgeburten prognosti-zieren Krieg und Unheil. Zum Meteoriten, der den Tod Friedrichs III. ankündigte, wäre außer auf Sebastian Brant etwa auch auf Grünpecks Historia Friderici et Maximiliani zu verweisen. Der Erzähler erläutert die politischen Konstellationen im späten 15. Jahrhunden und kommt rasch zur Gründung des Schwäbischen Bundes, des künftigen Gegners der Eidgenossen, der sich eigentlich gegen die türkischen Feinde der cristen nation hätte wenden sollen. Nach den franzosischen Kriegen in Italien, an denen Schweizer Söldner teilnahmen, wendet er sich dem Krieg von 1499 zu. Die Sicht der detailreichen Erzählung ist ganz und gar eidgenössisch. Die Schurkenrolle wird „dem Adel", der die Schlacht von Sempach noch nicht verwunden hat (S. 175 Z. 21; s. auch die Adelsschelte S. 268), und noch mehr den lantzknecht zugewiesen, de-ren Untaten und Hochmut - unterstrichen durch Beschimpfungen, Schmählieder und -bilder gegen die Schweizer - ihnen trotz ihrer Uberzahl Niederlage um Niederlage gegen die gottes-furchtigen, fried- und freiheitsliebenden Eidgenossen bescheren, worauf Lenz den Einsiedler sicherheitshalber wiederholt hinweisen lässt. Auch das Schänden einer Kirche „wie die Türken" rächt sich, nicht zuletzt aufgrund der Klage des heiligen Albinus, dessen Bild dabei beschossen wurde, vor Gott (S. 221 f.). Demgemäß sind die durch Schweizer angerichteten Gemetzel und Verwüstungen nur gerechte Vergeltung, was erst recht für die grausame Tötung eines Juden gilt, der während der Belagerung seiner Stadt den Freiburger Büchsenmeister erschossen hatte (S. 259f.). Im Sinn eidgenössischer Einheitsstiftung wird immer wieder die Zusammensetzung der Schweizer Heere genannt und in altrömischer Tradition der heilsame Tod fürs Vaterland beschworen (S. 291). Fahnen und Wappen, auch die Wappentiere als Repräsentanten der Ge-meinden, spielen eine große Rolle in diesem patriotischen Kompendium, das mit seinen mit allgemeinen Erläuterungen, stereotypen Kampfberichten, eingestreuten Anekdoten und direk-ten Reden, moralisierenden Betrachtungen und evozierten Bildern ein reiches Untersuchungs-feld über Erzählstrategien bietet, ohne dass man seinen chronikalischen Charakter mit einem „Zug zur Literarisierung" (S. 84) kontrastieren müsste.

Wien Herwig Weigl

Regesten des Herzogtums Steiermark, bearb. von Annelies REDIK unter Mitar-beit von Roland ScHÄFFER-Max ZECHNER, Registerband unter Mitarbeit von Ileane SCHWARZKOGLER, Bd. 1: 1 3 0 8 - 1 3 1 9 . (Quellen zur geschichtlichen Landeskunde der Steiermark 6 und 7.) Historische Landeskommission fiir Steiermark, Graz 1 9 7 6 und 1 9 8 5 . 3 0 7 und 172 S.

Regesten des Herzogtums Steiermark, bearb. von Annelies REDIK, Namenregister von DERS.-Manuela PEZZETTO, Bd. 2: 1 3 2 0 - 1 3 3 0 . (Quellen zur geschichtlichen Landeskun-de der Steiermark 8.) Historische Landeskommission für Steiermark, Graz 2008. 404 S.

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434 Literaturberichte

1965 beschloss die Historische Landeskommission fur Steiermark die Publikation eines an das Urkundenbuch zeidich anschließenden Regestenwerks zur Geschichte des Herzogtums von 1308 bis 1400. Die Bearbeitung wurde Annelies Redik anvertraut, die 1976 den bis 1319 reichenden ersten Band und 1985 das dazugehörige Register vorlegen konnte. Da dieser Band damals in den MIÖG nicht besprochen wurde, sei die Gelegenheit des Erscheinens des zweiten genützt, um dies nachzuholen.

Der territoriale Rahmen des Unternehmens ist nicht auf das heutige Bundesland Steier-mark beschränkt, sondern orientiert sich an der nach Süden hin ungleich größeren Ausdeh-nung des Herzogtums vor 1918. Im ersten Band wurden darüber hinaus das Pittener Gebier betreffende Texte aufgenommen, worauf im zweiten verzichtet wird, da in der Frage der spät-mittelalterlichen Zugehörigkeit dieser Region zu Steiermark oder Osterreich inzwischen neue Erkenntnisse erzielt werden konnten. Berücksichtigt wurden aber jene das Pittener Gebiet tan-gierenden Urkunden, die eine Gewährleistungsformel nach dem steirischen und österreichi-schen Landrecht aufweisen. Eine Änderung ergab sich auch bei der Literatur, von der im Ap-parat nun nur noch weiterfuhrende (vor allem steirische) angeführt wird. Sinnvoll ist, dass bei Existenz des Originals im neuen Band im Wesentlichen alleine die mittelalterliche kopiale Überlieferung bis 1500 verzeichnet wird. Zuweilen finden sich in einem Kommentar Erläute-rungen zum Inhalt der jeweiligen Regesten.

Zur Regestentechnik sei angemerkt, dass häufiger genannte und bekannte Personen- und Ortsnamen, sofern sie in Protokoll und Kontext von Urkunden vorkommen, in der Regel in moderner Entsprechung wiedergegeben werden, die in der Quelle bezeugten Formen werden im Register abgedruckt. Weniger geläufige Namen und alle Zeugen werden im Regest konsequent in der Originalschreibweise belassen, in diesen Fällen finden sich die heutigen Schreibweisen erst im Register. Erfreulich ist, dass sämtliche Sicherungsklauseln berücksichtigt werden. Die in der Kopfzeile aufgelösten Datumsangaben werden am Schluss jedes Regests etwas verkürzt in der Form der Vorlage angefugt. Die Formulierungen der Regesten sind durchwegs gelungen und treffen den Kern. Zu überlegen wäre vielleicht, ob bei der einen oder anderen wörtlichen Übernahme von Textstellen nicht doch die Hinzufi igung einer modernen Entsprechung mög-lich und sinnvoll gewesen wäre (etwa Nr. 1634: iudicium terre = [unteres] Landgericht, civitas cum iudicio domorum = Stadt mit Stadtgericht).

Auch in der Steiermark kam es zu Beginn des 14. Jahrhunderts zu einem markanten An-stieg der Schriftlichkeit. Dass mit den insgesamt 2164 Regesten (in den beiden Bänden) den-noch augenscheinlich ein sehr hoher Grad an Vollständigkeit erzielt werden konnte, ist deshalb eine umso bewundernswertere Leistung (bei den Urkunden bildete die Sammlung Friedrich Hausmanns den Grundstock). Die stark ansteigende Anzahl an Urkunden hat zur Folge, dass viele bislang nicht schriftlich dokumentierte Lebensbereiche und Bevölkerungsschichten erfasst werden und sich inhaltlich eine große Bandbreite ergibt. Sehr häufig finden sich aber weiterhin Liegenschaftsgeschäfte, die nun auch unter weniger bedeutenden Laien mittels Urkunde fixiert werden, Gerichtsurteile oder Vergleiche, Verbrüderungen oder Ablässe (bemerkenswert ist der einem Ablass beigefugte Brief eines Laien in Nr. 1202). Vermehrt gibt es nun umfassende adelige Teilungsverträge, die mitunter interessante Einblicke etwa in das Aussehen von Burgen vermitteln, oder Testamente, den steirischen Klerus betreffende Einträge in den päpstlichen Re-gistern oder in Notariatsbüchern norditalienischer Städte (vor allem Udine). Zu immer wich-tigeren Quellen werden weiters Rechnungsbücher oder Formularsammlungen, daneben finden sich nun Listen mit den Teilnehmern von Kriegszügen, Weistumstexte, Quittungen oder Auf-tragsbestätigungen (zum Beispiel Nr. 1392 über die Anfertigung der Fenster in der Schlafstube der Seckauer Chorherren). In beiden Bänden werden auch historiographische Texte berück-sichtigt, wobei die meisten Nachrichten von Johann von Viktring und vom Anonymus Leo-biensis stammen. Erstaunlich viel Material ergab sich aus der Durchsicht spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Urkundeninventare. In den letzten Jahren vor 1330 machen die Einträge

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Rezensionen 435

im Rechnungsbuch Ottos III. von Liechtenstein über dessen Tätigkeit als Vormund der min-derjährigen Stubenberger einen hohen Anteil der Regesten aus, wobei Redik den bisher ange-nommenen Beginn der Buchführung mit 1327 auf 1328 berichtigen kann. Zur Schriftlichkeit ist eine Nachricht über heute verlorene urbarielle Aufzeichnungen der Stubenberger aus dem Jahr 1329 erwähnenswert (Reg. Nr. 2005), zumal es sich dabei um die ältesten nachweisbaren Güterverzeichnisse einer nichtfürstlichen steirischen Adelsfamilie handelt.

Die mit viel Umsicht und Kompetenz verfassten Regesten machen die beiden Bände zu einer zuverlässigen Grundlage, umfassende Register gewähren eine bequeme Benützung. Klei-nere Versehen betreffen vor allem niederösterreichische Belange (etwa Nr. 1320: gemeint ist Hermann von Kronberg und nicht von Kranichberg. Die Zeugen sind die Herren von Wöl-kersdorf aus dem Weinviertel). Das Regestenwerk ist insgesamt zweifellos als große Leistung anzusehen und wird nicht nur der steirischen und slowenischen Geschichtsforschung noch in ferner Zukunft wichtige Dienste erweisen.

St. Pölten Roman Zehetmayer

Zurückbleiben. Der vernachlässigte Teil der Migrationsgeschichte, hg. von Andreas GESTRJCH-Marita K r a u s s . (Stuttgarter Beiträge zur historischen Migrationsforschung 6.) Steiner, Stuttgart 2006 . 219 S.

Der Band geht auf zwei Workshops des Stuttgarter Arbeitskreises fur historische Migra-tionsforschung in den Jahren 1999 und 2001 zurück. Er ist dem Abschied Nehmen und der Perspektive auf jene, die zurückbleiben, gewidmet. Der zeitliche Bogen der acht Beiträge reicht denkbar weit: vom dritten vorchristlichen Jahrhundert bis in die 1960er Jahre.

Nach der „Kehrseite der römischen Expansionspolitik" fragt Elisabeth Otto-Hermann mit Blick auf die Situation des italischen kleinbäuerlichen Landbesitzes. Aufgrund des römischen Rekrutierungsmodells und infolge der sukzessiven Ausdehnung des römischen Reichs mussten die Landwirtschaften immer öfter und länger ohne deren Besitzer auskommen. Als Verwalter und Arbeitskräfte eingesetzte Sklaven und Tagelöhner boten auf Dauer keinen ausreichenden Ersatz. Obwohl es sich dabei um ein Massenphänomen handelte, das soziale Umstrukturie-rungen und rechtliche Veränderungen zugunsten der Frauen nach sich zog, gibt es nur wenige Zeugnisse über dieses Problemfeld.

Zwei Beiträge setzen sich mit Reaktionen auf die Aufforderung, an einem Kreuzzug teil-zunehmen, auseinander. Sabine Geldsetzer wertet englische Quellen zum dritten Kreuzzug (1189-1192) aus, vornehmlich die Berichte des Gerald von Wales über die Anwerbetour des Kreuzzugspredigers Balduin von Canterbury. Die Haltung der Ehefrauen und Mütter von An-geworbenen reichten von einer positiven Einstellung bis zur völligen Abwehr. Die Autorin dis-kutiert in diesem Zusammenhang die These von Jonathan Riley-Smith, der die Unterstützung, vor allem finanzieller Natur, von Seiten der Frauen betont. Allerdings - so die Kritik - habe er vornehmlich über Eliten gearbeitet. Dem gegenüber verweist Geldsetzer auf die Existenzbedro-hung ärmerer Bevölkerungsteile durch die Unkosten und die Unwägbarkeiten eines solchen Unterfangens. Brigitte Kasten sucht nach Motiven, warum sich die Bevölkerung nur mühsam zur Teilnahme am fünften Kreuzzug, zu dem Papst Innozenz III. im Jahr 1213 aufgerufen hatte, mobilisieren ließ. Und so mancher, der das entsprechende Gelübde abgelegt hatte, zog dann doch nicht mit. Familiäre, politische und/oder ökonomische Erwägungen dürften bei der zögerlichen Zumeldung bzw. einem Rückzieher mitgespielt haben, aber auch die ungewisse Dauer, die Angst vor der Überfahrt oder vor den Kampfhandlungen selbst. Den Dokumenten zufolge, stellten vor allem Vermögens- und erbrechdiche Belange ein Problem dar. Daran än-derte zunächst auch das deutliche Ausweiten des Kreuzfahrerschutzes nichts. Erst ein Wunder leitete die Wende ein. Dass auch Friedrich II. nach seinem politischen Sieg „das Kreuz nahm", tat das seine dazu.

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436 Literaturberichte

Ins 19. Jahrhundert fuhren die Beiträge von Ortwin Pele und Claus Rech. Pele analysiert Abschiedsszenen auf Bildmaterial und fragt nach den dargestellten Personen, den Gesten und den Orten des Abschieds. Als erste große Migrat ion, zu der es umfangreiches Bildmaterial gibt, nennt der Autor die Venreibung der Salzburger Protestanten von 1731/32. Den zweiten Schwerpunkt bilden die Auswanderungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: von der Familie, die das Dorf verlässt, bis zum Einschiffen der nach Amerika Auswandernden im Hamburger Hafen. So klar wie auf den zuletzt genannten Abbildungen ist das Ziel der Wan-dernden sonst meist nicht zu identifizieren. Zu fragen wäre auch nach möglichen ideologischen Färbungen, etwa wenn triste Abschiedsbilder in einer Zeitschrift wie der „Gartenlaube" abge-druckt wurden. Rech nimmt den von Clara Viebig im Jahr 1900 erschienenen Roman „Das Weiberdorf ' zum Ausgangspunkt, um die Lebensverhältnisse der Frauen in Eisenschmitt an der Eifel zu recherchieren. Anders als der seinerzeit umstrittene Roman suggeriert, waren es ver-gleichsweise wenige Frauen, die aufgrund der fast ganzjährigen Arbeitsmigration der Männer dem Haushalt alleine vorstanden. Diese Frauen vertraten ihre Männer auch in kommunalen Agenden. Der Ort war nicht so desolat, wie literarisch dargestellt, auch wenn sich ein sozialer Abstieg bemerkbar machte. Die Arbeit in der Landwirtschaft, die den Frauen überlassen blieb, war mühsam. Doch galt dieser Sektor als Rückversicherung, falls die Männer in der Industrie arbeitslos werden sollten. Nur wenige Frauen sind dokumentiert , die später ihren Männern nachzogen.

Die Beiträge von Marita Krauss und Annette Puckhaber thematisieren Abschied im Kon-text nationalsozialistischer Vernichtungspolitik. Krauss arbeitet auf der Grundlage von au-tobiografischen Berichten über Erfahrungen der Abreise ins Exil, wobei oft nur ein Teil der Familienmitglieder eine Ausreisegenehmigung hatte. Paare, Elternteile und Kinder wurden auseinandergerissen. Manchmal war es die Köchin, der Taxifahrer oder der Gepäcksträger, die mit ihrer angebotenen Unterstützung oder ihrem Bedauern ein letztes positives Moment vor dem Verlassen des Landes schufen. Schuldgefühle nicht direkt Betroffener, etwa wenn Bekann-te deponiert wurden, gingen bald in einen „alltäglichen Egoismus" über. Und nicht zuletzt ha-ben Unzählige vom Verschwinden jüdischer Familien, Frauen und Männer materiell profitiert. Im Beitrag von Puckhaber stehen die Kindertransporte nach Großbritannien zwischen 1938 und 1940 im Mittelpunkt: die Umstände, die zur Entscheidung geführt haben, die eigenen Kinder auf diese Weise in Sicherheit zu bringen, wie mit dieser Entscheidung in den Familien umgegangen wurde, wie sich die extrem belastenden Abschiede gestalteten, wie der Kontakt aufrecht erhalten wurde und wie schwierig fiir die wenigen den Holocaust überlebenden Eltern das Wiedersehen war - geprägt vor allem von Entfremdungsgefïihlen auf Seiten der Kinder.

Reinhard Buthmann schließlich greift die Situation der DDR-Wissenschaftler auf, vor al-lem jener, die im Bereich der Physik gearbeitet haben. Auf Grundlage der Akten des Staatssi-cherheitsdienstes zeigt der Autor, wie sehr einerseits aus der Sowjetunion oder aus westeuropä-ischen Ländern in die DDR remigrierte Wissenschaftler der Beargwöhnung ausgesetzt waren. Andererseits macht er deutlich, wie Wissenschaftler, die nicht flüchteten - wie zahlreiche ihrer Kollegen - , die über Kontakte in den Westen verfugten, diese weiterhin pflegten und zu inter-nationalen Tagungen eingeladen wurden, immer schärfer überwacht, drangsaliert und systema-tisch in die Isolation oder aus der Wissenschaft hinaus gedrängt wurden.

Eine Reihe der in dem Band angesprochenen Themen sind vielleicht weniger ein genui-nes Aufgabengebiet der historischen Migrationsforschung, als allgemeiner der Sozial-, Kultur-oder Wirtschaftsgeschichte. Die Kontexte des Weggehens stellen in der Mehrzahl der Beiträge Extremsituationen dar: Krieg, Kreuzzüge, Vertreibung, Flucht, die NS-Zeit oder das DDR-Regime. So stellt sich die Frage, inwieweit sich die Implikationen des Abschieds und des Zu-rückbleibens unter solchen Vorzeichen und in Konstellationen, in denen ein Wiedersehen um so mehr beschworen wurde, je aussichtsloser es de facto war, von .normalen' Migrationen in Zusammenhang mit Arbeit, Ausbildung etc. unterschieden haben, von Migrationen, die auf

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Rezensionen 437

eigener Entscheidung beruhten, die zeitlich begrenzt oder ein ständiges Hin und Her waren, bis hin zu transatlantischer Saisonarbeit, und von Migrationen, bei denen sich das definitive Wegbleiben oft erst im Laufe von Wanderetappen entschied. Weggehen konnte unter weniger dramatischen Rahmenbedingungen als im Band dargestellt nicht nur als Verlust, sondern auch als Befreiung von dörflichen Zwängen oder beengten Verhältnissen und fehlenden Perspek-tiven erlebt werden - und nicht nur von jungen abenteuerlustigen Männern. Insofern und auch angesichts der hohen Rückwanderungsraten ist es schwierig, Abschied in Migrationszu-sammenhängen metaphorisch mit Tod in Verbindung zu bringen, wie dies im Band mehrfach anklingt. Die Kommunikation und der Kontakt brachen durch die räumliche Distanz nicht ab, wie die zahlreich überlieferten Briefe - selbst von Kreuzzügen - dokumentieren. Quellen-mäßig schwierig zu fassen ist vor allem das Moment des Abschied Nehmens. Der Band gibt Aufschluss über verschiedene Formen und Rituale. Bezüglich emotionaler Äußerungen haben wir, wenn überhaupt, jedoch immer nur auf je spezifische Repräsentationen Zugriff, was eine methodische Herausforderung darstellt.

Wien Margareth Lanzinger

H o f und Macht . Dresdener Gespräche II zur Theorie des Hofes, hg. von Reinhardt BuTz- Jan HIRSCHBIEGEL. (Vita curialis. Form und Wandel höfischer Herrschaft 1.) Lit-Verlag, Berlin 2 0 0 7 . X I I I , 2 5 3 S. , 16 S /W-Abb.

Mit dem vorliegenden, von Reinhardt B u a und Jan Hirschbiegel herausgegebenen Sam-melband wird eine neue Reihe namens „Vita curialis. Form und Wandel höfischer Herrschaft" begründet. Die Reihenherausgeber (Reinhardt Butz, Jan Hirschbiegel, Gert Melville, Werner Paravicini) heben dezidien die Verwandtschaft zu der bereits etablierten Reihe „Vita regularis - Ordnungen und Deutungen religiösen Lebens im Mittelalter" hervor. (S. VII). „Gegenstand der Reihe sind Überlegungen zu theoretischen Konzepten und deren Anwendung am Beispiel von Form und Wandel höfischer Herrschaft, [...]" (S. VII). Ziel ist es, „Macht und Herrschaft in Mittelalter und Früher Neuzeit auf der Grundlage jeweils konkreter theoretischer Überle-gungen" klarer fassen und begreifen zu können. Die Reihe „Vita curialis" soll dabei thematisch die Reihen „Norm und Struktur" und „Residenzenforschung" durch ihre Konzentration auf „interdisziplinäre und interkulturelle Zusammenarbeit" ergänzen und jedenfalls „Forum einer theoriegeleiteten Geschichtswissenschaft" sein (S. VIII).

Der Band „Hof und Macht" der neuen Reihe ist das Ergebnis der zweiten Dresdener Ge-spräche zur Theorie des Hofes, bei denen man sich begrifflich mit Macht und deren Formen und Aspekten als einer „zentralen Funktion des Hofes" auseinandersetzte (S. 241). Auch wenn man sich definitorisch auf vielerlei Art dem „Hof ' nähern könne, so spielt „Macht", also die Frage nach dem Hof als Macht- und Herrschaftszentrum immer eine Rolle, so dass diese Über-legung gleichzeitig Ausgangspunkt der angesprochenen Konferenz war (S. XII).

Der Sammelband gliedert sich in drei Teile und versammelt insgesamt neun Beiträge. Im ersten Teil, „Hof und Macht - Fragen und Thesen", stehen theoretische Überlegungen im Vordergrund. Jan Hirschbiegel beleuchtet „Hof und Macht als geschichtswissenschaftliches Problem" (S. 5 - 1 3 ) , geht dabei auf verschiedene Definitionsmöglichkeiten von „Hof" und „Macht" ein und reflektiert verschiedene theoretische Annäherungen an das Problem: „Macht" als „Herrschaft", Machtentstehung und Legitimation von Macht, Dokumentation und Reprä-sentation von Macht, Machterhalt und -verlust sowie die Personengebundenheit von Macht. Karl-Siegbart Rehberg steuert den zweiten Beitrag bei. Er präsentiert Thesen zum Thema „Macht als soziologisches Problem" (S. 14 -25) und präsentiert, nachdem er den Hof als Ort der Machtverdichtung identifiziert und dem MachtbegrifF als Grundbegriff der Soziologie und der Gesellschaftstheorie nachspürt, eine „Typologische Begriflfsunterscheidung" (S. 19-20) . Dabei unterscheidet er nach der Einteilung in „Machtgrundlagen", „Machtprozesse", „Macht-

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438 Literaturberichte

modalitäten", „Machttransfer und -resultate" und „Machtkritik" verschiedene Machtformen und -dimensionen und macht damit auf die Vielschichtigkeit des Begriffs aufmerksam.

Im zweiten Teil des Sammelbandes, „Aspekte höfischer Macht im alten Europa", werden vier Beiträge versammelt, die an konkreten Beispielen einzelne Aspekte der Frage nach der Macht aufgreifen. Birgit Studt zeigt in ihrem Beitrag („Formen der Dokumentation und Re-präsentation von Macht", S. 29-54) , auf welche Art und Weise die Historiographie in den Dienst der Dokumentation und Repräsentation und damit auch Legitimation von Macht ge-stellt wurde. Mit einem ähnlichen Thema beschäftigt sich auch Scott Waugh in seinem Beitrag „Ideology and Power in the Twelfth-Century Historians o f the English Court" (S. 141-160) . Er zeigt, dass die Autoren der im Umkreis des englischen Königshofes des 12. Jahrhunderts entstandenen höfischen Literatur genaue Vorstellungen darüber hatten, wie höfische Lebens-führung auszusehen hatte: indem sie den Wechsel vom ungehaltenen und grausamen zum überlegt handelnden, höfischen König propagierten und damit die Machtverteilung am Hof ideologisierten. Lars-Arne Dannenberg beleuchtet in einer Fallstudie („Macht und Ohnmacht des Bischofs oder: Auf der Suche nach der Norm" , S. 55-86) , die sich mit dem bischöflich-meißnischen Hof in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, genauer mit der Amtszeit Bischof Bruno II. (1208/09-1228) auseinandersetzt, den Prozess des Aushandelns der Macht zwischen Bischof und Domkapitel, wobei er vor allem auf die Rolle des entstehenden Hofes, der adeligen Lehensleute, der Ministerialen, also der bischöflichen „familia" beziehungsweise den Machtin-strumenten des Bischofs (Kolonisation, Gründung eines Kollegiatstiftes etc.) eingeht. Bischof Bruno wurde zuletzt mit Hilfe des Papstes zur Resignation gedrängt. Seine Nachfolger im Bischofsamt konnten sich nicht mehr gegenüber dem Domkapitel durchsetzten, mussten nach ihrer Wahl immer detaillierter werdende Wahlkapitulationen unterzeichnen, die ihre Macht einschränkten. Insgesamt ist die präsentierte Fallstudie ein Zeugnis fur die Verrechtlichung von Macht im Hochmittelalter. Mark Hengerer spürt in seinem Beitrag „Wer regiert im Finanz-staat?" (S. 86-140) der Entstehung landesfurstlicher Entscheidungen innerhalb der habsburgi-schen Finanzverwaltung nach. Als Beispiel dient ihm die Niederösterreichische Kammer und deren Nachfolgeinstitutionen und deren Zusammenspiel mit der Hofkammer vom 16. bis ins 18. Jahrhundert. Ihm geht es dabei um die Frage, in wie weit an sich formalisierte Verfahren durch den Einfluss von außen gestört werden können und wie der Landesfurst als endgültiger Entscheidungsträger mit den Vorschlägen seiner Behörden verfahrt.

Im dritten Teil, „Hof und Macht in außereuropäischer Perspektive", löst man das Ver-sprechen der interkulturellen Ausrichtung der neuen Reihe ein. Den Anfang macht Ute Fritz-Müller mit einem Beitrag über den Hof von Tenkodogo vor allem im 20. Jahrhundert, einem kleinen Königshof in Burkina Faso. Sie zeigt, mit welchen Mitteln der König seine Herrschaft in einem „Reich" legitimiert, fiiir das für die Zeit vor 1896, als französische Truppen in die Re-gion einmarschierten, beinahe keine schriftlichen Quellen existieren. Der Königshof rekurriert auf Traditionen, „die bedarfsgerecht abgewandelt und variiert wurden, bis auch lokale Beson-derheiten weitgehend mit dem allgemein und landesweit akzeptierten Mythos in Einklang standen" (S. 168). Beachtlich sind die Anachronismen, die im Zuge dieser fur die Zwecke der Legitimation betriebenen Mythenbildung entstehen. Über „Macht und Ritual im Hinduis-mus" (S. 197-208) schreibt Axel Michaels. Der Autor beschäftigt sich mit dem nepalesischen Königshof vor allem im 19. Jahrhundert. Das politische System Nepals sah eine Aufteilung der Macht zwischen der Institution des Premierministers und des Königs vor. Deswegen steht die Frage im Raum, welche Institution letztendlich im Besitz der Macht war, wobei „eine Redu-zierung von Macht auf Herrschaft" unangemessen wäre, „um der Komplexität der nepalischen Verhältnisse in der Mitte des 19. Jahrhunderts gerecht zu werden" (S. 199).

Der Beitrag „Herrscherwechsel als höfische Machtprobe" (S. 2 0 9 - 2 4 0 ) von Stephan Co-nermann und Ulrich Haarmann beschäftigt sich schließlich noch mit den Mamluken-Herr-schern in Ägypten und Syrien (1250-1517) . Die Beiträger gehen auf die Phase des Herrscher-

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Rezensionen 439

wechseis ein, der aufgrund der Nachfolgeregelung, die eine dynastische Thronfolge prinzipiell ausschloss, hinsichtlich Machtverlust und Machterwerb besonders interessant erscheint. Der Hofstaat spielte bei der neuerlichen Konsolidierung der Machtverhältnisse eine wichtige Rolle. Trotz der Instabilität, die durch dieses oligarchische Thronfolgeprinzip vorprogrammiert war, bildete sich innerhalb der Mamluken ein informeller Modus der Nachfolge aus, der verhin-derte, dass sie ihre Macht verloren. Den Abschluss bildet eine Zusammenfassung von Werner Paravicini („Macht bei Hofe, Macht über den Hof, Macht durch den Hof ' , S. 241-248).

