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Literaturberichte Rezensionen Biographisches Handbuch der österreichischen Parlamentarier 1918 —1993. Herausg. von der Parlamentsdirektion. Osterr. Staatsdruckerei, Wien 1993. 695 S. Dieses Handbuch, das am 22. November 1993 vom Präsidenten des Nationalrats, Dr. Heinz Fischer, im Präsidialsalon des Parlaments präsentiert wurde, enthält ein alphabetisches Verzeichnis und Kurzbiographien der Angehörigen des Österreichi- schen Nationalrats und des Bundesrats, die in dem Zeitraum von der ersten Sitzung der Provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich am 21. Oktober 1918 bis zum 2. Mai 1934 sowie seit dem 19. Dezember 1945 bis zu dem für diese Publika- tion gewählten Stichtag, dem 30. September 1993, einer dieser gesetzgebenden Körper- schaften angehörten; es sind dies insgesamt 1.926 Männer und Frauen. Ahnliche Verzeichnisse erschienen bereits in den Jahren 1968 und 1975; sie sind jedoch in der vorliegenden Neubearbeitung von Dr. Martha Giefing durch Angabe der Mandatszeiten ergänzt; eine Parlamentarier-Datenbank ermöglichte auch statistische Auswertungen. Quellenmaterial lieferten das Parlamentsarchiv, frühere Biographische Handbücher des Nationalrats und des Bundesrats sowie andere biographische Nach- schlagewerke; der neue Band ist, wie in der Einführung (S. 7) festgestellt wird, nur als Behelf für weitere Forschungsarbeiten gedacht. Die alphabetische Anführung der Mandatare beginnt mit dem Tiroler Sozialdemo- kraten Simon Abram, der bereits Mitglied der Provisorischen Nationalversammlung am 21. Oktober 1918 war, dem Nationalrat 1920 bis 1934 angehörte und 1940 in Salz- burg starb; sie endet mit dem niederösterreichischen Christlichsozialen Josef Zwetzba- cher, der 1920 bis 1925 Abgeordneter des Bundesrats und 1922 dessen Vorsitzender war; er starb zu Ende des Jahres 1942 in Wien. Der Anhang enthält eine Tabelle der Gesetzgebungsperioden, Verzeichnisse der Präsidenten (auch der Zweiten und Dritten Präsidenten) des Nationalrats sowie der Vorsitzenden (seit 1988 Präsidenten) des Bundesrats und deren Stellvertretern. Stati- stische Übersichten geben Einblicke in Altersstrukturen, die durchschnittliche Dauer der Innehabung von Mandaten, in die Frauen- und Akademikeranteile, schließlich in die Zusammensetzung der beiden gesetzgebenden Körperschaften zum Stichtag 30. September 1993 nach Berufsgruppen. MIÖG 102 (1994) Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library Authenticated Download Date | 10/22/14 4:38 AM

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Literaturberichte

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B i o g r a p h i s c h e s Handbuch der österreichischen P a r l a m e n t a r i e r 1918 —1993. Herausg. von der Parlamentsdirektion. Osterr. Staatsdruckerei, Wien 1993. 695 S.

Dieses Handbuch, das am 22. November 1993 vom Präsidenten des Nationalrats, Dr. Heinz Fischer, im Präsidialsalon des Parlaments präsentiert wurde, enthält ein alphabetisches Verzeichnis und Kurzbiographien der Angehörigen des Österreichi-schen Nationalrats und des Bundesrats, die in dem Zeitraum von der ersten Sitzung der Provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich am 21. Oktober 1918 bis zum 2. Mai 1934 sowie seit dem 19. Dezember 1945 bis zu dem für diese Publika-tion gewählten Stichtag, dem 30. September 1993, einer dieser gesetzgebenden Körper-schaften angehörten; es sind dies insgesamt 1.926 Männer und Frauen.

Ahnliche Verzeichnisse erschienen bereits in den Jahren 1968 und 1975; sie sind jedoch in der vorliegenden Neubearbeitung von Dr. Martha Giefing durch Angabe der Mandatszeiten ergänzt; eine Parlamentarier-Datenbank ermöglichte auch statistische Auswertungen. Quellenmaterial lieferten das Parlamentsarchiv, frühere Biographische Handbücher des Nationalrats und des Bundesrats sowie andere biographische Nach-schlagewerke; der neue Band ist, wie in der Einführung (S. 7) festgestellt wird, nur als Behelf für weitere Forschungsarbeiten gedacht.

Die alphabetische Anführung der Mandatare beginnt mit dem Tiroler Sozialdemo-kraten Simon Abram, der bereits Mitglied der Provisorischen Nationalversammlung am 21. Oktober 1918 war, dem Nationalrat 1920 bis 1934 angehörte und 1940 in Salz-burg starb; sie endet mit dem niederösterreichischen Christlichsozialen Josef Zwetzba-cher, der 1920 bis 1925 Abgeordneter des Bundesrats und 1922 dessen Vorsitzender war; er starb zu Ende des Jahres 1942 in Wien.

Der Anhang enthält eine Tabelle der Gesetzgebungsperioden, Verzeichnisse der Präsidenten (auch der Zweiten und Dritten Präsidenten) des Nationalrats sowie der Vorsitzenden (seit 1988 Präsidenten) des Bundesrats und deren Stellvertretern. Stati-stische Übersichten geben Einblicke in Altersstrukturen, die durchschnittliche Dauer der Innehabung von Mandaten, in die Frauen- und Akademikeranteile, schließlich in die Zusammensetzung der beiden gesetzgebenden Körperschaften zum Stichtag 30. September 1993 nach Berufsgruppen.

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Naturgemäß werden viele Angehörige von Nationalrat und Bundesrat auch in anderen biographischen Publikationen angeführt, so im Osterreichischen Biographi-schen Lexikon 1815 bis 1950 der Osterreichischen Akademie der Wissenschaften, soweit sie bis zum 31. Dezember 1950 starben, was auf den Tag genau für Karl Renner zutraf. Verschiedene Parlamentarier, die dem Staatsrat und den anderen Gremien des Ständestaates (1934 bis 1938) angehört hatten, werden in dem Biographischen Hand-buch über die Mandatare dieser Körperschaften von Gertrud Enderle-Burcel mit Hin-weisen auf ihre späteren Funktionen behandelt. Naturgemäß wurden führenden Politi-kern oft auch umfangreichere Einzelbiographien gewidmet, hier könnte man Otto Bauer, Robert Danneberg, Julius Raab, Karl Renner, Ignaz Seipel, um nur diese zu nennen, beispielhaft hervorheben.

Das vorliegende Werk sollte nicht zuletzt eine Ausgangsbasis für weitere Politiker-biographien, darüber hinaus überhaupt für Untersuchungen verschiedener Bereiche der Zeitgeschichte und der Politikwissenschaften bieten. Ergänzend seien, was den Parlamentarismus betrifft, namentlich noch die neueren Arbeiten von Rainer Nick und Anton Pelinka, Parlamentarismus in Osterreich (1984), Anton Pelinka und Fritz Plasser, Das österreichische Parteiensystem (1988) genannt sowie das von Herbert Dachs (und Mitarbeitern) herausgegebene Handbuch der politischen Systeme Öster-reichs (1992).

Soviel in aller Kürze als Hinweis auf das anläßlich der 75-Jahr-Feiern der Republik erschienene Handbuch der österreichischen Parlamentarier, das wohl die ihm zuge-dachten Funktionen für wissenschaftliche Untersuchungen, aber auch für einen brei-teren Leserkreis erfüllen sollte.

Wien Erich Z ö l l n e r

I Libri Iur ium della Repubblica di G e n o v a . In t roduz ione , a cura di D i n o P u n c u h — Antonel la Rovere. Voi. 1/1, a cura di Antonel la R o v e r e . (Pubblica-zioni degli Archivi di Stato. Fonti X I I und X I I I = Fonti per la storia della Liguria I und II.) Uf f i c io centrale per i beni archivistici, R o m a 1992. 412 S., 16 Abb. und X V , 491 S.

Wie in vielen italienischen Städten legte man auch in Genua im Zuge der kommu-nalen Entwicklung und dem damit zusammenhängenden Ausbau der Verwaltung eine Sammlung der Urkunden an, die für die Stadt von Bedeutung sein konnten. Die älteste erhaltene Überlieferung dieser Art stammt in Genua aus der Mitte des 13. Jahrhun-derts. Mehr als ein halbes Dutzend weitere Bände bilden insgesamt eine imposante, bis in die Neuzeit fortgeführte Dokumentation städtischen Selbstbewußtseins. Schon seit längerer Zeit war der Forschung bekannt, daß der früheste Codex auf eine Vorlage aus dem Jahr 1229 zurückgeht. Neuere Studien führten darüber hinaus zu der Erkenntnis, daß bereits im 12. Jahrhundert mehrere städtische Register in Genua exi-stierten; höchstwahrscheinlich entstand die erste Initiative dieser Art in den vierziger Jahren des 12. Jahrhunderts. Diese neuen Einsichten bildeten unter anderem den Anstoß für eine großangelegte Neuedition des ältesten Teiles dieser Urkundensamm-lung, die an die Stelle eines vor gut hundert Jahren erschienenen Druckes treten soll, der auf einer unzulänglichen handschriftlichen Basis aufbaute.

Im Einleitungsband werden die skizzierten Uberlieferungs- und Forschungspro-bleme eingehend dargestellt sowie der Inhalt und die sehr wechselvolle Geschichte der Codices genauer beschrieben. Abgedruckt werden auch die umfangreichen Stamm-

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bäume von Herrscher- und Adelsgeschlechtern, die in einem Band des 14. Jahrhunderts Aufnahme gefunden haben. Die ebenfalls genau dargelegten Editionsgrundsätze betonen die Verbindlichkeit der Reihenfolge der Dokumente, wie sie in der ältesten erhaltenen Uberlieferung aufscheint. Man hat also — anders etwa als zumeist bei der Edi-tion von Traditionscodices im bayerisch-österreichischen Raum — nicht versucht, die Stücke nach zeitlichen oder inhaltlichen Kriterien neu zu ordnen. Bei der Edition finden zudem auch eventuell noch vorhandene Originale oder weitere unabhängige Kopien für die Textherstellung Berücksichtigung. Schließlich enthält der Einleitungsband umfang-reiche (über 200 Seiten) Konkordanzen der Uberlieferungen und bisherigen Drucke.

Der erste Textband bietet 279 Urkunden des ältesten Bandes aus dem Zeitraum von 958 bis 1233, die in ihrem Grundstock auf verlorene Register des 12. Jahrhunderts zurückgehen. Die Edition besteht aus den üblichen Hauptteilen: Kopfregest, Uberlie-ferungen, bisherige Drucke und Regesten sowie der Wortlaut der Urkunde mit Text-varianten. Die Stücke dokumentieren die politischen und damit engstens verbundenen wirtschaftlichen Beziehungen Genuas zu nahen und entfernten Gewalten, insbeson-dere im westlichen Mittelmeer, fallweise aber auch zum König von Jerusalem und zum oströmischen Kaiser. Hingegen fehlen Diplome eines römisch-deutschen Reichsober-hauptes. Viele Aufzeichnungen sind aber auch den inneren Verhältnissen in der Kom-mune gewidmet. Insgesamt sprengt bereits der Inhalt des ersten Teilbandes der Edi-tion — und dies ist nur etwa ein Viertel der Stücke des ältesten Codex — bei weitem den regionalen Rahmen der ligurischen Metropole, und dankenswerterweise enthält auch schon diese Veröffentlichung, die sofort den Wunsch nach einer zügigen Fortset-zung des Unternehmens erweckt, ein sorgfältig gearbeitetes Register nicht nur der Orts- und Personennamen, sondern auch der Sachbegriffe.

Innsbruck Josef Ri ed m an η

R e p e r t o r i u m G e r m a n i c u m . Verzeichnis der in den päpstl ichen Regi-stern und Kamera lak ten vo rkommenden Personen , Kirchen und Or t e des Deu t -schen Reiches, seiner Diözesen und Terr i tor ien vom Beginn des Schismas bis z u r Refo rma t ion .

VI . Band: Niko laus V. 1447—1455. 1. Teil : Text . Bearb. v. Josef Friedrich A b e r t ( | ) und Wal te r D e e t e r s . Niemeyer , Tüb ingen (Komm.) 1985. XLIV, 613 S. 2. Teil: Indices. Bearb. v. Michael R e i m a n n . Niemeyer , Tüb ingen 1989. XIV, 643 S.

VII . Band: Calixt III. 1455—1458. 1. Teil : Text . Bearb. v. Ernst P i t z . Niemeyer , T ü b i n g e n 1989. X X X V I I , 329 S. 2. Teil : Indices. Bearb. v. H u b e r t H ö i n g . Niemeyer , Tüb ingen 1989. IX, 362 S.

Das Repertorium Germanicum lag im Text mit den ersten vier Bänden für die Jahre 1378 bis 1431 im Jahre 1958 vollständig vor. Für den II. Band (1378 — 1415) konnte allerdings erst 1961 das Ortsregister erscheinen, für den IV. Band (1417—1431) erschien 1979 das umfangreiche Personenregister (siehe diese Zeit-schrift, Band 90, 1982, S. 181 f.), während das Ortsregister zu diesem Band noch aus-steht. Obwohl auch die Manuskripte für die Pontifikate Nikolaus V. und Calixt III. als VI. und VII. Band seit 1968 bzw. 1971 druckfertig vorlagen, verhinderten Schwierig-keiten mit dem Verleger der älteren Bände (Weidmannsche Verlagsbuchhandlung Berlin) eine Drucklegung, so daß erst nach fast weiteren zwei Jahrzehnten diese beiden Bände erscheinen konnten.

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420 Literaturberichte

Die neuen Textbände werden mit einer Beschreibung der Quellen eingeleitet. Quellen sind vor allem die Registerserien im Vatikanischen Archiv und die Amtsbü-cher der apostolischen Kammer, welche im Vatikanischen Archiv, teilweise auch im Staatsarchiv Rom verwahrt werden. Beim Nachweis der einzelnen Fundstellen wird nunmehr nicht nur die Anfangsseite der zitierten Quelle, sondern der gesamte Umfang mitgeteilt.

Berücksichtigt wurden alle Suppliken und einschlägigen Urkunden aus allen deutschen Kirchenprovinzen und Diözesen, auch aus den Kirchenprovinzen Prag, Riga und zum großen Teil Gnesen. Von der Diözese Lüttich sind nur die deutschen und niederländischen Teile, von der Diözese Metz die deutschsprachigen Bezirke, aus der Kirchenprovinz Lund die Diözesen Reval und Schleswig sowie die Insel Rügen in der Diözese Roskilde, aus der Kirchenprovinz Besançon die Diözese Basel und die deutschsprachigen Teile der Diözese Lausanne aufgenommen. Weiters sind die deutschsprachigen Teile der Diözesen Sitten, Aquileja, Trient und Triest be-rücksichtigt.

Zum Unterschied von den früheren Bänden wurde nun jeder Artikel (Personen und Orte) mit einer Nummer bezeichnet; es sind in Band VI 6014, in Band VII 2939 Nummern. In Band VI sind alle in den einzelnen Artikeln genannten Personen in Kapitälchen, die Ortsnamen kursiv gedruckt; davon ist man in Band VII zugunsten eines einheitlichen Schriftbildes wieder abgekommen. Hauptinhalt sind bekanntlich Pfründenangelegenheiten und Gnadenverleihungen (Dispense, Ablässe, Notarsernen-nungen usw.), auch finden sich u. a. viele Angaben über das Studium der genannten Personen. In diesen neuen Bänden wurden nunmehr sämtliche die Pfründen betref-fenden Wertangaben aufgenommen.

Schon vier Jahre nach dem Textband konnten als 2. Teil des VI. Bandes die Indices erscheinen, die 30.000 Vor- und Zunamen und mehr als 10.000 Ortsnamen (mit allen ihren verschiedenen Schreibungen) und zahlreiche andere Daten enthalten, was durch die Elektronische Datenverarbeitung ermöglicht wurde. Vom VIII. Band sind Textteil und Indices gleichzeitig erschienen.

Freilich konnten die Orte und Personen nicht wie in den älteren Bänden identifi-ziert werden, so daß dem Benützer nunmehr „ein gewisser eigener Arbeitsaufwand abverlangt wird, der aber durch die neuen Sach-Indices . . . reichlich vergolten wird", vgl. die Vorbemerkung von Arnold Esch. Der Erfolg beim Auffinden des Gesuchten hängt demnach nicht zuletzt ab von der Findigkeit bei der Suche (Vorwort in Band VII/2, S. IX). Es hätte aber — wie bei Band IV — noch die Arbeit von Jahr-zehnten bedurft, bis solche vollkommenere Register hätten erstellt werden können, und hätte nur bei einem gewaltigen Arbeitsaufwand zu befriedigenden Ergebnissen geführt (vgl. etwa Historische Zeitschrift 196, 1963, S. 404—406).

Alle Ortsnamen erscheinen nunmehr mit Angabe der Diözese zweimal im Orts-index: unter ihrem Ortsnamen sowie unter dem Namen der Diözese, Orte ohne Diözesanangabe finden sich in dem kleinen Hilfsindex: Orte ohne Angabe der Diözese (Band VI, S. 415—419, Band VII, S. 233—237); doch sind auch in diesem Index viele Orte leicht zu identifizieren; z. B. beziehen sich in Band VI alle Angaben: Vienne(n.), Wyenne und ähnlich auf Wien in der Passauer Diözese, nur in Band VII beziehen sich einige Nennungen auch auf Vienne. Ortskundigen wird es meist gelingen, auch diese Ortsnamen zu lokalisieren; so ist z. B. das verballhornte „Egen-burghlaa" im Mandat gegen die Aufständischen gegen Kaiser Friedrich III. v. 4. April 1452 (Band VI/1, nr. 5577, Band VI/2, S. 416) mit den z w e i niederösterreichischen Städten Eggenburg und Laa an der Thaya zu identifizieren, vgl. den Druck nach dem

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Original im Haus-, Hof - und Staatsarchiv bei Joseph Chmel, Materialien zur österrei-chischen Geschichte 2 (1838) 4—6 nr. IV.

Weiter finden sich Indices der Patrozinien, der Orden und sonstigen religiösen Gemeinschaften, ein sehr umfangreicher Index Wörter und Sachen, darunter die Titel, Amts- und Standesbezeichnungen, die akademischen Grade und die Dispensen von den verschiedenen defectus der Kleriker, darunter für die so seltenen Angaben des Geburtsjahres wichtig die Dispensen vom defectus aetatis; im Gegensatz zu Band VI sind in Band VII die verschiedenen defectus natalium, die defectus aetatis und defectus corporis nicht eigens ausgewiesen, sondern alle nur unter defectus verzeichnet, wodurch aber Raum von kaum einer Spalte eingespart wurde. (Im Register zu Band VIII des Repertoriums [Pius II.] ist man wieder zur detaillierten Scheidung der defectus zurückgekehrt, wenn auch bei den defectus natalium die vollständige Diffe-renzierung aller Beziehungen nicht wie in Band VI durchgeführt wurde.) Es folgt noch ein chronologisches Verzeichnis der Registereintragungen und ein Verzeichnis der Fundstellen.

Im Personenindex erscheint am häufigsten König bzw. Kaiser Friedrich III., näm-lich in Band VI in 178, in Band VII in 74 Artikeln; es folgen in der Häufigkeit die beiden Kardinallegaten Johannes Carvajal und Nikolaus Cusanus sowie in Band VI der Gurker Bischof Johannes Schallermann, der in 95 Stücken genannt wird, die fast alle (92) am 23. März 1452 — dem Tag, an dem unter Nikolaus V. die größte Zahl von Urkunden (107) erging —, als sich Schallermann in der Begleitung des Kaisers auf dessen Krönungsreise in Rom befand, ausgestellt wurden und den Empfängern meist volle Sündenvergebung gewährten, in sechs Nummern wurden Ablässe verliehen (nr. 1667, eine Ablaßverleihung für Gurk, fehlt im Register S. 73 und 196), und schließlich der Bischof von Augsburg Peter von Schaumberg, Kardinal tit. s. Vitalis (74 Artikel in Band VI, davon Stichwortartikel 4922 mit etwa 22 Stücken, und 14 Artikel in Band VII, hier fehlt im Vornamenregister der Verweis auf den Stichwortartikel 2447). Von weltlichen Personen wird in den Urkunden am häufigsten nach dem Kaiser dessen Bruder Herzog bzw. Erzherzog Albrecht VI. genannt: in Band VI in 54 Arti-keln, davon 24mal während seines Romaufenthaltes zum 30. Dezember 1450 (vielfach Bitten um Gewährung von Ablässen für verschiedene Personen, besonders auch in den Vorlanden); in Band VII ist der Erzherzog in 20 Artikeln genannt.

Dankbar wird im Vorwort des Bearbeiters von Band VII/1, S. X, der großen Ver-dienste des leider viel zu früh verstorbenen stellvertretenden Direktors des Deutschen Historischen Instituts in Rom und Referenten für das Repertorium Hermann Diener gedacht, der auch die Bearbeitung des längsten Pontifikats des 15. Jahrhunderts, Eugens IV., übernommen hatte, sie aber nicht mehr abschließen konnte, und dessen Hilfsbereitschaft auch der Rezensent mehrfach erfahren durfte.

Wien Paul U i b l e i n

Deutsche R e i c h s t a g s a k t e n un te r Kaiser Karl V. Bd. 10: Der Reichstag in Regensburg und die Verhand lungen über einen Friedstand mit den Pro te -s tanten in Schweinfur t und N ü r n b e r g 1532. Bearb. v. Rosemar ie A u l i n g e r . V a n d e n h o e c k & Ruprecht , Göt t ingen 1992. 3 Tei lbände , 1602 S.

Mit dem Band zu den Akten des Jahres 1519, der 1893 erschien, teilte sich die Edi-tion der deutschen Reichstagsakten in eine ältere und eine jüngere Reihe. Die Teilung zielte darauf ab, möglichst rasch zu den Reichstagen unter Kaiser Karl V. vorzu-

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422 Litera turberichte

dringen, da bis dahin noch nicht einmal die Jahre 1376 bis 1431 ganz bearbeitet waren; dabei hatte das Interesse Rankes an der Reformationszeit den Anstoß zum Editionsun-ternehmen gegeben. Die Bearbeiter der jüngeren Reihe konnten bis 1935 die Bände zu den Reichstagen 1521 bis 1524 und 1527 bis 1529 vorlegen. Der Zweite Weltkrieg führte jedoch zu einem tiefen Bruch in der Editionsarbeit. Zwei druckfertige Bände und alles bis dahin gesammelte Material zur Ära Karls V. gingen verloren. Seitdem erschien nur noch ein Band von Wolfgang Steglich zu den Jahren 1529/30, der aber keinen Reichstag erschloß. Erst ab Mitte der siebziger Jahre baute Heinrich Lutz die Abteilung neu auf. Ein Stab von hauptamtlichen und nebenamtlichen Mitarbeitern sammelte seitdem in ganz Europa Dokumente zu den Reichstagen von 1530, 1532 und 1541 bis 1544. Um angesichts der Quellenmassen überhaupt in absehbarer Zeit zu Ergebnissen zu kommen, konzentrierte sich die jüngere Reihe wieder ausschließlich auf die Reichstage. Außerdem entwickelten die Editoren spezielle Dokumentations-formen, um die Quellenwiedergabe sinnvoll zu verkürzen. Das Zuarbeiten im Team entlastete bei den Archivrecherchen, ersparte manchen Irrweg und beugte gelehrter Einsiedelei vor. Nach dem frühen Tod von Heinrich Lutz 1986 leitet nun Eike Wol-gast die Abteilung. Von den noch ausstehenden zwölf Bänden sind gegenwärtig neun in Bearbeitung. R. Aulinger hat nunmehr einen Band vorgelegt, der mit Sicherheit als Modell und Richtschnur auch für die folgenden gelten kann.

Regensburg 1532 galt in der Geschichtsschreibung im Gegensatz zu den turbu-lenten und großen Tagen von 1521 und 1530 als eine spröde Versammlung, die anscheinend nur die Beschlüsse zur Türkenhilfe von 1530 vollzog. Nimmt man die Anzahl der Akten, stand tatsächlich die Türkenhilfe im Mittelpunkt. Ein türkisches Landheer unter der Führung Sultan Süleymans befand sich 1532 auf dem Vormarsch auf Ungarn und das Reich. Obwohl daher höchste Gefahr drohte, schlugen die Stände jede Forderung des Kaisers ab, mehr Geld und Truppen bereitzustellen, als 1530 beschlossen war. Dies ist keineswegs als Versagen zu werten; denn mit dem Reichstag von 1532 gelang es erstmals, ein Reichsheer auf der Grundlage der Wormser Matrikel aufzustellen, das etwa 8000 Reiter, 40.000 Fußknechte umfaßte. 1529 hatten sich nur einzelne Reichsstände am Entsatzheer für das belagerte Wien beteiligt. Beim Reichstag 1532 willigten darüber hinaus die 1530 noch protestierenden Evangelischen in die Tür-kenhilfe ein, nachdem Karl V. sie in den Landfrieden einbezogen hatte. Ein derartiges Junktim — Reichs- und Türkenhilfe nur gegen eine Friedensgarantie — wurde für die kommenden Reichstage beispielgebend.

Die Religionsfrage verhandelten der Kaiser und ein Teil der Stände parallel zum Reichstag in Schweinfurt und Nürnberg. Eine solche Verlegung des Religionsstreits auf Sondertage bedeutete ebenfalls eine zukunftsweisende Neuerung, die über das Interim 1548 und den Passauer Vertrag 1552 schließlich zum Augsburger Religions-frieden führte. Der zu Nürnberg vereinbarte Anstand öffnete 1532 den Einstieg in die Lösung des Religions- und Friedensproblems im Reich. Mit der Friedensgarantie akzeptierte Karl V. im Gegensatz zum Reichstag von 1530 zumindest befristet die kir-chenrechtlichen und territorialen Änderungen der neugläubigen Reichsstände. Das Reichsoberhaupt trug außerdem dem Reichskammergericht auf, die Prozesse in Reli-gionssachen einzustellen. Der Reichstag kam mithin in der Türken- und Religions-frage zu bedeutenden Innovationen. Im Bereich der Reichsjustiz führte er die Impulse von 1530 weiter. Die Constitutio Criminalis Carolina wurde jetzt abschließend redi-giert und ging in Druck. Eine Justizkommission arbeitete Neuerungen zu den Kam-mergerichtsordnungen aus, die den Grundstock für die späteren Fassungen von 1548 und 1555 bildeten. Der Reichstag institutionalisierte auch die bisherigen Ad-hoc-Visi-

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tationen des Reichskammergerichts, indem er einen festen Kreis von Visitatoren bestimmte, der sich im 16. Jahrhundert nur noch geringfügig änderte.

Die Edition unterscheidet sich von den bisherigen Bänden der jüngeren Reihe in vieler Hinsicht. Eine Einleitung wägt die Probleme der Aktenüberlieferung und Quel-lendarbietung ab, beschreibt die Vorgeschichte des Reichstags und liefert einen Uber-blick über die Verhandlungen sowohl in Regensburg selbst wie auch in Schweinfurt und Nürnberg. Die bisherigen Bände verzichteten zuletzt auf einen Verhandlungs-überblick, sogar auf ein detailliertes Inhaltsverzeichnis, was die Orientierung enorm erschwerte. Der Editionsteil gliedert nicht mehr wie bisher nach Themen, sondern zugleich nach Quellengruppen. Dies erspart Querverweise und die Aufteilung von Aktenstücken. Geboten scheint das neue Gliederungsprinzip ohnehin durch den erhöhten Stellenwert der Protokolle, obgleich für 1532 noch kein detailliertes Kurfür-stenrats- oder Städteratsprotokoll überliefert ist wie für die Reichstage der 40er Jahre. Das genaueste Protokoll stammt wie schon für den Reichstag 1530 von der Hand Valentins von Tetleben. Unverzichtbar für das Verständnis des Reichstags sind 1532 noch die Korrespondenzen. Der Nachteil, daß hier Vorgänge wiederholt auftauchen, läßt sich nicht vermeiden. Von Vorteil ist, daß die Korrespondenzen umfassend die spezifischen Interessen und Perspektiven der Reichsstände dokumentieren. Ahnliches gilt für die Supplikationen. Nicht selbstverständlich erscheint die Aufnahme der Kosten und Aufwendungen einzelner Reichsstände in die Edition. Die Rechnungen gewähren jedoch einen äußerst wertvollen Einblick in die Sozial- und Alltagsge-schichte, herausragend etwa die Kostenaufstellung des späteren Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen. Gewiß ebenso richtig war es, die Verhandlungen in Schwein-furt und Nürnberg über einen Friedstand mit den Protestanten in den Band zu inte-grieren, obwohl sie stricto sensu keine Reichstagsakten sind und in ihrer Fülle den Band zu sprengen drohten. Einschneidende Texteingriffe und Kürzungen waren unumgänglich, dennoch bleibt der Beratungsgang für den Benutzer transparent.

Die Akten zum Reichstag sind mit äußerster Akribie zusammengetragen. Das Grundgerüst der Edition bilden die Überlieferungen der kaiserlichen Kanzlei und der Mainzer Erzkanzlei. Daß aus der kaiserlichen Kanzlei nur diejenigen Stücke berück-sichtigt sind, die einen direkten Bezug zum Reichstag aufweisen, ist unvermeidlich. Bei der Masse der Quellen läßt sich über den Reichstag hinaus nicht das gesamte politi-sche Tableau Karls V. erschließen. Für die reichsständische Überlieferung erwiesen sich die Archive in München, Marburg, Weimar, Dresden und Hannover als besonders ergiebig, die Politik Bayerns, Hessens und Kursachsens ist demgemäß im Detail reprä-sentiert. Im ganzen hat die Bearbeiterin Dokumente aus weit über hundert Archiven und Bibliotheken aus ganz Europa zusammengetragen, Material, das den Kernbestand der Reichsarchive zumindest ergänzt. Die Quellen so ausgreifend zu sammeln, war nur möglich durch das Zusammenwirken im Editorenteam der jüngeren Reihe.

Der Band ist benutzerfreundlich, dies gilt auch für die Gestaltung des Editions-teils. Jedem Kapitel ist eine Übersicht vorangestellt, die den Beratungsgang beschreibt und die einzelnen Stücke implizit zuordnet. Die Übersichten machen eine gesonderte Auflistung der Stücke überflüssig, ebenso ein chronologisches Aktenverzeichnis am Schluß des Bandes, das für die Reichstagsakten in vieler Hinsicht problematisch wäre. Die Kommentierung läßt keine Wünsche offen, sie ist dort sinnvoll beschränkt, wo sie auf Literaturhinweise für die in den Quellen genannten Personen verzichtet. Proble-matisch erscheint lediglich die Angabe sämtlicher Fundorte bei denjenigen unge-zählten Stücken, die von allen Reichsständen kopiert wurden. Es reicht vollkommen, wenn deutlich wird, daß die Mainzer Kanzlei ein Stück durch Diktat allgemein

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424 Literaturberichte

bekanntmachte, eine Auswahl von Fundorten genügt. Dieses Prinzip ist im vorlie-genden Band ohnehin für die Verhandlungen in Schweinfurt und Nürnberg ange-wendet. Das „Register der Personen- und Ortsnamen" listet unter den Namen auch Sachbegriffe auf, die trotz aller notwendigen Reduktion genügend aufgefächert sind.

Mit der Edition zum Reichstag von 1532 wurde ein gewaltiges Stück Arbeit erfolg-reich abgeschlossen, eine Arbeit, die man euphemistisch „entsagungsvoll" zu nennen pflegt, die aber immer noch das Fundament jeder Geschichtsschreibung liefert. Das historiographische Fundament für die Reichsgeschichte um 1532 hat sich durch eine große Edition verändert, die Rückwirkungen auf die Geschichtsschreibung werden lange Zeit anhalten. Abschließend bleibt nur noch zu wünschen, daß möglichst zügig auch für die Reichsgeschichte von 1541 bis 1544 neue Fundamente gelegt werden.

Passau Maximilian L a n z i n n e r

Josef P e k a r , Tschechoslowakische Geschichte. (Veröffentl. d. Sudeten-deutschen Archivs.) Rieß, Benediktbeuern/München 1988. 336 S., 2 Karten.

Die endlich auch in deutscher Sprache vorliegende „Tschechoslowakische Geschichte" („Dëjiny ceskoslovenské") des nach Palacky wohl bedeutendsten tschechi-schen Historikers ist immer noch eine höchst solide und lesbare Überblicksdarstellung der Geschichte der böhmischen Länder und der (freilich viel kursorischer behan-delten) Slowakei vom Frühmittelalter bis 1920 — trotz all ihrer zum Teil problemati-schen Eigenheiten wie der umstands- und bindestrichlosen Einverleibung der Slo-waken in ein „tschechoslowakisches Volk", leichten antisemitischen und (wenngleich verständlichen) deutlichen antimagyarischen Untertönen. Ein Spezifikum nicht Pekars, sondern der tschechischen Historiographie insgesamt dürfte die Praxis sein, alles, was sich auf dem Boden der böhmischen Länder jemals ereignet hat, und alle hier auftretenden historischen Personen, Gebilde und Institutionen mit Hilfe des Per-sonalpronomens „wir" und des Possessivpronomens „unser" in unmittelbaren Bezug zur Gegenwart und zu den jeweils heutigen Tschechen zu setzen („bei uns" [ζ. B. 82, 101, 102], „unsere Länder" [ζ. B. 56, 58, 60, 65], „unsere Grenzen" [67], „unser Unter-kämmerer" [160], „unser Boden" [67], „unsere Städte" [103], „das schlesische Teilge-biet, welches uns bis 1918 gehörte" [191] usw.). Das Buch ist ursprünglich 1921 „mit Genehmigung des Ministeriums für Schulwesen und Volksbildung" als Lehrbuch für die obersten Klassen der Mittelschulen im Verlag des Historischen Clubs in Prag erschienen. (Übrigens wurde es 1991 „mit Zustimmung und Empfehlung des Ministe-riums für Schulwesen, Jugend und Sport der Tschechischen Republik" neu aufgelegt.) Die deutsche Übersetzung ist ein Werk des 1903 in Westböhmen (ebenso wie Pekar in einer Bauernfamilie) geborenen Anton Zankl, eines — trotz Vertreibung — Vorkämp-fers der deutsch-tschechischen Versöhnung; sie wurde nach seinem Tod von Gudrun Heißig überarbeitet. Der Band enthält überdies eine ebenso kluge wie informative Ein-führung von Monika Glettler sowie einen Wiederabdruck der von Josef Pfitzner, Pro-fessor für osteuropäische Geschichte an der deutschen Universität Prag, der Pekar ebenso schätzte wie dieser ihn, 1937 angefertigten Übersetzung der bekannten Abhandlung „Der Sinn der tschechischen Geschichte" („Smysl ceskych dëjin").

Nach dem Februar 1948 wurde der konservative Katholik (s. v. für diese simple Etikettierung!) Pekar (1870—1937) in seiner Heimat zur Unperson. Er wurde von den „marxistischen" Historikern als Hauptexponent der reaktionären, bürgerlichen Geschichtsschreibung attackiert. Erst in der Zeit des „Prager Frühlings" konnte man

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sich wieder offen zu ihm bekennen bzw. mit seinem Œuvre befassen. Sein vielleicht schönstes Werk, „Kniha o Kosti" („Das Buch über [die Burg] Kost", in zwei Bänden 1909 bis 1911 erschienen), wurde wieder aufgelegt. Ein 1970 aus Anlaß des 100. Geburtstages zusammengestellter Auswahlband („Postavy a problémy ceskych dëjin" [„Gestalten und Probleme der tschechischen Geschichte"]) konnte, obwohl schon gedruckt und gebunden, nicht mehr ausgeliefert werden; fast die gesamte Auflage wurde eingestampft. (Der Band wurde 1977 in dem tschechischen Exilverlag „edice Akord" in Rotterdam publiziert und ist für tschechische Leser seit 1990 in zwei in hoher Auflage in Prag erschienenen Büchern greifbar, von denen jenes mit dem Titel „O smyslu ceskych dëjin" fünf Beiträge enthält, die in dem anderen fehlen.) In der Zeit der „Normalisierung" wurden Pekars Bücher aus den Bibliotheken entfernt, er durfte in Publikationen nicht erwähnt werden. Nach der Novemberrevolution 1989 hingegen besteht heute in der tschechischen Öffentlichkeit eher die Gefahr einer kri-tiklosen Glorifizierung von Pekaf, der nie ein bloßer Kathedergelehrter sein wollte und dessen Schriften sich stets an ein größeres Publikum als die Fachkollegenschaft wandten.

Doch noch einmal zurück zur „Tschechoslowakischen Geschichte", die sich — als Mittelschul-Lehrbuch — ja an ein denkbar großes Publikum wandte, und zwar zur Frage der Ubersetzung, die im großen und ganzen als gelungen zu bezeichnen ist, wenngleich eine nicht ganz kleine Reihe von Ubersetzungsfehlern den Lesefluß hemmt, wie z.B.: „Ostgesellschaft" (185) statt „Orientalische Handelskompanie"; „Repräsentanz und Kammer" (195) statt „Repräsentation und Kammer"; „Bankzettel" (200, 213) statt „Bancozettel"; „Landesrecht" (200) statt „Landrecht"; „Hofstudien-kommission" (201) statt „Studienhofkommission"; „der Oberste Gerichtshof" (205) statt „die Oberste Justizstelle"; „kaiserlich-österreichischer Staat" (212) statt „Kai-sertum Österreich"; „Aktiennationalbank" (213) statt „Nationalbank"; „Entdeckungen (tschech.: Vynálezy)" (214) statt „Erfindungen"; „Fanciscus-Museum" (215) statt „Franzensmuseum"; „Pésina" (216) statt „Pesina"; der Kremsierer Reichstag löste nicht „sich (. . .) auf" (226), er wurde vielmehr aufgelöst („byl [ . . .] rozpuStén"); „studentische Kohorten" (227) statt „Nationalgarden"; „Kultur und Unterricht" (231) statt „Kultus und Unterricht"; „Gulden österreichischen Münzfußes" (234, 264) statt „Österreichischer Währung"; „Erzfürsten" (235) statt „Erzherzöge"; 1919 wurde nicht ein „Grenzstreifen (. . .) an der Thaya bei Feldsberg" (297) an die CSR abge-treten, sondern ein solcher „mit Feldsberg" („s Valcicemi").

Wien Thomas W i n k e l b a u e r

Geschichte von B e r c h t e s g a d e n Stif t — M a r k t — Land. l . B a n d : Zwi-schen Salzburg u n d Bayern (bis 1594). Herausgeg . v. Wal te r B r u g g e r , H e i n z D o p s c h , Peter F. K r a m ml . An ton Plenk KG, Berchtesgaden 1991. 1117 S., Abb., Kar tenskizzen u. Graphiken . — 2. Band: V o m Beginn der Wittelsbachi-schen Adminis t ra t ion bis zum Ube rgang an Bayern 1810. Teil 1: Polit ik — Gesel lschaft — Wir t schaf t — Recht . Herausg . v. Wal te r B r u g g e r , H e i n z D o p s c h , Peter F. K r a m ml . Plenk, Berchtesgaden 1993. 687 S., Abb., Kar ten-skizzen u. Graphiken .

Wenn der Name Heinz Dopsch auf einem Titelblatt erscheint, dann folgt dahinter eine ebenso monumentale wie den modernsten Methoden verpflichtete, verständnis-voll illustrierte und hilfreich bebilderte Landesgeschichte, die das Ergebnis der inter-

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disziplinaren Zusammenarbeit ausgezeichneter Fachwissenschaftler darstellt und den Vorzug genießt, daß sie — auf wieviele Bände auch immer berechnet — zügig fertig-gestellt wird. Letzteres ist zwar von der vorliegenden „Geschichte von Berchtesgaden", deren erster und zweiter (Teil 1) von geplanten drei Bänden anzuzeigen sind, noch nicht zu sagen, aber mit Sicherheit anzunehmen. Die Hervorhebung von Heinz Dopsch darf jedoch nicht so verstanden werden, als ob der Rezensent die wissen-schaftliche und organisatorische Leistung der beiden anderen Herausgeber gering schätzte. Auf Walter Brugger, ausgewiesener Kunsthistoriker, Pfarrer in Berchtes-gaden und Dekan von Berchtesgaden-Bad Reichenhall, geht die Initiative zur Entste-hung der „Geschichte von Berchtesgaden" zurück, und ohne die Mitarbeit des Salz-burger Universitätsassistenten Peter F. Kramml wären die vorliegenden Bände wohl kaum, jedenfalls nicht schon im sechsten bzw. achten Jahr der Teamgründung erschienen, wie der Rezensent aus eigener Erfahrung zu wissen meint. Selbstverständ-lich haben die drei Herausgeber selbst mehrere namhafte Beiträge geliefert. Die gleiche Wissenschaftlichkeit zeichnet auch die Arbeiten der anderen 21 Autoren aus (siehe die Verzeichnisse in 1, 1109, und 2, 679). Es entspricht dem Interesse und dem notwendig davon bestimmten Urteil des Rezensenten, wenn ihn — außer den Bei-trägen von Heinz Dopsch selbst — die von Stefan Weinfurter verfaßte Gründungsge-schichte (in ihrer Verbindung mit der Salzburger Augustiner-Chorherren-Reform) sowie die umfangreiche, die Berchtesgadner „Salzgeschichte" bei weitem überstei-genden Darstellungen von Fritz Koller und Rudolf Palme besonders überzeugt haben. Von der Gewinnung des lebenswichtigen Minerals über seinen Transport bis zu seiner Vermarktung reicht die anschauliche Darstellung des Gegenstands. Besondere Aktua-lität — hat doch „der Bedarf an Salinenholz das Bild der Berchtesgadner Wälder wesentlich geprägt" (1799) — besitzt Kollers Behandlung der Holzversorgung für die Salinen. Wichtig auch der Nachweis, „daß unter dem Markennamen Halleiner Salz neben dem Produkt aus Hallein im Spätmittelalter auch rund 20 Prozent Schellen-berger Salz inbegriffen wurden" (1800f.).

Insgesamt ist die Fülle des Gebotenen beeindruckend. Auch die erdgeschichtliche Entwicklung und die Vegetationsentwicklung werden berücksichtigt (Paul Ney 13 ff. und Hubert Zierl 61 ff.). Daran schließen die Darstellung der Berchtesgadener Topo-nymie und die der Vor- und Frühgeschichte an (Wolf-Armin von Reitzenstein 85 ff. und Walter E. Irlinger 153 ff.). Der zuletzt genannte Beitrag endet mit dem Ausgang der Römerzeit, wobei von einem „Abzug der römischen Bevölkerung" die Rede ist (173); eine Vorstellung, die ebenso zäh von der Althistorie und der klassischen Archäologie vertreten wird, wie sie quellenfern ist.