Der vorliegende Sammelband und die mit ihm begründete neue Reihe „Vita curialis" stel-len einen Beitrag zur notwendigen theoretischen Fundierung der Hofforschung dar. Insgesamt fehlt mitunter der rote Faden, der die viele Regionen umspannenden Beiträge miteinander verbunden hätte. Dieser Umstand ist aber nicht zuletzt der noch fehlenden begrifflichen Kon-sistenz im Bereich der Hofforschung geschuldet (vgl. S. 241). Der Band „Hof und Macht" leistet in dieser Richtung selbst einen nützlichen Beitrag.

Wien Jakob Wührer

Bistümer und Bistumsgrenzen vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart, hg. von Edeltraud KLUETING-Harm Ki.UETING-Hans-Joachim SCHMIDT. (Römische Quarta l-schrift fur christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte, Supplementband 58.) Herder, Rom-Fre iburg-Wien 2006 . 271 S.

„Staatliche Normierung und kirchliche Strukturierung: Bistümer und Bistumsgrenzen von der Spätantike bis zur Gegenwart" war der Titel einer Tagung im September 2004, die in Ger-leve, einer Benediktinerabtei im Münsterland, abgehalten wurde.

Die Mittelalter-Historikerin Edeltraud Klueting, treibende Kraft in Konzeption und Realisierung dieser Veranstaltung, hat in den beiden Mitherausgebern des Berichtsbandes dieser Tagung, dem in Köln wirkenden Frühneuzeit- und Kirchenhistoriker Harm Klueting und dem in Fribourg tätigen Mediävisten Hans-Joachim Schmidt, kongeniale Partner gefun-den. Nach Schmidt ging „es um die Erfassung eines Konzeptes, das die verfaßte Amtskirche durchzusetzen versuchte, um Seelsorge, Kontrolle und Administration durchzusetzen, ohne Lücken der Wirksamkeit hinzunehmen und ohne Konflikte mit benachbarten Amtsinhabern heraufzubeschwören" (S. 12). Zehn Beiträge berichten von der räumlichen Organisation der katholischen Kirche in Mittelalter und Neuzeit, der Artikel von Erwin Gatz, Rom, handelt vom Projekt eines neuen Atlas zur Kirchengeschichte (S. 13-19).

Gatz bringt nach einem kurzen Überblick über die Geschichte der Historischen Karto-graphie im kirchlichen Bereich einen Projekt-Bericht zu dem von ihm vorbereiteten Atlas-Werk. Dieser Atlas beschränkt sich auf den in den von Gatz 2003 und 2005 herausgegebenen Bistumslexika erfassten territorialen Bereich und soll die darin erörterten Bistümer darstellen. Neben Übersichtskarten wird es fur alle Bistümer (60 zum Jahr 1500) Karten zu den Jahren 1500, 1800 und 2000 geben. In erster Linie will dieser Atlas die territoriale Gliederung der Ortskirchen darstellen; er wird aber auch Übersichtskarten über die evangelischen Landeskir-chen und einzelne Kathedralstädte enthalten.

„Von Metropoliten und Suffraganen. Zur Diözesanentwicklung im Alpen-Adria-Raum im Hochmittelalter" schreibt Günther Bernhard (S. 20-31 ). Der an der Universität Graz wirkende Mediävist befasst sich dabei mit dem Plan des Patriarchen Berthold von Aquileja (1218-1251), in Gornji Grad/Oberburg unweit von Celje/Cilli im Jahre 1237 ein Bistum zu errichten, und mit den Gründungen der Salzburger Suffraganbistümer Gurk unter Erzbischof Gebhard sowie Chiemsee, Seckau und Lavant zu St. Andrä im Lavanttal unter Erzbischof Eberhard II.

Gegenstand der Untersuchung von Mariella Demichele Dziubak, Kirchenhistorikerin in Bonn, „Die Diözesen in Süditalien zur Zeit der normannischen Eroberung. Kontinuität und Erneuerung" (S. 32-63) ist die seit Anfang des 11. Jahrhunderts von den Normannen ge-

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440 Literaturberichte

genüber der Kirche verfolgte Politik: Änderung der Diözesanstruktur, Auswahl der Bischöfe, Finanzierung des Kirchenwesens. Der Beitrag ist mit 4 Karten im Text unterlegt.

Edeltraud Klueting erörtert „Die karolingischen Bistumsgründungen und Bistumsgren-zen in Sachsen" (S. 64—80). Ausgehend von der Eroberung Sachsens und der Gründung der Kirchenprovinzen Köln und Mainz stellt die Autorin die Frage, warum denn in Sachsen kein Metropolitansitz entstand. Ihrer Ansicht nach liegt die Antwort darin, „daß es für eine er-folgreiche Organisation der Missionierung Sachsens darauf ankam, die Kirchenorganisation linksrheinisch in fränkischem Gebiet zu verankern." (S. 70). Die Darstellung der Entstehung der sächsischen Bistümer (Münster, Osnabrück, Minden, Bremen, Utrecht, Paderborn, Hal-berstadt, Hildesheim und Verden) nimmt den Großteil des Beitrages ein, an dessen Ende Über-legungen zu „Grenzen der Kirche und Grenzen der Staaten" gestellt sind.

Stefan Petersen von der Universität Würzburg befasst sich unter dem Titel: „Bistumsgrün-dungen im Widerstreit zwischen Königen, Bischöfen und Herzögen" mit der Neuschaffung von Bistümern zur Zeit der Ottonen, Salier und Staufer (S. 81 -106 ) .

Die „Neugliederung der Bistümer und Kirchenprovinzen in Südfrankreich und in Ara-gón zu Beginn des 14. Jahrhunderts" ist das Thema von Hans-Joachim Schmidts Beitrag (S. 107-125) , an dessen Beginn ein kanonistischer Uberblick zur kirchlichen Raumgestaltung und deren Veränderung steht. Verbesserungen der „Seelsorge durch größere Nähe zum Bischof und verstärkte Verfolgung der Ketzer" erscheinen als toposhafte Argumente der kirchlichen Instanzen zur Schaffung neuer Diözesen (S. 116). Aber: Mit der Errichtung neuer Diözesen im Südwesten Frankreichs wurden auch die Pfründen vermehrt. Dadurch war es möglich, zahlreiche der in Avignon tätigen Geistlichen zu versorgen. Anders als in Frankreich verlief die Entwicklung im Königreich Aragón, wo der König, Jakob II., zur Neugestaltung der kirchli-chen Sprengel aktiv wurde und seine diesbezüglichen Wünsche bei der Kurie deponierte. Zwar verfolgte der Papst auch hier das Ziel, mit der Errichtung neuer Diözesansprengel die Pfründen - zu Gunsten Avignons - zu vermehren, doch gelang es ihm nicht, seine eigenen Vertrauens-leute in die entsprechenden Positionen zu bringen. Stattdessen erhielten Gefolgsmänner dei Königs diese geistlichen Ämter.

Hans-Jürgen Prien von der Universität zu Köln beschreibt die „Bistumsstrukturen in His-panoamerika und Brasilien in der Kolonialzeit" (S. 126-157) . Eingangs weist er da raufh in , dass in Hispanoamerika bis zum Jahr 1570 vier Erzbistümer mit 25 Suffragandiözesen geschaf-fen worden waren, aber nur ein einziges Bistum im portugiesischen Brasilien. Beim Aufbau der kirchlichen Strukturen, zunächst im karibischen Raum, hatte sich im Streit zwischen Staat und Kirche die Krone durchgesetzt: Kirche und Inquisition wurden gleichsam zu staatlichen Ein-richtungen, Kirchenmitarbeiter und -funktionäre wurden als staatliche Beamten angesehen. Zwischen 1511 und 1520 entstanden in der Karibik sieben Bistümer (San Juan de Puerto Rico, Santo Domingo, Concepción de la Vega, Santa Maria la Antigua del Darién, Kuba, Rio de la Palma y Tierra Florida und Coro/Venezuela). Nicht immer war die Besetzung dieser Bistümer von Erfolg begleitet: Der erste Bischof von Santo Domingo, ein Oden-schreibender italieni-scher Renaissance-Mensch, wurde im Bericht des Gouverneurs an den Kaiser als „unnütz und so kindisch, daß er einen Koadjutor benötige", charakterisiert. Auf- und Ausbau der Kirche am Festland erfolgte zwischen 1519 und 1577. 1546 wurde mit der Erhebung Santo Domingos zum Erzbistum die kirchliche Abhängigkeit Hispanoamerikas von der Metropolie Sevilla auf-gehoben. Interessante Ausführungen über Funktion und Probleme der Bischofskirche im his-panoamerikanischen Raum sowie ein Überblick zur kirchlichen Situation in Brasilien, wo man 1551 das Bistum Salvador de Bahia errichtete, runden diesen Beitrag ab, der auch die damalige Diskussion um die Menschenrechte der Indianer nicht ausspart.

Monique Weis, Université libre de Bruxelles, befasst sich mit der „Diözesanneuordnung in den Niederlanden unter Philipp II." von Spanien 1559/61, einem aus dem Streben nach Effizi-enz und Rationalität entwickelten Projekt (S. 158-169) : Im Mai 1559 erreichte der spanische

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Rezensionen 441

König die päpstliche Zust immung zur Errichtung von 14 neuen Diözesen in den Niederlanden und erhielt das Privileg, die Bischofssitze, ausgenommen Cambrai , mit Geistlichen seiner Wahl zu besetzen. Mit der päpstlichen Entscheidung vom 12. Mai 1559 waren drei Kirchenprovin-zen (Cambrai , Mecheln und Utrecht) mit 15 Suffraganbistümern geschaffen worden. Kirchli-che Grenzen deckten sich nun weitgehend mit den Grenzen der politischen Verwaltungsein-heiten, auch sprachliche Gegebenheiten waren berücksichtigt worden. Wenngleich damit die Unabhängigkeit der niederländischen Kirche von fremden Herren und auch eine Verbesserung der religiösen Kontrolle erreicht worden war, erwies sich die Umsetzung dieser Diözesanreform als schwieriges Unternehmen: Die niederländischen Eliten (Domkapitel, Abteien, die Kauf-mannschaft und der Hochadel) behinderten aus unterschiedlichen Motiven die Umsetzung dieser Neuerungen.

Auf 25 Druckseiten stellt Harm Klueting „Die Diözesanregulierung unter Kaiser Joseph 11. in der österreichischen Monarchie" dar (S. 170-194) . Er leitet seinen Beitrag ein mit der Feststellung, „daß die josephinische Kirchenpolitik Staatskirchentum war" (S. 170), und vertritt damit eine von der Ansicht mancher österreichischer Historiker abweichende Mei-nung. Die Komplexität der josephinischen Diözesanregulierung wird umfassend dargestellt; ausgiebige Anmerkungen mit umfangreichen Quellen- und Literaturangaben kennzeichnen diesen Beitrag, der die Neustrukturierung der kirchlichen Verwaltungseinheiten „von der bel-gischen Kanalküste bis an den Ostrand der Karpaten und von Ostgalizien bis ins Herzogtum Mailand" (S. 173) aufzeigt - von der Planung bis zur Realisierung.

P. Marcel Albert OSB, Gerleve, richtet seinen Blick auf „Frankreichs Diözesangrenzen seit 1790/1801" und behandelt dieses Thema bis zur Neuordnung der kirchlichen Strukturen im Jahr 2003 (S. 195-211) . Das Konkordat Napoleons, veröffentlicht 1802, und dessen Umset-zung, die große Probleme im administrativen und im pastoralen Bereich bei den 18 Kirchen-provinzen und 135 Diözesen Frankreichs mit sich brachte, wurde 1822 nach langen Vorarbei-ten über die Korrektur der Bistumsgrenzen durch die Bulle „Paternae caritatis" Papst Pius' VII. ergänzt, mit der er Frankreich in 80 Diözesen und 14 Kirchenprovinzen einteilte. Nach der Trennung von Kirche und Staat 1905 wurde 1913 von Papst Pius X. das Bistum Lille gegrün-det, für das sich vor allem katholische Laien eingesetzt hatten. Den Studien der Religionssozio-logie vertrauend, die 1960 meinte, dass Frankreich entchristianisiert sei, bildeten die französi-schen Kardinäle und Erzbischöfe 1961 eine Parallelstruktur zur eigentlichen Diözesanstruktur in Form von neun Apostolischen Regionen. Bald freilich erwies es sich als Fehler, bl ind der Soziologie vertraut zu haben. Historische Entwicklungen und Zusammenhänge waren nicht berücksichtigt worden. Im Jahr 2002 wurden die Apostolischen Regionen wieder abgeschafft, die Zahl der Kirchenprovinzen auf 15 reduziert, wohl in der Hoffnung auf engere Zusammen-arbeit der Diözesen und der katholischen Bewegungen untereinander, möglicherweise aber auch vom Wunsch nach „einer stärkeren hierarchischen Kontrolle" (S. 211) getragen.

In einem der umfangreichsten Beiträge dieses Bandes erläutert der an der Universität Würzburg lehrende Kirchenhistoriker Dominik Burkard „Rechtsfiktion und Rechtspraxis bei der Neuordnung der deutschen Bistumsgrenzen im 19. Jahrhundert" (S. 2 1 2 - 2 4 6 ) . Nach ei-nem Überblick über die Diözesanregulierungen in Bayern, Preußen, Hannover, Österreich, der Schweiz und in den deutschen Mittel- und Kleinstaaten stellt Burkard im zweiten Teil seiner Studie die Frage: „Konkordat oder Nichtkonkordat? Zirkumskription als staatlicher oder kirch-licher (oder gemeinsamer) Akt." Er stellt fest, dass die Diözesanregulierungen im obgenannten Bereich „ausnahmslos nicht durch Konkordate erfolgten", sondern gelegentlich durch „nicht-koordiniertes Handeln" (S. 226) , zumeist jedoch durch ein „koordiniertes (Ver-) Handeln der Staaten mit dem Hl. Stuhl." (S. 230) . Ein dritter Abschnitt erörtert die Frage „Staatsgrenzen-Bistumsgrenzen" und stellt fünf unterschiedliche Modelle einer Diözesanregulierung vor; da-von hat sich in der Praxis das Territorialprinzip weitgehend durchgesetzt. Die unterschiedliche Bewertung der Metropolitanstruktur mit ihren großen Vor- und Nachteilen wird sowohl aus

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442 Literaturberichte

römischer Sicht als auch aus der Sicht der Staaten vorgestellt. Ausführungen zu den Problem-bereichen „Bistumssitz und Hauptstadt" (beispielsweise Stuttgart - Rottenburg, Karlsruhe -Freiburg, Kassel - Fulda) sowie „Benennung der Bistümer" beschließen Burkards Artikel.

Ein Anhang von fünf Karten als Vorabdruck aus dem von Erwin Garz herausgegebenen Atlas zur Kirchengeschichte. Heiliges Römisches Reich. Deutschsprachige Länder, der 2009 erscheinen wird, ergänzt die Beiträge von Weis, Harm Klueting und Burkard. Insgesamt prä-sentiert sich der mit einem umfangreichen Register versehene Band als hervorragende Einfüh-rung in das Gebiet der Diözesanentwicklung, -regulierung und -struktur vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert.

Klagenfurt Peter G. Tropper

Im Schnittpunkt frühmittelalterlicher Kulturen. Niederösterreich an der Wende vom 9 . zum 10. Jahrhundert, hg. von Roman ZEHETMAYER . (Nöla. Mitteilungen aus dem Niederösterreichischen Landesarchiv 13.) Niederösterreichisches Institut für Lan-deskunde, St. Pölten 2008. 438 S., zahlreiche Abb. und Diagramme.

Anlässlich des Jubiläums der Schlacht bei Pressburg von 907 gestaltete das NO. Landesar-chiv 2007 in der Kulturfabrik Hainburg eine Ausstellung (Schicksalsjahr 907. Die Schlacht bei Pressburg und das frühmittelalterliche Niederösterreich). In deren Rahmen fand ein Symposi-um statt, dessen Vorträge nunmehr gedruckt vorliegen. Damit war nach 24 Jahren der mittlere Donauraum des 9. und 10. Jahrhunderts wieder Thema einer Fachtagung (vgl. Forschungen zur Geschichte der Städte und Märkte Österreichs 4, Linz 1991), zu der sich Historiker und Archäologen aus Deutschland, Osterreich, Tschechien und Ungarn zusammengefunden ha-ben.

Nach einer allgemeinen Einführung von Herwig Wolfram zur Geschichte des Ostfränki-schen Reichs beschäftigt sich Karl Brunner speziell mit dem Zeitraum 907-955 in Niederöster-reich und versucht, die Einstellung in Bayern gegenüber den Ungarn und der Niederlage von 907 zu erfassen. Roman Zehetmayer behandelt den Handlungsspielraum des Adels in der ka-rolingischen Grenzgrafschaft; er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass dieser zeitweise stark war und sich auch Ansätze zur Bildung einer Interessengemeinschaft erkennen lassen, die Stellung des Königs jedoch im Unterschied zur Babenbergermark nach dem Investiturstreit eine deut-lich dominantere gewesen ist. Roman Deutinger setzt sich mit der Entstehung des bayerischen Herzogtums auseinander, wobei er vermeindich feststehende Belege für eine Herzogswürde Arnulfs vor 919 relativiert. Bernhard Zeller vergleicht die Grenzbereiche des ostfränkisch-otto-nischen Reichs in der Zeit von Konrad I. bis Otto I.; er kommt zu dem Schluss, dass ein expan-sives Verhalten im sächsischen Bereich einem eher defensiven im bayerischen gegenübersteht. Die Vorstellung von einem ottonischen „Markensystem" wird relativiert, wobei allerdings die bayerischen marchiones vielleicht schon feste Zuständigkeitsbereiche gehabt haben. Mit der Rolle der Steppenvölker Hunnen, Awaren und Ungarn im frühmittelalterlichen Europa und ihren Besonderheiten setzt sich Walter Pohl auseinander. Richard Corradini widmet sich dem Bild der Ungarn in den Fuldenser Annalen und bei Aventin. Er analysiert die Quellenkompi-lation, die Aventin als Basis der Schilderung der Schlacht von Pressburg dient, und betont die spezifischen Konzeptionen, die den Annales Fuldenses und der Arbeit Aventins zugrunde lagen. Maximilian Diesenberger behandelt einen Brief aus dem frühen 10. Jahrhundert an (vermut-lich) Bischof Dado von Verdun, der sich mit einer möglichen heilsgeschichtlichen Bedeutung der Ungarn auseinandersetzt. Béla Torma versucht auf der Basis des Wissensstandes über das Kriegswesen bei den Ungarn den Anmarsch der bayerischen Truppen, das Agieren der Ungarn und die Schlacht zu rekonstruieren, was freilich hypothetisch bleiben muss.

Die archäologischen Beiträge leitet Martin Obenaus mit einer Übersicht über den ost-österreichischen Grenzraum ein. Celine Wawruschka setzt sich mit den frühmittelalterlichen

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Siedlungsstrukturen in Niederösterreich auseinander. Jirí Machácek behandelt das sogenannte Großmährische Reich, wobei er die kontroversen Ansichten resümiert. In der Beschäft igung mit Pohansko k o m m t er zu dem Ergebnis, dass es sich dort um eine spezielle herrschaftliche D o m ä n e gehandelt habe. Durch den Ungarnsturm war in Mähren das gesellschaftliche System zusammengebrochen, was in der Folge die Entwicklung einer Zentralmacht verhinderte. Lumir Polácek geht in seinem Beitrag besonders auf Mikulcice ein, wo eine lokale Elitegruppe auch nach 9 0 6 eine gewisse Rolle gespielt haben dürfte. Sabine Felgenhauer-Schmiedt behandelt den Fundplatz auf der Flur Sand nahe Raabs sowie die Burg Raabs, Beispiele für versuchte lokale Herrschaftsbildungen im 10. und 11. Jahrhundert. Karin Kühtreiber, Gottfr ied Artner und Astrid Steinegger berichten über die frühmittelalterliche Siedlung von Pellendorf/Gaweinstal , wo das Fundmaterial bis ins 7. Jahrhundert zurückreicht und Aufschluss über diese frühen Siedlungsperioden in der Region gibt. Im abschließenden Beitrag befasst sich Rudol f Maurer mit der Siedlungsenrwicklung Badens und der karolingischen Pfalz, deren Standort diskutiert und zu lokalisieren versucht wird.

Damit wird ein außerordentlich informativer Band vorgelegt, der - gemeinsam mit dem ersten Band des Niederösterreichischen Urkundenbuchs - Anregung und Basis für weitere For-schungen geben sollte. Als wichtig für die landeskundliche Forschung sind auch insbesondere die archäologischen Beiträge hervorzuheben, da sie - nicht zuletzt im Vergleich mit interna-tionalen Forschungsergebnissen - über die Grabungsresultate hinaus wertvolle allgemeine Be-obachtungen enthalten, die nicht allein für die Siedlungs-, sondern auch für Wirtschafts- und Sozialgeschichte zahlreiche Anregungen enthalten.

Ein Anhang enthält den Tätigkeitsbericht 2 0 0 6 - 2 0 0 8 von Niederösterreichischem Landes-archiv und Institut für Landeskunde von Willibald Rosner sowie eine Zusammenste l lung der 1 9 9 7 - 2 0 0 5 neu verliehenen Gemeindewappen in Niederösterreich von Anton Eggendorfer.

Wien Peter Csendes

H o c h m i t t e l a l t e r l i c h e Ade l s f ami l i en in Al tbayern , F ranken u n d S c h w a b e n , hg . v o n F e r d i n a n d KRAMER-Wi lhe lm STÖRMER, red. von El i sabeth LUKAS-GÖTZ. ( S t u d i e n zur bayer i schen Ver fa s sungs- u n d Soz ia lgeschichte 2 0 . ) K o m m i s s i o n f u r bayer i sche L a n d e s -geschichte , M ü n c h e n 2 0 0 5 . XIV , 8 6 2 S .

Die Erforschung des hochmittelalterlichen bayerischen Adels konzentrierte sich wie auch anderswo lange Zeit auf genealogische und besitzgeschichtliche Aspekte. Vor allem seit der Zwischenkriegszeit kamen zeitlich parallel zum Bemühen, die Struktur des Reichs durch lan-desgeschichtliche Untersuchungen des Adels zu erfassen, verfassungs- und rechtshistorische und nach dem Zweiten Weltkrieg auch sozialgeschichtliche Fragestellungen hinzu. In den letz-ten Jahrzehnten standen vermehrt Probleme um die Mentalität, Gedächtniskultur, Adelsgrup-pen oder die Bi ldung im Vordergrund. Ahnlich verlief die Entwicklung in der fränkischen und schwäbischen Adelsgeschichtsforschung. Der vorliegende Band versucht nun, alte und neue Forschungsansätze zu verknüpfen und durch die Analyse von 2 7 Familien die Basis für ver-gleichende Studien zu liefern. Etwas über die Hälfte der Beiträge haben altbayerische Familien zum Inhalt, etwas weniger häufig werden fränkische, nur vereinzelt schwäbische Geschlechter behandelt. Nicht ganz konsequent ist, dass einmal auch eine Familie mit deutl ichem Schwer-punkt in Niederösterreich (Herren von Lengenbach) untersucht wird. Der Band geht au f eine 1998 in Eichstätt abgehaltene Tagung zurück und enthält ausschließlich Aufsätze über gräfliche und edelfreie Familien.

Nach einleitenden Erläuterungen Ferdinand Kramers (S. 3—8) diskutiert Wilhelm Störmer (S. 9—38) die Quel lensi tuat ion und Erkenntnismöglichkeiten a m Beispiel einiger grundlegen-der Probleme (etwa die Entwicklung der Beinamen, verschiedene Aspekte der Familie und deren Bedeutung im adeligen Selbstverständnis, Feststellbarkeit von Königsnähe) . Von den

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folgenden 2 3 Untersuchungen zu einzelnen (selten mehreren) Famil ien können nur einige exemplarisch herausgegriffen werden: Adelheid Kräh (S. 4 1 - 6 4 ) kann in ihrer Abhandlung über die Eppensteiner an die Studien Gerald Gänsers anknüpfen, der die Bedeutung der süd-östl ichen Marken fur den Aufstieg dieser Familie herausgearbeitet hat (Gerald Gänser, Die Mark als Weg zur Macht am Beispiel der „Eppensteiner". ZHVSt 83 [ 1992 ] und 85 [1994] ) . Im Gegensatz dazu berücksichtigt Kräh in e inem stärkeren Ausmaß die Rolle der Eppensteiner in Oberi ta l ien. Zu diskutieren wäre vielleicht, ob der 1035 gestürzte Herzog Adalbero beim Kärntner Adel tatsächlich wenig Rückhalt gehabt hat. Stefanie H a m a n n (S. 6 5 - 9 6 ) kann den nur bruchstückhaft zu fassenden, im 10. und 11. Jahrhundert aber sehr bedeutenden Grafen von Hohenwarth deutl ichere Konturen als bisher verleihen. Nicht von der Hand zu weisen sind Über legungen über eine mögl iche Herkunft aus Südtirol. Gottfr ied Mavr (S. 9 7 - 1 4 0 ) unter-sucht die Grafen von Kühbach und kann zahlreiche Korrekturen an der Stammtafe l Tyrollers (Franz Tyroller, Genealogie des altbayerischen Adels im Hochmittela l ter , in: Genealogische Ta-feln zur mitteleuropäischen Geschichte [Gött ingen 1 9 6 2 - 1 9 6 9 ] 4 5 - 5 2 4 , hier Tafel 2) an- und beachtenswerte Über legungen zu ihrer Rolle im Südosta lpenraum vorbringen. So lehnt Mayr etwa eine Stammesgle ichheit mit den Grafen von Ebersberg ab. Zumindest auf enge verwandt-schaft l iche Verbindungen deutet aber die Besitznachbarschaft bei Persenbeug (siehe N O U B I 179) . Jürgen Dendorfer (S. 1 7 9 - 2 1 2 ) fasst in seinem Beitrag über die Grafen von Sulzbach ei-nige Ergebnisse seiner inzwischen erschienenen wichtigen Monographie zur Famil ie zusammen ( Jürgen Dendorfer, Adelige Gruppenbi ldung und Königsherrschaft. Die Grafen von Sulzbach und ihr Beziehungsgeflecht im 12. Jahrhundert [Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte 23 , München 2004 ] ) . Franz Machi lek (S. 2 1 3 - 2 3 8 ) beschäftigt sich mit den Grafen von Abenberg-Frensdorf und kann Erzbischof Konrad I. von Salzburg ( 1 1 0 6 - 1 1 4 7 ) mit guten Gründen dieser Familie und nicht den Abensberg zuweisen. Letztere werden von He lmut Flachenecker (S. 5 3 9 - 5 6 2 ) untersucht, der diese Annahme bestätigt. Erwähnenswert ist ein Brief vom Ende des 12. Jahrhunderts , worin ein Abenberger seinen Sohn auffordert, die Gnade des Kaisers zu verdienen. Walburga Scherbaum (S. 2 7 1 - 3 0 2 ) analysiert e ingehend die auch für Tirol wicht igen Grafen von Valley. Alois Schmid (S. 3 1 9 - 3 4 0 ) beschäftigt sich mit den Pettendorfern und schließt nicht aus, dass die Famil ienangehörigen im 11. Jahrhundert von Minister ia len zu Edelfreien aufstiegen, was für diese Zeit sehr bemerkenswert wäre. Diethard Schmid (S. 3 4 1 - 3 7 2 ) behandelt d ie niederösterreichischen Lengenbacher. Dass die Lengen-bacher mit e inem 9 9 8 genannten Engilr ich verwandt waren, muss weiter Vermutung bleiben. Der Verfasser folgt häuf ig den Ausführungen Richard Pergers (Die Herren von Lengbach, in: Alt lengbacher Chron ik [Alt lengbach - 1 9 9 8 ] 7—43), bei der Frage u m die Lokal is ierung des Herrschaftszentrums „Burgstall" denkt Schmid im Gegensatz zu diesem al lerdings an Purgstall an der Erlauf. Richard Loibl (S. 379—408) untersucht umfassend die auch für die oberöster-reichische Geschichte wichtigen Kamm-Halser , bei denen sich e inmal mehr die Bedeutung der Vogtei für den Aufstieg zeigt. Solange die Familie edelfrei war, gelang es ihr nicht, weib-l iche Angehörige von gräfl ichen Geschlechtern zu heiraten. Kurt Andermann und Jesko Graf zu Dohna (S. 449—472) beziehen in ihrem facettenreichen Beitrag über die Castel l auch die Intitulat iones, d ie Amtsträger und das Urkundenwesen ein. W i c h t i g ist auch der Aufsatz Karl Borchardts (S. 4 7 3 - 5 0 6 ) über die Lobdeburg, die von Kaiser Lothar III. zum herrschaftl ichen Engagement in östl ichen Reichsteilen bewegt wurden. Einen bedeutenden Antei l an einer vor-erst erfolgreichen Territorialpolit ik hatten Famil ienmitgl ieder, d ie hohe kirchl iche Ämter be-kleideten und die Lobdeburger begünst igen konnten. Kenntnisreich analysiert Heinz Dopsch (S. 5 0 9 - 5 3 8 ) die Grafen von Lebenau, die von den Spanheimern abs tammen, Besitzungen der S ieghardinger erbten und um Lebenau an der Salzach eine Herrschaft err ichteten. Diese blieb räuml ich klein, doch war die Salzmaut eine lukrative Einnahmequel le . Gerhard Lubich (S. 5 6 3 - 5 9 0 ) beschäftigt sich mit den Edelfreien von Hohenlohe, von denen 1219 drei jüngere Brüder in den Deutschen Orden eintraten, vermutl ich um eine zu starke Besitzzersplitterung

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zu vermeiden. Zwei weitere Brüder nahmen an der Seite Kaiser Friedrichs II. in Italien einen beachtlichen Aufstieg und konnten überdies eine erfolgreiche Territorialpolitik betreiben. Lu-bich meint, dass bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts bei den Hohenlohe ein auf die Gesamt-familie ausgerichtetes Denken nur in Ansätzen zu erkennen sei. Peter Rückert (S. 591-642) untersucht umfassend drei edelfreie Familien aus Franken (Lauda, Zimmern, Gamburg) und stellt fest, dass hier die Verschmelzung der Edelfreien und Ministerialen um die Mitte des 13. Jahrhunderts vonstatten ging. In einem Exkurs macht er sich Gedanken über die Aussage-kraft der Wandmalereien auf der Gamburg und der oktogonalen Kirchen im Taubertal fur das Selbstverständnis und die Gedächtniskultur der adeligen Auftraggeber. Des Weiteren finden sich im Band Aufsätze über die Hiltenburg, die Sterkere bzw. Grafen von Wohlsbach, Maisach, Stoffen, Schwabegger, Dürn, Nussdorf und Balzhauser. Jeder Beitrag enthält angesichts der öfters komplizierten genealogischen Erörterungen und nicht immer geläufigen Ortsnamen sehr nützliche Karten über die Besitzungen und Stammtafeln. Den Beiträgen zu einzelnen Famili-en werden zwei Aufsätze mit übergreifenden Fragestellungen angefugt: Wilhelm Liebhart (S. 713-729) handelt über Adelsbekehrungen um 1130 im Kloster St. Ulrich und Afra in Augs-burg und Christoph Bachmann (S. 729-748) über altbayerische Burgen. Angesichts der Fülle an Einzelbeobachtungen ist die ausfuhrliche und aussagekräftige Zusammenfassung der beiden Herausgeber (S. 751-776) sehr zu begrüßen. Sie erleichtert ebenso wie das umfangreiche Re-gister die Orientierung nicht unwesentlich.