Den Beweis liefert schon die anschließende Darstellung des Früh- und Hochmit-telalters, die Heinz Dopsch dankenswerterweise selbst vorgenommen hat. An seiner Auffassung, die sich schon deswegen mit der des Rezensenten weitgehend deckt, weil sie gemeinsam erarbeitet wurde, wären nur Kleinigkeiten anzumerken. Seitdem Ernst Klebel 1921 in der Admonter Stiftsbibliothek Auszüge aus den Großen Salzburger Annalen gefunden hatte, beschäftigte sich die Forschung immer wieder aufs neue mit dem nur dort überlieferten, dem Jahre 920 (recte 919 oder 916/17) zuzuordnenden Satz: „Bawarii sponte se rediderunt Arnolfo duci et regnare eum fecerunt in regno Teutonicorum." Vielfach wird der Begriff „regnum Teutonicorum" als „deutsches Reich" übersetzt. Tatsächlich kann man zeigen, daß damit das „(König-)Reich der Bayern" gemeint war (vgl. Wolfram, Osterreichische Osthefte 33, 1991, 598 ff., mit Berchtesgaden S. 199). Zum zweiten scheint mir Stefan Weinfurter (Historisches Jahr-buch 106, 1986, 248 Anm. 34) mit Recht erkannt zu haben, daß die „Salinarii", von

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Rezensionen 427

denen Herzog Arnulf seinen Sohn Eberhard huldigen ließ, nicht die Leute von Rei-chenhall (209), sondern die Salzburger waren.

Es berührt die Tatsache, daß die letzte Arbeit des 1989 verstorbenen Salzburger Ordinarius für Kunstgeschichte, Wilhelm Messerer, im vorliegenden Band Aufnahme fand (Romanische Kunst in Berchtesgaden S. 983ff.). Eine sehr ansprechende Darstel-lung von Land und Leuten enthält der Beitrag von Rolf Farnsteiner (843 ff.), wobei besonders die familiengeschichtlichen Informationen aus dem Ubergang vom 16. zum 17. Jahrhundert Interesse verdienen.

Der erste Teil des zweiten Bandes, der dem Mitherausgeber, Prälaten Dr. Walter Brugger, zum 65. Geburtstag gewidmet ist, setzt mit den großen Ereignissen des 16. Jahrhunderts ein. Aber auch in dieser Einheit enthält die Arbeit von Heinz Dopsch und Thomas Willich einen sehr guten Uberblick über die Rolle der Pröpste von Berchtesgaden als geistliche Reichsfürsten. Der neuzeitliche Teil, der dem Rezen-senten etwas ferner steht, ist sehr verläßlich gearbeitet und wird im Abschnitt „Berchtesgadener Schicksalsjahre — vom Ende der Fürstpropstei bis zur Eingliede-rung in das Königreich Bayern, 1803—1810" von Manfred Feulner (2, 433—472) rich-tiggehend dramatisch.

Selbstverständlich wird es stets ein besonderes Interesse sein, das den Leser leitet, wenn er sich mit der vorliegenden „Geschichte von Berchtesgaden", deren erste Bände schon Respekt fordern, auseinandersetzt, wenn er das Werk benützt und damit arbeitet. Mag auch Berchtesgaden spät erst ein Land geworden sein (1306, 1396, 1491), es ist doch heute eines im Bewußtsein seiner Bevölkerung, und diese kann sowohl auf ihre Geschichte wie auf diese „Geschichte von Berchtesgaden" stolz sein.

Wien Herwig W o l f r a m

H e l m u t L a c k n e r — Gerhard A. S t a d l e r , Fabriken in der Stadt. Eine Industr iegeschichte der Stadt Linz. (Linzer Forschungen. 2.) Linz 1990. 774 S.

H e l m u t L a c k n e r — Christ ian S c h e p e l — Gerha rd A. S t a d l e r , Fabriken in der Stadt. Bilder zu einer Industr iegeschichte der Stadt Linz. Linz 1990. 157 S.

Der erstgenannte Band enthält zwölf Kapitel, einen umfangreichen Anhang (42 Seiten), welcher u. a. statistisches Material über 329 Linzer Industriebetriebe enthält, ein Quellen- und Literaturverzeichnis und erfreulicherweise auch ein Orts- und Perso-nenregister.

Im Zentrum des vorliegenden Bandes steht die Fabriksindustrie bzw. die Entwick-lung der Stadt Linz zur Industriestadt, wobei die Autoren die Absicht hatten, die glo-balen Veränderungen im Laufe der Industrialisierung während des 19. und 20. Jahr-hunderts mit einer Analyse des gegenwärtigen Zustandes zu verbinden, was ihnen auch sehr gut gelungen ist.

Das erste Kapitel „Von der Manufaktur zur Fabrik — vom Verlag zur Industrie" (S. 1 —14) ist als allgemeine Einführung gedacht, das zweite (S. 15—72) beschäftigt sich mit der Herausbildung der industriellen Infrastruktur wie dem Transport- und Verkehrswesen, den Sparkassen und Banken und verschiedenen Aspekten der Ent-wicklung der Städtetechnik.

Die daran anschließenden nächsten neun Kapitel sind jeweils der Entstehung und Weiterentwicklung einer industriellen Branche in Linz gewidmet, wobei auch der aktu-elle Stand berücksichtigt wird: In Kapitel drei (S. 73—96) wird die Protoindustrialisie-

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428 Literaturberichte

rung am Beispiel der Linzer Wollzeugfabrik geschildert, im vierten Kapitel (S. 97—108) werden die Mühlen behandelt, im fünften Kapitel (S. 109—180) die Ent-wicklung der Textilindustrie in Linz-Kleinmünchen. Das sechste Kapitel (S. 181—240) ist der Eisen- und metallverarbeitenden Industrie gewidmet, das siebente (S. 241—376) der Nahrungs- und Genußmittelindustrie, das achte (S. 377—390) handelt von der Leder- und lederverarbeitenden Industrie und das neunte (S. 391—428) von der che-mischen Industrie. Die elektrotechnische Industrie bildet den Inhalt des zehnten Kapi-tels (S. 429—436) und im elften Kapitel (S. 437—458) wird das Bau- und Bauhilfsge-werbe als Indikator für die Industrialisierung und Urbanisierung behandelt.

Das letzte Kapitel (S. 459—481) schildert den Prozeß der Industrialisierung in Linz, ist aber gleichzeitig auch als Zusammenfassung zu verstehen.

Das Buch stellt eine Gemeinschaftsarbeit der beiden Historiker Helmut Lackner und Gerhard A. Stadler dar, wobei Lackner die beiden ersten Kapitel sowie jene über die Linzer Wollzeugfabrik, die Eisen- und metallverarbeitende Industrie, die Nah-rungs- und Genußmittelindustrie mit Ausnahme der Abschnitte Bier- und Brannt-weinproduktion, Kunstmühlen und Teigwarenfabriken, weiters die Kapitel über die chemische Industrie, die elektrotechnische Industrie und das Bau- und Bauhilfsge-werbe verfaßte und Stadler die Kapitel über die Mühlen, die Textilindustrie, die Lederverarbeitung und die Abschnitte Bier, Branntwein, Kunstmühlen und Teigwa-renfabriken.

Die Zusammenfassung wurde von beiden Autoren gemeinsam erarbeitet. In dieser weisen sie darauf hin, daß die an und für sich „unbedeutende Provinzhauptstadt Linz" für Unternehmer, aber auch Arbeiter eigentlich hauptsächlich seiner geographischen Lage wegen interessant war, wobei gerade die Anfänge der Industrialisierung in Linz eine Kombination aus einheimischem sowie auswärtigem unternehmerischen Engage-ment darstellten. Der dafür notwendige Bedarf an Arbeitskräften mußte in erster Linie durch Zuwanderungen gedeckt werden, so daß Ende des 19. Jahrhunderts mehr als 75 % der Linzer Bevölkerung nicht aus Linz stammten.

Besonders interessant schildern Lackner/Stadler die zahlreichen Widerstände gegen die Ansiedlung von Fabriken in der Stadt, die — allerdings zum Großteil ohne Erfolg — schon sehr früh einsetzten, weil diese Fabriken „mit ihrem Lärm, ihren Erschütterungen durch Maschinen, ihrer Rauchplage, Feuergefährlichkeit und Geruchsbelästigung sowie überhaupt durch die mit ihrer Etablierung verknüpfte Zer-störung bzw. Transformierung althergebrachter und gewohnter Strukturen eine viel-schichtige Bedrohung" (S. 462 f.) darstellten.

Seit dem forcierten Ausbau der Linzer Industrie durch das nationalsozialistische Regime stieg diese Belastung für die Linzer Bevölkerung noch wesentlich an. Dieser Zustand hat sich bekanntlich bis zum heutigen Tag nicht relevant geändert und ist zum Gegenstand zahlreicher heftiger politischer Kontroversen geworden.

Sehr informativ ist auch der Abschnitt über die aktiven Unternehmer und ihre Rolle in der Kommunalpolitik. Die Autoren weisen diesbezüglich darauf hin, daß die erste Generation der Großindustriellen (ab 1848) weit weniger im Reichsrat und im Landtag als in der Kommunalpolitik aktiv war, während die darauf folgende sich sehr in Kammern, Verbänden, Vorständen und Aufsichtsräten engagierte.

Eine ausgezeichnete Ubersicht über die Linzer Industrie bietet das im Anhang prä-sentierte statistische Material zu 329 Unternehmen, welches ebenfalls bis zur Gegen-wart reicht. Als Quellen für diese Erhebung dienten u. a. Firmenfestschriften, Bau-akten, das Linzer Handelsregister sowie verschiedene schriftliche, aber auch münd-liche Auskünfte.

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Durch diesen Anhang hätte der an und für sich interessante und leicht zu lesende Band die Dimension eines Nachschlagewerkes gewinnen können. U m eine solche Bezeichnung zu verdienen, müßte aber vermieden werden, daß auf 774 Seiten nicht einmal der Ansatz eines Versuches, in diese zugegebenermaßen nicht gerade dafür prä-destinierte T h e m a t i k Frauen nicht nur als Anhang der jeweiligen Ehemänner miteinzu-beziehen, erkennbar bzw. die Artikulation eines diesbezüglichen Problembewußtseins zu finden ist.

Das zweite Buch soll eine visuelle Ergänzung zum Band „Fabriken in der Stadt. Eine Industriegeschichte der Stadt L inz" darstellen und wurde von dessen Autoren gemeinsam mit Christian Schepe, der die Fotoaufnahmen durchführte , herausgegeben.

Dieser Zusammenhang zeigt sich auch an der inhaltlichen Gliederung des Bild-bandes, die mit der Kapiteleinteilung der „Industriegeschichte" weitgehend überein-stimmt.

D i e abgebildeten Aufnahmen entstanden in den Jahren 1988 bis 1990, wobei viele der im Fabriksband dokumentierten O b j e k t e zu diesem Zeitpunkt bereits zerstört waren und daher nicht mehr fotograf iert werden konnten, die D o k u m e n t e stammen zum überwiegenden Te i l aus der zweiten Hälf te des 19. Jahrhunderts .

Die Autoren sehen die Notwendigkeit der Gestaltung und Herausgabe eines Bild-bandes unter anderem darin, daß „technische Prozesse und Verfahren , Maschinen und Apparate, Industriearchitektur und die Folgen der Industrialisierung auf die Stadtent-wicklung of t nur mit Hi l fe von Bi lddokumenten beschrieben werden können" (S. 8).

Auf den insgesamt 152 Abbildungen stehen die Menschen nicht nur nicht im Mi t -telpunkt, sie sind sogar ausgesprochen selten zu sehen. Dies entspricht der Intention der Herausgeber , „nicht die Arbeitenden, sondern die sie umgebende Architektur, die Räume, in welchen, und die Maschinen, mit denen gearbeitet wird" (S. 9) , in den V o r -dergrund zu stellen.

D e n drei Herausgebern ist mit diesem Bildband ein sehr schönes, ästhetisches Buch gelungen, das durchaus auch als eigenständiges W e r k seine Berechtigung hat, stellt es doch einen wichtigen Beitrag zur teilweise in ihrer Bedeutung noch unter-schätzten visuellen Geschichte dar.

G r a z Karin M . S c h m i d l e c h n e r

H e l v e t i a S a c r a . A b t e i l u n g I : E r z b i s t ü m e r u n d B i s t ü m e r , B a n d 2 , 1. u n d 2 . T e i l : D a s B i s t u m K o n s t a n z , das E r z b i s t u m M a i n z , das B i s t u m St . G a l l e n . R e d . v. B r i g i t t e D e g l e r - S p e n g l e r . H e l b i n g & L i c h t e n h a h n , Base l 1 9 9 3 . 1 1 4 3 S . , 2 K a r t e n .

K a u m einer der bisher erschienenen Helvet ia -Sacra-Bände ist wohl Resultat eines derart komplexen und langwierigen Entstehungsprozesses wie der vorliegende K o n -stanzerband: Nicht nur der mehrmalige Wechsel des Redaktors bzw. der Redaktor in der Publikation (Peter L. Zaeslin 1 9 6 4 — 1 9 6 7 , Guido H u n z i k e r 1 9 6 9 — 1 9 7 3 , Brigitte Degler -Spengler 1 9 7 4 — 1 9 9 3 ) und deren Überlastung mit anderweitigen Helvetia-Sacra-Aufgaben, sondern auch die unausweichlichen Mutat ionen im Bearbeiterteam und die mehrfachen Anpassungen und Überarbeitungen der Artikel im Hinblick auf veränderte Richtl inien und erweiterte methodische Ansatzpunkte führten zu einer über 30jährigen Entstehungsgeschichte des Bandes. U m s o erfreuter stellt der Benützer der Bände fest, daß die Publikation dank der gründlichen Redaktionsarbeit ein ein-heitliches, konsequent durchstrukturiertes Ganzes geworden ist, was angesichts der

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430 Literaturberichte

Tatsache, daß die Einzelbeiträge auf Texten aus den Jahren 1976 bis 1992 beruhen, keine Selbstverständlichkeit darstellt!

Das Hauptgewicht innerhalb des Helvetia-Sacra-Bandes 1.2 kommt dem Artikel über das Bistum Konstanz samt der Administrado Constantiensis für die schweizeri-schen Gebiete seit 1815 zu (41—956). Dieser Artikel folgt dem Aufbau der übrigen Bistumsbände, d. h. in einer umfangreichen Einleitung werden nicht nur Kirchenpro-vinz, Name, Gründung, Aufhebung, Patrone, Kathedrale, Dedicatio und bischöfliche Residenz aufgeführt und belegt, sondern in umfangreichen Artikeln auch die Ausdeh-nung (Circumscriptio), das weltliche Herrschaftsgebiet und die Geschichte des Bistums dargestellt und die Archive und eine umfassende Bibliographie der Diözese aufgelistet. Besondere Beachtung verdienen die Artikel zur Geschichte des Bistums (84—163): Helmut Maurer setzt sich mit den Anfängen der Diözese um 600, deren Verhältnis zu Windisch-Avenches, zum alemannischen Herzogshaus, zu den Mero-wingern, den Karolingern, den Herrscherhäusern des Hochmittelalters (Investitur-streit) und den Abteien Reichenau und St. Gallen auseinander; Brigitte Degler-Speng-ler verfolgt die Geschicke der Diözese vom Hoch- bis ins Spätmittelalter und geht auf die schwierige Lage der Bischöfe zwischen Dynasten (Staufer, Habsburger) und päpstlicher Kurie, Reichsstadtansprüchen von Konstanz und eidgenössischer Herr-schaftsbildung im Thurgau ein; und Rudolf Reinhardt befaßt sich mit dem Geschick des Bistums in der Neuzeit (d. h. nach der faktischen Loslösung zahlreicher Gebiete der Diözese nach dem Schwabenkrieg und der Reformation), untersucht die Reform-bemühungen im Sprengel und im kleinen fürstbischöflichen Territorium und stellt schließlich die Aufhebung des Bistums in den Jahren 1821/27 dar.

Dieser historischen Einleitung samt Archiv- und Literaturhinweisen (164—228) folgen die umfassend recherchierten und teilweise auch recht umfangreichen Viten der Konstanzer Bischöfe von Maximus (Ende 6. Jh.) bis zu Ignaz Heinrich von Wessen-berg-Ampringen (1817 —1827) (229 — 494), die Biographien der Weihbischöfe (Her-mann Tüchle), Generalvikare (Bernd Ottnad), Insiegler und Fiskale (Bernd Ottnad), Präsidenten des geistlichen Rates (Georg Wieland), Generalvisitatoren (Thaddäus Lang), Kommissare (Josef Brülisauer), Kanzler (Bernd Ottnad), Dignitäre des Dom-stiftes (Werner Kundert und Brigitte Degler-Spengler) und der Archidiakone (Rudolf Reinhardt) (503—881) und Verzeichnisse der Dekanate, Pfarreien, Stifte, Klöster und Konvente im schweizerischen Teil des Bistums Konstanz. Ergänzt werden diese Ausführungen über die Konstanzer Diözese durch Werner Kunderts Aufsatz über das Erzbistum Mainz (959—998), zu dessen Metropolitanverband Konstanz gehört hat, und durch Johannes Dufts Darstellung des Bistums St. Gallen (1001 —1063), das 1847 als Nachfolgesprengel von Konstanz für das St. Galler Kantonsgebiet errichtet worden ist.

Mit dem Helvetia-Sacra-Band 1.2 legen das Kuratorium und die Redaktorin Bri-gitte Degler-Spengler der Öffentlichkeit eine Publikation vor, für die ihnen Interesse und Dank der Fachwelt sicher sein werden, nicht nur, weil das Material in gewohnt sorgfältiger Art aufgearbeitet worden ist oder weil damit erstmals eine umfassende Konstanzer Bistumsgeschichte greifbar wird, sondern auch deshalb, weil der Band trotz allen widrigen äußeren Umständen die Fruchtbarkeit einer engen Zusammen-arbeit über die Landesgrenzen hinweg eindrücklich belegt.

Bern Urs Z a h n d

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In Ta l und Einsamkei t — 725 Jahre F ü r s t e n f e l d . Die Zisterzienser im alten Bayern. Band III: Kol loquium „Die Zisterzienser in Bayern, Franken und den benachbar ten Regionen Südostmit te leuropas . Ihre Verbandsb i ldung sowie soziale und politische In tegra t ion" (29. 8.—2. 9. 1988). Herausg . v. Klaus W o l l e n b e r g . Fürs tenfe ldbruck 1990. 262 S., Abb., Kar ten u. Grundrisse .

Die 1263 gegründete und 1803 aufgehobene Zisterze Fürstenfeld feierte 1988 ihr 725jähriges Jubiläum. Während der Sommermonate dienten die Räume der ehema-ligen Klosterbrauerei als Schauplatz einer umfangreichen Ausstellung, deren Haupt-themen einerseits die Hausgeschichte und andererseits eine Zusammenschau der Geschichte aller Zisterzen im alten Bayern bildeten. Damals erschien auch ein zwei-bändiger Katalog (I: Katalog, II: Aufsätze). Nun folgten als Band III die 15 Referate, welche im Jubiläumsjahr auf einer Tagung vom 29. August bis 2. September gehalten wurden.

Die geographische Perspektive der Tagung ging über Bayern, Franken und Schwaben weit hinaus, indem auch Meißen, Schlesien, Böhmen, Mähren, Österreich, Ungarn, Slowenien und Kroatien einbezogen wurden. Dabei dachte man an eine Ergänzung und Weiterführung der 1980 in Aachen veranstalteten Tagung, die haupt-sächlich dem Zisterziensertum in den Niederlanden, in Nord-, West- und Mittel-deutschland sowie in den angrenzenden Gebieten Polens gewidmet war. Kaspar Elm, gemeinsam mit Klaus Wollenberg für die Leitung und Durchführung der Fürsten-felder Tagung verantwortlich, greift auch in seinem Einführungsreferat die Aachener Thematik von „Ideal und Wirklichkeit" wieder auf; seine Vorgabe für die Referenten lautet, es solle „um die Aufdeckung von Wirklichkeit und nicht um die Bestätigung überlieferter Mythen gehen" (S. 12).

Einer solchen Vorgabe können Beiträge, die sich im Rahmen summarischer Uber-blicksreferate bewegen, wohl kaum gerecht werden — im Unterschied zu thematisch genau abgegrenzten, quellennahen Untersuchungen. In diesen werden mit Abstand am ausführlichsten die Beziehungen der Zisterzen zu den Landesherren, ζ. B. den Wittels-bachern oder den Premysliden, behandelt. Namentlich erwähnt sollen allerdings fünf andere Beiträge werden, die zugleich als Beispiele der thematischen und auch der geo-graphischen Vielfalt dienen können.

Mit den Anfängen Aldersbachs, „der Abtei, die — obwohl nicht die älteste und wirtschaftlich stärkste — zur einflußreichsten Zisterze Altbayerns wurde" (S. 49), befaßt sich Egon Boshof; die kargen Fakten der klösterlichen Frühgeschichte werden behutsam in größere Zusammenhänge eingeordnet und bekommen geradezu exempla-rische Qualität. Winfried Schich geht in seinem inhaltlich sehr komprimierten Beitrag „Der frühe zisterziensische Handel und die Stadthöfe der fränkischen Zisterzienser-klöster" speziell auf die Stadthof-Funktionen ein, die sich keineswegs auf den Handel allein beschränkten; in Würzburg ζ. B. nutzten schon während des 12. Jahrhunderts die Zisterzienser ihre dortigen Niederlassungen „für die Produktion von Wein, für den Absatz von Uberschüssen, für die Unterbringung von durchreisenden Ordensan-gehörigen und des königlichen Gefolges sowie für die Vertretung ihrer sonstigen Interessen in dem in kirchlicher und politischer Hinsicht zentralen Ort" (S. 134). Ein wirtschaftsgeschichtliches Thema, nämlich „Möglichkeiten der Durchsetzung zister-ziensischer Wirtschaftsgrundsätze in der Mark Meißen", greift auch Martina Schatt-kowsky auf, wobei sie Altzella, das sich als Hauskloster und Begräbnisstätte der Mark-grafen von Meißen „zum bedeutendsten und reichsten aller mitteldeutschen Klöster entwickeln konnte" (S. 144), als Fallbeispiel wählt; zur Erklärung der „erstaunlichen

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Gemeinsamkeiten in der Wirtschaftsführung vieler Zisterzienserklöster" müßten außer den Ordensvorschriften vor allem auch „die allgemeinen sozialökonomischen und politischen Entwicklungstrends der Zeit des 12./13. Jahrhunderts" (S. 151) herange-zogen werden.

Vergleichsweise ein Lesevergnügen ist dann Franz Machileks Beitrag „Stifterge-dächtnis und Klosterbau in der Chronik des Heinrich von Saar (Mähren)"; diese gereimte Hauschronik, welche um 1300 knapp fünf Jahrzehnte nach der Gründung der Zisterze Saar entstanden ist, zählt zu den besten Leistungen ihrer Art und ermög-licht dem Leser einen anschaulichen Nachvollzug der Gründung und frühen Entwick-lung einer Zisterze. Schließlich sei auch Marijan Zadnikars Beitrag über „Sticna (Sit-tich) in Slowenien — eine unzisterziensische Zisterzienserkirche" erwähnt; die 1156 geweihte Kirche weist nicht den sog. Berhardinischen, sondern den im Orden unge-wöhnlichen Cluny-Hirsau-Grundriß auf.

Eigens hingewiesen soll auf die Fragenliste werden, die Kaspar Elm in seinem Tagungsresümee formuliert hat. Auf einer knappen Seite (251 f.) sind hier wohl alle wichtigen Themen der Zisterzienserforschung aufgezählt. Den Fragen folgen noch Forschungsdesiderate, als zweites und zugleich schon letztes dasjenige „einer Hinwen-dung zu der letzten großen Blütezeit des Zisterzienserordens, die sich in der Zeit der Gegenreformation und des Barock entfaltete" (S. 253) — ein Desiderat, das verständ-lich wird, wenn man bedenkt, wie ausgiebig man sich bislang mit dem frühen Zister-ziensertum schon beschäftigt hat.

Wilhering P. Rainer S c h r a m l

Germanische R e l i g i o n s g e s c h i c h t e . Quel len und Quel lenprobleme. He rausg . v. He in r i ch B e c k , Detlev E l i m e r s und Kur t S c h i e r . (Ergän-zungsbände zum Reallexikon der Germanischen Al te r tumskunde . 5.) De Gruy-ter, Berlin 1992. VIII , 751 S.

Der vorliegende massive Band ist inhaltlich in drei Abschnitte eingeteilt, wobei der erste, nämlich „Allgemeine Problematik religiöser Quellen und Zeugnisse" nur einen, allerdings grundlegenden, Aufsatz von B. Gladigow über „Mögliche Gegenstände und notwendige Quellen einer Religionsgeschichte" (1—26) enthält. Den Rest des Bandes teilen sich die Abschnitte „II. Probleme archäologischer und runologischer Quellen und Zeugnisse" (27—395) und „III. Probleme sprachlicher und literarischer Quellen und Zeugnisse" (397—751).

Die Beiträge sind von höchst unterschiedlichem Gewicht, denn obwohl der Band die Vorträge einer Tagung vom Februar/März 1990 in Bad Homburg vereinigt, haben etliche Beiträger die Gelegenheit ergriffen, die derzeit ja nur selten über das Punktu-elle hinauskommende Forschung zur germanischen Religionsgeschichte mit Abrissen über den derzeitigen Forschungsstand eines Teilgebiets zusammenzufassen. Dazu gehören außer dem genannten Einleitungsaufsatz besonders K. Schier: „Skandinavi-sche Felsbilder als Quelle für die germanische Religionsgeschichte?" (162—228, mit umfangreicher Bibliographie) und K. Hauck: „Der religions- und sozialgeschichtliche Quellenwert der völkerwanderungszeitlichen Goldbrakteaten" (229—269) sowie K. Düwel: „Runeninschriften als Quellen der germanischen Religionsgeschichte" (336—364) und D. Ellmers: „Die archäologischen Quellen zur germanischen Reli-gionsgeschichte" (95—117), aber bis zu einem gewissen Grad auch zwei namenkund-liche Aufsätze aus dem dritten Abschnitt, nämlich T. Andersson: „Orts- und Personen-

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namen als Aussagequelle für die altgermanische Religion" (508—540) und B. Holm-berg: „Über sakrale Ortsnamen und Personennamen im Norden" (541—551); diese beiden namenkundlichen Beiträge zeichnen sich allerdings durch Kritik an der bishe-rigen Interpretation theophorer Namen aus, die vielleicht ein wenig über das Ziel hin-ausschießt.

Den literarischen Quellen ist eine ganze Reihe von Beiträgen gewidmet, wovon sich gleich zwei mit Snorris Edda befassen, nämlich H. Beck: „Die religionsgeschichtli-chen Quellen der Gylfaginning" (608—617) und M. Clunies Ross: „Quellen zur ger-manischen Religionsgeschichte" (633—655); dieses Gewicht auf Snorri wird mit gutem Grund gelegt, nämlich sowohl wegen der Bedeutung Snorris für die skandinavische Mythographie als auch wegen der unterschiedlichen Betrachtungsmöglichkeiten seines Werkes. D. Tiempe untersucht weiters „Tacitus' Germania als religionsgeschichtliche Quelle" (434—485), E. Marold — sehr systematisch — „Die Skaldendichtung als Quelle der Religionsgeschichte" (685—719) und U. Dronke „Eddie poetry as a source for the history of Germanic religion" (656—684), wobei der letzte Beitrag ob seiner willkürlichen Auswahl von einigen wenigen Themen aus dem Bereich der Eddadich-tung etwas enttäuschend wirkt.

Die anderen der insgesamt 27 Beiträge beschäftigen sich eher mit Einzelfragen, die zum Teil allerdings interessante Streiflichter auf bestimmte Quellenprobleme fallen lassen, als Beispiel kann dafür der Aufsatz von G. Steinsland: „Die mythologische Grundlage für die nordische Königsideologie" (736—751) dienen, der die Theorie der Verfasserin über hieros gamos und nordisches Königtum konzise wiedergibt.

Trotz der Aufsätze also, die sich zum Teil zwar sehr eingehend, aber doch mit Details beschäftigen, entsteht durch das Gewicht der genannten überblicksartigen Artikel zur Forschungssituation und durch den Gesamtumfang des Bandes so etwas wie ein Handbuch der rezenten Forschung zur germanischen Religionsgeschichte. Wenn dabei Namenkunde, Archäologie und Ikonographie im Vordergrund stehen und die Mythologie der literarischen Quellen etwas zurücktritt, dann spiegelt dies umso besser die Situation der heutigen Forschung wieder, die nunmehr auch die nicht litera-rischen Quellen stärker als je zuvor in eine Gesamtbetrachtung der germanischen Reli-gionsgeschichte miteinbezieht.

Wien Rudolf S i m e k

Hanna D o m a n d i , Kulturgeschichte Österreichs. Von den Anfängen bis 1938. Österr. Bundesverlag, 1992. 720 S.

Die Autorin dieses fast monumentalen, jedenfalls gewichtigen Werkes, setzte sich ein großes Ziel: Sie wollte die kulturellen Erscheinungen und Entwicklungen im Öster-reich des derzeitigen Staatsumfanges durch mehr als zwei Jahrtausende so darstellen, daß nicht nur der historische Ablauf, sondern auch die jeweiligen Hauptanliegen im Vordergrund stehen. Sie verschließt sich aber auch Einflüssen von außen auf das Geschehen einzelner Epochen nicht.

Der Begriff „Kultur" wird dabei auch nicht eng gefaßt, Spitzenleistungen in Wis-senschaft, bildender und darstellender Kunst, Musik oder Literatur finden ebenso Würdigung wie kulturelle Bemühungen des Volkes und Erscheinungen des Alltages in seinen verschiedenen Erscheinungsformen, seien es religiöses Verhalten, Glaube und Aberglaube, später Vereinswesen oder regionale Besonderheiten. Auch die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen werden wie die Lebensbedingungen

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434 Literaturberichte

der Menschen in den verschiedenen Epochen zumindest gestreift und angerissen. Die vielfach vernetzten Probleme des jeweils besprochenen Zeitraumes finden ebenso Beachtung wie das Eindringen internationaler Strömungen beschrieben wird. Wie die Autorin im Vorwort betont, wollte sie aber auch die Besonderheiten der Entwicklung Österreichs herausarbeiten. Dies ist ihr weitgehend gelungen. Anders als in der politi-schen Geschichte besteht die kulturelle Entwicklung meist aus Langzeitphasen mit selten klar abgegrenztem Beginn und Ende. Periodisierungen sind daher schwieriger und unklarer als bei der Darstellung von Epochen der allgemeinen Geschichte. Die Autorin hat aber auch diese Probleme gut und anerkennenswert gemeistert und durch eine ständig wechselnde Abfolge von Hauptschwerpunkten dem Rechnung getragen. Ein derartig umfassendes Werk kann nur in vieljähriger Arbeit entstehen und setzt das Studium einer Bibliothek von Fachliteratur voraus. Die Autorin hat sich offensichtlich dieser Mühe unterzogen und eine Darstellung erstellt, die anerkennenswert fundiert ist. Das beweist auch das angeschlossene Literaturverzeichnis, das natürlich nur Aus-wahlcharakter haben kann. Man merkt dem Buch die intensive Beschäftigung mit allen Bereichen, nicht nur mit dem allgemeinen Geschehen, sondern auch mit Problemen der Literatur, der Musik, des Bildungswesens, der alten und modernen Kunst oder des Filmschaffens an. Kaum ein Bereich wird vernachlässigt. Vor allem werden auch die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts mit den wesentlichen Erscheinungsformen neuerer Kulturbestrebungen, wie Jugendkultur, Freizeitgestaltung, Fremdenverkehr und Sport, dargestellt, zu kurz kommt nur die Erwachsenenbildung. Bedauern muß man, daß auf einen Uberblick der kulturellen Entwicklung der 2. Hälfte dieses Jahr-hunderts, also einer kulturellen Zeitgeschichte, verzichtet wurde.

Die Autorin wurde bei dieser umfangreichen Materie auch mit zahllosen Hypo-thesen konfrontiert, sie entscheidet sich in der Regel für einen, gelegentlich eigenwil-ligen Standpunkt, so daß ihr Werk aus einem Guß erscheint. Man könnte natürlich auch auf einige Schwächen verweisen, etwa, daß die jeweiligen Bildungsreformen wohl besprochen, in ihren langzeitlichen Auswirkungen aber doch nicht gewürdigt werden. Für Veränderungen im Kulturverhalten waren sie aber entscheidend. Auch die Ausstat-tung mit Bildern ist reichlich und ausgewogen, auf fast jeder Doppelseite findet sich eine Abbildung.

Das vorliegende Werk, unterdessen schon in zweiter Auflage erschienen, scheint mir nicht nur für die Orientierung des Fachmannes, sondern auch zum Studium in besonderem Maße geeignet zu sein, denn es ist verständlich geschrieben und gut lesbar. Daher wird es auch breiten Kreisen von Freunden der österreichischen Geschichte Freude bereiten.

St. Pölten Karl G u t k a s

H a u s h a l t u n d F a m i l i e in Mittelal ter und Früher N e u z e i t . H e r a u s g . v. T r u d e E h i e r t . (Vor t r äge eines interdiszipl inären S y m p o s i o n s v o m 6 . — 9 . Jun i 1990 an der Rheinischen Fr iedr ich-Wilhelms-Univers i tät Bonn. ) T h o r b e c k e , S i gmar ingen 1991. 304 S. Abb.

Untersuchungsgegenstand des Symposions sollte das Problem der Haushaltsfüh-rung sein, Ziel der Veranstalterin war es, ein „möglichst facettenreiches Bild der viel-schichtigen historischen Realität familialen Haushaltens im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit zu rekonstruieren" (13). Dementsprechend ist die Tagungsdokumen-tation reich an Einzelfacetten; zu einem erkennbaren Bild runden lassen sie sich aller-dings kaum.

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Rezensionen 435

Aus dem reichen Material an Nürnberger Haushalts- und Rechnungsbüchern läßt Harry Κ ü h η e 1 „Die Sachkultur bürgerl icher und patrizischer Nürnberger Haushalte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit" erstehen (15—31). — Peter H e i n e beklagt die derzeit noch geringen Kenntnisse „Städtische(r) Haushalte und Familien im islamischen Mittelalter" (33—41). — Uta L ö w e n s t e i n , Item ein Betth . . . Woh-nungs- und Nachlaßinventare als Quellen zur Haushaltsführung im 16. Jahrhundert" (43—70), wertet 23 detaill ierte Inventare aus dem zwischen Main und Nidder gele-genen, ländlich strukturierten Gebiet der Grafschaften Hanau-Münzenberg und Hanau-Lichtenberg aus. — Barbara K r u g - R i c h t e r , Alltag und Fest. Nahrungsge-wohnheiten im Magdalenenhospital in Münster 1558 —1635 (71—90), rekonstruiert in sorgfält iger Untersuchung der ausführlichen Küchenbücher eine eintönige, aber sätti-gende Alltagsküche mit großen Fleischportionen, eine karge Fastenzeit und die Krö-nung weniger Hochfeste durch den Festtagsbraten. Wichtig ist der Hinweis auf die Bedeutung des Brotes als Fastenspeise. — Fast ausschließlich normative Quellen — den Sachsenspiegel und einzelne Weistümer und Landrechte — durchsucht Reinhard S p r e n g e r nach „Aspekte(n) sozialen Schutzes in der Bauernfamil ie des Hoch- und Spätmittelalters" (91 —105). Gerade bei einem derart sensiblen Thema verzichtet man freilich nur ungern auf die Uberprüfung der Normen an der Rechtswirklichkeit. — Jochen H o o c k , Theorie und Praxis kaumännischen Handelns, 16. — 18. Jahrhundert . Vornehmlich am Beispiel Westfalens (107—118), gibt einen groben Überblick über Aufbau und Zielsetzung kaufmännischer Hand- und Rechenbücher. — Jörg J a r n u t , Konsumvorschriften im Früh- und Hochmittelalter (119—128), verweist auf die kirchlichen Fastengebote als konsumeinschränkende Vorschriften und ortet erste Ver-suche bäuerlicher Kleidervorschriften bereits in der Kaiserchronik des Pfaffen Konrad (Mitte 12. Jahrhundert) . — Irmgard B i t s c h , Ernährungsempfehlungen in mittelalter-lichen Quellen und ihre Beurteilung aus heutiger Sicht (129—136), beurteilt Rat-schläge des Anthimus (Anfang 6. Jahrhundert) , des Maimonides (12. Jahrhundert) und des Pariser Pestgutachtens von 1348. — Trude E h l e r t , Die Rolle von „Hausherr" und „Hausfrau" in der spätmittelalterlichen volkssprachigen Ökonomik (153—166), stellt in drei Haushaltslehren des 15. Jahrhunderts und dem „Ring" von Heinrich Wit-tenweiler Übereinstimmungen in der Festlegung der traditionellen Geschlechterrollen fest. — Michael D a l l a p i a z z a , Sprechen über die Frau. Haushaltsdiskurse bei Wit-tenweiler und anderen (167 —180), betont hingegen die ungewöhnlich freundliche, wohl durch persönliche Erfahrung inspirierte Darstellung von Ehefrau und Ehe bei Heinrich Wittenweiler, im Ackerman des Johannes von Tepl und in den Eheliedern des Oswald von Wolkenstein. — Manfred L e m m e r handelt über „Haushalt und Familie aus der Sicht der Hausväterl iteratur" der Frühen Neuzeit (181 — 191). — Margarete Z i m m e r m a n n schildert das Ideal der „Sag e s et prudentes mainagieres" in Christine de Pizans ,Livre des Trois Vertus' (1405) (193—206). — Gundolf K e i l , Der Haus-vater als Arzt (219—243), gibt einen quellenkundlichen Überblick über die umfang-reiche deutsche Hausarztl i teratur vor allem des 15. Jahrhunderts . — Hans-Joachim R a u p p bringt einen Querschnitt der Darstellungen von „Haushalt und Familie in der deutschen und niederländischen Kunst des 15. und frühen 16. Jahrhunderts" (245—268) auf Holzschnitten, Bildern und in Stundenbüchern und philosophiert über ihren Wirkl ichkeitsgehalt . — Irmintraut R i c h a r ζ schließlich, Das ökono-misch autarke „Ganze Haus" — eine Legende? (269—279), kämpft gegen eben diese Legende an.

Wien - Graz Bettina P f e r s c h y - M a l e c z e k

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Thomas E i c h e n b e r g e r , Patria. Studien zur Bedeutung des Wortes im Mittelalter (6.—12. Jahrhundert). (Nationes. 9.) Thorbecke, Sigmaringen 1991. 287 S.

Diese 1988 in Zürich approbierte Lizenziatsarbeit trägt in bewundernswerter Fülle aus den urkundlichen und historiographischen Quellen des Mittelalters Belege für die ungeahnt vielfältige Bedeutung des Wortes patria zusammen. Das Interesse ist auf die Erklärung des heute wohl selbstverständlichen emotionalen Wortgebrauch gerichtet, gipfelnd in der freilich schon in der Antike bei Horaz bezeugten Bereitschaft für das Vaterland selbst das Leben dahinzugehen: Dulce et decorum est pro patria mori. Man erinnert sich, daß Ernst Kantorowicz nach dem Zweiten Weltkrieg in einer damals jedem Kriegsteilnehmer eindrücklichen Art darüber nachgedacht und geschrieben hat. Ihm verdankt letztendlich auch die fleißige Studie des Schweizer Autors ihre Anre-gung, und man ist eigentlich nicht erstaunt über die große Nüchternheit der Darle-gungen, die etwa zu dem Ergebnis kommen, daß man im Mittelalter für sein Land nicht gestorben sei, sondern für sein Land gelebt habe. Die Emotionalisierung des Wortes patria wird erst auf das spätere Mittelalter datiert und ist sowohl mit dem auf-kommenden Nationalbewußtsein als auch mit der schon renaissancehaften Idee von der Vorbildhaftigkeit der Antike gekoppelt. Der entstehende Patriotismus meint frei-lich nicht die räumlich relativ begrenzte Heimat, mit der man durch Herkunft, Erlebnis und Erinnerung emotional verbunden ist, sondern faßt ein größeres politi-sches Gebilde ins Auge. Das ist für das Mittelalter mit seiner noch wenig mobilen Bevölkerung gewiß ein Phänomen und vielleicht auch nicht ohne Einschränkung gültig. Man muß wohl annehmen, daß der Patria-Begriff im Mittelalter wie heute schillernd blieb und zwischen Heimat und Vaterland oszillierte.

Wohl nicht zufällig bewegt sich der Hauptteil der Darlegungen auf rechtlichem und verfassungspolitischem Gebiete. Man wird aus der gentilen Wirklichkeit der Völ-kerwanderungszeit und der germanischen Nachfolgestaaten auf dem Territorium des untergegangenen Römerreiches über die karolingische Einigung des Abendlandes und das Imperium der deutschen Kaiserzeit zu den italischen Stadtrepubliken und franzö-sischen Lehensfürstentümern geführt, von der theokratischen Auffassung des Reiches mit einem an der Spitze stehenden Pater patriae über die unter Umständen schon im Interessenskonflikt kalkulierte Salus patriae in Italiens Städten zu den selbstbewußten Principes patriae französischer Territorien. Es würde zu weit führen, auf die Fülle von Einzelbeobachtungen einzugehen. Insbesondere zu den naturgemäß immer von Inter-pretationen abhängigen Ausführungen über die politischen Theorien mittelalterlicher Autoren gäbe es manches zu sagen, um die Situationsbedingtheit dieser oder jener For-mulierung zu unterstreichen und vor Verallgemeinerungen zu warnen. Ob der Patria-Begriff wirklich bewußt zur Herrschaftsintensivierung sowohl im Reich als auch bei der Ausbildung der Landesherrschaft eingesetzt wurde, ob man das Personalitäts-prinzip im alten Recht vergessen soll, weil schon früh auch die territoriale Herkunft mitgedacht wurde, das und noch manches andere müßte wohl noch einmal überdacht werden. Leider hat der Autor auch aus seiner Betrachtung weitgehend ausgeklammert, wie man in der Fremde, etwa als Kreuzfahrer oder in der mittelalterlichen Kolonisa-tion über die verlassene und die neu gewonnene Patria dachte, bekanntlich bis zu heu-tigen Tage ein Gradmesser für nationales Zusammengehörigkeitsgefühl und die Quelle dauernder Diskussionen darüber, was Nationes eigentlich sind. Insgesamt aber besitzt man ein zu vielen Gedanken anregendes Buch.

Tübingen Harald Z i m m e r m a n n

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Beat M e y e r - F l ü g e l , Das Bild der ostgotisch-römischen Gesellschaft bei Cassiodor. Leben und Ethik von Römern und Germanen in Italien nach dem Ende des Weströmischen Reiches. (Europäische Hochschulschriften. 3/533.) Lang, Frankfurt/Main 1992. 771 S.