Bei aller Unterschiedlichkeit der einzelnen Familien machen die einzelnen Beiträge deut-lich, dass sehr häufig der Vogtei und der Herrschernähe wichtige Rollen beim Herrschaftsauf-bau zukamen. Naturgemäß schwierig zu beurteilen ist, ob andere Faktoren weniger bedeutend waren oder aufgrund der Quellensituation schlechter erkennbar sind. Wichtige Erkenntnisse werden weiters zur Genealogie, zum Grundbesitz bzw. zur Territorialpolitik, zu Klostergrün-dungen, Herrschaftsrechten und zum niederadeligen Gefolge der meisten der behandelten Fa-milien gewonnen. Insgesamt bedeutet der voluminöse Band zweifellos einen großen Fortschritt für die Erforschung des Adels im Untersuchungsgebiet.

St. Pölten Roman Zehetmayer

Jörg ERDMANN, „Quod est in actis, non est in mundo". Päpstliche Benefizialpolitik im sacrum imperium des 14. Jahrhunderts. (Bibliothek des Deutschen Historischen Ins-tituts in Rom 113.) Niemeyer, Tübingen 2006. 340 S.

Anders als der gewählte Titel suggeriert, will der Autor herausfinden, was von dem in actis Vorgefundenen tatsächlich in mundo angekommen ist: Es geht darum, die päpstliche Vergabe von Benefizien oder Anwartschaften auf solche, ein traditionelles Liebkind der Kurienkritik, in ihrer realen Wirksamkeit zu überprüfen. Die Masse an zu untersuchendem Material wird einerseits durch die Konzentration auf das großzügig definierte Reichsgebiet eingeschränkt und bleibt immer noch groß genug, andererseits mit statistischen Methoden untersucht. Die Mate-rialgrundlage dafür ist, in umfangreiche Tabellen gegossen, auf der Website des Deutschen His-torischen Instituts in Rom einsehbar (http://www.dhi-roma.it/erdmann.html?&L=0 [Jänner 2009]). Erfasst werden die Nachfolgen in Bistümern und ausgewählten Benediktinerabteien, Domkapiteln und Kollegiatstiften. Die zeitlichen Eckpunkte bilden der Pontifikat Bonifaz' VIII. und der Beginn des Schismas als Störfaktor in der Welt und der Datenbasis. Ausgangs-punkt sind die für diesen Zeitraum zwar weder vollständigen noch vollständig erschlossenen, aber im Gesamten doch Vieles abdeckenden Registerserien im Vatikanischen Archiv. Ihnen gegenüber steht ein sehr heterogener Befund in partibus, wo die Untersuchung ganz vom Be-arbeitungsstand der lokalen Forschung abhängig ist. Während die 389 Bistumsbesetzungen im untersuchten Zeitabschnitt und die Kandidaten für ihre Besetzung, und somit auch Vorliegen oder Fehlen, Erfolg oder Misserfolg des päpstlichen Eingreifens, recht gut fassbar sind — auch

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wenn der dem Gacz'schen Bischofslexikon entsprungene und Erdmann nicht anzulastende Freisinger Elekt Leutold von „Schaumburg-Julbach", recte Schaunberg, einen herkunftsbe-wussten Leser provozieren muss —, liegen fur die anderen Würden nur selten verlässliche Listen vor. Erdmann setzt dennoch auf die Statistik, da die verwendeten Personallisten und allfälligen Informationen über den Besetzungsvorgang ja auf der Website offen liegen und überprüft bzw. korrigiert werden können. Eine zentrale Frage ist, ob bzw. wie weit den päpstlichen Schreiben konkrete Interessen und Entscheidungen ihres Ausstellers zugrunde liegen, oder ob es sich bei ihnen lediglich um parteienbestimmte Reskripte handelt, also nur im automatisierten Ge-schäftsgang unreflektiert Petentenwünsche erfüllt wurden. An einigen Beispielen, vornehmlich allerdings aus der Zeit des Konflikts mit Ludwig dem Bayern, in dem politische Interessen guten Gewissens zu unterstellen sind, zeigt Erdmann eine durchaus aktive Rolle des Papstes oder der Kurie, ohne dadurch die andere Möglichkeit auszuschließen.

Nach einer kurzen Vorstellung der rechtlichen Grundlagen und der Formen päpstlichen Eingreifens in die Amterbesetzung wird die Matrix der erhobenen Daten erläutert, die pro Vakanzfall, soweit möglich, Angaben zu den Kandidaten einschließlich Verwandtschafts- und Kurienbeziehungen, der Wahl, den Gegenkandidaten, der päpstlichen Provision und den Pro-vidierten, deren Rechtsgrundlagen, dem Erfolg, den bestätigenden päpstlichen Maßnahmen und den Einträgen der Servitienobligationen enthält. Auf dieser Basis werden dann die Zahl bzw. der Prozentanteil ordnungsgemäßer Besetzungen durch die Wahl des Domkapitels ei-ner-, durch päpstliche Aktionen andererseits und die jeweiligen Erfolgsquoten nach Pontifi-katen abgefragt und in Balkendiagrammen veranschaulicht. Im Gesamten zeichnet sich ein Anstieg sowohl der päpstlichen Eingriffe als auch deren Erfolge ab. Allerdings erfolgten manche päpstliche Ernennungen nach Kassation irregulärer Wahlen zugunsten des Gewählten, und die versorgten Kurialen halten sich etwa die Waage mit lokal gut vernetzten Klerikern, die wahr-scheinlich mit Rückenwind aus der Heimat über Avignon auf ihre Pfründe segelten. Eine hem-mungslose Vereinnahmung deutschen Pfründenguts durch eine gierige Kurie lässt sich nicht konstatieren, wohl aber eine Steigerung der päpstlichen Ansprüche, ihrer Durchsetzbarkeit und ihrer Nutzung durch beide Seiten, ist das plausibel vorgebrachte Fazit; allerdings werden oft die Servitien interessanter gewesen sein als die Person irgendwelcher Lokalpotentaten im fernen Nordosten. Ein lediglich auf Basis der Obligationen durchgeführter, nicht qualitativ wertender Vergleich ergibt dann, dass die Zahl der Besetzungen mit päpstlicher Involvierung in Frankreich und Italien ein Mehrfaches derer im Reich betrug und Ersteres bei den zu zahlenden Summen konkurrenzlos in Führung liegt. Allzu große Zurückhaltung wird man der Kurie also nicht attestieren, auch wenn das Reichsgebiet vergleichsweise abseitig lag.

Auf ähnliche Weise wird, bei schlechterer Datenlage, die Besetzung der Benediktiner-Abteien untersucht. Hier fallt der päpstliche Anteil geringer aus als bei den Bistümern, und erkennbar oft wurden die Fälle von den Parteien an die Kurie gebracht. O b die Bereitschaft der Päpste, die Gelegenheit zu ergreifen und praktisch wie rechdich ihre Prärogativen auszu-bauen, wirklich mehr aus prinzipiellen als aus konkreten Gründen erfolgte, darf, ohne die rechdiche Seite der Papstherrschaft unterschätzen zu wollen, angesichts des von Erdmann wieder präsentierten Vergleichs mit anderen Regionen doch bezweifelt werden. Die finanzi-ellen Erträge aus Deutschland waren gering, in Italien und vor allem Frankreich aber doch sehr beachtlich. Die Massierung der vor den Papst gelangten Fälle im Süden und Westen des Reiches bei weitgehender Aussparung des Nordostens muss man kaum mit dort fester veran-kerten und von der Kurie respektierten Laienpatronaten erklären, wenn man nur die fur das folgende Jahrhundert am Repertorium Germanicum und am Repertorium Poenitentiariae Germanicum gewonnenen Ergebnisse über Kuriennähe und -ferne der einzelnen Diözesen und Regionen bedenkt.

Bei den Kanonikaten werden die Quellen- und Bearbeitungsprobleme nicht geringer. Hier ist sicher vorwiegend mit Petenteninitiative zu rechnen. Für quantitative Einschätzungen er-

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schwerend ist die Dunkelziffer der nicht bewilligten und daher nicht registrierten Suppliken, oder die Frage, was eine geringe Erfolgsquote päpstlicher Expektanzen - u m solche handelt es sich meistens - aussagt, wenn es für viele Pfründen mehrere damit ausgestattete Bewerber gab, von denen nur einer erfolgreich sein konnte. Interessant sind die Hinweise au f Bewilligungen, die vom Gesuch abweichen und gegen die These von der Kurie als Beurkundungsautomat mit Geldeinwurf sprechen. Überdies zeigt sich hier eine unterschiedliche H a n d h a b u n g in den einzelnen Pontifikaten, bis hin zur barschen Aufforderung Urbans V., die gewonnene Residenz-pflicht wahrzunehmen und sich keinesfalls mehr blicken zu lassen. Wie erwartet, steigt auch hier die Zahl der päpstlichen Vergaben bzw. Vergabeversuche im Lauf des Jahrhunderts , doch mit großen Unterschieden zwischen den Domkapiteln. So gibt es in Konstanz um die Hälfte mehr Kandidaten mit Papsturkunden als Pfründen, und die „Päpstler" stellten tatsächlich mehr als die Hälfte der Domkanoniker , in Salzburg hingegen sehr wenige solche Anwärter und gar keine erfolgreichen.

Trotz des erwas apologetischen Grundzugs der Studie zeichnet sich eine Steigerung des päpstlichen Herrschaftsanspruchs ab, der eine große Nachfrage seitens der Petenten gegenüber stand und entgegen kam. Dass nur eine Seite das Risiko zu tragen hatte, wird ein G r u n d für die vielfach laut werdende Kritik am kurialen Pfründenwesen sein. Dieses au f die Basis konkreter Zahlen zu stellen, deren Unebenheiten, so hofft man, die statistischen Methoden wenigstens teilweise nivellieren, ist ein wesentliches Verdienst der Arbeit Erdmanns .

Wien Herwig Weigl

Ingr id FLOR, G l a u b e u n d M a c h t . D i e mitte la l ter l iche B i l d s y m b o l i k der tr initari-schen M a r i e n k r ö n u n g . (Schr i f tenre ihe des Inst i tuts f u r G e s c h i c h t e der Univer s i t ä t G r a z 16.) Se lbs tver lag d e s Inst i tuts fiir G e s c h i c h t e der Univers i tä t G r a z , G r a z 2 0 0 7 . 4 3 0 S . , zahlreiche S / W - u n d F a r b a b b .

Die vorliegende Publikation fasst zahlreiche Einzelstudien der Autorin (siehe Bibliogra-phie S . 384f . ) zur trinitarischen Marienkrönung im Mittelalter in einem Band zusammen. In den entsprechenden Arbeiten hat sich Ingrid Flor der mühevollen Aufgabe unterzogen, einerseits den theologischen Grundlagen der Marienkrönung nachzugehen und andererseits die ikonographischen Typenbildungen aufzuzeigen. Hinsichtlich des Denkmälerbestandes sind Tafelbilder, Werke der Buchmalerei und Wandmalereien aufgenommen. Ausgehend von einer umfangreich dargelegten Darstellung der Symbolik von Bräutigam und Braut aus d e m alttes-tamentlichen Hohelied und der Bedeutung der „Ecclesia mil i tans" in Z u s a m m e n h a n g von Staats- und kirchenpolitischen Aspekten im Hochmittelalter sowie der Genese der Entfa l tung des Typs der trinitarischen Marienkrönung (S. 1 - 1 6 4 ) werden im zweiten Teil (S. 1 6 5 - 3 5 6 ) Fallstudien (unter anderem das ehemalige spätgotische Retabel der Pfarrkirche von Bozen und der „Wiener Neustädter Altar" im Wiener Stephansdom) vorgelegt.

Das fur die Entwicklungsgeschichte wesentlichste Faktum besteht nach Flor im Auf-treten der „trinitarischen Mar ienkrönung" ab d e m E n d e des 14. Jahrhunderts , die von der Autorin vor allem im Z u s a m m e n h a n g mit der Großen Abendländischen Kirchenspal tung ( 1 3 7 8 - 1 4 1 7 ) gesehen wird. D ie Bedeutung dieses Konnexes zwischen Theologie u n d Kunst wird von der Autor in immerhin als so essentiell beurteilt, dass sie den T y p u s mit den in gleicher H ö h e angeordneten göttlichen Personen von Gottvater u n d G o t t s o h n als „Filio-que-Bi ldformel" bezeichnet - somit in Ableitung jener berühmten Formel der Westkirche, die sich a u f die Präsenz des Heiligen Geistes aus Gottvater u n d G o t t s o h n bezieht. D a v o n abgesetzt wird von Flor der „norditalienische" Typus, bei d e m die Gestal t Gottvaters die Mar ienkrönung dominiert . Mi t dieser Grundaussage des Buches ist auch die methodische Richtung der Untersuchungen bezeichnet, die ikonographische Formul ierungen durchwegs im Kielwasser von theologischen Auseinandersetzungen bzw. im Gefo lge von D o g m e n -

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bi ldungen sieht. Diesen Aspekt unterstreicht Flor, wenn sie in der Zusammenfassung die Bildwerke als einen .Abglanz von dem spirituellen Reichtum [...], der aus zeitgenössischen Predigten spricht." (S. 356 ) bezeichnet. Die Funktion von Bildern - besonders im sakralen Raum - geht allerdings weit über die von Flor (S. 50f.) zitierte berühmte Äußerung Gregors des Großen hinaus, wie die Forschungen von Belting, Kessler und Wolf deutl ich machen konnten. Gerade die unmittelbare Engfuhrung von Theologie und Kunst birgt die latente Gefahr von Kurzschlüssen in sich, etwa wenn Tertullians Bezeichnung der Kirche als „himm-lisches Jerusalem" von Flor in der „Marienkrönung" veranschaulicht gesehen wird (S. 15). Die von der Autorin in verdienstvoller Weise mit unglaublicher Akribie ausgebreitete Väter-literatur kann letztlich in vielen Fällen nicht mit der ikonographischen Evidenz zur Deckung gebracht werden. Die hochmittelalterlichen Auslegungen des Hohenliedes etwa implizieren gerade eine „Mehrdeutigkeit" (S. 42) , die sich nicht immer durch die zeitgleichen Illustrati-onen der Buchmalerei belegen lässt. Auf der anderen Seite zeigt die von Ernst H. Kantoro-wicz analysierte „Quinity" im „Gebetbuch Aelfwines" (erstes Viertel des 11. Jahrhunderts), dass ikonographisch innovative Losungen jederzeit auch ohne literarisches Pendant auftreten können. Vorsicht scheint auch dann geboten, wenn berühmte theologische Texte - wie etwa „De glorificatione Trinitatis" von Rupert von Deutz - plötzlich und allein aufgrund der W i d m u n g des Autors an Papst Honorius II. auf einen konkreten künstlerischen Auftrag, das Apsismosaik von S. Mar ia in Trastevere in Rom, bezogen werden (S. 5 5 - 5 7 ) , oder aber die Anagogik des Viktoriners Hugo als ahistorische Universalerklärung eingesetzt wird (S. 129). Die von der Autorin in den Vordergrund gerückte „Makellosigkeit der Kirche" (S. 57), welche eine Hauptintent ion von Papst Innozenz II. in Bezug auf das Apsismosaik von S. Maria gewesen sei, besitzt bereits in Eph 5, 27 (vgl. S. 56 Anm. 72) eine entsprechende Grundlage, ohne dass die von Rupert und Bernhard von Cla irvaux „nur knapp vor dem Mosaik" (S. 56) formulierte Hohelied-Exegese als Grundlage herangezogen werden müsste. Eine bloße zeitliche Koinzidenz kann auch hier ohne entsprechende historische Kontextuali-sierung kein tragfähiges Argument darstellen. Das Aufkommen der Methode des „vierfachen Schriftsinnes" muss somit nicht automatisch Anwendungsmögl ichkei ten fur alle „modi" der Allegorese bieten. So bietet die Existenz von Honorius Augustodunensis ' „modus historicus" keinen Grund für eine mögliche Bedeutung hinsichtlich des erwähnten Mosaiks, und die die Bedeutung des Honorius betonende Formulierung „Im Bereich der historischen Bildebene ist somit eine kirchenpolitische Deutung des Bildes (sie!) gerechtfertigt." (S. 58) ist als prob-lematisch zu bezeichnen. Auch bei anderen Beispielen verfahrt die Autorin in analoger Weise, nämlich die thematischen Ausprägungen von bildender Kunst als Reflexion der mittelalter-licher Ideenwelt zu sehen, etwa wenn im Rahmen der Behandlung der Mar ienkrönung der Westfassade der Kathedrale von Reims der (französische) „König als defensor ecclesiae zur irdischen Spiegelung des göttlichen Bräutigams (wird), der seine Braut Maria ecclesia krönt." (S. 77) [ohne Beleg], Die Bedeutung der Mar ienkrönung wird dergestalt häuf ig überschätzt, sodass sie von Flor sogar in Zusammenhang mit den grundlegenden Themen von „regnum" und „sacerdotium" gesehen wird (S. 89) .

Die hier vorgebrachte Kritik soll nicht den Blick auf die Leistungen der vorliegenden Pub-likation verstellen, die meines Erachtens vor allem in den Fallstudien - und hier insbesondere in der Behandlung des „Friedrich-Altars" - zu sehen sind. Die Verankerung dieses Werkes in der dynastischen Frömmigkeit des 15. Jahrhunderts wird hier viel konkreter dargestellt als in manchen anderen Abschnitten des Buches. Ingrid Flor hat letztlich in der Fülle des von ihr zusammengetragenen Materials nicht den Blick auf die grundlegenden Linien der Ent-wicklungsgeschichte und die Herausbildung der Haupttypen verloren. Andere Abschnitte und nicht zuletzt der Titel „Glaube und Macht" zeigen aber, dass sie „ihr" Thema häufig zu sehr als Brennspiegel abendländischer Geistesgeschichte schlechthin sieht.

Wien Werner Telesko

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M a r t i n WAGENDORFER, D i e Schrift des Eneas S i lv ia s P icco lomini . (S tudi e Testi 4 4 1 . ) B ib l io teca Apos to l i ca Vaticana, C i t t à del Vat icano 2 0 0 8 . 2 9 4 S. , zahlreiche A b b .

Durch seine immense literarische Produktion zahlt Enea Silvio Piccolomini zu jenen Men-schen des 15. Jahrhunderts, welche der Nachwelt am besten bekannt sind. Von dem bedeuten-den Humanisten und Papst sind aber auch zahlreiche eigenhändige Schriftzeugnisse erhalten geblieben, die einen Zeitraum von ca. 28 Jahren umspannen und von der Sieneser Studienzeit des jungen Enea bis in das letzte Pontifikatsjahr des Papstes Pius II. reichen. Darunter befinden sich Entwürfe und Niederschriften seiner eigenen Werke, glossierte Handschriften aus seinem Besitz, Urkundenkonzepte und nicht zuletzt auch zahlreiche genau datierte Briefe. Angesichts dieser Fülle ist es erstaunlich, dass die Autographen bislang noch nie Gegenstand einer eigenen Untersuchung gewesen sind. Hier setzt die vorliegende Arbeit an, die erstmals eine umfas-sende Sichtung und Uberprüfung aller ermittelbaren Zeugnisse aus der Feder Piccolominis liefert. Ein weiteres Ziel der Untersuchung ist eine detaillierte paläographische Analyse der Schriftenrwicklung. Die günstige Überlieferungslage ermöglicht es, eine Individualschrift „im Spannungsfeld zwischen konservativen gotischen und humanistischen Tendenzen" über einen längeren Zeitraum hinweg zu verfolgen und auch die in der Biographie des Schreibers liegen-den Einflüsse (z. B. Gichtanfälle) aufzuzeigen. Dadurch wird die Voraussetzung geschaffen, die nicht datierten Autographe zeitlich genauer einzuordnen und somit wichtige neue Erkenntnis-se zur Vita und zum literarischen Werk des großen Papstes zu gewinnen.

Den ältesten sicheren Beleg für die Schrift Piccolominis tradiert der heute in der vatikani-schen Bibliothek aufbewahrte Cod . Chig. J VII 252 ; diese Handschrift enthält die Mitschrif-ten, die der 21jährige Enea 1426/27 von den Vorlesungen des berühmten Juristen Antonio Roselli in einer „hybriden Kursive" angefertigt hat. Die Schrift ist noch stark von gotischen Elementen geprägt, weist aber auch im Duktus und in einigen Einzelformen bereits huma-nistischen Einfluss auf; in derselben Handschrift finden sich schon in flüssiger humanistischer Kursive abgefasste Einträge.

In den 1430er Jahren weilte Enea vorwiegend auf dem Baseler Konzil; aus diesem Zeitraum sind 16 autographe Briefe erhalten, von denen 11 an seine Heimatstadt Siena adressiert sind. Die genaue Untersuchung dieser Zeugnisse kann die zunehmende Aufnahme humanistischer Elemente aufzeigen, bis sich am Ende einer von Experimentierfreudigkeit geprägten Phase die flüssige Kursive herausbildete, welche bei aller Annäherung an das humanistische Schriftideal auch durchaus individuelle Formen aufweist und von Piccolomini bis zu seinem Lebensende beibehalten wurde. Während aus dem vierten Jahrzehnt des Quattrocento nur wenige Autogra-phe überliefert sind, die sich allerdings durch besondere Qual i tä t auszeichnen, sind die fur die Schriftentwicklung wenig aufregenden 50er Jahre sowohl durch Briefe als auch durch Exzerpte und Entwürfe fur literarische Werke (darunter die eigenhändige Briefsammlung in Wien, cvp. 3389) sehr gut dokumentiert. Mit der Rückkehr nach Italien im Jahre 1455 wirkte sich zuneh-mend die Arthritis auf das Erscheinungsbild der Autographe aus, so dass geradezu ein „Zerfall" der Schrift zu konstatieren ist. Auch führte die Altersweitsichtigkeit zu größeren Buchstaben und dickeren Federstrichen, doch ließ sich der Papst dadurch nicht davon abhalten, bis kurz vor seinem Tod selbst die Feder in die Hand zu nehmen.

Ein weiterer Abschnitt ist den eigenhändigen Marginalien gewidmet, welche Piccolomini in seinen eigenen Handschriften angebracht hat. D a die Bibliothek des Papstes unter seinen Erben aufgeteilt wurde, sind die Codices aus seinem Besitz heute über den ganzen Erdkreis verstreut, doch wird der überwiegende Teil seines ehemaligen Buchbesitzes heute in der Vatika-nischen Bibliothek aufbewahrt, wohin er allerdings auf recht unterschiedlichen Wegen gelangt ist. Der Verfasser hat alle Hinweise der Sekundärliteratur auf Codices mit Einträgen von der H a n d Piccolominis sorgfältig geprüft und neun bislang fur den Sienesen reklamierte Hand-schriften diesem abgesprochen. U m nur ein Einzelergebnis anzuführen: Für Eneas Randglossen

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450 Literaturberichte

zu Cod. Vat. lat. 9437, welcher die Gesta Friderici Ottos von Freisings und Rahewins über-liefert, konnte wahrscheinlich gemacht werden, dass sie den 1450er Jahren entstammen und somit in die letzten Jahre Piccolominis in Österreich zu setzen sind; er hat diese Handschrift des Werks erst bei der Abfassung der 3. Redaktion der Historia Austrialis ausgeschrieben.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass im vorliegenden Buch die Autographen des gro-ßen Humanisten und Papstes erstmals systematisch erfasst und gründlich untersucht wurden. Dazu wurden fast ein halbes Hunden Archive und Bibliotheken konsultiert und die meisten eigenhändigen Schriften einer Autopsie unterzogen. Die Analyse und Dokumentation dieser Zeugnisse, welche durch ein sorgfältig ausgewähltes Abbildungsmaterial veranschaulicht und überprüfbar gemacht werden, bereichert nicht nur unsere Kenntnis der Humanística, sondern liefert auch durch zahlreiche sachliche Einzelerkenntnisse einen wichtigen Beitrag zur Persön-lichkeit des großen Papstes und zur Interpretation seiner Werke. Die Arbeit überzeugt nicht allein durch souveräne Materialkenntnis, sondern zeigt auch auf, wie fruchtbar die Verbindung von paläographischen und allgemeinhistorischen Fragestellungen sein kann.

Würzburg Franz Fuchs

Christina ANTENHOFER, Briefe zwischen Süd und Nord. Die Hochzeit und Ehe von Paula de Gonzaga und Leonhard von Görz im Spiegel der fürstlichen Kommunikation ( 1 4 7 3 - 1 5 0 0 ) . (Schlern-Schriften 336.) Universitätsverlag Wagner, Innsbruck 2 0 0 7 . 3 3 0 S.

Ausgangspunkt und ursprüngliches Ziel der vorliegenden Untersuchung war es, dem Topos vom „ungleichen Paar" nachzugehen. Als solches hat die Ehe des letzten Görzer Gra-fen Leonhard ( 1 4 4 4 - 1 5 0 0 ) mit Paula de Gonzaga ( 1 4 6 3 - 1 4 9 6 ) ihren festen Platz in der Geschichtsforschung gefunden. Die Beurteilung der schon rein äußerlich als inkompatibel einzustufenden Verbindung - der ältliche und allgemein als derb und jähzornig bezeichnete Graf auf der einen Seite und die blutjunge und sensible Gonzagatochter auf der anderen -schien Bestätigung durch die vor allem während der Hochzeitsvorbereitungen und in den ersten Ehejahren sehr dichte Korrespondenz zwischen den Höfen der beiden Fürstenhäuser zu erfahren, die hinter dem höflichen BriefFormular einiges an Missstimmung enthält. Die Historikerin und Romanistin Christina Antenhofer, die das Briefkorpus bereits für die Gör-zer Landesausstellung 2 0 0 0 bearbeitet hat und um etliche bisher unbekannte Briefe aus dem Gonzaga-Archiv in Mantua erweitern konnte, wollte sich neuerlich der Aufgabe unterziehen, den wahren Emotionen in der Ehe von Leonhard und Paula auf die Spur zu kommen. Denn hinter der vordergründigen Emotionalität der Briefsprache verstecken sich ganz bestimmte Absichten und Funktionen. Mit historischen Methoden allein sind die komplexen Kom-munikationsstrategien allerdings nicht zu entschlüsseln. Die verfeinerten Analyseverfahren der Linguistik vermögen zwar, „das konstruierte Spiel mit den Emotionen zu enttarnen", man läuft damit jedoch andererseits Gefahr, das Thema Gefühl völlig auszuklammern, den zwischenmenschlichen Umgang zu entemotionalisieren und auf Pflichten und Konvention zu reduzieren. Eine Beurteilung der Ehe von Paula und Leonhard und der beiden Charaktere bleibt daher auch nach der gründlichen Analyse der verschiedenen Kommunikationsstränge naturgemäß ein schwieriges Unterfangen. Allerdings kann Antenhofer aufgrund des erweiter-ten Blicks auf die Quellen das Bild von der hochgebildeten und schwächlichen Paula plausi-bel relativieren. So dürften die ihrem Brautschatz eingegliederte Bibliothek, das Schreibzeug und wahrscheinlich sogar die Handarbeitsmaterialien nur der Erwartungshaltung an eine ita-lienische Renaissancefiirstin entsprechen und wenig über die tatsächlichen Interessen Paulas aussagen. Jedenfalls gibt es keinerlei Hinweise dafür, dass sie ihre Bibliothek auch benützt hät-te. Außerdem dürfte Paula eher ungern geschrieben haben und erst in ihren letzten Ehejahren mangels eigener Schreiber dazu gezwungen gewesen sein, wobei sie sich für ihren schlechten Schreibstil entschuldigte. Ihre schwächliche gesundheitliche Konstitution bedeutete nicht

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Rezensionen 451

zwangsläufig auch einen schwachen Charakter. Vielmehr wird sie als jähzornig beschrieben und als durchaus imstande, ihren Wil len durchzusetzen. Von ihren Brüdern wird sie als ver-wöhnt bezeichnet, sie neigte zu Melancholie und war vor allem in den ersten Ehejahren von starkem Heimweh geplagt. Mit Leonhard scheint sie im Laufe der Jahre zu einer friedlichen Koexistenz gefunden zu haben, auch wenn ihnen Nachwuchs - die zentrale Aufgabe einer gelungenen Ehe - nicht vergönnt war und die nie vollständig ausbezahlte Mitgift ein Streit-punkt blieb. Die charakterliche Einschätzung Paulas und die Beurteilung des Ehelebens sind Teil des ersten und umfangreichsten Abschnitts der Arbeit, der den Ablauf der Ereignisse auf Basis der erweiterten Quellenlage zu rekonstruieren versucht. Nachdem die brieflichen Kontakte in den späteren Ehejahren bzw. eigentlich bereits nach dem Tod der Mutter Paulas 1481 dünner werden, liegt das Schwergewicht auf den Jahren unmittelbar vor der Hochzeit 1478 und den ersten Ehejahren, die von enormen Anpassungsschwierigkeiten und dauern-den Krankheitsschüben Paulas gekennzeichnet sind. Merkmal dieser Zeit ist der trotz der räumlichen Entfernung intensive Kontakt der jungen Ehefrau mit ihrer Herkunftsfamil ie, besonders mit ihrer besorgten Mutter, deren Einflussversuche auch vor dem ehelichen Privat-leben nicht Halt machten und die ihren Schwiegersohn permanent zur liebevollen Fürsorge ermahnte.

Nach einem längeren Aufenthalt in Mantua 1480 scheint sich die Lage Paulas in Lienz gebessert zu haben. Der briefliche Verkehr wurde spärlicher, zumal nach dem Tod der Mutter die wichtigste Ansprechsperson fehlte. Dennoch blieb man familienintern verbunden, vor al-lem mit ihrem Bruder Gianfrancesco und dessen Frau unterhielt Paula - und auch ihr Mann - fortwährend Kontakt.

Dem an der Chronologie orientierten ersten Hauptteil schließt sich ein Kapitel zur Frage der Organisation und Ausstattung des Lebens der italienischen Fürstentochter und görzischen Landesherrin an. Wichtigste Quellen dazu sind neben den Briefen der Hochzeitsvertrag und das Inventar ihrer Aussteuer, das in seltener Klarheit Auskunft gibt über die Ansprüche und die Erwartungen, die an den Lebensstil einer hochadeligen Frau geknüpft waren. Neben der ma-teriellen Ausstattung benötigte diese für ein standesgemäßes Leben auch entsprechende Hof-strukturen. Am Mantuaner Hof war die Teilung in eine corte maschile und eine corte féminité längst selbstverständlich; in Görz hatte es hingegen durch die lange Ehelosigkeit Leonhards keinen eigenen Frauenhof gebraucht, darüber hinaus fehlte generell ein funktionierendes Hof-leben bedingt durch die jahrelangen dynastischen Krisen, die die Görzer zu bewältigen hatten. Außerdem scheint Leonhard kaum Interesse an administrativen Vorgängen gehabt zu haben, und auch das Repräsentationsdenken war im Vergleich zu den aufsteigenden italienischen Fürs-tenfamilien gering ausgeprägt. So musste Paula mit vergleichsweise bescheidenen Strukturen vorlieb nehmen, wenigstens aber konnte sie durchsetzen, einen Teil ihrer italienischen Diener-schaft zu behalten.

Der Vergleich des Görzer Hofes mit jenem in Mantua fällt erwartungsgemäß aus - auf der einen Seite kaum definierte Hofamter mit wechselnden Zuständigkeiten und einem mächtigen landesfiirstlichen Rat, auf der anderen Seite ein hochdifferenziertes System mit genau festgeleg-ter Aufgabenteilung und einer bestens organisierten Kanzlei mit geschulten Vertrauensleuten. Die beiden fürstlichen Höfe spiegeln gleichzeitig die Situation der beiden Familien wider - die traditionsreiche Dynastie der Grafen von Görz stand vor ihrem Ende, jene der Gonzaga am Anfang einer erfolgsverwöhnten Geschichte.

Nach welchen Mechanismen die Kommunikation zwischen den Höfen funktionierte, ist Gegenstand des dritten Hauptteils der Arbeit. Er enthält die eigentliche Analyse der Korres-pondenz, beschäftigt sich aber auch mit anderen Formen der Kommunikation (Geschenke-austausch, Besuche, mündliche Botschaftsübermittlung). Hier greifen vor allem die Methoden der Linguistik und die Analyseverfahren, die für die komplexe Quellengattung Brief entwickelt wurden.

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452 Literaturberichte

Die Arbeit erweist sich in vielerlei Hinsicht als äußerst ergiebig. Die genaue Sichtung und Auswertung der zur Verfugung stehenden Quel len - wobei die verstreuten Görzer Archivalien wesentlich mehr Verluste zu verbuchen haben als das mehr oder weniger geschlossen erhaltene Gonzaga-Archiv in Mantua - ermöglichten eine dichtere Rekonstruktion der Ereignisse rund um Hochzeit und Ehe, die durch die Einarbeitung direkter Zitate aus dem begleitenden Brief-verkehr ungewöhnlich plastisch ausfallt. Das nicht leichte Unterfangen, das Leben Paulas am Görzer H o f nachzuzeichnen, löst Antenhofer geschickt, indem sie sich auf die Nachrichten zur Zusammensetzung des Hofes stützt und vor allem das Inventar zum Brautschatz auswertet, um sich auf diesem Wege der Lebenssituation der Fürstin anzunähern. Die eigentliche Leistung der Arbeit liegt aber in der methodisch sehr sauber durchgeführten Analyse der Korrespondenz. Wie erfolgte Kommunikation zwischen verwandten spätmittelalterlichen Fürstenhöfen, wie lassen sich private Inhalte von politischen trennen, welche Formulierungen sind reine Stilmit-tel, welche als direkter Ausdruck von Empfindungen zu verstehen, welche Sprache - lateinisch, deutsch oder italienisch - wurde für die jeweiligen Briefe mit welcher Absicht gewählt, wie versteckte man Vorwürfe und Missst immungen rhetorisch hinter der höflichen Maske usw.?

In lebendiger Sprache und klarer Gliederung, die zuweilen vielleicht eine Spur zuviel an Wiederholungen mit sich bringt, gelingt es Antenhofer wesentliche Einblicke in die spätmit-telalterliche Kommunikationspraxis am Beispiel von Leonhard und Paula und ihrer beiden Familien und Höfe zu geben. Die komplexe Gestalt der Kommunikat ion in der spätmittelalter-lichen Gesellschaft deutlich zu machen und diese zugleich aufzulösen, um deren Mechanismen und Codes herauszuarbeiten, ist eines der wesentlichen Verdienste dieser gewinnbringenden Arbeit.

Innsbruck Julia Hörmann-Thurn und Taxis

Ra ina ld BECKER, W e g e a u f den B i s c h o f s t h r o n . Ge i s t l i che Karr ieren in der Kir-chenprov inz Sa lzburg ir. Spätmitte la l ter , H u m a n i s m u s u n d k o n f e s s i o n e l l e m Zeitalter ( 1 4 4 8 - 1 6 4 8 ) . ( R ö m i s c h e Q u a r t a l s c h r i f t fü r christ l iche A l t e r t u m s k u n d e u n d Kirchenge-schichte 59 . S u p p l e m e n t b a n d . ) Herder , R o m — F r e i b u r g - W i e n 2 0 0 6 . 5 2 8 S .

D e m ursprünglichen (biblischen) Verständnis entsprechend waren Bischöfe Charismatiker, die einer geistlichen Sendung folgten. Institutionalisierung der Kirche, Durchsetzen des mo-narchischen Prinzips und die Übernahme öffentlich-rechtlicher Aufgaben durch den Bischof waren Faktoren, die den Charakter des Episkopats bereits im frühen Mittelalter grundlegend veränderten. Gewisse persönliche Voraussetzungen und Kriterien waren daher gefordert und mussten von den Amtsträgern erfüllt werden, deren Amtsstruktur sich insbesondere durch das hochmittelalterliche Reichskirchensystem in Richtung weltlich-politische Profession verschob. So kommt der Frage nach den Wegen, die auf den Bischofsthron führten, eine prinzipielle Be-deutung zu. Die Mechanismen des Zugangs zum Ordinariat, die verschiedenen sozialen Fakto-ren, die den Aufstieg des Einzelnen in eine geistliche Führungsposition ermöglichen konnten, zu erforschen, ist Ziel der vorliegenden Studie.

Rainald Becker hat das Thema auf die zwei Jahrhunderte von 1448 bis 1648 begrenzt. Er untersucht die Karrieremuster von 2 4 4 Bischöfen dieser Zeitspanne, die ihr Hirtenamt im Salzburger Metropolitangebiet ausübten. Z u m erzbischöflichen Verband gehörten in dieser Zeit die Hochstifte Salzburg, Freising, Regensburg, Passau und Brixen, außerdem die Salzbur-ger Eigenbistümer Gurk, Chiemsee, St. Lavant und Seckau. Dass die 1469 gegründeten und mit Exemtionen gegenüber der Passauer bzw. Salzburger Jurisdiktion ausgestatteten Diözesen Wien (das zwar klein, aber kein bloßes Stadtbistum war) und Wiener Neustadt ebenfalls unter die Salzburger Mediatbistümer gereiht werden, ist erstaunlich; auch wenn dieser Umstand in einer weiter unten (S. 52) befindlichen Anmerkung mit dem Hinweis auf Übersichtlichkeit relativiert wird.

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Rezensionen 453

Ausgangspunkt der Analyse sind die konkreten historischen Rahmenbedingungen. In zeit-lichen Längsschnitten zeigt Rainald Becker, dass die entwicklungsgeschichtlichen Profile der Diözesen erhebliche Unterschiede hinsichtlich ihrer rechtlichen, wirtschaftlichen oder insti-tutionellen Situation aufwiesen. Für die personenbezogene karrieregeschichtliche Sondierung, die nach prosopographischer Methode erfolgt, geht er den beiden Grundfragen nach Herkunft und Werdegang des Episkopats nach. Als Schwerpunkte der detaillierten Uberprüfung setzt er die geographische, soziale und familiäre Abkunft , das Bildungsniveau und den Benefizienbesitz des Probanten; weiters dessen berufliche Flrfahrung und allfällige persönliche Verflechtungs-muster („net working") .

Arbeitstechnisch ist die Gesamtzahl der Bischöfe in Fürst-, Weih- und Mediatbischöfe unterteilt. Diese Unterscheidung, welche die außerkanonische geistliche Lebenswirklichkeit widerspiegelt, ermöglicht dem Verfasser einen systematischen Vergleich zwischen diesen drei Gruppen und ist Teil von statistischen Reihungen. Weitere statistische Bezugsgrößen ergeben sich aus dem chronologischen und dem räumlichen Prinzip.

Die umfangreiche Arbeit, die aus einer Dissertation entstanden ist, basiert auf einer reichhaltigen - im Anhang aufgelisteten - Auswahl an Literatur, sowie gedruckten und un-gedruckten Quellen unterschiedlicher Provenienz und Dichte. D i e Erhebung der personen-geschichtlichen Daten stützt sich vor allem a u f Quellenarten wie: Lexikographie, Genealogie und Historiographie, auf sogenannte Informativprozesse, d. i. eine Art Idoneitätsexamen, und serielle Quellen. Letztere werden als bislang wenig verwendete Kernquelle prosopographischer Reihenuntersuchungen hervorgehoben. Die Biogramme im Anhang beruhen im Wesentlichen auf der Auswertung verschiedener Matrikeledit ionen.

Das Ergebnis der vorliegenden Studie ist heterogen und vielschichtig. Konzentriert auf die geistige und geistliche Umbruchszeit vom späten Mittelalter zur frühen Neuzeit wird eine Vielzahl von Lebensfakten und Karrierevarianten der Fürst-, Weih- und Mediatbischöfe aus dem genannten Gebiet getrennt erfasst. Phänomene, die fur den Episkopat relevant erscheinen - wie etwa Aristokratisierung, Akademisierung, Nepotismus, Besitz oder Professionalisierungs-optionen - , werden aus verschiedenen Perspektiven überprüft. Rainald Becker gelingt es, mit typisierendem Zugrif f Zeit- und Regionalelemente und persönliche Daten zu ordnen und sie chronologisch und strukturell zu differenzieren. Durch Verknüpfung mit einem statistisch un-terstützten Raster können sozial- und diözesangeschichtliche Themen neu hinterfragt, interpre-tiert und in einigen Fällen sogar revidiert werden, wie etwa durch neue Erkenntnisse über das bischöfliche Bildungsmuster. Insgesamt zeigt das Resultat, dass die Frage, wer B ischof wurde und wer Bischof war, erheblichen Schwankungen unterworfen war und dass es kein stringentes repräsentatives Aufstiegsmodell in das geistliche Hirtenamt gab. Die Studie vermittelt jedoch einen Blick auf Kontinuitäten und Diskontinuitäten und gibt Einsichten in ein komplexes Panorama an orts- und zeitgebundenen Funktionsweisen.

Im Anhang (S. 3 7 5 - 4 6 2 ) befindet sich eine nach Diözesen geordnete Zusammenstellung der bischöflichen Biogramme. M i t der Angabe der biographischen Grunddaten, Bildung-, Be-nefizien- und Ämterkarrieren sowie der Weihegrade der geistlichen Würdenträger wird eine wertvolle Informationshilfe angeboten.

W i e n Ulrike Schrank

B a r b a r a STOLLBERG-RILINGER, D e s Kaisers al te Kleider. Ver fassungsgeschichte u n d

S y m b o l s p r a c h e des A l t e n R e i c h e s . B e c k , M ü n c h e n 2 0 0 8 . 4 3 9 S .

Eine vergleichende zeremonial- bzw. verfassungsgeschichtliche Untersuchung mehrerer, für das Alte Reich eminent wichtiger Reichstage (Worms 1 4 9 5 , Augsburg 1 5 3 0 , Regensburg 1 6 5 3 / 5 4 , Frankfurt - Regensburg - W i e n 1 7 6 4 / 6 5 ) steht im Mittelpunkt der souveränen Darstellung der Münsteraner Frühneuzeit-Spezialistin Barbara Stollberg-Rilinger zur symboli-

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454 Literaturberichte

sehen Kommunikation im Alten Reich. Das vorliegende Buch, eine Synthese der langjährigen Forschungen der Autorin und auch eine Leistungsschau des Münsteraner Sonderforschungs-bereiches 496 „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mit-telalter bis zur Französischen Revolution", argumentiert im Schnittpunkt mehrerer, zum Teil hoch spezialisierter und mit eigenen Soziolekten argumentierender Forschungsbereiche wie etwa Verfassungs-, Reichs-, Mediengeschichte, Hof- und Zeremonialforschung, Historische Anthropologie, Politikwissenschaften. Die symbolische Darstellung des Heiligen Römischen Reiches als politische Einheit und die verfahrensmäßige Herstellung dieses Ganzen bilden das Thema dieser grundlegenden Monographie zur Reichsgeschichte, die auf dem neuesten Stand der verzweigten Forschung argumentiert, begrifflich aber immer klar und verständlich bleibt. Das Reich bzw. der Reichstag wird als Ausdruck einer auf Solennität ausgelegten Präsenzkultur verstanden, dessen Ordnung performativ stets aufs Neue erzeugt werden musste. Die reichs-tägige Präsenzkultur der Kur- und Reichsfürsten des 15./16. Jahrhunderts wurde zunehmend durch immer niederrangige Stellvertreter auf dem immerwährenden Reichstag ersetzt. Schon das titelgebende Hegelzitat vom Beginn des 19. Jahrhunderts belegt, dass die symbolisch-ritu-elle Formen gegen Ende des Alten Reiches immer mehr in die Krise gerieten und von Zeitge-nossen als anachronistisch und dysfiinktional betrachtet wurden. Die Rituale und Zeremonien standen in einer Zeit zunehmender Schriftlichkeit in Verruf, die von Juristen geleisteten Rege-lungsversuche des zeremonialen Gehens, Sitzens, Stehens, Essens, Anredens, Huldigens, Klei-dens und so fort trugen überraschend nicht zur Klärung von Präzedenzkonflikten bei, sondern verkomplizierten das Problem durch Verschriftlichung vielmehr und meißelten die Probleme in Stein. Eine „kommunikative Sackgasse" (S. 309 ) entstand, die „kollektive Handlungsfähig-keit" (S. 317) des Reiches - sichtbar an den Belehnungen - war schon davor, nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges, endgültig zerstört worden.

Der noch nicht durch konfessionelle Spaltungen gestörte Wormser Reichstag von 1495 (S. 2 3 - 9 1 ) - Hoftag und Reichstag zugleich - half mit, ein stabiles, breit akzeptiertes Le-hensritual vor der Öffentlichkeit des Reiches zu entwerfen, die Reichsstände wurden in die Problemlösungsverfahren des Reiches erfolgreich eingebunden. Das Sitzen „in majestate" und die Abbildung der Zeremonialgegenstände waren nicht zufallig das prägende Bildmotiv des 15. und 16. Jahrhunderts. Der Wormser Reichstag war auch Ort der kontroversiellen Aushandlung von Politik durch Kaiser und Reichsstände, nämlich „was ,das Reich' sei und wo jeder Einzelne seinen Ort darin habe" (etwa sichtbar am konfliktreichen Belehnungsritual für Pommern). Der Reichstag als sakraler, konfessionell einheitl icher Ort zerfiel spätestens mit dem Reichstag von Augsburg 1530 (S. 93 -136 ) . Schon der Einzug des Kaisers, wo der päpstliche Nuntius unter dem goldenen, mit Reichsadlern bestickten Tragehimmel demonstrativ Platz fand, und die Lehensrecht und Rechtsgläubigkeit verbindende Aufforderung an die lutherischen Reichs-fürsten zur Teilnahme an der EröfFnungsmesse und der Corporis-Christi-Prozession zeigt, wie geschickt Karl V. auf der Klaviatur der Zeremonien einer performativ katholischen Konfessi-onskultur zu spielen vermochte, um seine kaiserliche Autorität zu inszenieren. Die „Trennung zwischen politischem Gehorsam und religiöser Gewissensfreiheit der Reichsstände" (S. 136) war damit vollzogen. Der Reichstag von Regensburg 1653/54 (S. 137 -225 ) setzt vor dem Hintergrund der völkerrechtlichen Veränderung 1648 eine „neue zeremonielle Grammatik" in Gang, Statuskonflikte und Verfahrensprobleme lähmten den ohne Abschluss „endenden" Reichstag zunehmend. Schon die misslungene Eröffnung des Reichstages, als Ferdinand III. vergeblich die Reichsstände in sein Quartier zur Proposition laden wollte, machte dem Kaiser die nachwestfälische Ordnung augenfällig. Zwei neue, völlig verschiedene zeremonielle Seman-tiken waren nach 1648 in Gang gesetzt worden. , , [V]or die alte Logik der Reichshierarchie schob sich zugleich die neue Logik der völkerrechtlichen Souveränität" (S. 223) . Der begin-nende, auch räumliche Zerfall des Reiches wird in der vierten gewählten Zeitschicht (Frank-furt - Regensburg - Wien 1764/65, S. 2 2 7 - 2 9 7 ) deutl ich. Regensburg als „finsterer Ort"

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Rezensionen 455

des Immerwährenden Reichstages und als Tummelplatz von ehrenstolzen, tendenziell immer rangniederer werdenden Stellvertretern spielte nur mehr eine geringe Rolle. Der Kaiser ließ sich in Regensburg kaum mehr sehen, Joseph II. besuchte im Mai 1781 „incognito" das Alte Re-gensburger Rathaus. Angesichts der Baufälligkeit des wenig einnehmenden Gebäudes meinte er lapidar und die Stellung des Reichstages charakterisierend: „Si la maison s'écroule, le recès de l'Empire sera fait" (S. 252). Das Statussystem des Reiches passte mit dem europäischen Völker-recht immer weniger zusammen, die Höfe in Wien und Potsdam trafen die Entscheidungen. Der zwischen Völkerrechtskongress und Ständeversammlung changierende Reichstag zerbrach funktional an dieser inhaltlichen Schere. Die Lx>gik der Präsenzkultur, die den Status der An-wesenden definierte, war durch die ihre eigenen wie die Rechte ihrer Brotgeber vehement ver-teidigenden Stellvertreter immer mehr in die Krise gekommen, wie etwa auch die Reisende Mary Wortley Montagu ironisch bemerkte. Es ist daher, so die Autorin, auch kein Zufall, dass der Schlussvorhang des Alten Reiches ohne zeremonialen Schlussakt fiel.

Es gelingt der Autorin als umsichtiger Regisseurin vorzüglich einen spannenden, mit gut gewählten Beispielen ausgestatteten Film des Alten Reiches zu entwickeln, der nicht so sehr an Opulenz, sondern an den vielschichtigen Hintergründen des Scheiterns des Alten Reiches in-teressiert ist. Die zeremonialen, als exakte Spiegelung politsch-verfassungsrechtlicher Probleme verstandenen Rituale am Reichstag symbolisierten trotz aller im 15./16. Jahrhundert schon bemerkbaren Bruchstellen und Konflikte lange Zeit die Einheit des Reiches - die Fruchtbarkeit des ritual- und zeremonialgeschichtlichen Ansatzes wird mit diesem Buch mehr als deutlich. Verfassungsgeschichte wird hier als Ritualgeschichte der Mächtigen (vor allem der Kurfürsten und Reichsfursten) verstanden, aber es wird zu Recht auch daraufhingewiesen, dass damit „kei-ne alternative Verfassungsgeschichte" (S. 18) vorgelegt werden soll. Die schleichende Verände-rung der zeremonialen Semantik in den vier untersuchten Jahrhunderten vermittelt ein Ver-ständnis von Zeremonial als einer Art Aktie der (Außen-)Politik. Eine Taschenbuchausgabe des vorliegenden, sprachmächtigen Werkes - eines Referenzwerkes der neueren Reichsgeschichts-forschung - würde man sich auf vielen Schreibtischen von Historikerinnen wünschen.

Wien Martin Scheutz

Carolin SPRANGER, Der Metall- und Versorgungshandel der Fugger in Schwaz in Ti-rol 1 5 6 0 - 1 5 7 5 zwischen Krisen und Konfl ikten. (Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft 4 /31 = Studien zur Fuggergeschichte 40 . ) Wißner-Verlag, Augsburg 2 0 0 6 , 4 3 8 S. , Abb.

In dieser überarbeiteten Fassung einer 2004 in Augsburg eingereichten Dissertation wird der gesamte, über die Schwazer Faktorei organisierte Metall- und Versorgungshandel der Fug-ger in Tirol behandelt. Neben den Erlösen aus dem Silber- und Kupferhandel spielten auch Kredit- und Wechselgeschäfte eine Rolle, und zudem hatten die Fugger die Versorgung des Schwazer Bergbaureviers sicherzustellen und sich daher auch im Getreide-, Schmalz-, Eisen-, Unschlitt-, Blei- und Holzhandel zu engagieren. Bewusst wurde der Untersuchungszeitraum auf jene Jahre eingegrenzt, in denen krisenhafte Entwicklungen einen Höhepunkt erreichten, denn die schon seit etwa 1530 beständig sinkende Erzausbeute führte zu Silber- und Kup-ferpreissteigerungen, die den Fuggerschen Handel belasteten, ebenso wie die kontinuierlich steigenden Nahrungsmittelpreise, und das Zusammenspiel dieser Faktoren verdichtete sich in manchen ernteschwachen Jahren zu veritablen Krisen. So führten der Rückgang der Erzgewin-nung, eine Teuerungswelle und eine ab 1563 grassierende Pestepidemie im Jahre 1566 zu ei-nem Knappenaufstand, und einen weiteren Höhepunkt stellt die Hungerkrise des Jahres 1570 dar, noch verstärkt durch den erneuten Ausbruch einer Seuche im Jahr darauf. Die Autorin stellt die Frage, in welcher Weise diese Faktoren den Tiroler Handel der Fugger beeinflussten, der sich außerdem durch weitere Ereignisse und Entwicklungen Neuorientierungen ausgesetzt

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456 Literaturberichte

sah, war es doch 1564 zur Etablierung einer eigenen Tiroler Linie gekommen und hatten 1560, nach dem Tod Antons, massive Umstrukturierungen im Fuggerschen Familienunternehmen eingesetzt; zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang die im Zusammenschluss mit anderen Augsburger Handelsgesellschaften (die Augsburger waren ja nach dem Ausscheiden heimischer Gewerken ab der Mitte des 16. Jahrhunderts praktisch die einzigen Betreiber am Falkenstein) 1565 begründete Jenbacher Gesellschaft, wobei freilich durch den Bankrott der Haug-Lange-nauer-Gesellschaft 1574 und den Austritt der Katzbeck 1578 der Alleingang der Fugger im Schwazer Montangeschäft endgültig besiegelt war.