Zu den schwierigsten, zugleich aber wichtigsten Aufgaben der Universitätslehrer gehören Vergabe und Betreuung von Dissertationen. Gerade in einer Zeit, in der das allgemeine Verständnis für die Geisteswissenschaften abnimmt, ist es besonders wichtig, dieser Tendenz durch die Heranbildung höchstqualifizierten Nachwuchses entgegenzuwirken. Leider ist es ein öfter zu beobachtender Usus, Schüler zunächst einmal auf eine einzige Quelle anzusetzen, in deren Spiegel sie bestimmte Fragestel-lungen beantworten sollen. Im vorliegenden Fall etwa betont der Verfasser ausdrück-lich, er wolle sich weder mit dem Realitätsgehalt seiner Quelle noch mit der neueren Literatur auseinandersetzen, sondern ihre Aussagen geordnet zusammenstellen (18). Damit jedoch hält man Studenten davon fern, was Geschichtsforschung eigentlich ist, und unterbindet den Versuch, die vergangene Wirklichkeit zu erkennen und darzu-stellen. Eine einzige Quellenstelle, in den Zusammenhang der übrigen Quellenzeug-nisse richtig eingeordnet und in Auseinandersetzung mit den Ergebnissen bisheriger Forschung ausgewertet, führt Anfänger besser in die Arbeit der Geschichtswissen-schaft ein, als das Referat von 500 Seiten Quellentext.

Der Themenstellung der vorliegenden Dissertation ist nicht nur die Fixierung auf eine einzige Quelle anzukreiden, sie hat eine weitere Schwäche: Es soll das Bild der ostgotisch-römischen Gesellschaft bei Cassiodor untersucht werden. Cassiodor aber zeichnet gar kein Bild dieser Gesellschaft, da er weder als Soziologe noch als Historio-graph schreibt, sondern als Stilist von Verwaltungsschreiben, an deren Inhalt sein per-sönlicher Anteil gar nicht feststeht und auch nicht leicht festzustellen ist. Zwar ent-halten die Variae viele Aussagen zur ostgotisch-römischen Gesellschaft, doch sind diese zum Großteil unbeabsichtigt entstanden. Ob Cassiodor sich überhaupt ein Bild dieser Gesellschaft gebildet hatte, wissen wir nicht, die Absicht der Variae ist sicher nicht, eines zu zeichnen, sondern, die Taten und Wirkungen des Königs als segens-reich zu preisen. Die Vermengung von Aussagen, die durch dieses Anliegen gefärbt sind, mit unverdächtigen, die der täglichen Verwaltungspraxis entstammen, verursacht einen Teil der Schwierigkeiten, die bei der Auswertung der Variae entstehen. Die Variae sind eine besonders reichhaltige Quelle, in schwierigem Latein verfaßt, aber durch das ausgezeichnete Register Ludwig Traubes gut erschlossen. Der Verfasser hat sich die Mühe gemacht, sie nach Angaben zum Leben der Goten und dem Heerwesen, zum Verhältnis zwischen Goten und Römern, der Ansiedlung der Goten und der Rechtsordnung, den Beziehungen zu Ostrom und den germanischen Reichen, den Unterschichten, ihren Berufen und Vergnügungen, zu „Mittelschichten" und Nobiles und ihren ethischen und kulturellen Idealen, zu Königtum, Senat und Beamten, Kirche und Recht sowie zur Einordnung des Verhältnisses der eigenen Gegenwart zur römi-schen Vergangenheit zu durchsuchen. Er versteht den Text, stellt die Quellenstellen überlegt zusammen und bewertet sie mit selbständigem Urteil. Man erfährt, welche Aussagen die Variae zu den untersuchten Themen treffen. Welche Erkenntnis aber gewinnen wir daraus? Geht es um die Beurteilung der Variae als Propagandaschrift, so müßte der Vergleich mit den übrigen Quellen das Ausmaß dieser Propaganda erweisen und die Realität davon abgrenzen. Soll aber historische Erkenntnis gewonnen werden, dann ist das ohne die Auswertung der sonstigen Quellen erst recht nicht zu bewerk-stelligen. Dazu kommt, daß auf die Auseinandersetzung mit der teilweise äußerst sub-

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438 Literaturberichte

tilen althistorischen und mediävistischen Literatur zu den einzelnen Problemen fast durchwegs verzichtet wird. Die Anmerkungen bestehen größtenteils aus Quellenzi-taten, und für das Literaturverzeichnis zu rund 550 Seiten Text benötigt der Verfasser ganze fünf Seiten. Aber nicht einmal die verzeichnete Literatur wurde auch immer benützt: Walter Goffarts Buch über „Barbarians and Romans" etwa, mit dem er über die „techniques of accomodation" handelt und eine lange Diskussion über das Thema losgetreten hat, ist zwar angeführt, wird aber im Kapitel über die „Landteilungen" nicht angesprochen. Wenn „neuere Arbeiten" aus den Jahren 1945, 1956 und 1968 stammen (26), Ludo Moritz Hartmann als „neuerer Historiker" angesprochen wird (123) und der Verfasser weiß, daß Felix Dahn „nicht auf dem neuesten Forschungs-stand" ist (20), drängt sich die Frage auf, wie sorgfältig der Gutachter die Dissertation überhaupt gelesen hat. Daß der Autor bei guter Anleitung zu besseren Ergebnissen gekommen wäre, zeigen die Seiten, in denen es um das Selbstverständnis des Königs geht. Dafür sind die Variae die richtige Quellenbasis, genau das können sie am besten aussagen, und hier ist die Arbeit wirklich gut.

Es soll hier nicht der Stab gebrochen werden über eine sehr umfangreiche, arbeits-aufwendige und im Rahmen ihrer Themenstellung ordentlich durchgeführte Disserta-tion, die ihren Verfasser sicher mit Stolz erfüllt. Es liegt in der Verantwortung der Lehrenden, wohin sie ihre Schüler führen wollen: Zu einer kulinarischen Freude an der Quellenlektüre oder zur Befähigung zu selbständiger historischer Arbeit.

Wien - Graz Bettina P f e r s c h y - M a l e c z e k

H a n s Cons tan t in F a u ß n e r , Z u r Frühzei t der Babenberger in Bayern und H e r k u n f t der Wit te lsbacher . Ein Kapitel bayerisch-österreichischer Geschichte aus rechtshistorischer Sicht. (Studien zu r Rechts- , Wir t schaf t s - und Kul turge-schichte. 15.) Tho rbecke , Sigmaringen 1990. 94 S.

Der Verfasser, der bereits eine Reihe von Untersuchungen zur Geschichte Bayerns im Hochmittelalter veröffentlichte, geht zunächst auf die seiner Meinung nach die bayeri-sche Geschichte des 10. Jahrhunderts dominierenden Auseinandersetzungen der füh-renden Familien, der Babenberger (oder Popponen) und des bayerischen Herzogshauses der Luitpoldinger, seit der Hinrichtung des Babenbergers Adalbert (906) ein. Es wird auf die bedeutende Rolle der Babenberger bei der Unterstützung König Ottos I. gegen baye-rischen Widerstand und bei der Ungarnabwehr (955) hingewiesen. Zuvor hatten sich andererseits die Nachkommen Herzog Arnulfs, unter ihnen auch Erzbischof Herold von Salzburg, gegen Herzog Heinrich gewandt, den Bruder Otto I. Heinrich reagierte mit größter Härte, starb aber bald nach der Ungarnabwehr. Die Kämpfe hatten besitzge-schichtliche Konsequenzen, das wird von Faußner am Beispiel des Klosters Tegernsee gezeigt, das nach seiner Ansicht nach dem Sieg des Königs iure hereditario, zu lehens-rechtlichem Erbrecht, an dessen Getreue, vor allem Babenberger, überlassen wurde, wäh-rend man bisher an Beschlagnahmen Arnulfs des „Bösen" gedacht hatte.

Mit den Grafen von Scheyern, den Wittelsbachern, setzt sich Faußner, abweichend von Jean-Marie Moeglin (vgl. MIÖG 96, 1988, S. 33 ff.) auseinander. Otto von Freising hatte die Zusammenarbeit des Luitpoldingers Berthold von Reisensburg, seiner Meinung nach des Ahnherrn der Wittelsbacher, mit denen, den Vögten von Freising, er in Kon-flikte verwickelt war, mit den Ungarn betont. Diese hätten aber Berthold nach der Schlacht am Lechfeld getötet. Berthold war der Sohn des 954 gegen Otto I. gefallenen Pfalzgrafen Arnulf. Die These der Abstammung der Wittelsbacher von Berthold von Rei-

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Rezensionen 439

sensburg wird von Faußner entschieden abgelehnt. Scheyern sei nicht dem Reisens-burger, sondern einem anderen Berthold, dem Babenberger Markgrafen ( t 980), über-lassen worden. Ihn bezeichnet Faußner (S. 36) als die neben Herzog Arnulf wohl bedeu-tendste Persönlichkeit im Bayern des 10. Jahrhunderts, dessen Eingreifen zugunsten des Königtums 938,954,974 und 976 entscheidende Wirkung gehabt hätte.

An den verschieden interpretierten Bericht Aventins von diesen Ereignissen des zehnten Jahrhunderts anknüpfend, stellt Faußner fest, daß die Wittelsbacher von dem Freisinger Hochstiftsvogt Otto abstammen. Das Erbe, auf das sich ihre Stellung später vor allem stützte, übernahmen sie aber von seiner Gattin Haziga von Scheyern. Diese sei ebenso wie andere „Erbtöchter" von einer zu sehr männlich orientierten Geschichtsschreibuntg und Genealogie zu wenig beachtet worden. Die Wittelsbacher seien Nachkommen von Hazigas Ehe mit dem (zuerst mit einer Andechserin verehe-lichten) Witwer Grafen Otto. Hazigas Gemahl entstammte, wie Faußner weiter aus-führt, aus einer traditionell als „Ebersberger" bezeichneten kognatischen Nebenlinie der Sighardinger. Uber diese Ebersberger liegen allerdings aufschlußreiche Ausfüh-rungen Wilhelm Störmers in seinem Werk über Adelsgruppen im früh- und hochmit-telalterlichen Bayern (1972) vor. Faußner nimmt aber ihre babenbergische Abkunft an. Tatsächlich habe erst Ekkehard, der älteste Sohn aus der Ehe von Otto und Haziga, durch seine Gattin Richgard das Ebersberger Erbe erheiratet, dessen Sohn, Pfalzgraf Otto I., dann den Kühbacher Erbbesitz, darunter auch die Feste Wittelsbach, den spä-teren Stammsitz des Hauses. Pfalzgraf Otto II. habe dann wieder eine Erbtochter geheiratet, Heilica, die Tochter des Grafen von Lengenfeld, dessen Gemahlin gleichen Namens das älteste der zahlreichen Kinder jener Kaisertochter Agnes gewesen ist, die dann in zweiter Ehe Markgraf Luitpold III., den Heiligen, von Osterreich heiratete.

Die meisten Heiraten, so stellt Faußner schließlich fest, seien innerhalb der „Babenberger Großfamilie" erfolgt. Die Babenberger seien zwar ursprünglich keine Bayern gewesen, hätten aber angesichts des Widerstandes im Lande, der sie ebenso wie das sächsische Herrscherhaus traf, dieses unterstützt. Die Koalition dieser Familien habe es ermöglicht, daß sie sich behaupten konnten, auch im Ungarnsturm und später.

Faußner stützte sich in seiner sorgfältigen Untersuchung auf ein mannigfaltiges Quellenmaterial, dessen Interpretationen durch die Forschung in früheren Arbeiten zu verschiedenen, mitunter widerspruchsvollen Ergebnissen führte. Es wäre wünschens-wert gewesen, wenn der Verfasser außer der umfangreichen, von ihm berücksichtigten Literatur noch zwei weitere österreichische genealogisch-historische Untersuchungen herangezogen hätte, nämlich Michael Mitterauer, Karolingische Markgrafen im Süd-osten, AÖG 123 (1963), beziehungsweise Heide Dienst, Die Dynastie der Babenberger und ihre Anfänge in Österreich, in: Das babenbergische Osterreich (976—1246), Schriften des Instituts für Osterreichkunde 33 (1976). Auch in diesen Arbeiten verzich-tete man mit Recht darauf, geschlossene, möglichst lückenlose Ahnenfolgen als gesi-cherte Forschungsergebnisse zu präsentieren.

Abschließend möchte ich sagen, daß das Buch Faußners viele, seit Jahrzehnten dis-kutierte, wichtige genealogische, rechts- und landesgeschichtliche Fragen und Pro-bleme betrifft. Im Vordergrund stehen Genealogica, die mit der Rivalität von Arnulfin-gern und „Babenbergern" in Bayern verknüpft, dargestellt und interpretiert werden. Eine eingehende Auseinandersetzung dieser Art kann in einer kurzgefaßten Rezension nicht irgendwie entscheidend beurteilt werden; vermutlich wird es weitere diesbezüg-liche Forschungsdifferenzen geben. Meiner Meinung sind aber wesentliche genealogi-sche Zusammenhänge zwischen den Luitpoldingern und den österreichischen Baben-bergern wohl gegeben; diesbezüglich verweise ich auf Mitterauer, a . a . O . , S. 227 ff.

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440 Literaturberichte

Das vorliegende Buch Faußners wird zweifellos zu weiteren Diskussionen und Stel-lungnahmen pro und contra anregen, schon diesbezüglich ist die sehr repektable Gesamtleistung des Verfassers nachdrücklich anzuerkennen.

Wien Erich Z ö l l n e r

Eckhard M ü l l e r - M e r t e n s — W o l f g a n g H u s c h n e r , Reichsintegra-t ion im Spiegel der Herrschaf t spraxis Kaiser Konrads II. (Forschungen zu r mit-telalterlichen Geschichte. 35.) Böhlaus Nachf . , We imar 1992. 452 S., T a b .

In Fortführung einer 1980 erschienenen Arbeit von Eckhard Müller-Mertens über „Die Reichsstruktur im Spiegel der Herrschaftspraxis Ottos des Großen" werden die dort entwickelten Methoden nunmehr auf die Ära Konrads II. angewendet. Die von Wolfgang Huschner bearbeiteten Abschnitte gehen auf dessen 1986 in maschinschrift-licher Form erschienene Dissertation zurück. Der Kern dieser neuen Methode ist darin zu sehen, daß auf der Grundlage von Kernlandschaften des Reiches das Herr-scheritinerar, die Empfänger der Diplome und die am Hof anwesenden Großen des Reiches miteinander in Beziehung gesetzt werden. Allerdings wird der seit langem in der Mediävistik verwendete Begriff der „Kernlandschaft" durch den neu gebildeten Begriff des „politischen Zentralraumes" überhöht, der sich vor allem durch seine inte-grative Funktion für das Königtum auszeichnet. Bereits in seiner Studie über Otto den Großen war es Müller-Mertens darüber hinaus gelungen, anhand der Rhythmen, Zyklen und Figuren im Itinerar des Ottonen den Begriff der „Basislandschaft des Königtums" herauszuarbeiten, der nicht nur durch häufige Herrscheraufenthalte, son-dern auch durch die dort zugebrachten hohen Kirchenfeste und durch umfangreiches Königsgut definiert ist, an sich aber keine politisch integrative Funktion ausübte bzw. ausüben mußte (S. 13).

Die Erkenntnis über das Itinerar des Herrschers werden zunächst durch Wolfgang Huschner anhand von verfeinerten Methoden entscheidend erweitert. Dies gilt sowohl im Hinblick darauf, daß zeitlich eng aufeinander folgende Nachweise für Aufenthalte an einem Ort zu einem Aufenthalt zusammengezogen werden, als auch darauf, daß es unter Beachtung der liturgischen Gesetzmäßigkeiten hinsichtlich der vorgeschriebenen Anzahl der zu begehenden Feiertage anläßlich der drei hohen Kirchenfeste (Ostern, Weihnachten, Pfingsten) gelingt, die Itinerarnachweise entsprechend auszubauen. Ins-gesamt 16,2 Prozent der Regierungszeit des ersten Saliers sind somit itinerarmäßig belegbar. 27 politische Vororte werden auf der Basis von mindestens vier Aufenthalten bzw. mindestens zehn Tage umfassender Aufenthaltsdauer bestimmt, wobei die Korre-lation mit der sich an diesen Vororten konzentrierenden Urkundenausstellung sowie den Festorten für die hohen Kirchenfeste zu unterstreichen ist. Gut zu erkennen sind weniger die in der traditionellen Sicht betonten Kern- und Nichtkernlandschaften des Reiches als vielmehr Gebiete mit länger dauernder und sporadischer Herrscherprä-senz, darunter auch ausgesprochene Fernzonen der Herrschaftspraxis. Für den italie-nischen Bereich kann auf der Basis einer Differenzierung dieses Gebietes ganz klar herausgestellt werden, daß die Intensität der Präsenz des Reiches erst südlich der Apenninen mit der Linienführung auf Rimini abnahm, Italien somit eben nicht generell als Nebenschauplatz der frühsalischen Reichsgeschichte bezeichnet werden kann.

Interessante Einblicke in die Herrschaftspraxis des Saliers ergeben sich mit dem deutlichen Hervortreten einer gegenüber den Ottonen neuen, zweiten Basislandschaft des Reiches (Rheinfranken) und der Nahzone Engern, woraus der gegenüber dem

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Rezensionen 441

10. Jahrhundert höhere Integrationsgrad abzulesen ist. Ebenso tritt die Wende um das Jahr 1027/28 gut hervor, als Konrad nach der Festigung seiner Herrschaft in den ersten Jahren seiner Regierung gleichsam zur „normalen" Herrschaftspraxis überging und sein Itinerar im Jahresrhythmus der Tendenz nach zyklisch gestaltet war. Die Zentralräume wie die Nahzonen wurden in der Regel in bestirnten Jahreszeiten und zu den hohen Kirchenfesten aufgesucht.

Eckhard Müller-Mertens wendet sich im folgenden der Analyse der Reichsstruktur im Lichte der königlichen Urkundenpraxis zu (S. 210 ff.), wobei die Inhalte der Diplome nicht zum Gegenstand der Untersuchungen gehören. In diesem Zusammen-hang sei auf die aufschlußreiche Beobachtung aufmerksam gemacht, daß im Unter-schied zum deutschen Bereich im regnum Italie die Fernzonen der Königsherrschaft eben nicht mittels Beurkundungen für dort ansässige Empfänger einbezogen wurden.

Ausstellungsorte und Empfängergebiete deckten sich — mit Ausnahme der politi-schen Zentralräume in Deutschland — nicht. Im ganzen gesehen, erkennt man hier — ebenso wie bei der Betrachtung des Itinerars — eine wesentliche Extensivierung der Königsherrschaft. Einem Verlust an Konzentration und Zentrierung der Herrschafts-ausübung stand nunmehr die periodische Präsenz des Herrschers in zahlreichen Teilen des Reiches gegenüber.

Schließlich ist noch auf ein weiteres Ergebnis aufmerksam zu machen: Im Gegen-satz zu der seit den Arbeiten von Bruno Heusinger geltenden Lehrmeinung über den Wandel der Gastungsgepflogenheiten, nämlich die Dominanz der Bischofsstädte gegenüber den Pfalzorten bzw. sonstigen Aufenthaltsorten, erbringt die hier vorge-nommene regionale Differenzierung ein ganz anderes Bild. Die Meinung Heusingers trifft nämlich nur für die jetzt neu hervortretenden Nahzonen der Königsherrschaft zu, während in den Zentralräumen auch weiterhin die Pfalzorte dominieren.

Die Untersuchung wird durch einen von Herrn Huschner stammenden Exkurs über die verfassungsrechtliche Stellung der Region Trient-Bozen-Vintschgau abge-schlossen (S. 356 ff.), in dem die „Zwischen-" bzw. „Sonderstellung" dieses Gebietes im frühsalischen Reichsverband, das eben weder Italien noch Deutschland zuge-rechnet werden kann, erläutert wird. Eine detaillierte Dokumentation der dargelegten Ergebnisse anhand einer Reihe von Tabellen, die allerdings wegen der zahlreichen Abkürzungen (besonders Tabelle VII: Itinerarkalender, S. 397 ff.) nicht immer leicht zu benutzen sind, sowie zwei Register (Personenregister und Geographisches Regi-ster) runden den Band ab. Die Untersuchung erschließt uns mittels neuer methodi-scher Zugriffe höchst interessante Einblicke in die Welt der mittelalterlichen Herr-schaftspraxis. Gewünscht hätte man sich allerdings eine stärkere Rücksichtnahme auf die Benutzung des Buches: Dies gilt zum einen für die schon monierte „Freude" an Abkürzungen, die zwar notwendig sind, aber doch ein- für allemal in einem eigenen Anhang „Abkürzungen" hätten erläutert werden können. Zum anderen vermißt man im diesem so interessanten Buch doch entsprechende Kartenbeilagen, die zum Ver-ständnis der Ergebnisse hätten wesentliche Hilfen bieten können.

Wien Ferdinand O p l l

Neil T h o m a s , T h e Medieval Ge rman Ar thur iad . Some Con tempora ry Revaluat ions of the Canon . (Europ . Hochschulschr i f ten . 1/1153.) Lang, Frank-f u r t / M a i n 1989. 183 S.

Der Autor unternimmt es, zwei als Epigonen der Klassiker bezeichnete höfische Epiker, Wirnt von Gravenberg und Konrad von Stoffeln, von jenem ominösen Bei-

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442 Literaturberichte

namen zu befreien. Dabei gelingen ihm Beobachtungen, die auch für den Mediävisten von Bedeutung sind. Geht es doch um die grundsätzliche Frage, inwieweit das höfi-sche Epos die Wirklichkeit des 12. und 13. Jahrhunderts spiegelt. Kann der Historiker die Werke der Dichter als Quellen für das mittelalterliche Leben verwenden oder hat er es mit einer idealisierten, utopischen, märchenhaften Umgebung zu tun, die außer-halb der dichterischen Welt keinen Bestand hat?

Diese Frage ist nicht neu, wird aber angesichts der großen Materialsammlungen, die uns das 19. Jahrhundert auf diesem Gebiet hinterlassen hat, immer wieder zurecht gestellt. So unbesehen, wie die positivistische Forschung, wird man die höfische Welt aus den Werken der Epiker nicht rekonstruieren können. Das ist heute klargeworden. Wie kann man sich nun über Vorstellungen, Empfindungen, Denkweisen, über Moral und Mentalität, kurz über alles, was jenseits der archäologischen Evidenz liegt, eine fundierte Meinung bilden?

Thomas gibt hier wertvolle Fingerzeige mit Hilfe einer komparatistischen Methode und Quellenforschung. Gerade die großen Dichter haben den überlieferten Stoff in ihrer Weise behandelt und weiterentwickelt: das heißt, sie haben sich nicht immer der traditionellen Erwartungshaltung des Publikums angepaßt. Lösungen im Sinne einer gesellschaftlichen Harmonie haben sie nicht angestrebt. So hat der „Yvain (Iwein)" bei Chrétien und Hartmann ein offenes Ende, Wolfram läßt seinen „Parzival" die ritterliche Welt in einer isolierten Gesellschaft überwinden, und Gottfried sprengt mit seiner Minne-Auffassung überhaupt den Rahmen einer sicher geglaubten gesell-schaftlichen Konvention. Die existentiellen Probleme der sozialen Eliten bleiben unge-löst. Die handelnden Personen agieren nicht idealtypisch, sondern fragwürdig, auswei-chend und finden ihr Heil außerhalb der tradierten Gesellschaft.

Wirnt und Konrad stellen demgegenüber einen realistischen Zweig der höfischen Epik dar. Ist der Inhalt ihrer Werke auch manchmal phantastisch, so werden die Kon-flikte in den Grenzen höfischen Lebens ausgetragen und dort musterhaft gelöst. Inso-fern sind diese Verfasser trivialer, ist ihr Blick beschränkter. Dennoch soll man sie nicht als Epigonen, sondern als wirklichkeitsverbundene Kollegen der großen Meister ansehen. Bei aller thematischen Anlehnung und aller formalen Abhängigkeit sind die Werke Wirnts und Konrads eigenständige Ausprägungen der dichterischen Überliefe-rung, der matière de Bretagne; mit ihrem Zug zur Realität auch eine Kritik an der man-gelnden gesellschaftlichen Anpassung der Klassiker. Im „Wigalois" und im „Gaurel" werden nicht Hoffnungen, Ängste, Wünsche auf ein vorgegebenes Geschehen proji-ziert, das dadurch of t in Frage gestellt scheint, sondern die Probleme der Helden finden im Sinne der sozialen Gegebenheiten der Zeit ihre Lösung. So erhält die fiktio-nale Welt zahlreiche Bezüge zur damaligen Wirklichkeit. Das findet nicht nur in der Mentalität der Handlungsträger seinen Ausdruck, sondern verleiht den geschilderten Vorgängen selbst einen hohen Grad an Aktualität. Nicht die geschriebenen Ereignisse, aber ihre Form, ihre Voraussetzungen und Folgen werden zu wertvollen Nachrichten über die Wirklichkeit des Mittelalters. Von hier ist der Weg zur alltäglichen Rezeption der höfischen Literatur wohl ausgegangen.

Das schmale Werk des englischen Germanisten ist daher dem Kultur- und Sozial-historiker unbedingt zu empfehlen: er lernt darin mehrere Möglichkeiten der Erfas-sung und Wiedergabe von Realität erkennen und zwischen dieser und ihrer dichteri-schen Umformung — innerhalb einer schwierig zu wertenden literarischen Gattung — zu unterscheiden.

Wien Georg S c h e i b e l r e i t e r

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Rezensionen 443

Fo lker E . R e i c h e r t , B e g e g n u n g e n mit China . D i e E n t d e c k u n g Osta s iens im Mittelalter . (Bei träge zur Geschichte und Q u e l l e n k u n d e des Mittelalters . 15.) T h o r b e c k e , S igmar ingen 1992. 336 S., 1 + 3 0 Abb.

Das vorliegende (übrigens ausgezeichnet bebilderte) Buch behandelt einen unge-mein schwierigen, bisher in sehr diffuses Licht getauchten Themenkreis, dessen ver-bliebene Fragezeichen der Autor in außerordentlich feinfühliger Interpretation sowohl der Details als auch der großen Zusammenhänge nach weitestgehender Möglichkeit aufzulösen vermag.

Kontakte zwischen Osten und Westen sind seit dem Altertum nachzuweisen — freilich von beiden Seiten nicht etwa in auch nur halbwegs ausgewogener Kontinuität und Intensität, sondern in lückenhaftem Auf und Ab der Motivationen, Beobach-tungen, Folgerungen. Die Uberlieferungen, Erfahrungen, Spekulationen veränderten immer wieder das als seltsam und oft nur äußerst schwer zugänglich empfundene Ant-litz des Partners.

Die im 13. und 14. Jahrhundert unternommenen Ostasienkontakte bilden das Zen-trum des Untersuchungsbereiches Reicherts — Kontakte, deren Bewertung die Befas-sung des Autors auch mit den antiken und frühmittelalterlichen Vorstellungen von Ostasien als Basis der späteren Entwicklung erforderlich machte.

So greift der Verf. zunächst auf Aristeas von Prokonnesos zurück, der, vermutlich in der zweiten Hälfte des 7. vorchristlichen Jahrhunderts, in der „Arimaspeia" seine Reise zu den Issedonen (nahe dem Altai-Gebirge) beschreibt, wo er angeblich u. a. Kunde von den Hyperboreern (Chinesen?!) erlangte. Wichtig für die Vorstellung von der Wunderwelt Indiens wieder waren etwa Skylax von Karianda, Ktesias, Megas-thenes, die „Wunderbriefe" des Alexandersagenkomplexes. Der Handel mit den Serern (Seide!) bot auch gewisse Hinweise — verwegene römische Kaufleute erreichten im Zuge des Ost-West-Handels 166 den H o f des chinesischen Kaisers und erzielten so „die erste unmittelbare Verbindung zwischen China und R o m " (S. 60). Aber die Kon-takte blieben dürftig und ermöglichten nur weitgehend skurrile und phantastische Vorstellungen. Das frühe Mittelalter begnügte sich hauptsächlich mit den fragwür-digen antiken Gedankengängen — eine führende Rolle hiebei spielte besonders Isidor von Sevilla mit seinen Serer-Andeutungen. Noch etwa um 1300 war das Ostasienbild des Abendlandes „eher statisch und ausschließlich an der literarischen Tradition orien-tiert" (S. 68). Die Mongoleneinfälle des 13. Jahrhunderts, deren Ausläufer bis Ost-österreich vorgedrungen waren und abendländisches Menschenmaterial in den Osten verschleppt hatten, zogen Reaktionen von politischer und religiöser Seite nach sich (etwa Wilhelm von Rubruks und Johannes von Montecorvinos Aktivitäten), wobei dem Ausbau von Handelsbeziehungen (Polo etc.), die allerdings noch im H. Jahrhun-dert wieder absanken, außergewöhnliche Bedeutung zukam. Wenn Reichert die unge-mein zahlreichen Kontakte des für ihn zentralen Zeitraums im einzelnen untersucht und in die feinsten Verästelungen, soweit sie noch rekonstruierbar sind, vordringt, so führt ihn dies zu Erkenntnissen und Formulierungen, die dem Verständnis des Weltge-fühls und der Partnerbilder im „Wechselspiel von Empirie und Tradition" (S. 9) wesentlich klarere Dimensionen geben.

Es ist natürlich nicht möglich, in einem knapp bemessenen Hinweis die zahllosen Feinheiten der vom Verf. erzielten Erkenntnisse auch nur annähernd im Detail anzu-sprechen. Grundsätzlich ist jedenfalls zu erkennen, daß für die Ostfahrten bis ins späte 15. Jahrhundert sachliche Beweggründe maßgebend waren (Handel, Diplomatie, theo-logische Tendenzen). „Nirgends aber war es das ausdrückliche und ursprüngliche Ziel

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444 Literaturberichte

eines Reisenden, sich ein genaueres Bild von der Welt zu machen oder das bisher gül-tige zu überprüfen" (S. 277 f.) — trotz gelegentlich nachträglicher, primitiv tastender Darstellungsversuche. Da für die Apperzeption der fremdartigen Welt Herkunft , Beruf, Vorkenntnisse, Bildungsniveau von größter Bedeutung waren, ergaben sich automatisch mehr oder weniger große Abstufungen der Fernbilder. Marco Polo, aus der Kaufmannsatmosphäre kommend, und der Mönch Wilhelm von Rubruk „nehmen die Pole des Spektrums ein" (S. 278). (Und wenn sich Reichert in einem eigenen Abschnitt auch mit Columbus befaßt, so läßt er in dessen Person „das Zusammenspiel von Buchwissen und Entdeckerblick" [S. 275] deutlich erkennbar erscheinen.)

Es ist aller Bewunderung wert, mit welchem Globalwissen und feinsten Spürsinn der Verf. die so überaus vielfältigen, breitgestreuten Schattierungen der Vorstellungen und deren Niederschlag zu verdeutlichen und aus den gewonnenen Erkenntnissen auch geschichtsphilosophische Folgerungen in Richtung allgemeiner kultureller Posi-tionen zu ziehen vermag. (Neben dem 126 Nummern umfassenden Verzeichnis von Reisenden in Ost- und Zentralasien 1242—1448 sei auch noch das überaus reichhal-tige Quellen- und Literaturverzeichnis besonders hervorgehoben.)

1992 erhielt der Autor für das Buch übrigens den Preis des Verbandes der Histo-riker Deutschlands für hervorragende Arbeiten des wissenschaftlichen Nachwuchses zuerkannt.

Wien Max K r a t o c h w i l l

S t a d t a d e l und B ü r g e r t u m in den italienischen u n d deutschen Städten des Spätmittelalters. Herausg . v. Re inhard E l z e und Gina F a s o l i . (Schrif ten des I ta l ienisch-Deutschen His to r . Inst, in Tr ient . 2.) Duncke r & H u m b l o t , Berlin 1991. 205 S.

Es handelt sich um eine nur gelegentlich mit Literaturhinweisen ergänzte Ubersetzung der Beiträge einer Trienter Tagung von 1981, die im Band Aristocrazia cittadina e ceti popolari nel tardo Medioevo in Italia e in Germania, a cura di Reinhard Elze e Gina Fasoli (Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento, Quaderno 13, Bologna 1984) in italienischer Sprache gedruckt vorliegen. Da der Inhalt den Interessierten wohl bekannt sein dürfte, soll hier nur eine kurze Anzeige erfolgen. Die zeitlich, räumlich und thematisch weit gestreuten Aufsätze erlauben Vergleiche oder deuten die Vielfalt der Möglichkeiten innerhalb des Rahmenthemas an.

Die Beiträge: Gina Fasoli, Oligarchie und Mittelschicht in den Städten der Po-ebene vom 13. und 14. Jahrhundert (S. 11 — 30), charakterisiert die unterschiedliche Entwicklung der Beteiligung des popolo am Stadtregiment. Andrea Castagnetti, Bemerkungen zu einer Geschichte von Gesellschaft und Politik der Städte in der Mark Verona-Treviso (11.—14. Jahrhundert) (S. 31 — 57), untersucht die an der Macht betei-ligten oder nach ihr strebenden sozialen Gruppen im Rahmen der politischen Entwick-lung. Alfred Haverkamp, „Innerstädtische Auseinandersetzungen" und überlokale Zusammenhänge in deutschen Städten während der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts (S. 89—126), geht den Auswirkungen der Reichspolitik auf (vermeintliche) „Verfas-sungskämpfe" und (soziale) Unruhen nach. Knut Schulz, Stadtadel und Bürgertum vornehmlich in oberdeutschen Städten im 15. Jahrhundert (S. 161 —181), zeigt an mehreren Beispielen die Zurückdrängung des städtischen Adels durch die bzw. sein Aufgehen in den neuen Oberschichten.

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Enrico Mazzarese Fardella, Siziliens Aristokratie im 14. Jahrhundert und ihre Beziehungen zu den Städten der Krone: Der Kampf um die Macht (S. 127—138), und Nicola Cilento, Stadt und städtische Gesellschaft im mittelalterlichen Süditalien. Anfänge, Entwicklung und Niedergang in den Quellen und in der Geschichtsfor-schung (S. 139—160), betonen und begründen die andersartigen Verhältnisse im Süden, wo die autonome Stadtkommune sich nicht entfalten konnte. Ein anderes Randgebiet, in dem die Schwäche der Städte Konflikte um die Macht in ihnen weitge-hend unnötig machte, stellt Herbert Knittler, Die österreichische Stadt im Spätmittel-alter. Verfassung und Sozialstruktur. Unter besonderer Berücksichtigung des Pro-blemkreises „Stadtadel und Bürgertum" (S. 183—205), in gewohnter Systematik vor. Nicht ganz in den Band passend, aber durchaus interessant ist der Beitrag von Ulf Dirlmeier, Zu den materiellen Lebensbedingungen in deutschen Städten des Spät-mittelalters: Äußerer Rahmen, Einkommen, Verbrauch (S. 59—87), dessen Thema 1981 noch weniger behandelt war als heute.

Wien Herwig W e i g l

Michel P a u l y , Luxemburg im späten Mittelal ter . I. Ver fassung und politi-sche Führungsschicht der Stadt Luxemburg im 13.—15. J ah rhunde r t . (Publica-t ions de la section his tor ique de l ' Inst i tut grand-ducal . 107. = Publicat ions du C L U D E M 3.) Luxembourg 1992. 587 S., Kar ten, T a b .

Bei der vorliegenden Neuerscheinung handelt es sich um den ersten und zweiten Hauptteil einer Dissertation an der Universität Trier, deren dritter, dem wirtschaftshi-storischen Phänomen des Luxemburger Weinmarktes in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts gewidmeter Teil in einem zweiten Band veröffentlicht werden wird. Besonderes Interesse verdient die Arbeit nicht zuletzt deshalb, weil sie sich auf der Basis eines eingehenden Quellenstudiums der Erforschung einer kleinen Stadt widmet. Die chronologischen Grenzen sind zum einen durch die Anfänge der städtischen Autonomie in der Zeit um 1200, zum anderen durch das Ende der Überlieferung der städtischen Rechnungsbücher (1499/1500) gegeben.

In ebenso eindringlicher wie überzeugender Weise legt der Verfasser zunächst die Entwicklung der städtischen Verfassung dar, wobei — ausgehend vom Freiheitsbrief für die Stadt Luxemburg von 1244 — die städtischen Gremien und Organe (Stadt-richter, Schöffenkolleg, Bürgergemeinde) in ihrem Verhältnis zum Stadtherrn unter-sucht werden. Durch eingehende prosopographische Analysen abgestützt wird die Hypothese, daß es sich bei den Schöffen zunächst vorrangig um eine Einrichtung der gräflichen Stadtpolitik und weniger um ein Phänomen der beginnenden städtischen Autonomie handelt. Erst im Gefolge der allmählichen Übernahme von Verwaltungs-aufgaben durch die Schöffen, was letztlich im Freiheitsbrief von 1244 sanktioniert wurde, kam es dann zu einer Veränderung im Aufgabenbereich dieses Gremiums. Die Frage nach den Vorbildern des hiesigen Stadtrechtes, die von der bisherigen For-schung so beantwortet wurde, daß es einen eigenen Echternach-Luxemburger Stadt-rechtskreis mit Einflüssen sowohl aus Nordfrankreich wie auch aus dem westdeut-schen Raum gegeben hat, beantwortet der Verfasser eher zurückhaltend, indem er darauf aufmerksam macht, daß dies für die weitere Entwicklung der Stadtverfassung und die soziale Verfassungswirklichkeit nicht von allzu großem Belang war.

Ahnlich wie man das auch aus dem österreichischen Städtewesen kennt, mehren sich auch im untersuchten Raum ab dem zweiten Viertel des H.Jahrhunderts Hin-weise auf die Beteiligung der Städte an landespolitischen Entscheidungen. Während

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446 Literaturberichte

des 15. Jahrhunderts kam es dann auch in Luxemburg zur Ausbildung eines Ratsgre-miums und zum verstärkten Anteil der Zünfte am städtischen Regiment, allerdings wurde die städtische Autonomie in der Ära der burgundischen Stadtverwaltung ab 1443 wieder zurückgedrängt.

Der zweite Teil des Buches ist einer umfassenden prosopographischen Untersu-chung der politischen Führungsschichten in der Stadt vom 13. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts gewidmet, die hier im einzelnen nicht zu rekapitulieren ist, die jedoch erstmals die erforderliche Quellenbasis für die luxemburgische Stadtentwicklung des späten Mittelalters bietet. Abgeschlossen wird die Arbeit durch ausführliche Aufli-stungen sämtlicher Mitglieder des Stadtmagistrats sowie ein Register. Die zahlreich beigegebenen Karten dienen der graphischen Erläuterung der Ausführungen im Hin-blick auf die Lage der Besitzungen der Schöffenfamilien. Dem Erscheinen des ange-kündigten zweiten Bandes, der der Wirtschaftsgeschichte der Stadt, insbesondere dem Weinmarkt, gewidmet sein wird, darf man mit Interesse entgegensehen.

Wien Ferdinand O p l l

Nikolaus H e n k e l , Deutsche Uberse tzungen lateinischer Schultexte. Ihre Verbre i tung und Funkt ion im Mit telal ter und in der Frühen Neuze i t . (Mün-chener Tex te u n d Unte r suchungen zu r deutschen Li teratur des Mittelalters. 90.) Artemis, M ü n c h e n 1988. XI , 358 S., 28 Abb.

Behandelt werden im vorliegenden Werk die Ubersetzungen jener lateinischen Texte, die in der mittelalterlichen Lateinschule als Lektüre dienten. Nicht einbezogen wird das den Artes und der Artistenfakultät im Spätmittelalter zugeordnete Schrifttum, wie die logischen und philosophischen Schriften des Aristoteles, die Trak-tate des Petrus Hispanus, die Texte des Quadriviums zur Mathematik, Geometrie, Astronomie und Musik, mit Ausnahme der Grammatik. Nicht einbezogen wurde auch die theologische, juristische und medizinische Fachliteratur mit Ausnahme didaktisch geprägter Verstexte. Die meisten deutschen Ubersetzungen stammen aus dem 14. bis 16. Jahrhundert, zumal in dieser Zeit zahlreiche griechische Texte dem Westen durch Übersetzung ins Lateinische oder verbesserte Übersetzung alter lateinischer Überset-zungen erschlossen und schließlich auch in die Volkssprachen übertragen wurden.

Zunächst werden die Texte der lateinischen Schulautoren aufgrund der Angaben von mittelalterlichen Literaturgeschichten, wie dem Registrum multorum auctorum Hugos von Trimberg und Hugo Spechtsharts Forma discendi (von 1346) sowie auf-grund von handschriftlichen und gedruckten Schultextsammlungen in zeitlicher Ent-wicklung vorgeführt, weiters werden die Entwicklung einzelner Textgruppen sowie Verwendungsbereiche und Funktionen der lateinischen Schultexte behandelt. S. 56 — 64 folgt das Verzeichnis von lateinischen Autoren und antiken, frühchristlichen und mittelalterlichen Texten, die im Mittelalter im deutschen Sprachraum in der Schule gelesen oder im Artes-Studium der Universitäten gelesen und bearbeitet wurden, angefangen von antiken Texten seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. (Terenz) bis ins erste Drittel des 16. Jahrhunderts.

Kap. III: Deutsche Übersetzungen von Schultexten im zeitlichen Abriß, schildert die Entwicklung der Übersetzungsmethoden im Laufe des Mittelalters. Kap. IV han-delt über das Verbot der Volkssprache in der Schule, wie dies in zahlreichen Schulord-nungen und Statuten festgelegt wurde, doch bringt Henkel Belege für die Zulassung der Volkssprache im Schulbetrieb als Verständigungshilfe beim Arbeiten mit lateini-

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Rezensionen 447

sehen Texten, wie dies auch in wichtigen grammatischen Lehrbüchern (Doctrinale Alexanders, De disciplina scolarium) dargelegt wurde.

Im V. Kapitel wird eine Typologie der verschiedenen Formen des Ubersetzens geboten: Interlineare Glossierung und Wortfolge-Ordnung, meist in lateinischer, sel-tener in deutscher Sprache, die besonders häufige Ubersetzung mittelalterlicher Schul-texte in deutsche Reimpaare, schließlich Prosa-Übersetzungen (lateinische Schultexte), die keinen deutschen Text zeigen, sondern deutschsprachiges Latein, das zur Lesehilfe dient, sie dienten nicht mehr dem Schulbetrieb, sondern stehen in Zusammenhang mit anderer Fachprosa-Literatur. Daran schließen sich Erörterungen über die Formen der Überlieferung sowie über die Verwendungsbereiche der deutschen Schultext-Überset-zungen. Die Übersetzer der mittelalterlichen Schultexte bleiben meist anonym.