Die Arbeit zeichnet sich durch eine breite quel lenmäßige Basis aus. Hauptsächlich heran-gezogen wurden die im Fuggerschen Familien- und Stiftungsarchiv in Dill ingen überlieferten so genannten Grundrechnungen, worin sich die Rechnungslegungen für den Tiroler Handel finden, sowie die Innsbrucker Kopialbuchreihen und die Raitbücher, die intensiv ausgewer-tet wurden. Hauptsächliche Ergebnisse der facettenreichen Untersuchung sind, dass sich der Schwazer Metall- und Versorgungshandel der Fugger in Tirol zwischen 1560 und 1575 in einer schweren Krise befand. Die Gründung der Jenbacher Gesellschaft mit dem Ziel, das Kapitalvolumen zu erhöhen, hatte nur kurzfristig günstige Auswirkungen. Zum Ausgleich von Verlusten setzten die Fugger vermehrt auf das Kredit- und Wechselgeschäft. Dabei spielten zahlreiche Kredite fur den Landesfiirsten eine wichtige Rolle, denn einerseits waren die Zins-einnahmen durchaus lukrativ, und andererseits vermochte man dadurch beständigen Einfluss auf die landesfiirstliche Politik auszuüben; damit korrigiert Spranger ältere Forschungsmei-nungen, wonach die Fugger sich aus dem unrentabel gewordenen Kreditgeschäft mit den Habsburgern hätten zurückziehen wollen. Eine Vielzahl von Darlehen wurde außerdem an einflussreiche Tiroler Adelige im Umfeld des Landesfiirsten und in der Regierung wie auch an Beamte in Kammer und Kanzlei vergeben - fast in jedem Fall unter Verzicht auf Zinsen. Solche Geschäftsbeziehungen dienten demnach der Intensivierung persönlicher Kontakte, die insofern erfolgreich waren, als es den Fuggern gelang, zu maßgeblichen Adelsfamilien ver-wandtschaftliche Beziehungen zu knüpfen und sich dadurch in die Tiroler Adelslandschaft und zugleich in den Kreis landesfürstlicher Ratgeber zu integrieren. Die Verfasserin vermag auch einige weitere ältere Ansichten der Forschung zu korrigieren bzw. zu relativieren: So hat-ten die Fugger kein Interesse daran, die heimischen Gewerken zu verdrängen, waren die Fug-ger doch auf geschäftliche Kontakte zu Tiroler Händlern grundsätzlich angewiesen und auf Integration in die regionale Kaufmannschaft ausgerichtet; auch standen sie nicht in grundsätz-licher Konkurrenz zum Landesfiirsten und dessen Behörden, die die Augsburger Gewerken durchaus nicht als gefahrlichen Machtfaktor und als „ausländische Konkurrenz" empfanden - im Gegenteil waren Kompromiss und Zusammenarbeit angesagt. Dies betraf gerade auch den Versuch, angesichts der Krisenjahre die Versorgung des Schwazer Reviers sicherzustellen, wobei auch die Fugger hohe Verluste erlitten und keinesfalls auf Kosten der Bergleute lukra-tive Geschäfte machten.

Die gelungene Untersuchung vermag das Wissen um die Geschichte des Fuggerschen Un-ternehmens, die Entwicklung des Schwazer Bergbaureviers und die Politik des Tiroler Lan-desfürsten wesentlich zu erweitern. Ein Glossar sowie ein Orts- und Personenregister runden den Band ab. Dass bei einer derart umfangreichen Arbeit kleinere Fehler zu finden sind, wird nicht überraschen (so muss es auf S. 102 wohl „Cloffter" und nicht „Closster" heißen, auf S. 42 ist von einem „Erzherzogtum Tirol" die Rede, und „Eduard Wildmoser" ist durchgehend in „Widmoser" zu korrigieren). Die mangelnden Forschungen über den Tiroler Adel bringen es mit sich, dass die Autorin wiederholt auf ältere Literatur zurückgreift, die aber zum Teil nicht unproblematisch ist; bekanntermaßen finden sich insbesondere bei Granichstaedten-Czerva nicht wenige Irrtümer. Etwas befremdlich wirkt die in einigen Fällen gewählte, den Quellen offenbar direkt übernommene Schreibweise von Eigennamen, wie ζ. B. „Madrutsch" anstatt Madruzzo („Nielas von Madrutsch" war im Übrigen nicht Bischof von Trient, wie auf S. 231

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Rezensionen 457

angeführt) oder „Refereit" - fur das in Klammer hinzugesetzte Rovereto würde man in der frühen Neuzeit wohl meist die Form „Rofreit" finden.

Innsbruck Klaus Brandstätter

András FORGÓ, Kirch l iche Einigungsversuche in Ungarn . Die Un ionsverhand lun-

gen Chr i s tophorus Rojas y Sp ino las in der zweiten Hä l f te des 17. J ahrhunder t s . (Veröf-

fent l i chungen des Inst i tuts für Europäische Geschichte Ma inz , Abte i lung für abend län-

dische Re l ig ionsgesch ichte 2 1 2 . ) Von Zabern, M a i n z 2 0 0 7 . 211 S., 2 Karten.

Das aus einer 2005 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Fachbereich Ge-schichte approbierten Dissertation hervorgegangene Werk gibt einen auf umfangreichen Quel-lenrecherchen basierenden Uberblick über die von Christoph Rojas y Spinola im Heiligen Römischen Reich und in Ungarn geführten Verhandlungen über eine Vereinigung der evangeli-schen Kirchen A. B. und H. B. mit der römisch-katholischen Kirche. Als Hintergründe werden die konfessionspolitische Geschichte Ungarns seit der Reformation und die vorangegangenen bzw. parallelen orthodox-katholischen Teilunionen in den Ländern der ungarischen Krone in die Darstellung einbezogen. Auch Spinolas Verbindungen zu dem irenisch eingestellten Kon-vertitenkreis am Hof des Mainzer Erzbischofs Johann Philipp von Schönborn geht der Autor nach. Der klar strukturierte und sehr flüssig geschriebene Text schließt durch die gründliche Aufarbeitung zahlreicher neuer Quellen aus deutschen, österreichischen, ungarischen und slo-wakischen Archiven sowie durch die Zusammenschau der Unionsverhandlungen Spinolas in Ungarn und im Reich eine erhebliche Forschungslücke.

Die Darstellung beginnt mit einem Überblick über das Verhältnis der Konfessionen in Ungarn zunächst unter osmanischer, dann unter habsburgischer Herrschaft. Dabei wird die relativ weitgehende Toleranz der ungarischen Kirchenordnung „eher als die Folge eines Macht-gleichgewichtes und weniger als eine Verringerung der Ablehnung Andersgläubiger" (S. 2) ge-sehen. Ansätze zu einer aus humanistischen und proconationalen Ideen gespeisten Indifferenz, wie sie etwa István Bitskey (Konfessionen und literarische Gattungen der frühen Neuzeit in Ungarn. Beiträge zur mitteleuropäischen vergleichenden Kulturgeschichte. Frankfurt a. M . 1999) innerhalb der ungarischen Konfessionslandschaft konstatiert hat, werden hierbei nicht thematisiert. Die gewaltsamen Rekatholisierungsmaßnahmen der Habsburger in den 1670er-Jahren, der so genannten „Trauerdekade" des ungarischen Protestantismus, führten zu einer Konversionswelle, konnten jedoch die rechtliche Position der protestantischen Stände nicht bezwingen. Als alternative Strategien zur Herstellung konfessioneller Uniformität blieben dem Kaiserhof daher, ähnlich wie im Reich, nur die Bemühung um individuelle Konversionen und (Teil-) Kirchenunionen.

Die Unionsverhandlungen des Franziskaners und (ab 1685) Bischofs von Wiener Neustadt Spinola mit Vertretern der lutherisch-evangelischen Kirche Ungarns konnten sich auf das Vor-bild der in Ungarn und Siebenbürgen bereits bestehenden orthodox-katholischen Teilunionen stützen. Diese so genannten unierten Kirchen umfassten jeweils Teile der ruthenischen, ru-mänischen und armenischen Volksgruppen und folgten ihrerseits dem Vorbild der Union von Brest-Litowsk (1595) in Polen-Litauen; sie bilden den Gegenstand des zweiten Kapitels. Ihre Grundlage war das Unionsdekret von Florenz Laetentur caeli, mit dem 1439 die erste, wenn auch kurzlebige, Wiedervereinigung zwischen Rom und Konstantinopel zu Stande gekommen war. Die Gleichstellung des unierten Klerus mit dem lateinischen und die damit verbundenen Privilegien (Freiheit, Immunität und Exemtion von der weltlichen Herrschaft) stellten nach Forgós Befund einen wichtigen Anreiz fiir die Unionen dar.

Im nächsten Kapitel werden zunächst die Unionsvorstellungen im Umfeld des Mainzer Erzbischofs Johann Phil ipp von Schönborn vorgestellt und Spinolas Beziehungen zu diesem Hof, an dem er sich ab 1661 wiederholt in diplomatischen Missionen für den Kaiser aufhielt,

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458 Literaturberichte

untersucht. Forgó konstatiert, dass sich in Bezug auf Spinolas Unionsverhandlungen leider wenig Aufschlussreiches in den Mainzer Quellen erhalten hat, stuft ihn aber als „eine[n] der wichtigsten Verhandlungspartner des Mainzer Kreises" (S. 97) ein. Weiters werden die Uni-onsverhandlungen, die Spinola in kaiserlichem Auftrag an verschiedenen Reichsfürstenhöfen führte, sowie der Theologenkonvent in Hannover von 1683 dargestellt, an dem neben Spino-la und dem lutherischen Abt von Loccum, Gerard Wolter Molanus, auch Leibniz sowie der Helmstedter Theologe Friedrich Ulrich Calixt teilnahmen. Die von Spinola und Molanus für diesen Konvent verfassten Thesenpapiere werden vorgestellt und die anschließenden Proteste verschiedener Reichsfürsten anhand erhaltener Briefe verfolgt.

1691 und 1692 unternahm Spinola, ausgestattet mit einer königlichen Vollmacht, zwei Ungarnreisen. Als Diskussionsgrundlage legte er unter anderem einen als „Extract-Schreiben aus Frankfurt" bekannten Text vor, der 1660 im Umfeld des Mainzer Konvertitenkreises ent-standen war und in einer Druckfassung 1698 neuerlich auch im Reich für Diskussionen sorgte. Spinolas Gesprächspartner waren vor allem die lutherisch-evangelischen königlichen Städte, von denen sich die Mehrzahl zu einer Union bereit erklärte, falls diese dem Wort Gottes entspreche und ihre Privilegien nicht beeinträchtige. Diese Union sollte gemeinsam mit den Protestanten des Reichs auf einer Konferenz ausgearbeitet werden. Die reformierten Gemeinden, denen Spinola denselben Vorschlag unterbreitete, antworteten höflich, schlossen aber Änderungen an ihren Glaubensartikeln aus; der katholische Klerus ignorierte die Unionsbemühungen weitge-hend. Forgó ordnet die Unionsverhandlungen Spinolas in die habsburgische Religionspolitik in Ungarn ein und setzt sie mit Reformplänen in Beziehung, die in Wien zu dieser Zeit für die katholische Kirche in den neueroberten Gebieten ausgearbeitet wurden. 1693 begann Spinola mit Vorbereitungen für eine Unionskonferenz, die jedoch nicht zu Stande kam. Daneben führ-te Spinola in den 1690-er Jahren die Verhandlungen mit Molanus und Leibniz fort, was sich unter anderem in der Überarbeitung einer von Spinola verfassten Pseudonymen Schrift mit dem Titel Confessiti Hungarica durch Leibniz niederschlug.

Der Autor findet durch die Einbeziehung administrativer Quellen eine überzeugende Balance zwischen der politischen und der theologischen Dimension des Unionsthemas. Stellen-weise wäre vielleicht eine breitere religionsgeschichtliche Kontextualisierung interessant gewe-sen, etwa hinsichtlich des nur kurz erwähnten Begriffs der „diskreten" Frömmigkeit als Leitkon-zept einer insbesondere im höfischen Milieu angesiedelten, von Laien getragenen Irenik. Auf die Helmstedter theologische Tradition oder das Leibnizsche Unionsprogramm als Grundlagen von Spinolas Verhandlungen in größerem Detail einzugehen, hätte den Rahmen der Untersuchung gesprengt; allenfalls ist das Fehlen jeglicher Bezugnahme auf die parallelen Verhandlungen Leibniz' mit den französischen Theologen Benigne de Bossuet und Paul Pellisson als Lücke zu bezeichnen. Das Werk stellt jedoch eine gründliche und umsichtige Aufarbeitung des Themas und einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der frühneuzeitlichen Kirchenunionsversuche dar. Ein Orts- und Namensregister, ein Anhang mit Quellenabschriften, eine mehrsprachige Tabelle ungarischer Städte sowie zwei Karten erschließen den Text.

Wien Ines Peper

D i e Jesuiten in Innerösterreich - Die kulturelle und geistige Prägung einer Region im 17. und 18. Jahrhundert, hg. von Werner DROBESCH-Peter G . TROPPER. Hermago-ras/Mohorjeva zalozba, Klagenfur t -L jubl j ana-Wien 2 0 0 6 . 3 2 2 S., zahlreiche Abb.

Der vorliegende Band versammelt die Beiträge eines 2004 in Klagenfurt vom Institut für Geschichte der dortigen Universität zusammen mit dem Archiv der Diözese Gurk-Klagenfurt abgehaltenen Symposiums, das seinerseits aus dem seit 1998 laufenden Projekt einer Edition und Übersetzung der handschriftlichen Chronik des Klagenfurter Jesuitenkollegs hervorging. Als Motivation fuhren die Herausgeber an, dass „die historiographische Bearbeitung des jesu-

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¡tischen Wirkens nicht nur für Kärnten, sondern gleichfalls für Innerösterreich alles andere als überwältigend" sei und es an einer „Zusammenschau und Bewertung der jesuitischen Tätig-keit" fehle (S. 7).

Der einleitende Beitrag von Werner Drobesch (S. 9 - 2 0 ) überblickt Forschungsstand und Forschungsdesiderate und macht zugleich klar, wie die angesprochenen Mängel zu verstehen sind. Einerseits sind zwar manche Bereiche jesuitischer Tätigkeit, wie das gegenreformatori-sche Wirken oder das Schulwesen, verhältnismäßig intensiv untersucht worden, andere jedoch kaum. Andererseits sind vor allem ältere Arbeiten vielfach von einer polemischen Ausrichtung geprägt, die differenzierter quellennaher Historiographie nicht förderlich war. Dies gilt nach beiden Seiten: jener einer „undifferenzierten Bewunderung" und jener einer „von Vorurteilen getragenen Kritik" (S. 14), die sich gegen die Jesuiten seit ihrem ersten Auftreten - freilich unter wechselnden ideologischen Vorzeichen - erhob.

Diesem doppelten Desiderat versuchen die Herausgeber durch breite thematische und re-gionale Streuung der Beiträge zu begegnen, die von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Osterreich, Slowenien, Italien und Deutschland beigesteuert wurden. Zwölf Aufsätze sind thematisch angeordnet, weitere fünf widmen sich einzelnen Regionen und Orten. Ein an den Schluss gestellter Beitrag von Reinhold Ettel SJ (S. 2 6 9 - 2 8 1 ) n immt eine Sonderstellung ein. Der Frage nach der Bewertung jesuitischen Wirkens, welche die bisherige Historiographie so oft geprägt hat, wollten oder konnten sich die Herausgeber nicht ganz entziehen; sie schwingt nicht nur in etlichen Beiträgen mit, sondern hat auch den Antrieb geliefert, den Betroffenen selbst das Wort zu erteilen. Vorgesehen war auch ein entsprechender Beitrag über „das jesu-itische Tun aus protestantischer Sicht", der aber nicht zustande kam: „Eine ausgesprochene Einladung fand keine Resonanz" (S. 7).

Doch wird bei der Lektüre des Textes von Ettel bald klar, dass sich auch die jesuitische Seite der Einladung im Grunde versagt hat. Der Verfasser bietet Charakterbilder der jesuitischen Gründerheiligen mit Reflexionen darüber, wie ihr Beispiel Jesuiten und andere Katholiken in der Gegenwart leiten könne. In den eher homiletischen als historischen Betrachtungen sucht man Bezüge zu Innerösterreich im 17. und 18. Jahrhundert vergebens. Angesichts des Um-stands, dass es in der Societàs auch heute profilierte Kirchenhistoriker gibt, die zum Erkennt-nisinteresse des Bandes mehr hätten beisteuern können, ist dies etwas enttäuschend.

Erfreulicher sind - aus der Sicht des Historikers - die meisten der anderen Aufsätze. Den Anfang macht der Beitrag von Karl Heinz Frankl über „Die Jesuiten als Theologen" (S. 21 -36 ) , der die ignatianische Theologie und Spiritualität im Verhältnis zum theologischen Erbe des Mittelalters verortet und darlegt, auf welchen geistigen und geisdichen Grundlagen jesuitische Tätigkeit in der Frühen Neuzeit aufbaute: ein sinnvoller Einstieg, der zum Verständnis großer Teile des Folgenden hilfreich ist.

Mehrere Beiträge befassen sich mit dem Wirken der Jesuiten in Unterricht und „Wissen-schaft" - der letztere Begriff wäre hinsichtlich der Frühneuzeit zu problematisieren gewesen. Der Aufsatz von Peter Claus Hartmann über Jesuiten und interkontinentalen Wissenstrans-fer stellt eine Anbindung an aktuelle Diskussionsstränge der Globalgeschichte und Transfer-forschung her (S. 59 -68 ) . Die Texte von Theodor Domej und Vincenc Rajsp (S. 129 -141 , 2 2 2 - 2 3 0 ) behandeln die Position der Jesuiten innerhalb der komplexen Mehrsprachigkeit des innerösterreichischen Raumes, vor allem ihre Rolle bei der Herausbildung der sloweni-schen Schriftsprache. Hier wird auch deutlich, dass die „wissenschaftliche" Tätigkeit von (Or-dens-)Geistlichen nicht losgelöst von ihrer Spiritualität und ihren seeisorglichen Aufgaben verstanden werden kann: Die Befassung mit der slowenischen Sprache entsprang unmittelbar dem Anliegen einer wirksamen Pastoral. Unter derselben Perspektive der Mehrsprachigkeit, „Überregionalität und Internationalität" widmet sich Werner Drobesch den Schülern und Lehrern des Klagenfurter Gymnasiums, wobei er aus reichen ungedruckten Quellen schöpft (S. 95 -114 ) .

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460 Literaturberichte

Einen Überblick über jesuitische „Wissenschaft" in Österreich von den Anfangen bis zur Gegenwan zu bieten, hat Helmut Rumpier unternommen (S. 3 7 - 5 8 ) . Besonders interessant sind seine Ausführungen zum 19. und 20. Jahrhundert, in denen er aus teils entlegenen Quel-len etliche kaum bekannte Persönlichkeiten vorstellt. Für die Zeit vor der Aufhebung des Or-dens 1773 bleibt der Beitrag stellenweise hinter dem aktuellen Forschungsstand zurück: Zu Athanasius Kircher erwa gäbe es neuere und relevantere Erkenntnisse als das abschätzige Urteil aus Lhotskys „Österreichischer Historiographie", das allein zitiert wird (S. 43; zuletzt: Athana-sius Kircher. The Last Man Who Knew Everything, hg. von Paula FINDLEN, New York 2004, mit weiterer Bibliographie). Problematisch ist auch eine gewisse Neigung, den Jesuiten eine ausschließliche Dominanz im frühneuzeitlichen Geistesleben Österreichs zuzuschreiben, die ihnen bei allem unzweifelhaft großen Einfluss nicht zukommt. Aussagen wie „Die Jesuiten-wissenschafter in Österreich bildeten das Gegenstück zur protestantisch orientierten Wissen-schaftskultur Westeuropas" (S. 41) wären zu relativieren.

Eine nützliche Kontextualisierung ermöglicht hier die von Peter Trapper gebotene Uber-schau über die „Kärntner Ordenslandschaft" (S. 6 9 - 7 8 ) . Die Jesuiten hatten in einem dichten Umfeld aus Institutionen des Ordens- und Weltklerus zu agieren, deren einige durchaus vital genug waren, ihnen wichtige Partner oder ernstzunehmende Konkurrenten zu sein. Dies klingt auch im anregenden Beitrag Robert Klugers über die Volksmissionen (S. 7 9 - 9 4 ) an. Dieser öff-net den Blick auf einen für Österreich noch wenig erforschten Bereich gegenreformatorischer Pastoral, dessen Wirkungsweise kritisch reflektiert wird. Dass dies der einzige Beitrag zum The-menkreis Gegenreformation und Repression gegen (Geheim-)Protestanten bleibt, überrascht allerdings angesichts der Zentralität dieser Fragen doch etwas.

Den kunsthistorischen Aspekt decken die Aufsätze von Wilhelm Deuer über die Architek-tur und von Werner Telesko über die Ausstattung der Klagenfurter Jesuitenkirche sachkundig ab (S. 157-180 , 181-193) . Zur von Deuer vorgebrachten These der Zentralität dieses Baus fur die Verbreitung des „jesuitischen Wandpfeilertyps" nördlich der Alpen muss sich der Re-zensent mangels Sachkenntnis einer Stellungnahme enthalten; hervorzuheben ist jedoch, dass beide Autoren nicht nur die reichhaltige kunsthistorische Literatur berücksichtigen, sondern auch die künstlerische Repräsentation in den Kontext jesuitischer und regionaler Geistes- und Kulturgeschichte einbetten.

Die fünf regional orientierten Beiträge von Rudolf Höfer, France Dolinar, Luigi Tavano, Claudio Ferian und Pietro Zovatto behandeln die Geschichte der Jesuiten in der Steiermark (S. 194-214) , im slowenischen Raum (S. 2 1 5 - 2 2 1 ) , in Görz (S. 2 3 1 - 2 4 2 , 2 4 3 - 2 5 1 ) und in Triest (S. 2 5 2 - 2 6 8 ) . Hier werden etliche Fragen aus den thematischen Aufsätzen aufgegrif-fen, aber auch solche angerissen, die keinen eigenen Beitrag vorweisen können. So findet man ein Hauptthema früherer Diskurse über die Jesuiten, nämlich deren Verhältnis zur politischen Macht, in diesem Band nur hier: bei Höfer oder Tavano in der Betonung der landesfurstlichen Förderung, bei Zovatto in der Darstellung eines Falles von hartnäckigem hinhaltendem Wi-derstand lokaler Eliten.

Schließlich sind noch zwei Beiträge anzusprechen, die unmittelbar mit dem eingangs er-wähnten Editionsprojekt zusammenhängen. D e m Vorwort zufolge soll die Edition neben einer deutschen Ubersetzung auch einen „entsprechenden philologischen Kommentar" bieten (S. 7). So findet sich auch im Sammelband ein zweigliedriger Beitrag über „Jesuitenlatein am Beispiel der Annales Collegii Clagenfurtensii". Wahrend Werner Drobesch eingangs den Wissensstand zum Lateinischen im jesuitischen Unterrichtswesen kompetent referiert (S. 143-145) , sind die Ausführungen von Roman Wunder über das „Jesuitenlatein" der Chronik als „Mischform aus klassischem Latein und Neulatein" (S. 154—156) ein fragwürdiges Kapitel. Der kurze Text kommt nicht nur ohne Verweise auf Sekundärliteratur aus, sondern auch ohne neulateinisches Vergleichsmaterial. Vielmehr wird die Sprache der Chronik ausschließlich mit dem „klassischen Latein" verglichen, dessen Formen mehrfach als die „korrekten" bezeichnet werden. Bereits die

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Rezensionen 461

Fragestellung ist somit zumindest problematisch. Das meiste, was als „auffal lend" hervorgeho-ben wird, ist eher banal ( l a c rym a statt lacrima, sermo in der Bedeutung „Predigt" usf.), oft auch keineswegs ausschließlich neuzeitlich. Eine ganze Seite ist dem Gebrauch von „Sperrungen" gewidmet, worin schwerlich ein neulateinisches Spezifikum erkennbar ist.

Von Wunder s tammen auch die meisten der Ubersetzungen, die den in mehreren Bei-trägen gebrauchten Chronikzitaten beigegeben sind. Bei deutlichem Bemühen u m wörtliche Wiedergabe enthalten sie einzelne sinnstörende Fehler (z. B. S. 82f.: Labantes et inclinataspar-tes vehementer afflixit erroris doctor, qui [...] ejuravit. nicht „ D i e schwankende und sinkende Partei schwächte sehr den Lehrer des Irrtums, der [...] abschwor", sondern das Abschwören des Irrlehrers [sc. Prädikanten] schwächte die bereits schwankende Partei [sc. Protestanten]; die Beispiele ließen sich vermehren), vor allem aber Stellen, die auf geringe Vertrautheit mit Neulatein weisen. So ist beispielsweise der nicht eben seltene Gebrauch von plurimum oder admodum als elative Adverbien offenbar nicht erkannt worden (S. 149: ein tectum e vetustis ad-modum scandulis bestand nicht „völlig aus alten Schindeln" , sondern aus überaus alten; S. 155: civitas sibi plurimum gratulali: nicht „am meisten", da kein Vergleich vorliegt, sondern einfach „sehr"). Die Einbeziehung von Erkenntnissen der neulateinischen Philologie in die Arbeit von Historikern der Frühen Neuzeit ist, wie die Betreiber des Editionsprojekts erkannt haben, ein höchst erstrebenswertes Ziel; hier wird es nicht in adäquatem Maße erreicht.

Mit Christian Kogler hat sich einer der Mitarbeiter des Projekts „ Z u den Quel len der Klagenfurter Jesuitenchronik" geäußert (S. 1 1 5 - 1 2 7 ) . In der Hauptsache befasst er sich freilich mit dem Verhältnis des ersten Chronikbandes zu dessen Hauptquel le , einer 1705 gedruckten Geschichte des Klagenfurter Kollegs. Auf mehreren Seiten werden Parallelstellen verglichen und dabei auch kleinste Abweichungen diskutiert. Hinsichtlich anderer Que l l en ist das Ergeb-nis ernüchternd: Die in einer Arbeit von 1909 erwiesenen Abhängigkeiten der Chronik von gedruckten Vorlagen werden referiert, über mögliche weitere aber nur spekuliert. Der Nach-weis der Benutzung von Dokumenten aus dem Archiv des Kollegiums wird ausschließlich an-hand expliziter Allegationen des Chronisten geführt; in keinem Fall scheint nach den Vorlagen gesucht worden zu sein. Hier wäre ein Eingehen au f das Schicksal des Kollegiumsarchivs bei der Aufhebung wünschenswert. Die nächstliegenden Parallelquellen, die in Wien erhaltenen jährlichen Berichte ( l itterae annuae), werden gegen Schluss immerhin erwähnt (S. 126f.) und ihre Zusammenschau mit der Chronik als Desiderat benannt. Nach sechs Jahren Projektdauer wäre mehr zu erwarten gewesen.

Z u d e m bieten auch Koglers Übersetzungen von Chronikstellen bedenkliche Irrtümer. Dass aus den Jahresberichten nur paucula et minora votis nostris zu entnehmen seien, bedeutet nicht „ganz wenig und nur Geringes fiir unser Weihegeschenk" (S. 126), sondern „weniger, als wir gewünscht hätten"; die maior nostrae ecclesiae campana ist keine „größere Unternehmung dieser unserer Kirche" (S. 119f.) , sondern deren größere Glocke. Hierher gehört auch, dass das beigegebene Facsimile aus der Chronik , von d e m weniger als eine Seite in Transkription geboten wird (S. 1 4 6 - 1 5 3 ) , an drei Stellen unrichtig wiedergegeben ist (Z. 11: Acessit statt Accessit, Ζ . 33 : attentat statt attentant, Ζ . 45 : Haque [in der Übersetzung bemüht mit „hier" wiedergegeben] statt Itaque).

Das Editionsprojekt ist inzwischen mit Ende des Jahres 2 0 0 8 ausgelaufen. Gegenüber dem in diesen zwei Beiträgen Gebotenen sind manche Verbesserungspotentiale hoffentlich genutzt worden.

Mit diesen Abstrichen ist der Band jedenfalls als erfreuliche Erscheinung zu werten. Viele Beiträge bieten wertvolle Informationen über teils unzureichend erforschte Bereiche der Religi-ons-, Kultur- und Sozialgeschichte des Raumes „Innerösterreich" oder eröffnen lohnende Per-spektiven für weitere Forschung. D ie internationale Zusammenschau innerhalb dieses Raumes , die an eine schon zuvor geübte Praxis anschließt (vgl. Katholische Reform und Gegenreforma-tion in Innerösterreich 1 5 6 4 - 1 6 2 8 , hg. von France M . D o u N A R - M a x i m i l i a n LiEBMANN-Hel-

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462 Literaturberichte

mut RuMPLER-Luigi TAVANO, Klagenfurt-Ljubijana-Wien 1994), ist ebenso positiv hervorzu-heben wie das aktive Bemühen um Interdisziplinarität, die sich nicht im Nebeneinanderstellen der Beiträge erschöpft, sondern auch innerhalb einiger davon die Integration verschiedener Methodologien anstrebt. Ein kumulatives Literaturverzeichnis, ein Personen- und ein Ortsre-gister erleichtern die Benutzung. Gut gewählte Abbildungen machen die Darstellung an vielen Stellen anschaulicher.

Wien Thomas Stockinger

Alexander SCHUNKA, Gäste , die bleiben. Zuwanderer in Kursachsen und der Ober-lausitz im 17. und im frühen 18. Jahrhundert . (Pluralità: & Autorität 7.) Lit Verlag, H a m b u r g 2 0 0 6 . 4 2 3 S.

Das titelgebende Zitat von Georg Simmel beschreibt den Inhalt dieses vielschichtigen und auf hohem Niveau argumentierenden Bandes zur Migrationsgeschichte exakt, die komplexen Inklusions- und Exklusionsmechanismen von protestantischen und katholischen Zuwanderern in Kursachsen und der Oberlausitz während der Zeit des Dreißigjährigen Krieges und der Zeit danach werden hier mustergültig modelliert. Migration in der Frühen Neuzeit erscheint in der überarbeiteten Münchner Dissertation nicht als Ausnahme, sondern als Normalfall; Transgres-sion wird nicht allein als geographisch bestimmter Vorgang, sondern als eine Überwindung kultureller wie gesellschaftlicher Grenzen und als bewusste Wahrnehmung von Migrationsop-tionen verstanden. Die konfessionellen Argumente der Zuwanderer werden im Migrationssys-tem (Dirk Hoerder) zunehmend zielgerichtet und funktionalisiert eingesetzt (Pragmatisierung konfessioneller Autorität); der Begriff des „Exulanten" avanciert zu einem von den Zuwande-rern strategisch genutzten Topos. Nach einer ebenso konzisen wie vorzüglichen Einleitung zur konfessionellen Migration in den habsburgischen Ländern, zum Emigrationsrecht, zur Asyl-praxis, zur politisch eigenständigen Haltung Kursachsens im Dreißigjährigen Krieg und zur Rezeption der Zuwanderung in den kursächsischen Quellen gliedert der Autor das vorwiegend (aber nicht nur) auf Dresdner Quellen basierende Material in vier, thematisch unterschiedlich ausgerichtete, Großkapitel: (1) die Instrumentarien und die Institutionen der Fremdenauf-nahme, (2) die Ansiedlung der Zuwanderer (in den Städten), (3) die soziale Schichtung der Migrantenschaft und schließlich (4) die soziale und konfessionelle Marginalität.

(1) Die quellenkundlich breit aufgearbeitete Erfassung von Zuwanderern/Exulanten in den nach ramiscischen Ausschlussprinzipien angelegten, fein verästelten Listen erlaubt aufgrund der Gleichförmigkeit in Aufbau, Struktur, Anordnung und Inhalt gute Auswertungsmöglichkeiten und stellt eine zeitgenössisch breit genutzte Form der Wissensorganisation dar. Daneben bilden vor allem die nicht vollständig überlieferten Suppliken als Selbstzeugnis eine gute Quellen-grundlage für das Selbstbild der Exulanten/Zuwanderer/Bettler. Manche Suppliken erzählen en miniature über mehrere Stationen kleine Reiseromane über Alter, Armut und Schwäche, konfessionelle Bedrohung, Krieg, Not und Glaubensfestigkeit. Nach der strukturellen Analyse der Suppliken werden vor allem die in dieser Quellengattung manifesten Denkhorizonte vor-gestellt: Vaterlandsliebe (versus Vaterlandsverlust) und protestantische Constantia in Zeiten der Wirrnis von Zeitläuften. Der auf einen reichsrechtlichen Kontext verweisende Exulantenbegriff wurde von den ersten Zuwanderern nicht verwendet, sondern tauchte erst ab 1625 mit zuneh-mender Häufigkeit auf und geriet zur distinktiven und in Kursachsen Erfolg versprechenden Selbstaussage der Flüchtlinge aus der Habsburgermonarchie.

(2) Nach einer Schätzung wanderten in Kursachsen zwischen 1625 und 1700 rund 150.000 Menschen ein, wobei vor allem Einwanderungsgebiete entlang der sächsisch-böhmischen Gren-ze - als Musterbeispiel Pirna - bevorzugt wurden. Das scheinbar kernprotestantische Kursach-sen sah sich mit verschiedenen Konfessionen konfrontiert: Den Problemen der einwandernden Böhmen (etwa tschechischsprachige Predigten, Integration der zugewanderten Handwerker,

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Rezensionen 463

Unregelmäßigkeiten bei der Almosenverteilung) und der Gründung von Exulantenstädten (Jo-hanngeorgenstadt) standen kryptokatholische Bewegungen (Gottesdienste beim habsburgischen Gesandten, katholische Militärs) in der Residenzstadt Dresden gegenüber. Rund ein Prozent der 20 .000köpf igen Bevölkerung Dresdens nahm an den katholischen Ostergottesdiensten teil.

(3) Neben der großen Bedeutung von geistlichen, aus B ö h m e n flüchtenden Migranten lassen sich der Adel (nach der Güterkonfiskation) , die Gelehrten und die Händler unter den Migranten besonders gut fassen. Wahrend die im Zuwanderungsgebiet vor allem als wirtschaft-liche Bereicherung der Städte erfahrenen, aber ständisch nur schwer in die städtische Sozial-landschaft integrierbaren Adeligen um ihre Federbetten zitterten, beklagten die Gelehrten den Verlust ihrer Bibl iotheken (und damit ihrer Arbeitsgrundlage). Leichter war die Integration für die im Regelfall über ein Bekanntennetz verfügenden Händler, die aber von den sächsischen Händlern verbissen als Konkurrenz begriffen wurden. Die böhmischen Handwerker fanden angesichts der zunehmenden Abschließungstendenzen der Zünfte in der Frühen Neuzeit nur begrenzt Aufnahme, die Ratsprotokolle dokumentieren ihre „störenden" Aktivitäten, ein allfal-liger Weg zum Bürgerrecht war steinig.

(4) G r o ß e Schwierigkeiten boten sich bei der Integration von sozialen und konfessionellen Randgruppen („Leben zwischen den Konfessionen") im S inne einer territorialen Armenpoli t ik : Bettelbriefe armer Fremder, kirchliche Versorgung für zugewanderte Arme (rund 1 - 5 % der jährlichen Kirchenausgaben), Konvertitenkassen für Konvertierende wurden ausgegeben bzw. eingerichtet. Körperlich Versierte, Studenten, Exulanten, Gefangene, W i t w e n , Schulmeister und Pfarrer fanden sich unter den Almosenempfangern (S. 2 9 4 f . ) . Witwen lukrierten mit Ab-stand die höchsten Almosenzahlungen. D e r „arme Exulant" , eine gängige Typenbezeichnung in Suppliken, wurde auch, wie am Beispiel der 1 7 5 0 in Dresden festgenommenen Bande von angeblichen Salzburger Exulanten ersichtlich, missbräuchlich verwendet, war aber ein almosen-förderndes Label. „Die Bezeichnung .Exulant ' diente als Kennzeichen für Märtyrertum ebenso wie als Kampfbegriff , der .Exulant ' zeigte sich multi funktional instrumentalisierbar, und die Personen, die diesen Terminus verwendeten, hatten häufig nur den Namen und darüber hinaus die Teilhabe am habsburgisch-mitteldeutschen Migrationsgeschehen gemeinsam" (S. 3 5 5 ) .

Die hervorragend lesbare und - vor den Migrationsströmen des 2 1 . Jahrhunderts leider - äußerst aktuelle Querschnit tuntersuchung berührt, jeweils a u f Augenhöhe mit dem aktu-ellen Forschungsstand, viele Themengebiete des komplexen Feldes der Migrationsforschung: Ausbildung von Konfessionskulturen und Kryptokonfessionalität , Migrations- , Selbstzeugnis-, Armutsforschung, Stadtgeschichte, Ideen- und Verfassungsgeschichte, Kulturtransfer etc. ; die Konfession wird als ein wichtiger unter mehreren Faktoren behandelt , aber auch als wichtige Strategie im K a m p f u m eine Einordnung in die neue Gesellschaft verstanden. D e n quellen-kundlichen Aspekten (etwa zur G a t t u n g Supplik, Listen von Zuwanderern) wird zudem ein hohes M a ß an Aufmerksamkeit geschenkt. Alexander Schunka hat ein Standardwerk zur früh-neuzeitlichen Migrationsforschung vorgelegt!

W i e n Mart in Scheutz

1 7 0 7 - 2 0 0 7 Altranstädter Konvention. Ein Meilenstein religiöser Toleranz in Eu-ropa, hg. von Jürgen Rainer WOLF. (Veröffentlichungen des Sächsischen Staatsarchivs, Reihe A: Archiwerzeichnisse, Editionen und Fachbeiträge 10.) Mitteldeutscher Verlag, Halle/Saale 2008. 196 S., zahlr. Farbabb.

Frank METASCH, 300 Jahre Altranstädter Konvention - 3 0 0 Jahre Schlesische To-leranz. 300 lat Ugody Altransztadzkiej - 300 lat ál^skiej tolerancji. Begleitpublikation zur Ausstellung des Schlesischen Museums zu Görlitz. (Spurensuche. Geschichte und Kultur Sachsens 2.) Thelem, Dresden 2007 . I I I S . , zahlr. Farbabb.

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464 Literaturberichte

Am 1. September 2007 jährte sich zum dreihundertsten Mal die zwischen Österreich und Schweden abgeschlossene Konvention von Altranstädt, benannt nach dem kleinen Ort in der Nähe von Leipzig, dessen Schloss König Karl XII. von Schweden während der Besetzung Sachsens im Nordischen Krieg als Quartier gedient hatte. Jenseits der bekannten diploma-tie- und militärgeschichtlichen Zusammenhänge an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert ist die Altranstädter Konvention zunächst und vor allem ein Religionsvertrag, der das lange konfessionelle Zeitalter in den schlesischen Territorien symbolisiert. Die Besonderheiten der frühneuzeitlichen Entwicklung des Oderlandes sind zumindest in Grundzügen geläufig: die konfessionelle Sonderregelung, die unter allen habsburgischen Erblanden einzig Schlesien im Ergebnis des Westfälischen Friedens durchzusetzen vermochte; die besondere Stellung zum Heiligen Römischen Reich und in diesem Zusammenhang die Aufmerksamkeit, welche Schle-sien beim Corpus Evangelicorum fand, obwohl die schlesischen Stände selbst nie Mitglieder dieser diplomatischen Vertretung aller lutherischen und reformierten Reichsstände gewesen sind; schließlich der in der Altranstädter Konvention von 1707 und dem zwei Jahre später unterzeichneten Breslauer Exekutionsrezess abermals bestätigte besondere Status Schlesiens als einziges konfessionell gemischtes österreichisches Erbland. Die in Publizistik und Politik während des 16. und 17. Jahrhunderts höchst umstrittenen Deutungen der religiösen Rechte der evangelischen Schlesier, also des Augsburger Religionsfriedens sowie der ihm nachfolgen-den Religionsregelungen vom Majestätsbrief Rudolfs II. über den Westfälischen Frieden bis eben hin zur Altranstädter Konvention, fasste 1707/08 Philipp Balthasar Sinold, genannt von Schütz, in seiner unter dem Pseudonym Irenicus Ehrenkron publizierten „Schlesischen Kir-chen-Historie" nochmals zusammen - und diskutierte auf mehr als tausend Seiten ein letztes Mal die alte Streitfrage, ob das Herzogtum Schlesien nun als „Reichs-Stand" oder lediglich als „Reichs-Land" anzusehen sei und welche Konsequenzen dies im einzelnen für die rechtliche Lage der Protestanten habe.

Dass diese Einzelfragen in der Forschung bis zur Gegenwart die ihnen gebührende Auf-merksamkeit gefunden hätten, wird man kaum behaupten können. Um so mehr ist zu hoffen, dass von den in Sachsen durchgeführten Jubiläumsveranstaltungen zur Altranstädter Konven-tion neue Impulse für eine vergleichende Betrachtung der schlesischen Religions- und Kir-chengeschichte ausgehen werden. Die Beiträge der Leipziger Fachtagung vom 30. und 31. August 2007, deren Organisation in den Händen des Direktors des Sächsischen Staatsarchivs Jürgen Rainer Wolf lag, liegen unterdessen im Druck vor. Sie sollen in erster Linie, verfasst von deutschen, schwedischen und polnischen Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen, eine Zwischenbilanz im eigentlichen Wortsinn darstellen: Thematisiert werden neben den territori-al- und konfessionspolitischen Rahmenbedingungen in Kursachsen und Schlesien Positionen und Interessen der einzelnen Akteure (Schwedens, Sachsens und Polens, aber auch der römi-schen Kurie und der schlesischen Stände), Strategien der habsburgischen Gegenreformation in Schlesien, die Auswirkungen der Altranstädter Konvention auf die evangelische Kirche Schlesi-ens und die Bewegung der betenden Kinder, ihre Bedeutung fur die Kunstlandschaft Schlesien sowie ihre Präsenz in Jubiläumskultur und historischem Gedächtnis. Die Qualität der zwölf Beiträge schwankt bedauerlicherweise erheblich - zwei umfassen gerade einmal fünf Druck-seiten - , und gleiches gilt für die Dokumentation bisheriger Forschungsergebnisse im Anmer-kungsapparat. Bemerkenswert sind vor allem die Beobachtungen zu den Auswirkungen der Religionsverträge auf die evangelische Kirche Schlesiens von Dietrich Meyer, der als einziger zudem kritisch die Bewertung der Altranstädter Konvention als eines „Meilensteins religiöser Toleranz in Europa" hinterfragt: Meyer spricht die sensible, bisher kaum untersuchte Frage des Verhältnisses zwischen Lutheranern und Reformierten in Schlesien an und kommt zu dem ernüchternden Ergebnis: „Die von den evangelischen Schlesiern so hoch gefeierte Religionsfrei-heit, von Karl XII. erzwungen und durch die Gnade des Kaisers gewährt, blieb hinsichtlich der Reformierten hinter den Zugeständnissen des Westfälischen Friedens zurück und ist von echter

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Rezensionen 465

Toleranz weit entfernt" (S. 96) . Es ist bedauerlich, dass vergleichbare Überlegungen zu Fragen konfessioneller Konkurrenz und Koexistenz sowie zu Möglichkeiten und Grenzen religiöser Toleranz nirgendwo grundsätzlicher diskutiert werden.

Ähnlich breit angelegt ist ein von Frank Metasch im Auftrag des Instituts fur Sächsische Geschichte und Volkskunde erarbeiteter deutsch-polnischer Begleitband zu der Ausstellung .»Auf dem Weg zur Toleranz. 3 0 0 Jahre Altranstädter Konvention", die am 14. März 2008 im Schlesischen Museum zu Görlitz eröffnet worden ist. Das zwar schmale, aber informative und hervorragend bebilderte Werk, das im Anhang den Text der Altranstädter Konvention sowie des Breslauer Exekutionsrezesses im Wortlaut abdruckt, eignet sich hervorragend als populäre Einführung. Gleichzeitig stellt es in didaktisch-pädagogischer Hinsicht ein Beispiel guter Ge-schichtsvermittlung dar, geht es doch auch auf Wertungen der Konvention durch Zeitgenossen und spätere Geschichtsschreiber sowie auf seine Bedeutung als Erinnerungsort für den schle-sischen Protestantismus ein. Die gut gewählten Abbildungen sind durchgehend von beste-chender Qual i tät . Die Altranstädter Konvention selbst wird im Vergleich zum oben genannten Sammelband mit etwas größerer Zurückhaltung als „bemerkenswertes Dokument der Suche nach Konsens und der Anerkennung religiöser Pluralität" (S. 4) gedeutet.

Stuttgart Joachim Bahlcke

D i e mähr i schen Enklaven in Schles ien . Ein S y m p o s i u m an der Schles i schen U n i -

versität O p a v a / T r o p p a u , hg . von G e r n o t RoTTER -Zdenék KRAVAR. (Schr i f ten der Su-

de tendeut schen A k a d e m i e der W i s s e n s c h a f t e n u n d K ü n s t e 2 7 . ) M a j - T i s k a r n a , O p a v a /

T r o p p a u - M ü n c h e n 2 0 0 6 . 1 8 0 S . , zahlr. A b b .

Die Sudetendeutsche Akademie der Wissenschaften und Künste wurde 1979 in München als eine Vereinigung von Wissenschaftlern und Künstlern gegründet, die, wie es in der Selbstdar-stellung der Akademie lautet, „der sudetendeutschen Volksgruppe auf besondere Weise verbun-den sind und in Würdigung ihrer herausragenden Leistungen in geheimer Wahl als Mitglieder berufen werden". Sie ist in drei Klassen gegliedert: Geisteswissenschaften, Naturwissenschaften sowie Künste und Kunstwissenschaften. Ihren Niederschlag findet die wissenschaftliche und künstlerische Arbeit der Akademie vor allem in einer eigenen Schriftenreihe, deren bereits 27 . Band den „mährischen Enklaven in Schlesien" gilt. Der schmale Band, herausgegeben von dem bis 2004 an der Universität H a m b u r g lehrenden Orientwissenschaftler Gernot Rotter und dem jungen Troppauer Archivar Zdenék Kravar, geht auf eine deutsch-tschechische Fachtagung im November 2 0 0 5 an der Schlesischen Universität in Troppau zurück. Er enthält zehn Studi-en, die einerseits Quel len und bisherige Beschreibungen der mährischen Enklaven vorstellen, andererseits exemplarisch deren historische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung vom Mittelalter bis zum Ersten Weltkrieg beleuchten. Als lose Beilage ist dem Band ein Ausschnitt aus der Karte des Bistums O l m ü t z von Wenzel Franz Freyenfeld aus dem Jahr 1762 beigefugt.

Im Grunde hätten die Herausgeber aus einem Artikel im „Nordmark-Kalender" des Jah-res 1912 lernen können, in dem ein Akademiker in seinem Artikel „Mährische Einschlußge-meinden (Enklaven) in Schlesien" schon vor beinahe einem Jahrhundert mit einer gewissen Verzweiflung schrieb: „So mancher wird sich über deren Entstehung und Berechtigung den Kopf zerbrochen haben, weshalb es vielleicht am Platze ist, dieser Frage einmal näher zu tre-ten" (zit. S. 115). Eine halbwegs befriedigende Erläuterung, u m was es sich eigentlich bei den „mehr als ein Dutzend mährischen Enklaven in Schlesien" (S. 8) , so Ritter in seinem kurzen Vorwort, handle, sucht der Leser allerdings lange vergebens. Erst im zweiten Beitrag von Hel-mut Bernert, der sich der Beschreibung der mährischen Enklave Hotzenplotz in verschiedenen Topographien widmet, wird er fundig. Bernert zitiert eine Arbeit des mährischen Landeshis-torikers Dudik (der freilich Beda, nicht „Bela" heißt) aus dem Jahr 1857. Nach Dudiks Auf-fassung habe man 1742 begonnen, die Olmützer bischöflichen Lehengüter „ämtlich mit dem

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466 Literaturberichte

Namen der mährischen Enclaven zu bezeichnen" (zit. S. 30); es gehe mithin um „gewisse im heutigen Kronlande Schlesien liegende mährische Landestheile, die bei einer Bevölkerung von 36,000 Einwohnern ehedem aus [...] selbstständigen Gütern bestanden" (zit. S. 31 f.). Bereits einige Jahre zuvor hatte Dudiks mährischer Kollege Christian d'Elvert in einer seiner mate-rialreichen, bis heute nützlichen verfassungsrechtlichen Abhandlungen geschrieben: „Mitten im ehemaligen troppauer Kreise von österreichisch Schlesien haben sich seit Jahrhunderten mährische Landestheile als selbständige Güter erhalten, welche seit etwas mehr als 100 Jahren unter dem Namen der .mährischen Enklaven oder Enklavouren' begriffen werden" (S. 30). Es geht mithin in historischer Rückschau um Gebietsteile, die geographisch auf dem Gebiet des Herzogtums Troppau lagen, politisch und lehensrechtlich aber ausnahmslos zum (Erz-)Bistum Olmütz gehörten. Die im Einzelnen komplizierte Entwicklung dieser Gebietsteile zwischen der Markgrafschaft Mähren und dem Herzogtum Schlesien lässt sich seit der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert verfolgen - ein Ende der mährischen Enklaven in Schlesien kam letztlich erst (auch wenn die Lehen mit Gesetz vom 12. 5. 1869 bereits aufgelöst worden waren) mit Grün-dung der Tschechoslowakischen Republik, obwohl auch danach einige Besonderheiten in den betroffenen Gebieten, etwa in der Organisation der Bezirksschulausschüsse, bestehen blieben.

Mit diesem Vorwissen ausgestattet, bieten die einzelnen Beiträge in ihrer Gesamtheit infor-mative Einblicke, und zwar nicht nur fur den kleinen Kreis der Lokal- und Regionalhistoriker im Untersuchungsraum, sondern auch für Historiker und Kulturwissenschaftler, die an all-gemeinen Fragen der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Rechts-, Verwaltungs- und Territorial-entwicklung interessiert sind. Bedauerlich ist, dass kein Beiträger die in den Archiven gut do-kumentierten, an Heftigkeit ihresgleichen suchenden religiösen Konflikte im konfessionellen Zeitalter näher untersucht hat. Von den im Titel genannten mährischen Enklaven in Schlesien - zu ihnen gehörten, knapp zusammengefasst, die beiden Gerichtsbezirke Hotzenplotz und Hennersdorf, die Enklaven im politischen Bezirk Troppau sowie die hiervon getrennte Ge-meinde Schlatten im politischen Bezirk Wagstadt - wird besonders die Enklave Hotzenplotz ausfuhrlich behandelt, die bereits aufgrund ihrer Größe und ihres eigenen Status eine gewisse Sonderstellung einnahm. Die Beiträge sind erfreulich quellennah verfasst, bedauerlicherweise aber in den Anmerkungen nicht immer zuverlässig und leider auch durch kein Personen- und Ortsregister erschlossen. Wichtiger als der lose beiliegende Ausschnitt einer Karte aus dem Jahr 1762 mit Hunderten von Dorf- und Stadtnamen, mit welchen der Leser rein gar nichts an-fangen kann, wäre eine einzige moderne kartographische Darstellung über die Lage der mähri-schen Enklaven in Schlesien gewesen.

Stuttgart Joachim Bahlcke

Peter KRÜGER, Das unberechenbare Europa. Epochen des Integrationsprozesses

vom späten 18. J ah rhunder t bis zur Europäischen Un ion . Kohlhammer , Stut tgar t 2 0 0 6 .

3 9 0 S.

Das Thema „Europäische Integration" löste in den letzten zehn Jahren (nicht nur) unter den Geschichtswissenschafterlnnen geradezu einen Boom aus: Unzählige Monografien wur-den verfasst und unter den unterschiedlichsten Blickwinkeln versuchte man die Entwicklungs-geschichte der Europäischen Union nachzuzeichnen. Eine Vielzahl der Autorinnen lässt den Integrationsprozess mit dem Ende des Ersten Weltkrieges beginnen, mit einem Rückblick auf Vereinigungsmodelle wie etwa Paneuropa oder Mitteleuropa, oder zeichnet das Spannungsver-hältnis zwischen Weltpazifismus und Europäismus nach.

Der angesehene deutsche Historiker Peter Krüger lässt seine Integrationsgeschichte bereits mit dem Ende des 18. Jahrhunderts beginnen und liefert somit eine Darstellung, die den In-tegrationsprozess nicht als eine linear verlaufende Entwicklung sieht, sondern als einen Prozess von Stopp and Go. Dabei wird nicht nur der politischen Geschichte das Hauptaugenmerk

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Page 39: Rezensionen II

Rezensionen 467

zugewandt, sondern auch den wirtschaftlichen Verflechtungen und der Rechtsenrwicklung in Europa.

Wenn Krüger seinem Buch den Titel „Das unberechenbare Europa" gegeben hat, so ist Unberechenbarkeit im Sinne von „Offenheit fur neue Gestaltungen, bedingt durch eine Ver-knüpfung von Vielgestaltigkeit, Freiheit und Erneuerungsfähigkeit zu verstehen" (S. 11). Das Charakteristikum „unberechenbar" beschreibt - nach Meinung des Autors - die europäische Integration (S. 11) sehr gut, die allerdings auf dem Sockel der Berechenbarkeit = des Rechts entstanden ist (S. 12). Diese Unberechenbarkeit, von der Krüger spricht, lässt sich mit einer Aussage von Eric Hobsbawn treffend beschreiben: „Die EU ... ist das Kind einer spezifischen und wahrscheinlich unwiederholbaren historischen Konstellation."

Den Blick darauf zu schärfen, dass das vereinte Europa nicht erst eine Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg darstellt, ist immens wichtig und dies tut Peter Krüger in dem vorlie-genden Werk: die Aufklärung bedeutete eine Zäsur in allen Bereichen des Lebens - so auch im Denken über die Einheit Europas. Durch die Aufklärung war ein „ganz unmittelbares europä-isches Wir-Gefiihl" (S. 24) entstanden. Die Staatenwelt der damaligen Zeit verstand sich als eine Staatengesellschaft, als eine große Familie (S. 31): Montesquieu, Rousseau oder Voltaire betonten die Gemeinsamkeit Europas als einen aus Provinzen zusammengesetzten Staat bzw. Republik. Ausdruck des gemeinsamen, aber noch nicht einheitlichen Europas ist der Wiener Kongress, gezielt gegen das Anti-Europa Napoleons gerichtet.

Die Aufklärung entlud sich nicht nur in einer politischen Revolution, sondern auch in einer wirtschaftlichen. Modernisierung war angesagt, wodurch bereits hier innerstaadich Inte-gration erfolgte. Wichtig ist auch festzuhalten, dass die Wirtschaft auf Staat, Recht und Politik sowie auf international legitimierte Institutionen angewiesen war (S. 79) und somit per se einen Integrationsfaktor darstellt. Der Zollverein wäre hier zu nennen und auch die Handelsbezie-hungen, die immer mehr einer Struktur, einer Institutionalisierung bedurften.

Hinsichtlich der rechtlichen Komponenten der europäischen Integration verweist Peter Krüger darauf, dass die von Joseph Weiler und Ulrich Haltern geforderte integration through law bereits mit Beginn des 19. Jahrhunderts anzusetzen ist. Immerhin stellt die Schaffung von Nationalstaaten mit einer Verfassung eine wesentliche Vorbedingung der europäischen Inte-gration dar!

Die Debatten über das gemeinsame Europa zielten nach Krüger jedoch nicht darauf ab, eine Ideengeschichte der europäischen Integration schaffen zu wollen, vielmehr entstand da-durch ein neuer europäischer Kommunikationsraum, der die Basis für die spätere Integration bildete.

Unberechenbar im Sinne von Krüger war der Ausgang des Ersten Weltkrieges, kein Stein sollte mehr auf den anderen bleiben. Regierungen werden nun fur die europäische Integration zuständig, weshalb man die Integration nicht vor dem Ende des Ersten Weltkrieges anset-zen kann, sondern schon 1918 (S. 103f.). Erster und Zweiter Weltkrieg brachten das Span-nungsverhältnis zwischen Integration und Desintegration hervor; es ist vor allem den Wider-standskämpfern zu verdanken, dass sie während der Phase des „dunklen Kontinents" (S. 12) die Europavereinigungsidee aufrecht erhielten, dieser neues Leben einhauchten und somit den Europagedanken zu einem „unverwüstlichten" machten (S. 173ff). Dieses neue Europa sollte kein unberechenbares werden, sondern ein berechenbares, aufgebaut auf Institutionen und dem europäischen Recht, durch Oberwindung der staatlichen Souveränität und durch beharr-liches Insistieren auf den Menschenrechten.

Peter Krüger hat ein sehr spannendes Buch über die europäische Integration verfasst, das nicht nur die Politik berücksichtigt, sondern auch Wirtschaft, Gesellschaft und Recht mit ein bezieht, woraus sich das „europäische" und „unberechenbare" Geflecht ergibt. Interessant ist, dass Peter Krüger einer der ganz wenigen „Integrationshistorikerinnen" ist, abgesehen von etwa Denis de Rougemont oder Klaus Schöndube, der die Integration bereits im 18. Jahrhundert

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468 Literaturberichte

ansetzt. Dies rechtfertigt die Tatsache, dass bereits ab dem aufgeklärten späten 18. Jahrhundert die Vorbedingungen fur die europäische Integration, die erst mit 1950 ihre reale Umsetzung gefunden hat, gelegt worden sind. Das vorliegende Buch zeichnet sich durch eine tiefgehende Breite aus und sollte in keiner Bibliothek eines/einer am europäischen Integrationsprozess In-teressierten fehlen.

Graz Anita Prettenthaler-Ziegerhofer

H u b e r t WEITENSFELDER, R ö m l i n g e u n d Preußenseuchler . Konservat iv-Chr i s t l i ch-soziale, L i b e r a l - D e u t s c h n a t i o n a l e u n d der K u l t u r k a m p f in Vorar lberg , 1 8 6 0 bis 1 9 1 4 . (Osterre ich Archiv. Schr i f tenre ihe des Inst i tuts für O s t e r r e i c h k u n d e . ) O l d e n b o u r g , W i e n - M ü n c h e n 2 0 0 8 . 2 5 8 S .