Den Abschluß bildet das umfangreiche alphabetische Verzeichnis der lateinischen Schultexte mit deutschen Übersetzungen (S. 211—316), wobei grammatische Texte nur in Auswahl berücksichtigt, Vokabularien aber nicht aufgenommen wurden. Hier wird der Werkinhalt regestenartig beschrieben, literarhistorisch eingeordnet und die Überlieferung in Handschriften und Drucken für den lateinischen Text und die deut-sche Übersetzung (mit Incipit und Explicit bzw. Editionen) angegeben, schließlich folgen zu jedem Artikel die Literaturangaben.

Zum Artikel Pseudo-Boethius, De disciplina scolarium auf S. 224 ist die Anmer-kung 10, wonach der Minorit Johannes Bischoff 1399 darüber in Wien gelesen habe, zu streichen; die infolge eines kleinen Versehens Aschbachs (1865) — er setzte auf S. 607 zu Johannes Episcopi am Rand irrig die Buchstaben O. M. hinzu — vorgenom-mene und immer wieder nachgeschriebene Identifizierung des Mag. Johannes Episcopi (von Ulm) mit dem bekannten Minoriten und herzoglichen Hofkaplan Johannes Bischoff, zuletzt noch im Verfasserlexikon, 2. Aufl., 1 (1978) 876, ist unzutreffend; vgl. die biographischen Angaben über den Magister in Acta fac. art. univ. Vindob. 1385-1416 (Pubi. IÖG VI/2, 1968) S. 171 u. 528 (Reg.); im ganzen Mittelalter wurde in Wien kein Minorit oder Franziskaner zum Mag. art. promoviert oder rezipiert, noch hat ein Mitglied dieses Ordens an der Wiener Artistenfakultät gelehrt.

Im Anhang folgen das Literaturverzeichnis sowie Register der Handschriften, der Namen und Sachen und das Verzeichnis der besonders wertvollen und instruktiven 28 Abbildungen aus Handschriften und Drucken.

Wien Paul U i b 1 e i η

Die „ K a t h e r i n a d i v i n a " des J o h a n n v o n V i p p a c h . Ein Fürs ten-spiegel des 14. Jahrhunder t s . Eingeleitet u. herausg. v. Michael Menzel . (Mittel-deutsche Forschungen. 99.) Böhlau, Köln 1989. 335 S.

Die „Katherina divina" des Johann von Vippach stellt vornehmlich eine deutsch-sprachige Übertragung des Fürstenspiegels „De regimine prineipum" von Aegidius Romanus (gest. 1316) dar, welche sich gegenüber anderen Versuchen dieser Art sowohl durch die Miteinbeziehung von weiteren Quellentexten als auch durch die teil-weise Verwendung einer gereimten Literatursprache auszeichnet. Mit Menzels Aus-gabe wird dieser Text erstmals in einer kritischen, den modernen Editionsgrundsätzen entsprechenden Form geboten. Verzichtet hat der Herausgeber aber auf das für deutschsprachige Werke des Mittelalters übliche Glossar, das gerade angesichts des philosophisch noch relativ unbelasteten und daher schwankenden Wortgebrauchs hilf-reich gewesen wäre und in den Anmerkungen zu Begriffsverschiebungen gegenüber

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den Quellen keinen adäquaten Ersatz findet. Umfangreich ist dagegen Menzels Einlei-tung zur „Katherina divina", in welcher die wichtigen Fragen zur Entstehungs- und Uberlieferungsgeschichte einer neuen, grundlegenden Analyse unterzogen werden. Ubereinstimmend mit der bisherigen Forschung sieht auch Menzel in der Markgräfin Katharina von Meißen, wie sie im Prolog als Auftraggeberin genannt wird, die Gemahlin Friedrichs des Strengen (gest. 1397), in Johann von Vippach aber einen Lektor der Erfurter Augustiner. Gewidmet hat Johann sein Werk „der egenantin frouwen und iren guten vorstendern, komelingen und dem werdin husse von Myssen" (S. 73). Da man in der älteren Literatur die hier erwähnten „vorstender" als Männer einer Vormundschaftsregierung deutete, wurde der Fürstenspiegel Johanns in die Zeit nach dem Tode Friedrichs (1381) datiert und als praktisches Erziehungsbuch für die erst nach und nach mündig werdenden Söhne interpretiert. Mit gutem Grund weist nun Menzel darauf hin, daß Johann auf diese Situation im Prolog keineswegs hin-weist, da er mit seinem Werk nur die Tugendhaftigkeit der Fürstin unterstützen will, indem er ihr „des lebens eyn vormanen und eyn bilde" „zcu eyner korzceweyle" bietet (S. 41, 73), also vielmehr ein philosophisches Lebens- und Weltbild zu vermitteln trachtet, wofür auch einige Zusätze zu den Quellen mit ihrer Tendenz zum Allge-meinen sprechen. Die „vorstender" identifiziert Menzel nicht mit den Mitgliedern einer Vormundschaftsregierung, sondern mit der Gemeinschaftsregierung des Mark-grafen Friedrich und seiner Brüder Balthasar und Wilhelm von 1368 bis 1379, wie auch der Prolog die „vorstender" nicht auf Katharinas Kinder, sondern sie selbst bezieht — zu datieren wäre das Werk also in die Zeit vor ihrer Witwenschaft (S. 5—9). Aufgrund der grammatikalischen Struktur des Widmungssatzes sowie seiner Rangordnung, welche die fürstlichen Nachkommen den „vorstendern" hintansetzt, ist diese These Menzels durchaus plausibler als jene von der Vormundschaftsregierung. Weniger aus-sagekräftig sind aber die übrigen textinternen Hinweise, die der Herausgeber zur Untermauerung der frühen Datierung heranzieht. Denn einerseits betont er zu Recht den allgemein-philosophischen Charakter der „Katherina divina", andererseits möchte er aber zugunsten seiner These in einzelnen Zusätzen doch wieder Anspielungen auf die konkrete Situation der Herrscherin sehen; so meint er, daß die Betonung einer gegenseitigen Fürsorge von Mann und Frau kaum an eine Witwe gerichtet worden sein konnte (S. 8). Hierzu gehört auch die im Prolog genannte Hinwendung Katharinas zur Tugend, worin Menzel eine Referenz auf die in Chroniken erwähnten Buß-übungen nach dem Tode ihres ersten Kindes 1350 sieht, obwohl Johann dabei letztlich nur seine namenkundlichen Ausführungen exemplifizieren will. Hat Menzel in bezug auf die Datierung und die Gesamtinterpretation des Werkes scheinbar gesicherte Fakten zumindest in Zweifel gezogen, so war die Frage nach der eigentlichen Leistung Johanns stets ein Problem für die Forschung. Es resultiert vor allem aus Diskrepanzen zwischen den Registern einerseits und den Uberschriften andererseits, sodaß man die Eigenheiten von Johanns Aegidius-Bearbeitung bereits einer lateinischen Epitome oder einem späteren Überarbeiter bzw. Vollender zuschreiben wollte. Menzel widerspricht diesen Spekulationen, indem er zum Beispiel auf Johanns Bekenntnis der vollständigen Verfasserschaft seiner „Blütenlese" im Prolog hinweist, und versucht die abweichende Aegidius-Rezeption in den Registern als Relikt eines früheren Konzepts zu erklären (S. 16—24). Wie schon in seiner Arbeit zur „Sächsischen Weltchronik" beeindruckt und überzeugt hier vor allem Menzels sorgfältige und systematische Quellenanalyse.

Kurz geht der Herausgeber auch auf einzelne inhaltliche Besonderheiten der „Ka-therina divina" ein (S. 39—41), wobei vor allem zwei Faktoren bemerkenswert erscheinen: Zunächst findet man bei Johann die „reges et principes" aus Aegidius

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immer wieder zu „herren und bürgere" erweitert, obwohl letztere nicht zum primären Publikum des Werkes gehörten. Diese klare gedankliche Miteinbeziehung der Stadt in das Wertesystem der Herrschaftsschicht erinnert an einzelne Werke des Eisen-achers Johannes Rothe (gest. 1434), wo zum Beispiel in den „Ratsgedichten" oder in der Landgräfin Anna gewidmeten Weltchronik ebenfalls fürstenspiegelartige Ele-mente eng mit einer bürgerlichen Didaktik verwoben sind. Weiters fällt die wohl längste und anschaulichste Passage der „Katherina divina" auf, die nicht Aegidius, sondern Seneca entstammt und auf folgende „Moral" zielt: „Ist deyn lebin toguntlich, / den fursten magest du werden glich" (S. 81). Diese im Zusammenhang eines Für-stenspiegels zunächst sonderbar radikal anmutende Betonung des Tugendadels gemahnt ebenfalls an zentrale Gedanken Johannes Rothes, der im „Ritterspiegel" sehr eindringlich für die soziale Mobilität innerhalb der bestehenden Ordnung ein-tritt. Da der Eisenacher die „Katherina divina" wohl nicht kannte, kann man mit deren Hilfe das bisher isoliert betrachtete soziale Umfeld der Werke Rothes in einen größeren zeitlichen Rahmen, vielleicht sogar in eine Entwicklungslinie stellen, deren Bezugspunkt man doch im geistigen Klima des wettinischen Hofes wird suchen müssen. Vor allem dieser Wert als geistesgeschichtliches Dokument seines Entste-hungsraumes rechtfertigt die Edition solcher philosophiegeschichtlich „zweitran-giger" Kompilationen wie die „Katherina divina" zur Genüge, worauf Menzel auch in seinem Vorwort (S. VII) hinweist.

Wien Harald T e r s c h

R i t t e r o r d e n und A d e l s g e s e l l s c h a f t e n im spätmittelalterlichen Deutschland. Ein systematisches Verzeichnis. Herausg. v. Holger K r u s e , Werner P a r a v i c i n i , Andreas R a n f t . (Kieler Werkstücke Reihe D: Die Bei-träge z. europ. Geschichte d. späten Mittelalters. 1.) Lang, Frankfurt/Main 1991. 522 S.

Das späte Mittelalter ist die Blütezeit der Ritterorden. Wie jeder österreichische Historiker weiß, ist der Orden vom Goldenen Vließ in dieser Zeit entstanden und bildet bis heute den Hausorden des Hauses Habsburg-Lothringen, auch wenn die Ereignisse dieses Jahrhunderts diesen Orden des alten Glanzes beraubt haben und ihn zu einer kuriosen Bedeutungslosigkeit der Gegenwart herabsinken ließen. Dieser Orden vom Goldenen Vließ, der ja bekanntlich in Burgund entstanden ist, wurde im vorliegenden Werk ausgeklammert, ebenso wie der Kannen- und der Greifenorden, die Friedrich III. verlieh.

Auch der Historiker, der sich mit Grabplastiken auseinandersetzt, kennt das Phä-nomen der Ordenssymbole auf Funeralobjekten, die oft schwer zu enträtseln sind. Eine einschlägige zusammenfassende Publikation zu diesem Thema fehlte bisher, die wichtigsten Veröffentlichungen zum Thema stammen aus dem vorigen Jahrhundert. Das vorliegende Buch — interessanterweise als studentisches Werk entstanden — ver-sucht diese Forschungslücke zu füllen.

Die Autoren kämpfen mit großen Schwierigkeiten der Abgrenzung zu Phäno-menen wie der territorialen Ritterschaft, Schützenbruderschaften, Bündnissen etc. Auch was das Gebiet der Betrachtung anlangt war die Begrenzung schwierig, die Autoren wählten das (deutschsprachige) Gebiet des Heiligen Römischen Reiches inklusive Osterreich, Schweiz, Schlesien und auch das außerhalb des Reiches gelegene Preußen.

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Unter Benützung gedruckter und ungedruckter Quellen — wobei sich vor allem die reichsrechtliche Literatur als Fundgrube erwiesen hat — werden 92 Ritterorden beschrieben. Sie alle sind seit dem 2. Viertel des 14. Jahrhunderts entstanden, keiner allerdings nach 1517. Die auf wenigen Seiten erfolgte Auswertung des Materials ist sicherlich weniger wichtig als die auch umfangmäßig den Hauptteil ausmachende Materialsammlung.

Von den 92 Gesellschaften werden zunächst Name, Charakterisierung, Gründungs-datum, Dauer, Gründer bzw. Souverän, die Region in der die Gesellschaft tätig war und der Gründungsanlaß angegeben. Weitere Informationen betreffen Organisation (Sitz, Patron, Zeichen, Devise, Wappenbücher etc.), Recht (Statuten, Verbote, Verträge), Mit-gliedschaft (Erwerb, geschlossen/offen, Erblichkeit, weibliche Mitglieder) und Ver-pflichtungen dieser Mitglieder (Eid, Pflichten, Strafbestimmungen, Austritt). Zu jeder Gesellschaft ist auch die bisher erschienene Literatur aufbibliographiert.

Die phantasievollen Namen wie Rote Ärmeln, Grüne Minne, Salamander, Narr, Widder, Esel, Einhorn oder zur Lieben Frau führen uns in die bunte Welt einer Ritter-schaft, die den realen gesellschaftlichen Bedeutungsverlust überkompensiert.

Auch die österreichischen Ritterorden bzw. die der habsburgischen Lande finden sich in diesem Verzeichnis, ζ. B. die Tempelaise (1337), Salamander (1386), Zopf (vor 1395), Stern (1406), der ungarische Drachenorden (1408), Adler (1433), der böhmi-sche Orden von Tusin (vor 1438) sowie der von Friedrich III. gegründete Sankt Georgsorden (1469) und die damit zusammenhängende Sankt Georgsbruderschaft (1493). Ein wichtiges Nachschlagewerk, dem man noch einen Bildteil mit den verschie-denen Ordenssymbolen gewünscht hätte.

Wien Karl V o c e l k a

W e r n e r P a r a v i c i n i , Die Preußenre isen des europäischen Adels. Teil 1. (Beihefte der Francia 17/1.) Thorbecke , Sigmaringen 1989. 396 S.

Der vorliegende Band ist der erste einer geplanten Trilogie über ein spätmittelal-terliches Phänomen von europaweiter Bedeutung: die Preußenreise. Viele Jahre hin-durch hat der Adel Europas, die Aktivitäten des Deutschen Ordens mehr oder minder unterstützend, eine Winterkampagne gegen die heidnischen Völker des Baltikums unternommen und dabei die Wirklichkeit militärischer Operationen mit der Idee des Rittertums auf ungewöhnliche Weise verbunden.

Der derzeitige Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Paris hat sich mit einer Erscheinung christlich-ritterlicher Selbstbestätigung auseinandergesetzt, die da urid dort durch literarische Anspielungen, als wichtiger Posten in fürstlichen Rechnungs-büchern und gelegentlich in biographischen Nachrichten bekannt war, aber in ihrer Bedeutung nicht annähernd gewürdigt wurde. Schon der Zähigkeit und Unverdrossen-heit, mit denen Paravicini zu den Quellen vorgedrungen ist, gebührt Bewunderung. Obwohl ihm die Hilfe zahlreicher Fachgenossen beim Aufspüren einschlägiger Berichte zuteil wurde, blieb ihm ein riesiges Feld zu bestellen. In kluger Überlegung engte er den Kreis der in Frage kommenden Materialien ein und verzichtete auf eine doch immer nur scheinbare Vollständigkeit. So ist dem Verfasser ein methodisch einwandfreies, struktu-rell übersichtliches, in seinen Ergebnissen grundlegendes Buch gelungen, das über weite Strecken gut lesbar ist. Die kleine Einschränkung bezieht sich auf die unerhörte Quellen-nähe der Darstellung, die ein wenig deren Fluß behindert. Was im Grunde ein Positivum wissenschaftlicher Prosa ist, gerät hier durch die jeweilige Fülle der Daten und Fakten,

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aus denen sich das Geschehen unmittelbar entwickelt und detailreich diskutiert wird, in Gefahr, das Uberblättern oder Uberlesen zu provozieren.

Das Werk sollte man deshalb vielleicht mehr als angewandte Quelleninterpretation ansehen und nicht so sehr als Erzählung des Geschehens von verschiedenen Gesichts-punkten. Freilich läßt sich hier keine genaue Grenze ziehen. In der Gliederung seiner disparaten, räumlich und zeitlich ungleich verteilten Quellen leistet Paravicini ein Äußerstes un^vermag sie dadurch auch zum Sprechen zu bringen. Er legt Quer- und Längsschnitte, ist sich der Lückenhaftigkeit und gelegentlichen Fragwürdigkeit seiner Feststellungen bewußt und bietet schließlich eine gehaltvolle, kritisch abgesicherte Ein-führung in ein bisher vernachlässigtes Thema.

Im ersten Teil geht es um die geographische Herkunft der teilnehmenden Ritter-schaft, wobei das Gebiet des römisch-deutschen Reiches nicht ganz verständlich auf den niederlothringisch-friesischen Bereich sowie auf die französischsprechende Bewohnerschaft des Maas-Mosel-Raums beschränkt wird. Das betrifft allerdings nur die Systematik: Quellenzitate und Argumente werden auch aus den übrigen Reichslän-dern geholt. Für einen Österreicher ist es erfreulich, Peter Suchenwirt besonders häufig in diesem Sinne benützt zu sehen und zu erfahren, daß österreichische Ritter sehr oft am Ehrentisch des Hochmeisters zu finden waren. In diesem Abschnitt läßt sich die abendländische Bedeutung der Preußenreisen sehr gut dokumentieren.

Danach folgen sozialgeschichtliche Ausdeutungen des überlieferten Personen-kreises, die Schilderung der mit der Reise verbundenen Schwierigkeiten, welche über die Planung und Durchführung kriegerisch-repräsentativer Unternehmungen des spät-mittelalterlichen Adels mehr aussagen als je zu erwarten war. Von der Vorstellung einer weitgehenden Planlosigkeit ritterlicher Aktionen wird man jedenfalls abrücken müssen. Zuletzt versucht Paravicini eine Rekonstruktion des eigentlichen Aufenthalts im Ordensgebiet mit seinen enorm gesellschaftlichen Voraussetzungen und Inhalten. Auch hier gibt der Verfasser seine Nähe zu den herangezogenen Quellen nicht auf und vermeidet Analogieschlüsse und Spekulationen. Das spricht für die strenge Wis-senschaftlichkeit Paravicinis, bereitet dem Leser aber eine gewisse Enttäuschung, der von den Titeln mancher Kapitel ausgehend eine dichtere Erzählung erwartet hätte. (Sein Vermögen in dieser Hinsicht läßt der Autor an manchen kleinen Stellen eher überraschend aufblitzen.)

Bei einem auf drei Teile berechneten Werk läßt sich ein solcher Mangel — den manche Rezensenten gar nicht empfinden werden — nach dem ersten Buch nur anmerken aber (noch) nicht tadeln. Der Verfasser will im zweiten Band den Verlauf der Kriegsfahrt in Litauen selbst und die Leistungen der „Gäste" behandeln; ebenso die Motive, welche die Preußenfahrten veranlaßten. Dabei wäre etwas mehr Abstand vom Quellennachweis und mehr Darstellung zu wünschen. Dann könnte zusammen mit dem dritten Band, der die Dokumentation enthalten soll, ein Werk gelungen sein, das verschiedene Perspektiven und Methoden der Forschung an einem großen Thema exemplifiziert. Der vorliegende Band berechtigt zu solchen Erwartungen!

Wien Georg S eh e i b e I re i te r

Erns t W e r n e r , Jan Hus . Wel t und Umwel t eines Prager F rühre fo rmators . (Forschungen zu r mittelalterlichen Geschichte. 34.) Böhlaus Nachf . , We imar 1991. 256 S.

Kaum eine andere historische Persönlichkeit ist in der Geschichtsschreibung und im Verlaufe der Forschungsgeschichte vielfältiger beurteilt worden, als der tschechi-

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sehe Reformator Jan Hus. Das neue Buch des durch einschlägige Arbeiten auf dem Gebiete der mittelalterlichen Ketzergeschichte und speziell auch des Hussitismus als Experte bestens ausgewiesenen Leipziger Mediävisten ist zunächst eine Bestandsauf-nahme, basierend auf breiter Literaturkenntnis, beginnend mit den Meinungsäuße-rungen des „Vaters der tschechischen Geschichtsschreibung" Frantisele Palacky und dankenswerter Weise gerade auch tschechische Untersuchungen berücksichtigend, die ansonsten aus sprachlichen Gründen gerne übersehen werden. Nicht nur im ersten, die Forschungsgeschichte referierenden Kapitel ist dies der Fall, sondern auch in den folgenden, wo es gemäß dem Untertitel des Buches um die Darstellung der „Welt und Umwelt" des Reformators geht. Es wäre ja auch zu viel verlangt gewesen, auf relativ wenigen Seiten alle Perspektiven der damaligen Zeit aus den Quellen neu zu entwickeln. So wird die politische und religiöse Situation Böhmens seit den Tagen Karls IV. dargestellt, die eigentlich recht konservative Regierungspraxis des böhmi-schen Königs und Kaisers einerseits und die mannigfachen Einflüsse einer reformeri-schen Frömmigkeit auf die Bevölkerung, das Verhältnis von Staat und Kirche in Böhmen am Vorabend der hussitischen Bewegung. Hus steht hier in der Erörterung neben vielen anderen, damals wirkenden geistlichen Persönlichkeiten: Konrad von Waldhausen, Jan Mil ic von Kremsier, Matthias von Janov, Erzbischof Jan von Jen-stein, Matthäus von Krakau u. a.