Die vorliegende Untersuchung von Hubert Weitensfelder zu den zwei bedeutenden poli-tischen Milieus in Vorarlberg zwischen 1860 und 1914 - dem Konservativ-Christlichsozialen und dem Liberal-Deutschnationalen - beruht im Wesentlichen auf umfangreichen Archivstu-dien, die der Autor zwischen 1994 und 1996 im Auftrag des Amtes der Vorarlberger Landesre-gierung durchführte. Dabei wertete er neben den im Vorarlberger Landesarchiv aufbewahrten Akten und Unterlagen Schriftstücke aus Kommunalarchiven ebenso aus wie die zeitgenössi-schen Printmedien.

Die Parteiengeschichte Vorarlbergs in den letzten Jahrzehnten der Habsburgermonarchie stellt keinen „Sonderweg" in der historischen Entwicklung der politischen Lager im Kaisertum Osterreich dar. Im ersten Kapitel bettet Weitensfelder die Formierung und Transformationen der Fraktionen in einen überregionalen, insbesondere auf die Alpenländer der Monarchie aus-gerichteten Kontext ein und versucht einen Überblick über die Verfassungsentwicklung sowie über das Verhältnis von Kirche und Staat zwischen dem Konkordat von 1855 und den liberalen Maigesetzen des Jahres 1868 zu geben.

Anschließend beschäftigt sich Weitensfelder mit den Medien der Politik: den Vereinen und Zeitungen in Vorarlberg. Akribisch untersucht er die Anzahl der Vereine in den verschiedenen Gemeinden und Städten und berechnet den Organisationsgrad der Bevölkerung, daraufhin analysiert er die politische Ausrichtung der Vereine und ihre Funktion als politische Vorfeldor-ganisationen. Ebenso beschreibt Weitensfelder die Zeitungen sowohl der Konservativ-Christ-lichsozialen als auch der Liberal-Deutschnationalen. Während sich die erstgenannte Fraktion ab dem Jahr 1866 auf das „Vorarlberger Volksblatt" stützen konnte, entstand im Umfeld der verschiedenen liberal-deutschnationalen Orcsvereine eine Reihe von Blättern, die sich gegensei-tig Konkurrenz machten und so zur weiteren Zersplitterung des Lagers beitrugen.

Das konservative, später christlichsoziale Lager war ursprünglich in Ortsvereinen, soge-nannten Kasinos, organisiert. Seine Anhängerschaft entstammte primär bäuerlich-kleinbürger-lichen Schichten, um deren Anliegen sich die Konservativ-Christlichsozialen auch hauptsäch-lich bemühten. So bauten sie eine schlagkräftige Arbeiterbewegung basierend auf christlichen Grundsätzen auf und forderten eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation der Klein-handwerker durch protektionistische Maßnahmen. Mit dem Aufgehen in der christlichsozialen Bewegung in den 1890er Jahren weitete sich der Aktionsradius der Vorarlberger Partei weiter aus. Vorarlberger Studierende und Schüler organisierten sich in Vorfeldorganisationen und versuchten, die Präsenz der Chrisdichsozialen in der Öffentlichkeit zu stärken. Gleichzeitig ist im „Vorarlberger Volksblatt", das stets antisemitische Tendenzen gezeigt hatte, eine verstärkte Polemik gegen Juden und Jüdinnen im Zuge des Aufgreifens des politischen Antisemitismus zu konstatieren.

Der Klerus spielte bei der Motivation potentieller Wähler über die Sonntagspredigt wäh-rend der Wahlkämpfe eine bedeutende Rolle für die Partei. Daneben und darüber hinaus führ-ten die in den Jahren 1868 und 1869 vom liberal dominierten Reichsrat erlassenen Gesetze zu

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Rezensionen 469

heftigen Kontroversen zwischen Konservativen und Liberalen, die häufig auch von Geistlichen ausgetragen wurden.

Anhänger der Liberalen fanden sich in Vorarlberg hauptsächlich unter den gebildeten und besitzenden Bevölkerungsschichten; sie beschränkten sich somit auf ein schmales gesellschaft-liches Segment und betrieben, wie Weitensfelder ausführt, mitunter eine „Honoratiorenpolitik mit philanthropischem Charakter" (S. 121), die sich teilweise auch abseits der Bedürfnisse der breiten Massen entfaltete. So etablierten liberale Honoratioren Ferienkolonien fur bedürftige Erwachsene und Kinder, brachten jedoch für grundsätzliche gesellschaftliche Missstände, wie etwa die Misere der Kleinhandwerker, wenig Verständnis auf. Daneben waren sie in ihrer Or-ganisation durch die Rivalitäten zwischen verschiedenen Ortsvereinen ebenso wie durch die dadurch bedingte Zersplitterung der liberal-deutschnationalen Zeitungslandschaft gehemmt.

Der sogenannte „Kulturkampf ' , der Konflikt zwischen dem konservativ-christlichsozialen und dem liberaJ-deutschnationalen Lager, spielte sich entlang zahlreicher Fronten ab. Um die-sem Faktum Rechnung zu tragen, plädiert Weitensfelder für die Verwendung des Begriffs „Kul-turkämpfe" anstatt „Kulturkampf ' (S. 233).

Heftige Kontroversen lösten regelmäßig katholische Veranstaltungen (Fronleichnamspro-zessionen, Volksmissionen etc.) in der Öffentlichkeit aus, da ihnen von liberaler Seite - nach Ansicht der Katholiken - nicht ausreichend Respekt entgegengebracht würde. Die Einführung der (Not-)Zivilehe stieß, ebenso wie die Möglichkeit einer Ehescheidung oder die Feuerbe-stattung, auf konservativ-christlichsozialer Seite auf heftige Polemik. Ein ständiger Zankapfel war auch die Frage nach der „richtigen" Lektüre; während die Liberal-Deutschnationalen in ihren Bibliotheken und Büchereien eine breite Palette auch naturwissenschaftlicher Werke of-ferierten, standen die Konservativ-Christlichsozialen zahlreichen Autoren, wie etwa Charles Darwin oder Alfred Edmund Brehm, ablehnend gegenüber. Eine weltanschaulich motivierte Ablehnung oder Bevorzugung lässt sich auch auf der Ebene der Literatur und Belletristik kon-statieren.

Als Kulturkampf „par excellence" bezeichnet Weitensfelder die Auseinandersetzungen um die Schule, nachdem im Reichsvolksschulgesetz von 1869 der Kirche die Aufsicht über die Volksschulen entzogen worden war. Auf einer zweiten Ebene hinterfragten die Liberal-Deutschnationalen zunehmend die Notwendigkeit und den Sinn konfessioneller Schulen, wie sie auch in Vorarlberg bestanden, wohingegen die Konservativ-Christlichsozialen Einrichtun-gen wie den Verein „Freie Schule" heftig kritisierten. Schließlich thematisiert Weitensfelder noch „Geschichten", die von den beiden Lagern in ihren Blättern lanciert wurden, um die (Vor-)Urteile gegenüber dem jeweils anderen Milieu zu bestärken und die eigenen Anhänger in ihrem Selbstverständnis zu unterstützen.

Eine Zusammenfassung, ein umfangreiches Literaturverzeichnis sowie ein Orts- und Per-sonenregister runden die Darstellung ab und erleichtern die Handhabung des dicht geschriebe-nen Textes. Das 2001 erschienene Nachschlagewerk Walter Zirkers, Vorarlberger in Parlament und Regierung (1848-2000 ) , scheint in der Bibliographie leider nicht auf.

Weitensfelder schließt mit dieser Darstellung eine Lücke in der Vorarlberger Landesge-schichtsschreibung, indem er die beiden großen politischen Lager vor dem Beginn des Ers-ten Weltkriegs erstmals umfassend untersucht und in ihr gesellschaftliches Milieu einbettet. Der gewählte Zugang ist deskriptiv-positivistisch; eine leitende Fragestellung, anhand welcher das dichotomische Verhältnis zwischen „Römlingen" und „Preußenseuchlern" aufgerollt wird, konnte nicht ausgemacht werden. Die Darstellung, so erschöpfend sie in den Details - als Beispiel sei nur das Kapitel über das Vereinswesen genannt - ist, verliert dann, wenn es um große Zusammenhänge oder allgemeine Aussagen geht. Sätze wie: „Die Turnbewegung verkör-perte noch mehr als der bürgerliche Männergesang die Sehnsucht nach einem gemeinsamen deutschen Staat." (S. 36) bedürfen eines Kontextes, um ihre Relevanz entfallen zu könnten. Problematisch erscheinen die einleitenden Abschnitte, welche das im Buch behandelte Kapitel

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Page 42: Rezensionen II

470 Literaturberichte

der Vorarlberger Landesgeschichte in die gesellschaftspolitische Situation der Habsburgermo-narchie in der franzisko-josephinischen Ara einordnen sollen. Gerade die Zeilen über die Ver-fassungsenrwicklung vom Neoabsolutismus bis zur sogenannten „Dezemberverfassung" sind sehr verkürzt und ungewichtet geraten, indem etwa der Neoabsolutismus mit dem Konkordat von 1855 geradezu gleichgesetzt wird (S. 16). Es stellt sich deshalb die Frage, fur welche Leser diese Seiten gedacht sind: Dem Fachpublikum sind diese Hintergründe wohl bestens bekannt, während die gebotene Information für Laien zu wenig ausgewogen ist.

Bei der Fülle des verarbeiteten Materials ist das Einschieichen von Ungenauigkeiten und Unrichtigkeiten schwierig zu vermeiden; ein Geschick, von welchem sowohl Adolf Rhomberg als auch Mart in Thurnher - zwei der einflussreichsten „Römlinge" in Vorarlberg um die Jahr-hundertwende - nicht verschont blieben. Im ersten Teil des Buches, in welchem er die Macht-übernahme der Christlichsozialen innerhalb der konservativen Fraktion beschreibt, ordnet Wei-tensfelder die beiden Politiker dem klerikal-konservativen Parteiflügel zu (S. 23), während er ein paar Kapitel weiter die Ernennung Rhombergs zum Landeshauptmann als „wesentlichen Schritt im Ubergang vom Altkonservativismus zur christlich-sozialen Bewegung" bezeichnet. Thurn-her wird hier als Rhombergs Verbündeter im Vorarlberger Landtag apostrophiert (S. 74f.).

Die Arbeit beruht in erster Linie auf den Material ien, welche der Autor in jahrelanger Arbeit im Vorarlberg Landesarchiv aufgearbeitet hat, ergänzt durch die zeitgenössischen Print-medien. Kaum vertreten sind jedoch Quellen aus anderen, übergeordneten Archiven wie etwa dem Tiroler Landesarchiv in Innsbruck oder den Zentralarchiven in Wien . Diese Quellenge-wichtung zwingt geradezu, die Ereignisse im westlichsten Kronland der Monarchie aus der bürokratischen Perspektive der Vorarlberger Verwaltungsbeamten zu betrachten - außen vor bleibt die Sicht der übergeordneten Behörde, welche die Vorgänge in Vorarlberg in einen wei-teren Kontext einordnen würde. Als Beispiel für diese Problematik kann der Schriftwechsel betreffend die angestrebte Zivilehe des liberalen Dornbirner Bürgermeisters Dr. Johann Georg Waibel dienen: In dieser Angelegenheit liegt im Tiroler Landesarchiv ein umfangreiches Kon-volut mit Schriftverkehr bis zum Minister ium des Inneren, in welchem auch die Blickwinkel der Bezirkshauptmannschaft Feldkirch sowie der Statthalterei, aber auch des zuständigen Pfar-rers Gebhard Fink ihren Niederschlag findet. Weitensfelder hingegen bezieht sich in dieser Angelegenheit ausschließlich auf eine Biographie Waibels, die einer seiner Parteikollegen, Dr. Leo Herburger, verfasste.

Inhaltlich drängt sich zuweilen der Eindruck auf, dass der Autor das Ziel seiner Ausführun-gen etwas aus dem Blick verliert, wenn es darum geht, eine interessante oder spannende Episode aus den Quellen zitieren zu können. So beschreibt er etwa im Zusammenhang mit Volksmissio-nen Streitigkeiten um den Verlautbarungsplatz in Dornbirn (S. 161) - wobei es hier eben nicht um eine Volksmission ging, sondern „nur" um ein Missionskreuz, das neben dem Podium zur Verlesung der amtlichen Informationen zu stehen gekommen war. Da hier immer wieder An-dachten durchgeführt wurden, forderte der Pfarrer eine Verlegung der Publikationsbühne, was zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen ihm und den Gemeindeautoritäten führte.

Auch in formaler Hinsicht weist das Buch Mängel auf: Irreführend sind die in eckige Klammer gestellten Rufezeichen - anstatt „sie" - in Zitaten, die nicht etwa auf einen besonders wichtigen Punkt, sondern auf Rechtschreibfehler aufmerksam machen sollen.

Das Buch bietet, wie zusammenfassend festzustellen ist, ein durchwachsenes Lesevergnü-gen. Einerseits anschaulich und deskriptiv durch die zahlreichen eingearbeiteten Quellen sind seine Schwächen vor allem im Bereich der Analyse, der Einbettung in einen Kontext, der Syn-these der vielfaltigen Informationen, nicht zu übersehen. Dennoch füllt es, wie bereits ange-führt, eine Lücke in der Vorarlberger Landesgeschichtsschreibung und wird wohl für viele Jahre das Standardwerk zum Kulturkampf im westlichsten Kronland und zu seinen Protagonisten, den „Römlingen" und den „Preußenseuchlern", bleiben.

Innsbruck-Wien Karin Schneider

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Page 43: Rezensionen II

Rezensionen 471

HARALD BINDER, Galizien in Wien . Parteien, Wahlen, Fraktionen und Abgeordnete im Ubergang zur Massenpolitik. (Studien zur Geschichte der Österreichisch-Ungari-schen Monarchie, Band X X I X . ) ÖAW, W i e n 2 0 0 5 . 7 4 1 S „ 2 Karten.

Die Studie untersucht das politische System des habsburgischen Kronlands Galizien im späten 19. Jahrhundert auf den bereits im Untertitel des Buchs hervorgehobenen vier Ebe-nen politisch-institutioneller Organisation. Diesen entsprechen auch die vier Hauptkapitel der Arbeit: Parteien (S. 2 5 - 1 8 1 ) , Wahlen (S. 183-312) , Fraktionen (S. 3 1 3 - 5 1 3 ) , Abgeordnete (S. 5 1 5 - 6 1 5 ) , die jeweils innerhalb des zeitlichen Rahmens der Untersuchung abgehandelt werden. Diesen lässt der Autor mit der auf das Jahr 1889 datierten Herausbildung „moderner" Massenparteien einsetzen (S. 55, 127) und mit 1918 enden. Jedem Kapitel sind methodische und theoretische Vorüberlegungen vorangestellt, die die jeweilige Untersuchungsebene in Hin-blick auf ihre politologischen Begrifflichkeiten reflektieren.

Wie der Autor in der Einleitung (S. 15, 18) darlegt, geht die Studie über einen klassischen politikgeschichtlichen Ansatz hinaus, integriert die Perspektiven von Kulturwissenschaften (beispielsweise den Ansatz von Zentrum und Peripherie) und Diskursanalyse (insbesondere in Hinblick auf Galizien als „imaginierten" Ort oder die Herausbildung von Galizien-Stereo-typen). Binders Blick auf die politische Landschaft Galiziens basiert auf einer transnationalen Herangehensweise, welche alle drei wesentlichen ethnischen bzw. nationalen Gruppen Galizi-ens (Juden, Polen, Ruthenen/Ukrainer) gleichermaßen beachtet. Das Wechselspiel zwischen repräsentativer Politik und der Herausbildung nationaler Identitäten ist somit ein die Studie durchziehender roter Faden.

In Kapitel I wird der zeitliche Rahmen eingangs verlassen, und unter der Uberschrift „Drei Dualismen" (S. 34—55) werden grundlegende politische Gegensätze innerhalb der jeweiligen Nationalitäten vorgestellt. Punktuell wird hier auf Prozesse und Konstellationen verwiesen, die bis zur Revolution 1848 und der Debatte um die galizische „Autonomie" in den 1860er-Jahren zurückreichen. Bereits in der Einleitung zu diesem Kapitel (S. 30) weist der Autor die mit dem Begriff der „Autonomie" verbundenen Vorstellungen von außerordendichen Kompe-tenzen der galizischen Institutionen zurück. Damit korrigiert er die Vorstellung eines „kleinen Ausgleichs", die mitunter in der wissenschaftlichen Literatur verbreitet ist. In weiterer Folge werden die verschiedenen politischen Strömungen, die Bedeutung ihrer Parteizeitungen und ihrer fuhrenden Persönlichkeiten innerhalb der nationalen Gruppen skizziert. Entgegen der Untersuchungsebene wird in diesem Kapitel auch einzelnen Akteuren und ihrer Prägung des politischen Geschehens ausreichend Beachtung geschenkt. Die Beschreibung der personellen und organisatorischen Entwicklung wird durch inhaldich-ideologische Phänomene ergänzt. Die politische und kulturelle Unabhängigkeit gegenüber dem Zentralstaat wie auch die wirt-schaftliche Entwicklung sind wiederholte Themen des politischen Diskurses und markieren die Position Galiziens als - aus Wiener Sicht - politisch instabiler und wirtschaftlich rückständiger Region. Die Fälle der sich als Polen begreifenden assimilierten Juden einerseits (S. 1 5 6 - 1 6 1 ) wie auch der polnischen und ruthenischen Sozialdemokraten sowie der Bauernparteien ande-rerseits verweisen auf die Relativität und Prozesshaftigkeit nationaler Kategorien. Dieser Ab-schnitt, der räumlich auf die Region selbst fokussiert ist, dient als allgemeiner Rahmen fur die weiteren Kapitel.

In Kapitel II werden die Wahlen der Jahre 1897, 1900/01, 1907 und 1911 sowohl auf Par-teien- als auch Kandidatenebene betrachtet. Neben der Analyse von Listenerstellung, Kandida-tenauswahl und der Wahlergebnisse wird die zunehmende Organisation von Wahlen entlang nationaler Kategorien deutlich. Dies betrifft die Politik innerhalb wie zwischen den nationalen Gruppen gleichermaßen, wobei die Binnendifferenzen zunehmend hinter die äußeren Grup-penabgrenzungen zurücktreten, die die Form antisemitischer und nationalistischer Diskurse annehmen. Diese Gruppenabgrenzungen hatten auch Auswirkungen auf den institutionellen

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472 Literaturberichte

Ablauf sowie die Organisation der Wahlen, wie aus der Festlegung von Doppelwahlkreisen im von Ruthenen und Polen bewohnten Ostgalizien deutlich wird. Der Prozess der Nationalisie-rung des politischen Lebens Galiziens wird in diesem Abschnitt anhand der Entwicklung des polnischen Zentralen Wahlkomitees ( C K W ) besonders deutlich nachgezeichnet (S. 190-205) . Dieser 1861 entstandene Verein, von den polnischen Konservativen dominiert , regelte den Zugang galizisch-polnischer Kandidaten zu den Wahlen. Die Inkorporierung bislang nicht zu-gehöriger polnischer Parteien (wie den Demokraten und der Bauernpartei) im frühen 20. Jahr-hundert und die kurz darauf folgende Neuorganisierung des Komitees als Nationalrat (RN) und dessen Scheitern 1911 (S. 294f.) markieren die Machtverlagerung von den traditionellen Eliten zu den durch das allgemeine Wahlrecht von 1907 legitimierten Massenparteien. Die Geschichte einer Institution demonstriert somit paradigmatisch den sozio-politischen Wandel im frühen 20. Jahrhundert , der mit der fortschreitenden Nationalisierung der Gesellschaft in engem Zusammenhang steht. Die erwähnten vier Wahlgänge werden ausfuhrlich behandelt, wobei das Datenmaterial (Kandidaten und Ergebnisse) in mehreren Tabellen schlüssig und für den Lesenden nachvollziehbar aufbereitet ist. Der letzte Abschnitt dieses Kapitels (S. 295 -308 ) widmet sich dem Topos der „Galizischen Wahlen" - ein im zeitgenössischen Diskurs oftmals wiederkehrendes Schlagwort, das die zahlreichen und vielfältigen Formen des Wahlbetrugs in Galizien anprangerte. Binder zeichnet die nachhaltige Wi rkung dieses Topos bis in den poli-tischen Diskurs der Ersten Republik nach (S. 308) . Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive werden die Konzepte von „Ost" und „West" in Bezug auf den Wahlmissbrauch infrage gestellt, als die aus dem „Westen" nach Galizien transferierten Konzepte (von repräsentativer Demo-kratie und formalisierten Wahlprozessen) nicht auf adäquaten Voraussetzungen aufbauten und daher scheitern mussten. Damit gelingt es dem Autor den zeitgenössischen Diskurs um „Zivili-sierung" zu problematisieren, wenn auch nicht zu dekonstruieren (S. 3 0 8 - 3 1 0 ) .

Kapitel III und IV kommen dem Titel des Buchs insofern am nächsten, als der Ort des Geschehens von Galizien in den Reichsrat nach Wien wechselt. Anhand von Fraktionen und deren Abgeordneten werden die wechselnden Konstellationen, der Einfluss insbesondere des mächtigen Polenklubs auf die Politik Cisleithaniens sowie das Spannungsfeld zwischen nati-onalen Loyalitäten und gesamtstaatlicher Räson beschrieben. Der Reichsrat diente den Abge-ordneten als Bühne zur Repräsentation ihrer regionalen wie ideologischen Standpunkte und Interessen (S. 339f.) . Binder spielt hier seine in jahrelanger Forschungstätigkeit gewonnene Fachkenntnis aus, wenn er gesamtstaatliche Gesetzesprojekte fur den galizischen Kontext er-läutert - etwa die Hausiergesetze (S. 449 , 453 ) oder die Wasserstraßenvorlage (z. B. S. 386f., 487) . Diese Angelegenheiten zeigen den Polenklub als wesentlichen Akteur beim Verhandeln bildungspolitischer und ökonomischer Zugeständnisse seitens der Wiener Zentrale, während andere politisch und/oder national definierte galizische Fraktionen im Reichsrat politische Ak-zente setzten, die gerade die Macht der galizisch-polnischen Elite beschränken sollte. So setzten die ruthenischen Fraktionen ebenso wie die jüdischen Abgeordneten bis in die 1880er-Jahre auf eine Allianz mit den Deutschliberalen zur Machteinschränkung der polnischen Elite (S. 343f.) , die Bauernparteien und Sozialdemokraten forderten Sozialreformen für den ländlichen bzw. den städtischen Raum etc. Die Multipolarität regionaler wie nationaler Interessensver-tretung wird hierbei deutl ich. Insgesamt ist Kapitel III am stärksten diskursanalytisch und am wenigsten quantitativ ausgerichtet, wobei verschiedene Motive des am Ende von Kapitel II erstmals explizit thematisierten Zivilisierungsdiskurses dominieren, die vom Autor jedoch nur selten in diesem interpretatorischen Rahmen verortet werden.

Für die Untersuchung der galizischen Abgeordneten in Kapitel IV stützt sich Binder auf die Methode der Kollektivbiographie, um anhand soziologischer Kategorien Rückschlüsse auf politische Sozialisation, soziale Herkunft und berufliches Profil zu ziehen - mit dem Ergebnis, dass Abgeordnete bäuerlicher Herkunft schwächer und Bildungseliten stärker als im Durch-schnitt der galizischen Gesellschaft vertreten waren. Dies erklärt Binder durchaus schlüssig

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Rezensionen 473

gerade mit den massiven Bildungsmängeln der galizischen Gesellschaft, die eine bessere aus-gebildete Elite zur Folge habe (S. 534). Detailliert zeichnet der Autor die soziale Schichtung, die gesellschaftlichen Auszeichnungen, das Bildungsniveau und die politischen Karrieren der Abgeordneten der einzelnen nationalen Gruppen nach. Die unterschiedliche Sozialstruktur der einzelnen Nationalitäten zeigt sich auch auf der Ebene ihrer politischen Vertreter: So war bei den ruthenischen Abgeordneten die Priesterschaft stärker, die Bauernschaft schwächer vertre-ten, während bei den Polen die Agrarier dominierten.

Insgesamt handelt es sich mit der vorliegenden Studie um ein Standard- und Nachschla-gewerk zur politischen Geschichte Galiziens wie auch der Habsburgermonarchie im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Insbesondere die transnationale Perspektive der Arbeit, der das Zusammenführen verschiedener nationaler Forschungsergebnisse folgt, die umfassende Quel-lenbasis. die von Vereinstatuten über die Reichsratsprotokolle bis hin zu der ausdifferenzierten Presselandschaft reichen, setzen neue Standards. Das Buch kennzeichnet sich durch eine um-sichtig gewählte, reflektierte und präzise Sprache bzw. Formulierungen aus. Umso deutlicher fallen jene wenigen Stellen auf, die von diesem Muster abweichen — beispielsweise wenn von „Russen" anstelle „russischer Truppen" (S. 496) die Rede ist. Der tabellarische Anhang (S. 623—694), der sowohl die Hauptwahlergebnisse in Galizien in den Jahren 1 8 9 7 - 1 9 1 1 als auch die galizischen Abgeordneten im Reichsrat auflistet, dient als Basis für weitere Forschungen.

Wien Klemens Kaps

Anton HOLZER, Das Lächeln der Henker. Der unbekannte Krieg gegen die Zivilbe-völkerung 1914—1918. Mi t zahlreichen bisher unveröffentlichten Fotografien. Primus, Stuttgart 2 0 0 8 . 2 0 8 S. , 114 Abb.

Der bekannte Kulturwissenschaftler und Fotohistoriker Anton Holzer hat in seiner Disser-tation (Universität Wien 2005) als erster die rund 33 .000 Aufnahmen umfassende Fotosamm-lung des k. u. k. Kriegspressequartiers, der zentralen Propagandaeinrichtung Österreich-Un-garns während des Ersten Weltkriegs, gründlich untersucht. In seinem Buch „Die andere Front. Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg" (Darmstadt 2007) hat er rund 500 bisher meist unpublizierte Fotos aus dieser Sammlung umsichtig und kenntnisreich kontextualisiert und kommentiert. In seinem neuen Buch widmet er sich einem speziellen Aspekt der Fotografie im Ersten Weltkrieg: den von der Forschung bisher wenig beachteten Fotos von Hinrichtungen von Zivilisten und Soldaten und von Massakern an der Zivilbevölkerung und an Kriegsgefan-genen in den Kriegsgebieten in Galizien, der Bukowina, der Ukraine, (Russisch-)Polen, Ser-bien, Bosnien, Welschtirol und Venetien, die von Angehörigen des österreichisch-ungarischen Heeres vollzogen bzw. verübt wurden. Die Hinrichtungen gingen nur zu einem kleinen Teil auf Urteile in standrechtlichen und feldgerichtlichen Verfahren zurück (wahrscheinlich unge-fähr 2000). Bei den meisten handelte es sich um (Massen-)Hinrichtungen unter Umgehung der Gerichte und unter Berufung auf das sogenannte „Kriegsnotwehrrecht". Besonders brutal ging das österreichisch-ungarische Militär gegen angeblich oder tatsächlich „russophile" und „serbophile" Zivilisten an den Fronten im Osten (in erster Linie Ruthenen [also Ukrainer] und Juden) und Südosten (Serben, Montenegriner und Bosnier) sowie gegen Italiener aus dem Trentino und gegen in Kriegsgefangenschaft geratene, im Verbund des italienischen Heeres kämpfende Angehörige der Tschechischen Legion vor. Schätzungen zufolge dürften im Ersten Weltkrieg insgesamt etwa 60 .000 Zivilisten außergerichtlichen Hinrichtungen und Tötungen durch Angehörige der österreichisch-ungarischen Armeen zum Opfer gefallen sein.

Die untersuchten Bildquellen in dem zu besprechenden Band stammen nicht aus der Foto-sammlung des Kriegspressequartiers. Der Autor hat sie vielmehr in langwierigen Recherchen in rund einem Dutzend Staaten zusammengetragen. Bei den abgebildeten Fotos handelt es sich zu einem beträchtlichen Teil um Reproduktionen aus Büchern, Zeitungen und Zeitschriften (28)

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474 Literaturberichte

sowie um Fotos aus Privatsammlungen (16). Die übrigen Aufnahmen (ausschließlich Abzüge unterschiedlicher Qualität) stammen aus 15 Archiven, Museen und Institutionen in Deutsch-land, Italien, Osterreich, der Schweiz, Serbien, Slowenien, der Tschechischen Republik, der Ukraine und Ungarn. Die größten Kontingente werden vom Militärarchiv Prag (17), vom Bildarchiv der Osterreichischen Nationalbibliothek (9) und vom Mil i tärmuseum Belgrad (8) verwahrt. Mit Ausnahme der im Auftrag der serbischen Armee nach der Rückeroberung Nord-serbiens im August 1914 gemachten Fotos wurden so gut wie alle aus der Perspektive der Täter aufgenommen. Die meisten entstanden in den ersten Kriegsmonaten, als die österreichisch-ungarischen Truppen von einer regelrechten Spionageparanoia heimgesucht wurden.

In österreichischen Archiven haben die fotografierten Gewalttaten nur wenige Spuren hinterlassen. Angesichts des weitgehenden Fehlens archivalischer Quellen in Österreich stützt sich Hölzer unter anderem auf die Stenographischen Protokolle des Abgeordnetenhauses des österreichischen Reichsrats seit dessen Wiederzusammentritt am 30. Mai 1917. Von seinem Rednerpult aus schilderten - unter dem Schutz der parlamentarischen Immunität - rutheni-sche, polnische, jüdischnationale, tschechische, südslawische und italienische Abgeordnete de-tailreich Ubergriffe des Militärs auf die nichtdeutsche und nichtmagyarische Zivilbevölkerung. In der Einleitung zitiert Holzer aus einer Rede, die der polnische Abgeordnete Thaddäus Tertil am 1. Juli 1917 im Reichsrat gehalten hat. Angesichts der Gewalttaten von Angehörigen der österreichisch-ungarischen Armeen gegenüber der Zivilbevölkerung in Ostgalizien formulierte Tertil die These, „daß wir es mit zwei Kriegen zu tun haben, der eine ist der Krieg nach außen, der andere [ist der Krieg] nach innen" (S. 9). Zu Recht betont Holzer, dass es sich bei dem von Österreich-Ungarn in den Jahren 1914 bis 1918 geführten „Krieg gegen die Zivilbevölkerung" um „keinen Ausrutscher' in der Geschichte des modernen Krieges" handelt, sondern dass er „vielmehr dessen konstitutiver Bestandteil" ist (S. 12).

Nach einer Skizze der „Wege des Vergessens" des „Krieges nach innen" wendet sich der Autor einer Ikone des „österreichischen Antlitzes" zu, dem berühmt-berüchtigten Foto der Hinrichtung Cesare Battistis in Trient, das Karl Kraus der 1922 erschienenen Buchausgabe sei-nes Dramas „Die letzten Tage der Menschheit" als Frontispiz voranstellte. Holzer rekonstruiert den Kontext der Entstehung der Aufnahme, die nur eine von zahlreichen ist, die vor, während und nach der Hinrichtung Battistis gemacht wurden, sowie ihre Rezeptionsgeschichte. Die erhellenden Dialoge zwischen Offizieren und die Kommentare des Nörglers zu Hinrichtungen und Massakern (Stichwort „Niedermachen!") in Kraus' Drama werfen auch einiges Licht auf den Weg von Holzers Analyse. (Zum standrechtlichen Hochverratsprozess gegen Battisti wäre mit Gewinn die 2005 approbierte Innsbrucker Dissertation von Oswald Uberegger über die Tiroler Militärjustiz im Ersten Weltkrieg heranzuziehen gewesen.)

Das Hauptinteresse Holzers bei der Analyse der Bilder gilt den Motiven der Fotografen sowie den sich oftmals geradezu ins Bild drängenden, in manchen Fällen sogar den Hingerich-teten berührenden Henkern und Schaulustigen. Im Kapitel „Spione sehen" verdeutlicht er „die Macht der Gerüchte". Besonders im Zuge der frühen militärischen Niederlagen der österrei-chisch-ungarischen Armeen gegen Russland und Serbien wurde das gedemütigte Heer von einer rassistisch grundierten, gegen Ruthenen, Serben und Juden gerichteten Spionage- und Verratshysterie erfasst. Erst sehr spät, im Frühjahr 1916, erließ das k. u. k. Armeeoberkomman-do den Befehl: „Sämtliche Posten anweisen, Justifizierungen zu unterlassen". Und erst Ende Juli 1917 setzte Kaiser Karl den „außergerichtlichen Justifizierungen im Bereiche der Armee im Felde" durch eine Kaiserliche Entschließung ein Ende. Im folgenden Kapitel wird die Rolle von Kollaborateuren und Denunzianten bei den Hinrichtungen und Deportationen (der von Höl-zer verwendete Begriff „Zwangsdeportation" ist ein Pleonasmus) untersucht. Antislawische und antisemitische Ressentiments waren bereits lange vor 1914 vor allem bei den Deutsch-österreichern und den Magyaren sowie in dem von diesen Nationen dominierten Offizierskorps weit verbreitet. „Der Krieg wurde zum Katalysator der seit langem aufgestauten ethnischen

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Rezensionen 475

Spannungen" (S. 64; siehe dazu auch die von Holzer nicht herangezogene Grazer Habilitations-schrift „Kein Burgfrieden" von Martin Moll aus dem Jahr 2002 [gedruckt 2007]) .

In zentralen Kapiteln spürt Holzer den Zusammenhängen zwischen Schaulust, Sexualität und Gewalt sowie den Adressaten und dem Gebrauch der Fotos nach. Dabei stützt er sich unter anderem auf die zeitgenössischen Analysen des psychologisch geschulten Schweizer Kri-minologen und Fotografieexperten Rodophe Archibald Reiss. Die von Soldaten und Offizie-ren gemachten Fotos von Massenhinrichtungen dienten unter anderem dazu, diese tödlichen Gemeinschaftsrituale fur die Zeitgenossen und die Nachwelt festzuhalten. Abzüge davon bzw. Bildpostkarten, die von professionellen Fotostudios für den Markt produziert wurden, trugen viele Soldaten in der Brieftasche - fetisch- oder reliquienähnlich - direkt am Körper. Holzer kommt zu dem Schluss: „Die aus heutiger Sicht obszöne Zurschaustellung der Opfer diente nicht nur der Verhöhnung der Opfer, sondern auch der Integration der Gemeinschaft der Tötenden" (S. 101). Besonders erschütternd ist das Kapitel „Erlaubte Gewalttaten. Massaker in Serbien" und sind einige der dort abgebildeten Fotos. Dabei handelt es sich um Aufnahmen von toten, wie erlegtes Wi ld nach einer Jagd am Boden aufgereihten serbischen Zivilisten und Soldaten, die im Auftrag des serbischen Militärs wenige Tage nach den Massakern, nach der Rückeroberung Nordserbiens, aufgenommen wurden. R. A. Reiss schätzte, dass während der ersten Invasion Serbiens im August 1914 mehr als 3 .500 Zivilisten getötet wurden. Die Massa-ker wurden von Männern durchgeführt, die, so Reiss, „Familienväter waren und im Privatleben wahrscheinlich nett" (S. 129).

Insbesondere die Feldzüge gegen Serbien und gegen Russland charakterisiert Holzer mit Begriffen wie „brutaler Verwüstungs- und Vernichtungsfeldzug" (S. 118) und „systematischer Vernichtungskrieg" (S. 130, 162-165) . Er schließt sich der "These an, „dass der Zweite Welt-krieg hinsichtlich der Formen der Kriegsfiihrung auf eine Reihe von Praktiken aus dem Ersten Weltkrieg zurückgriff ' (S. 164). „Der nationalsozialistische Vernichtungskrieg griff einzelne dieser Strategien [systematische Vertreibungen und Deportationen, Internierung von Zivilis-ten und politischen Gegnern in Lagern, systematische Plünderungen, Brandschatzungen und Geiselnahmen etc.; Th. W.] auf, radikalisierte sie und fugte sie in ein umfassendes, rassistisch begründetes Programm der Vernichtung und Zerstörung ein" (S. 165).

Weitere Kapitel befassen sich mit in Schweizer Privatbesitz erhalten gebliebenen Fotos von Angehörigen der Tschechischen Legion, die im Juni 1918 in Oderzo und anderen Orten in Venetien in großer Zahl hingerichtet wurden, mit dem „Feldzug der Henker", in dem „prak-tisch jeder" verdächtig war, „der nicht deutsch oder ungarisch sprach und im Hinterland der Front angetroffen wurde" (S. 71), mit dem Wiener Kriegsverbrecherprozess gegen Kasimir von Lütgendorf im Jahr 1920 und mit den sehr unterschiedlichen Erinnerungen an den „inneren Krieg" der Jahre 1914 bis 1918 in der Zwischenkriegszeit. Das letzte Kapitel ist der „Porno-grafie der Gewalt" gewidmet, den Fotografien von Folterungen, schweren Demütigungen und Hinrichtungen - von der Hinrichtung der Lincoln-Mörder bis Abu Ghraib. George Bataille folgend, argumentiert der Autor, dass Fotografien von physischer Gewaltausübung im Wech-selspiel mit ihren Betrachtern zu Medien der Lust werden. Unter spezieller Bezugnahme auf das Internet spricht Holzer abschließend vom „Verschwimmen der Grenzen zwischen Pornografie und kriegerischer Gewalt" (S. 179).

Die wenigen sachlichen Fehler, die dem Rezensenten aufgefallen sind, fallen nicht ins Ge-wicht. Albanisch ist keine slawische Sprache (S. 186 Anm. 50). Der Reichsrat verweigerte am 7. Juli 1917 nicht „die Zustimmung zum Ausnahmeparagrafen 14, der die Unterstellung der Zivilbevölkerung unter die Militärgerichtsbarkeit geregelt hatte" (S. 186 Anm. 69), sondern die Sanktionierung der Verordnungen über die Einstellung der Geschworenengerichte und die Unterstellung von Zivilpersonen unter die Militärgerichtsbarkeit, die 1914 auf der Grundlage des § 14 (also des Notverordnungsparagraphen) der Dezemberverfassung von 1867 (genauer: des „Gesetzes vom 21. Dezember 1867, wodurch das Grundgesetz über die Reichsvertretung

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vom 2 6 . Februar 1861 abgeändert wird") erlassen worden waren. Beim Vergleich dreier Foto-grafien von sechs gehenkten Zivilisten (Abb. 104—106) ist es Holzer entgangen, dass eine davon (Abb. 1 0 4 ) von der gegenüberl iegenden Seite aufgenommen wurde. Die für seine Interpretati-on wichtige A n n a h m e , dass das a u f den beiden anderen Fotos sichtbare Haus im Hintergrund nachträglich wegretuschiert worden sei (S . 1 5 1 ) , ist daher nicht schlüssig.

Das sehr gut geschriebene und ebenso gut lektorierte und layoutierte, längst überfällige Buch bereichert die Historiographie des Ersten Weltkriegs um einen außerordentlich wichtigen Aspekt.

W i e n Thomas Winkelbauer

J e a n MATHIEU-ROSAY, D i e Päpste i m 2 0 . J a h r h u n d e r t . Ü b e r s e t z t von M a r i a n n e

MÜLLER. W i s s e n s c h a f t l i c h e B u c h g e s e l l s c h a f t , D a r m s t a d t 2 0 0 5 . 2 2 1 S .

D e r ehemalige Jesuit und heute als Priester der Altkatholischen Kirche wirkende Autor Jean Math ieu-Rosay beleuchtet die Pontifikate der Päpste von Leo X I I I . ( 1 8 7 8 - 1 9 0 3 ) bis Jo-hannes Paul II. ( 1 9 7 8 - 1 9 0 5 ) . Gle ich im Vorwort macht sich eine besondere Note des Werkes bemerkbar : D i e Akzentuierung wird zum guten Teil a u f die Unterschiedlichkeit der insgesamt neun Papstpersönlichkeiten gelegt.

Dieses T h e m a klingt schon be im Übergang von dem 1 8 7 8 verstorbenen Pius IX. auf Leo X I I I . an. Es ist durchaus glaubwürdig, dass Pius I X . durch die Beförderung des nachmaligen Leo X I I I . zum A m t des C a m e r l e n g o und damit Konklaveleiters in der Tat versuchte, diesen von seiner Nachfolge faktisch auszuschließen. D e n n gerade dieses A m t schien geeignet den jeweili-gen Inhaber im Zuge eines Konklaves unbel iebt zu machen. N u n : Pius IX . war in mehrfacher Weise vom Unglück heimgesucht , und wenn er seinem zukünftigen Nachfolger mit dieser Beförderung „einen bösen Streich" (S. 2 0 ) spielte, so ist dieser eben missglückt. Was die Dar-stellung des Konklaves von 1 8 7 8 betrifft , so ist der Wunsch einiger Tei lnehmer nach Abhaltung außerhalb R o m s - im Gespräch war vor allem Spanien - von großem Interesse. D a jedoch offensichtl ich keine auswärtige M a c h t bestrebt war, die Unbill der Gastgeberschaft auf sich zu n e h m e n , kam man recht bald von diesem Vorhaben ab (S. 9 ) .

Dass ein Übergang vom Vorgänger zum Nachfolger sehr zäsurenreich verlaufen konnte , belegt schon die Tatsache, dass Leo X I I I . gleich in seiner ersten Enzyklika eine Christ iani-sierung modernen Lebens und eine Modernis ierung des Chris tentums propagierte. Wenn an dieser Stelle in Mathieu-Rosays W e r k zu lesen ist, dass Leo X I I I . „von nun an diesen Kurs voll-ständig beibehal ten" habe (S. 2 0 ) , so steht dies doch in einem gewissen Spannungsverhältnis zu Vorgängen, die vom Autor selbst erwähnt werden. Es wird dann doch daraufhingewiesen, mit welchen Schwierigkeiten namhaf te Wissenschaft ler unter den M a ß n a h m e n Leos X I I I . zu kämpfen hatten (S. 4 4 ) , und dass der über neunzigjährige Papst schließlich das Steuer der Ka-thol ischen Kirche an „fortschrittfeindliche Kardinäle" abgeben sollte (S. 4 5 ) .

S o m i t darf nicht übersehen werden, dass bereits unter Leo X I I I . Entwicklungen ihren Lauf n a h m e n , die unter seinem Nachfolger Pius X . ( 1 9 0 3 - 1 9 1 4 ) gleichsam zum Regierungspro-g r a m m mutierten. Was das Konklave von 1 9 0 3 betrifft, so gehört Mathieu-Rosay zu jenen Autoren, die meinen , dass Kardinalstaatssekretär Rampolla auch ohne das durch Kardinal Puzyna ausgesprochene Veto nicht zum Papst gewählt worden wäre (S. 4 8 ) . Auch wenn man d e m dezidierte G e g e n s t i m m e n entgegenhalten kann, so darf das Urteil in dieser Frage nur so lauten: W i r wissen es nicht , und wir werden es nie erfahren.

B e k a n n t e r m a ß e n hat Pius X . Akzentuierungen, die im Vorpontifikat zu einem guten Teil von Rampol la getragen waren, nun geändert , doch nicht oft genug kann mit dem Autor fest-gestellt werden, dass die Amtszeit dieses Papstes den Anfang des Tauwetters zwischen Heil igem Stuhl u n d Königreich Italien markierte (S. 5 0 ) . Pius X . ist im vorliegenden Werk jener Papst, der „das erste totalitäre R e g i m e des Jahrhunder ts " einleitete (S. 53 ) , und hier muss doch ein-

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gehakt werden. In der Regel ist ein „totalitäres Regime" von despektierlichem Umgang mit menschlichem Leben gekennzeichnet, und wenn unter Pius X. in unverantwortlichster Weise materielle Existenzen ruiniert wurden, so wird dieser Papst hier in inadäquater Weise mit den Perfektionisten totalitärer Systeme in ein assoziatives Korsett gezwängt. Dass der Autor auch die Tatsache erwähnt, dass der spätere Johannes XXIII . von der damals unternommenen „Ket-zerjagd" tangiert war (S. 53), steht für den erwähnten großen Vorzug des Werkes: zu zeigen, dass die hier beschriebenen Papstpersönlichkeiten sich sehr stark voneinander unterscheiden.

Dies zeigt auch der Wechsel zu Benedikt XV. (1914-1922) . Giacomo della Chiesa war unter Leo XIII. Mitarbeiter Rampollas gewesen, und dass ihm Pius X. nur wenige Monate vor seinem Tod die Kardinalswürde verliehen hatte - dies übrigens nur sehr widerwillig, wie in ei-ner Biographie Benedikts XV. zu lesen ist - gehört gewissermaßen zu den „Treppenwitzen" der Papstgeschichte. In Anbetracht dessen, dass seit dem 14. Jahrhundert nur mehr Kardinäle bei Papstwahlen zum Zug gekommen sind, kann dieser Schritt als kausal fur die Wahl Benedikts XV. gewertet werden. Die Bedeutung von dessen Pontifikat ist nicht zu unterschätzen. Mit dem ersten Weltkrieg war ein Konflikt ausgebrochen, bei dem ein seiner weltlichen Macht bares Papsttum die Chance erhielt, in Berufung auf das geistliche Ansehen Vermittlungsangebote auszuspielen und in gewisser Weise über den Parteien zu stehen. Dass mit dieser Entwicklung letztlich auch eine Zentralisierung innerhalb der Katholischen Kirche einherging, kommt bei Mathieu-Rosay allerdings nur am Rande zum Ausdruck.

Mit Pius XI. (1922-1939) erhielt Benedikt XV. einen „Überraschungspapst" als Nachfol-ger. Dessen Wahl ist eindeutig als Kompromisslösung zwischen den Exponenten der Regie-rung Pius' X. und Benedikts XV. aufzufassen. Differenziert wird Pius' XI. Umgang mit dem Naziregime betrachtet. Bei aller nicht zu unterschätzenden Offenheit, die die Maßnahmen dieses Papstes begleitete, darf hier doch nicht der Hinweis fehlen, dass „im November 1938 der Heilige Stuhl nicht den geringsten offiziellen Protest gegen die Pogrome in der Kristallnacht" erhob (S. 85).

Es ist kein Geheimnis, dass Pius XII. ( 1 9 3 9 - 1 9 5 8 ) von seinem Vorgänger auf die Nachfol-gerschaft vorbereitet worden war. Dass bereits ein Jahr nach seiner Wahl in höchsten Kurien-kreisen darauf hingewiesen wurde, dass die Politik der Nachgiebigkeit einen Bruch zum Pon-tifikat Pius' XI. darstellte (S. 96), ist von größtem Interesse. Auch eine ausdrückliche - wenn auch keineswegs offizielle - Distanzierung des Pacelli-Papstes von der offen anti-nazionalsozi-alistischen Politik seines Vorgängers wird von Mathieu Rosay erwähnt (ebd.). Dies zeigt, dass das Gelingen einer Nachfolgeweichenstellung durchaus nicht dazu fuhren muss, dass der für die Nachfolge Ausersehene den Regierungskurs des Vorgängers fortsetzt.

Es ist hinlänglich bekannt, dass mit Johannes XXIII . ( 1 9 5 8 - 1 9 6 3 ) ein neuer Geist in den Vatikan einzog. Sowohl unter Pius XI. als auch unter Pius XII. hatte er viele Jahre isoliert auf .Abstellgleisen" zubringen müssen und galt unter den Gesandten des Heiligen Stuhls gewis-sermaßen als „schwarzes S c h a f . Im Jahr 1944 durfte sich der damals 63-jährige unmittelbar vor dem Ruhestand wähnen, doch seine Gesandtentätigkeit in der Türkei hatte dort so viel Eindruck erweckt, dass kein geringerer als General Charles de Gaulle, der mit einem türkischen Diplomaten in Kontakt stand, Roncallis Berufung als Nuntius in Frankreich durchsetzte (S. 121). Wenn Roncalli dann noch vor seiner Papstwahl das Amt des Patriarchen von Venedig bekleidete, mag dieses von vielen als vornehmes Ausgedinge eines Mannes betrachtet worden sein, der dann doch noch zum Papst gewählt wurde und markante Zäsuren zum Vorgänger-pontifikat setzte.

Interessant auch die Karrierestationen Pauls VI. ( 1 9 6 3 - 1 9 7 8 ) , der als Giovanni Battista Montini unter Pius XII. in zentraler kurialer Funktion tätig gewesen war. Nach offensichtlich schwerwiegenden Differenzen wurde Montini auf den Mailänder Bischofssitz befördert. Dort setzte er Akzente, die ihn bei der Papstwahl von 1963 als Hoffnungsträger jener erscheinen lie-ßen, die auf eine Weiterfuhrung des Kurses Johannes' XXIII . hofften. Dass Paul VI. nach einem

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derartigen Wendepontifikat zwecks Aufrechterhaltung einheitlicher Kirchenfassade nur einen Weg gehen konnte, der von Enttäuschungen gesäumt war, steht freilich auf einem anderen Blatt. Kritische Reaktionen mussten links (und rechts) liegen gelassen werden, und Mathieu-Rosay ist voll beizupflichten, wenn er meint, dass im Grunde kein Papst des 20. Jh. eine „un-dankbarere Aufgabe gehabt" habe (S. 143).

Dass über den Pontifikat Johannes Pauls 1.(1978) nicht allzu viel Wesentliches gesagt wer-den kann, liegt auf der Hand. Dass dieser Papst mit der Ablegung des bisher üblichen Pluralis Majestatis seine Wähler „verblüfft" habe (S. 146), ist insofern unzutreffend, als der regelmäßige Gebrauch der „Wir"-Form durch Paul VI. schon zahlreichen Zeitgenossen als hoffnungsloser Anachronismus erschienen war. Mit größter Selbstsicherheit weiß der Autor, dass Johannes Paul I. nicht ermordet worden ist (S. 151), und lässt sich damit dem Reigen derjenigen Viel-wisser zuordnen, die mit ebensolcher Inbrunst die Mord-These vertreten. Ein seriöser Histo-riker sollte allerdings erkennen, dass die zum heutigen Zeitpunkt einsehbare Faktenlage keine gesicherten Ergebnisse zulässt.

Es ist zweifelsohne ein schweres Unterfangen, das Wirken von Zeitgenossen einer „ge-rechten" historischen Betrachtung zu unterziehen. Man sollte die Ausführungen zu Johannes Paul II. (1978-2005) interessiert zur Kenntnis nehmen, sich nicht durch katechismusmäßig anmutende Beurteilungen von Amtshandlungen des polnischen Papstes irritieren lassen und die Hoffnung auf Klarheit bei derzeit nicht hinreichend zu beantwortenden Fragestellungen nie fahren lassen.

Doch kann dies leider nicht über die Tatsache hinweghelfen, dass sich in dem - von Re-gistern und Anmerkungen leider völlig freien - Werk Flüchtigkeitsfehler und weitergehende Ungenauigkeiten finden. Die Seligsprechung Pius' X. erfolgte im Jahr 1951, nicht bereits 1950 (vgl. jedoch S. 54). Wenn gemeint wird, es sei Pius XI. daran gelegen, „den Kodex des kano-nischen Rechts der orientalischen Katholiken überarbeiten zu lassen nach dem Beispiel des Kodexes der abendländischen Kirchen" (S. 88), so könnte zunächst die befremdlich klingende Genitivbildung von „Kodex" Anstoß erregen. Da jedoch das PC-Rechtschreibprogramm kei-nen rot unterwellten Widerstand leistet und dem Rezensenten dadurch in den Rücken fällt, gleich zum Kern der Sache: Zur Zeit Pius' XI. konnte ein derartiger Codex nicht überarbeitet werden, weil es ihn schlicht nicht gab. Der 1990 promulgierte Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium ist das erste Gesetzbuch, das zumindest die Grundzüge des Rechts der selbststän-digen katholischen Ostkirchen einheitlich regelt.

Dem mit der ,.Action française" sympathisierenden Kardinal Louis Billot wurde im Jahr 1927 nicht der Kardinalstitel aberkannt (vgl. dagegen S. 89). Tatsächlich hat Billot selbst auf die Kardinalswürde verzichtet. Auch wenn ihm dies seitens des Papstes nahe gelegt wurde, so ist eben doch bemerkenswert, dass Pius XI. einen ihm hier unterstellten Schritt offenbar bewusst vermieden hat.

Dass der erst durch Johannes Paul II. im Jahr 1979 zum Kardinal ernannte Agostino Casa-roli im Augustkonklave von 1978 deswegen keine Chance gehabt habe, zum Papst gewählt zu werden, weil er ein Kardinal der Kurie gewesen sei (S. 145), zählt zu den ärgerlichen Unge-nauigkeiten des Werks. Dreiundzwanzig Seiten später zählt der Autor Casaroli ohnehin zu den „vierzehn" Kardinälen, die Johannes Paul II. nach seiner Rückkehr von seiner ersten Polenreise zu Kardinälen kreiert habe (S. 168). Dass es in der Tat insgesamt 15 Kardinäle waren, muss hier nicht näher breitgetreten werden.

Es mag als rücksichtslos erscheinen, die teilweise rührend apologetisch anmutenden Schil-derungen einzelner Protagonisten zu kritisieren. Diesem Stil entgeht auch Karol Wojtyla Seni-or, der Vater Johannes Pauls II., nicht. Er sei „ein zurückhaltender Mann von außerordentlicher Frömmigkeit" gewesen, ist da zu lesen (S. 156). Nur sehr selten ist der Literatur dagegen zu entnehmen, dass des Papstes älterer Bruder ein „Sechsmonatekind" war. Die Erwähnung dieser Tatsache in vorliegender Rezension mag zunächst als unwichtiges Detail erscheinen. Doch ist

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nicht auszuschließen, dass sie mit dazu beigetragen hat, dass unter Papst Johannes Paul II. jene Bestimmungen nicht mehr in den Codex Iuris Canonici von 1983 aufgenommen wurden, die an eheliche und voreheliche Zeugung unterschiedliche Rechtsfolgen knüpften.

Nur sehr oberflächlich wird die Papstwahlordnung von 1996 beschrieben (S. 194). Ver-schwiegen wird vor allem jener Punkt, der vielfacher Kritik unterzogen worden war, nämlich die Möglichkeit des Wegfalls des Zweidrittelerfordernisses für die Autorisierung eines Wahl-ergebnisses. Dass diese Änderung des seit 1179 geltenden Grundsatzes als tiefgreifender Ein-schnitt empfunden wurde, sollte schließlich die Rücknahme bzw. Modifikation der betreffen-den Bestimmung durch Papst Benedikt XVI. im Jahr 2007 belegen . . . .

Auch das in den späten Jahren Johannes Pauls II. „rebellierende Osterreich" findet Erwäh-nung (S. 203). Die Version Mathieu-Rosays bzw. der Übersetzerin Müller bietet Überraschun-gen: „Johannes Paul II. war es sich schuldig, Osterreich zu besuchen. Ebenso wie in Deutschland erwies sich der Katholizismus hier als ziemlich turbulent und fur den Präfekten der Glaubens-kongregation, Kardinal Ratzinger, als besonders unbequem." Dass sich „der Katholizismus" für einen Präfekten der Glaubenskongregation als „besonders unbequem" erweisen kann, ist eine auffällige Tatsache, die eingehender und daher auch interessanter Kommentierung bedurft hätte. „Nach dem Skandal, zu dem die Gerüchte über das pädophile Vorleben des Kardinalerz-bischofs von Wien geführt hatten, war dieser Besuch auch für den Papst außerordentlich hei-kel", ist weiters zu lesen. Nun: In diesem Zusammenhang von „Gerüchten" zu sprechen, ist der Gipfel des angewandten Euphemismus, und wenn schließlich gemeint wird, „Johannes Paul II. hatte sogar warten müssen, bis dieser [sc. Kardinalerzbischof Groer] in einem unbedeutenden Kloster in Vergessenheit geriet, um endlich den Weg frei zu haben fur seinen Besuch", so wird die Tatsache übergangen, dass sich im Jahr 1998 im Vergleich zum Papstbesuch von 1983 nur ein kleiner Bruchteil Interessierter bei jenen öffentlichen Veranstaltungen einfand, die Teil der Krisenvisite aus dem Jahr 1998 bildeten. Dass die hier angesprochene Causa im Jahr 1998 ver-gessen gewesen sein soll, wird freilich durch zahlreichen Medienberichte widerlegt und nicht so bald erfolgreich weggeschoben werden können.

Zum Schluss noch eine kleine Ergänzung: Unwidersprochenen und aus heutiger Sicht glaubwürdigen Berichten zufolge war der erwähnte Präfekt der Glaubenskongregation an der Berufung Hans Hermann Groërs zum Wiener Erzbischof im Jahr maßgeblich beteiligt gewe-sen. Die Würdigung dieses Details mag freilich jenen vorbehalten sein, die einst eine Geschich-te der Päpste des 21. Jahrhunderts verfassen und dabei die Karriere jenes Mannes behandeln werden, der Johannes Paul II. im Amt nachgefolgt ist . . . .

Wien Stefan Schima

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