Auch in der Bestimmung der theologischen Position des Jan Hus müssen aus der Literatur dessen Ansichten mit denen anderer damaliger Theologen und Vorläufer konfrontiert werden: John Wycl i f , Jakob von Mies, Nikolaus von Dresden, Stanislaus von Znaim etc. Wichtig sind Beobachtungen über den recht freien Umgang des Hus mit den von ihm herangezogenen Autoritäten, was die alten Plagiatsvorwürfe ent-kräftet und doch eher für die geistige Selbständigkeit des böhmischen Reformators spricht. Seinem oft mit Wyclifs gleichnamigem Hauptwerk „De ecclesia" ist ein eigenes Kapitel eingeräumt, aus dem deutlich wird, welch zentrale Bedeutung auch für Hus der Kirchenbegriff hatte. Natürlich mußte auch auf seine Rolle beim Natio-nenstreit an der Prager Universität, bei deren Reform durch das Kuttenberger Dekret und überhaupt auf den Nationalismus des Tschechen eingegangen werden. Soweit man aus dem Literaturreferat Werners entnehmen kann, neigt dieser doch eher jener Meinung zu, die dem zweifelsohne vorhandenen tschechischen Nationalbewußtsein des Hus keine wirkl ich entscheidende Bedeutung zumißt. Daß Hus entgegen der spä-teren Entwicklung nicht unbedingt mit der Forderung nach dem Laienkelch im Abendmahl identifiziert werden kann, ist selbstverständlich längst bekannt. Werner hat aber schön herausgearbeitet, wie es ihm mehr auf die Predigt als auf alle Zeremo-nien ankam. Von ihr allein wird eine Besserung der Verhältnisse in Kirche und Gesellschaft erwartet. Zuletzt zeigen die letzten Kapitel, wie sich die reformatorische Theologie des Hus und der auf eine Reform der Kirche an Haupt und Gliedern drin-gende Konstanzer Konziliarismus aufgrund eines grundsätzlich verschiedenen Kir-chenbegriffes ohne jegliches Verständnis gegenüberstanden, was für Hus zur menschlichen Katastrophe des Martyr iums wurde. Werner lehnt mit Recht als zu ein-fach ab, von einem Just izmord zu sprechen, obwohl seine Ausführungen in diese Richtung drängen. Er spricht von einem „Sieg im Untergang", womit zweifelsohne nicht nur die unmittelbaren Folgen der Konstanzer Hinrichtung z. B. in den Hussi-tenkriegen gemeint sein können. Ausblicke auf Luther hier und dort heben eher die Unterschiede der beiden Reformatoren etwa in der Hamart iologie und Soteriologie hervor, doch läßt sich gleichwohl eine gemeinsame Linie feststellen. Ob der für das Denken von Hus vorgeschlagene Begriff der „Wahrheitstheologie" genügend durch-

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dacht ist, möge dahingestellt bleiben. Auf jeden Fall scheint durch Werners Buch Hus entgegen seiner Vereinnahmung als bloßer Sozialrevolutionär und Nationalist als Theologe neu entdeckt.

Tübingen Harald Z i m m e r m a n n

Klaus A r n o l d , Johannes Tri themius (1462 — 1516). (Quel len und For-schungen zur Geschichte des Bistums und Hochst i f t s Würzburg . 23.) Schö-ningh, Würzburg . Zweite, neu bearb. Aufl . 1991. 350 S., 2 Abb.

Die vorliegende Biographie, vor zwanzig Jahren aus einer Dissertation hervorge-gangen, zeichnet das Bild eines sehr vielseitigen Mannes, der als Abt von Sponheim und später als Abt des Schottenstifts in Würzburg zur humanistischen Elite Deutsch-lands gezählt werden darf.

Arnold konzentriert sich in seiner Darstellung in erster Linie auf das reiche schrift-stellerische Schaffen des Trithemius. Im Zusammenhang mit dieser literarischen Tätig-keit wird auch aus dem Leben des Trithemius berichtet. Das Kloster Sponheim, dem dieser seit 1483 als Abt vorstand, gehörte der Bursfelder Kongregation an, für die Tri-themius zeit seines Lebens mit großer Begeisterung eintrat. Dieser Einsatz für die Reform des Mönchslebens fand auch einen reichen Niederschlag in seinen Schriften. Auf theologischem Gebiet entfaltete seine Tätigkeit v. a. zu Ehren der hl. Anna — einer damaligen Modeheiligen —, wie er sich auch für die unbefleckte Empfängnis Marias engagierte.

Weiters forschte Trithemius in der Literaturhistorie und allgemeinen Geschichts-schreibung; speziell auf diesem Gebiet ist er heute als Geschichtsfälscher bekannt. Schon zu Lebzeiten war Trithemius als Magier bekannt, da er sich u. a. mit Stega-nographie befaßte.

Nach dem Studium dieser kenntnisreichen Darstellung entsteht ein sehr vielschich-tiges Bild dieses deutschen Humanisten, der auch ein großer Bücherfreund und -Sammler war; während seiner Abtzeit entstand in Sponheim eine damals nicht nur in Deutschland bekannte Bibliothek, die von vielen Gelehrten der Zeit aufgesucht wurde. Einerseits war Trithemius ein um Reform bemühter Mönch, andererseits schreckte er nicht davor zurück, ganz bewußt „Quellen" zu erfinden, wenn es galt, seine histori-schen Thesen zu unterstützen. Er war gleichzeitig einer der gebildetsten Männer des damaligen Deutschlands und doch vom Hexenglauben nicht frei.

Trithemius darf als typischer Humanist bezeichnet werden, wiewohl er nicht in allen Einzelheiten wie andere der „großen Humanisten" agierte, denn obwohl er bei-spielsweise eine ausgedehnte Korrespondenz führte, war diese normalerweise nicht für die Öffentlichkeit bzw. für die Publikation bestimmt; auch verabscheute er die unter Humanisten so beliebten wissenschaftlichen Fehden.

Leider geht der Autor des vorliegenden Bandes nur andeutungsweise auf die Ein-stellung des Trithemius zu den Ereignissen seiner Zeit ein; so war er etwa im bayeri-schen Erbfolgestreit ein Anhänger des Kurfürsten Philipp von der Pfalz. Hatte Trithe-mius Kenntnis von vorreformatorischen Bestrebungen, und wie beurteilte er diese? — Wahrscheinlich ist, daß er derartige Bewegungen abgelehnt hat oder hätte, da er stets treu zur Kirche stand. War Thrithemius am politischen Leben seiner Zeit gar nicht interessiert, da er nur seinen wissenschaftlichen Studien lebte, oder geben uns nur die Quellen keine Auskunft? Antworten auf diese Fragen würden entscheidend dazu bei-tragen, das Bild dieses Mannes abzurunden.

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454 Literaturberichte

Abgeschlossen wird die vorliegende Biographie des Trithemius, der auch für Kaiser Maximilian an dessen „habsburgischer Genealogie" gearbeitet hat, durch ein Werk- und Briefverzeichnis, einen Exkurs zur Ikonographie und ein ausführliches Literaturverzeichnis.

Wichtig scheint mir der vorliegende Biographie nicht nur für die behandelte Per-sönlichkeit zu sein, macht der Band doch auch einiges bewußt, was allgemein als zeit-typisch und für die Arbeitsweise der Humanisten als charakteristisch angesehen werden darf.

Wien Martina F u c h s

H a n s - W o l f g a n g B e r g e r h a u s e n , D i e Stadt K ö l n und die Re ichsver -s a m m l u n g e n im konfess ione l len Zei ta l ter . E in Be i t rag zur korporat iven re ichs-s tändischen P o l i t i k 1555 — 1 6 1 6 . ( V e r ö f f e n t l . d. K ö l n i s c h e n Geschichtsvere ins . 3 7 . ) K ö l n 1990 . 3 5 2 S .

Die Freie Reichsstadt Köln verfügte durch ihre starke verfassungsrechtliche Position innerhalb der Städtekurie auf reichspolitischer Ebene über eine Fülle von Wirkungsmög-lichkeiten. Damit war ihr exponierter Rang unter den Reichsstädten — als erste Stadt auf der oberrheinischen Bank des Städtekorpus, Stimmführer im Städterat und Vertreter reichsstädtischer Anliegen gegenüber den höheren Ständen — auch auf Reichsebene auf-gewertet. Uberaus genau und quellennah, gleichzeitig aber den Handlungsspielraum Kölner Reichspolitik stets unter den wirtschaftlichen und finanziellen Aspekten einbezie-hend, verfolgt Bergerhausen in seiner bei Johannes Kunisch verfaßten Dissertation die Kölner Politik auf den Reichstagen, Reichsdeputationstagen, Städte- und Kreistagen und das wechselseitige Beziehungsgeflecht zwischen Köln und dem Reich.

Die Rolle der Reichsstädte im politischen System des Reiches nach 1555 darf nicht unterschätzt werden: gerade das in eine „einheitliche Städte-, Wirtschafts- und Geschichtslandschaft" (26) eingebettete Köln zeigte in den äußeren Zerrüttungen der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Möglichkeiten und Grenzen, die Interessenpolitik der niederrheinischen Kommune in die Reichspolitik einzubringen und gleichzeitig mit deren Anforderungen abzustimmen. Wenn Köln in diese Phase in ungebrochener verfassungsrechtlicher, politischer und konfessioneller Tradition eintrat, war diese Entwicklung allerdings im Vergleich zu den anderen Reichsstädten untypisch. Das katholische Köln mußte in seiner „Außenseiterrolle" (57) geschickt die konfessionelle Frage auf Reichsebene überlagern: Denn im Gegensatz zum Kurfürstenrat und zum Fürstenrat fanden sich im Städterat katholische Mitglieder nur in verschwindend kleiner Zahl. Köln hatte sich gegenüber der Mehrzahl protestantisch orientierter Reichsstädte im Städtekorpus zu behaupten. Doch auch mit den katholischen Reichs-städten konnte die Freie Reichsstadt infolge ihrer rechtlichen und wirtschaftlichen Stellung, insbesondere aber durch die geographisch anders ausgerichtete Orientierung kaum eine Interessengemeinschaft bilden.

Gerade aber die den Rheinlanden nachteiligen politischen Machtverschiebungen durch die wachsende Ablösung des burgundischen Reichskreises vom Reich und die damit verbundene äußere Gefährdung bewirkten, daß die zu Beginn des Betrachtungs-zeitraums in ihrer Reichspolitik an einem Tiefpunkt angelangte Stadt Köln sich wieder verstärkt den Reichsversammlungen zuwandte. In seiner Randlage war Köln gezwungen, das Engagement auf Reichsebene zu erhöhen, denn eine Beschränkung seiner wirtschaftlichen Vormachtstellung mußte auch mittelfristig seine politische

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Unabhängigkeit berühren. Dem Verfasser gelingt es vorbildlich, den Wandel der reichspolitischen Wirkungsmöglichkeiten des frühneuzeitlichen Köln in seiner ganzen Komplexität zu verfolgen: die Auswirkungen von Steuerbelangen, Münzgesetzgebung, Landfriedensregelungen und schließlich der Dominanz der Türkenfrage in den politi-schen Spielraum der Reichsstadt einzubeziehen, und gleichzeitig die Auflösung der in einer bisher einheitlichen Wirtschaftslandschaft vorhandenen Bezugsfelder, regionale Konflikte und insbesondere den Zerfall der spanischen Niederlande und seiner Impli-kationen auf die Kölner Reichspolitik nachzuzeichnen.

Die verstärkte Hinwendung Kölns zur Reichspolitik nach 1555, die Einbeziehung in die Konfessionskonflikte seit 1570 und der in dieser Zeit ausbrechende niederlän-dische Krieg sind die Vorstufen für den mit den Reichstagen 1594 und 1597/98 erreichten Höhepunkt Kölner Reichspolitik. Wenn Köln anfänglich seine Bedeutung im Reichsgefüge erhöhen konnte, so im Kontext der allgemeinen Sammlung der zer-splitterten Macht der Städtekurie und der verstärkten Heranziehung Kölns für reichsstädtische Aufgaben. Verfassungsrechtliche Differenzen, die finanziellen Bela-stungen durch den niederländischen Krisenherd und wirtschaftspolitische Engpässe zwangen die reichsunmittelbare Kommune immer mehr, „alle ihr zu Gebote ste-henden Möglichkeiten reichsständischer Einflußnahme in ihrem Interesse zu akti-vieren" (148). Dies gelang zunächst im Rahmen der Städtekurie, in der eine Konfes-sionalisierung der politischen Anliegen geschickt vermieden werden konnte. Als daher nach 1570 die alten konfessionellen Gegensätze neuerlich aufbrachen, spitzte sich mit der Anlehnung an die katholischen Stände die Politik der Freien Reichsstadt bedenklich zu, deren Durchsetzungskraft gerade von der Vermeidung einer konfes-sionellen Polarisierung abhängen mußte. Die Städtekurie verlor ihre traditionellen Bindekräfte und die bisher gegenüber dem katholischen Köln praktizierte Integra-tionsfähigkeit.

Da über die den Reichstag ergänzenden reichsständischen Beschlußfassungsor-gane keine Lösung für Kölns Anliegen erreicht werden konnte, stiegen die Erwar-tungen für die allgemeinen Reichsversammlungen in den neunziger Jahren. Köln aber als kleinere politische Einheit wurde im Reichsgefüge mit voller Wucht von dem um die Jahrhundertwende einsetzenden Zerfall der Rechtsordnung getroffen, die gerade den kleineren Reichsgliedern Vorteile gebracht hatte. Köln konnte sich mit seinen auf das westliche Reichsgebiet orientierten Interessen nicht neben der nach Südosten aus-gerichteten Türkenpolitik behaupten. Mit den katholischen Reichsständen steigerten sich in verfassungsrechtlichen Fragen die Differenzen. Auch die zentrifugalen Kräfte im Städtekorpus verstärkten sich, so daß Köln hier seine Interessen nicht mehr gebüh-rend einbringen konnte. „Die unterschiedliche Interessenbindung Kölns und der süd-deutschen Kommunen, die ein permanentes Problem korporativer reichsstädtischer Politik bildete, war vor diesem Hintergrund unüberbrückbar" (289).

Infolge der Stabilisierung der wittelsbachischen Herrschaft im Kurfürstentum Köln verlor die Stadt darüber hinaus ihre Bedeutung im kaiserlichen Kalkül. Die sowohl für die Reichsverfassungsgeschichte als auch für die Stadtgeschichte erzielten Ergebnisse des Verfassers ragen weit über engere Fragestellungen des regionalen Rah-mens hinaus und schneiden Fragen der Integrationsfähigkeit des Reiches überhaupt an. Daneben macht das Beispiel Kölns die Unmöglichkeit für einen kleinen Reichs-stand deutlich, in dieser Phase über die verfestigten Konfessionsgrenzen hinweg eine reichsständische Politik zu betreiben.

Berlin Joachim B a h l c k e

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456 Literaturberichte

Jan Paul N i e d e r k o r n , Die europäischen Mäch te und der „Lange T ü r -kenkr ieg" Kaiser Rudol f s II. (1593—1606). (Archiv f ü r österr . Geschichte. 135.) Ös ter r . Akad. d. Wiss., Wien 1993. 559 S.

Der Lange Türkenkrieg Rudolfs II. fand bisher in der Forschung wenig Interesse. Seine militärischen Ereignisse, die letztlich wenig spektakulär sind und sich bald kaum vom permanenten Kleinkrieg an der Grenze unterschieden, sind gerade nur leidlich bekannt, seine ideologische Auswertung ist in der Literatur zumindest in den Grund-zügen behandelt, aber seine Einordnung in die Außenpolitik der Habsburgermonar-chie und seine Rolle in der Konstellation der Politik der europäischen Mächte bildete ein Desiderat der Forschung.

Diese Forschungslücke füllt die umfangreiche und ausgezeichnet dokumentierte vorliegende Arbeit in bester Weise aus. Jan Niederkorn hat ein sehr breites Material aus einem großen Teil Europas verarbeitet, Quellen aus den verschiedensten italieni-schen Archiven, aus London, Paris, Krakau, dem vatikanischen Archiv, aus Simancas und Wien für seine Studie herangezogen. Das Literaturverzeichnis besticht durch seinen Umfang; auch die Zahl der Bücher in verschiedensten Sprachen, die verarbeitet wurden, zeigt, daß Niederkorn den Forschungsstand voll rezipierte und seiner Arbeit eine wahrhaft europäische Perspektive zugrundegelegt hat.

All das ist aber noch nicht die Garantie dafür, eine lesbare und modernen Ansprü-chen genügende Arbeit vorzulegen. Jan Niederkorn ist es ganz ausgezeichnet gelungen, die Fesseln, die ein solches Thema dem Autor auferlegt, abzustreifen, er schlägt nicht in die Kerbe der altertümlichen Diplomatiegeschichte, gibt nicht Akten-stücke chronologisch aneinandergereiht wieder, wie das durchaus auch in neueren Arbeiten diplomatiegeschichtlichen Zuschnittes der Fall ist, sondern schreibt eine moderne, gut lesbare Darstellung, die jeweils die inneren Zustände der handelnden „Länderindividualitäten" miteinbezieht und somit eine geradezu vorbildlich zu nennende Verbindung zwischen strukturgeschichtlichen und ereignisgeschichtlichen Zusammenhängen herstellt.

Seine Sichtweise des Problems ist wirklich umfassend, da er sich außer mit den Konfliktparteien, also dem osmanischen Reich, Siebenbürgen, Moldau und Walachei, den Ländern der Habsburger und dem Papst, dessen Ligapolitik eine wesentliche Rolle spielte, auch mit der Türkenpolitik der meisten anderen Mächte Europas auseinander-setzt. Die einzelnen Abschnitte der Studie sind — neben den oben genannten Mächten — auch England, Frankreich, Spanien, Venedig, Reichsitalien (Toskana, Ferrara, Modena, Mantua etc.) und schließlich den Moskowitern, Dänemark, dem Malteserrit-terorden und Polen gewidmet.

Die meisten dieser Staaten — das gilt vor allem für die katholischen Staaten und insbesondere Italien — haben den Kaiser in seiner Abwehr der Osmanen finanziell unterstützt, nicht aus Gründen der Solidarität des „christlichen Abendlandes", wie das vor allem in der älteren Literatur immer anklingt, sondern meist aus handfesten politi-schen Gründen, die mit anderen Wünschen und Ambitionen zu tun hatten, für die man sich das Wohlwollen des Papstes und/oder des Kaisers erkaufen wollte. Diese genaue Motivanalyse entzaubert, entideologisiert die Politik des „christlichen Abendlandes" und trägt wesentlich zum Abbau religiös geprägter Klischees bei.

Die Arbeit ist nicht nur für das eigentliche Forschungsgebiet ein gewaltiger Fort-schritt, Niederkorn setzt neue Maßstäbe, an denen eine zukünftige Diplomatiege-schichte gemessen werden muß. Vieles, was bisher auf diesem Gebiet entstand, muß — an Niederkorns Standard gemessen — als zu leicht empfunden werden.

Wien Karl V o c e 1 k a

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Volker R e i n h a r d t , Über leben in der f rühneuzei t l ichen Stadt. A n n o n a und Get re ideversorgung in R o m 1563 —1797. (Bibliothek des Deutschen His to -rischen Insti tuts in R o m . 72.) Tüb ingen 1991. 570 S.

Als eine Art „Überlebensformel" für die hauptstädtischen Unterschichten stellte sich in der Ewigen Stadt die über eine Zeitspanne von anderthalb Jahrhunderten prak-tizierte „Sozialpolitik via Brotpreis" heraus, die in ihrer stabilisierenden Wirkung als „Lehrstück für europäische Bühnen" gelten kann. Unter der obersten Priorität einer auch Rentabilitätsgesichtspunkten übergeordneten Brotpreisstabilität formte sich in Rom ein Sonderfall und zugleich Modellfall frühneuzeitlicher europäischer Getreide-politik aus. Über diese römische Erfolgsbilanz legt Volker Reinhardt in einer revi-dierten Fassung seiner Habilitationsschrift nun eine quellengesättigte und methodisch überzeugende Bestandsaufnahme vor — „Prolegomena einer Sozialgeschichte Roms vom 16. bis 18. Jahrhundert" —, die über die engeren sozial-, wirtschafts- und mentali-tätsgeschichtlich relevanten Einzelausführungen hinaus stilistisch immer wieder durch ihre ausdrucksstarke und bildreiche Sprache besticht. Ausgehend vom institutionellen Rahmen römischer Getreideversorgung legt der Autor die Akzente auf Methoden und Wirkungen des in Rom angewandten zweigleisigen städtischen Versorgungssystems, das über die beiden Glieder von Markt und Annona seine Ausprägung fand. Ein detaillierter Datenanhang zur römischen Getreideversorgung, jährlich von 1563 bis 1797 erschlossen, mit Angaben zur Lieferfähigkeit der annonarischen Provinzen, Im-und Exporten, unverkauft gebliebenen Kontingenten, annonarischen Verkäufen, Getreideverbrauch sowie Reservebeständen rundet das Werk ab.

Der zwei Jahrhunderte währenden Phase des Gleichgewichts annonarischer Struk-turen von 1563 bis 1762 stellt Reinhardt die kurze, mit dem Jahr 1763 beschleunigt ein-setzende Phase des Zusammenbruchs und Verfalls bis 1797 gegenüber. Die Versor-gungslage und der Brotpreis am Tiber ruhten auf drei Grundlagen, die den römischen Sonderweg bedingten: da in Rom die Annona ausschließlich selbst importierte, konnten über diese Monopolstellung drohende Hungersnöte rechtzeitig sozialpoli-tisch abgefedert und über zwei Jahrhunderte letztlich verhindert werden; ohne Rück-sicht auf die Einkaufskosten und mit erheblichem eigenen Kostenaufwand filtrierte die Annona auf diese Weise die Preise verbraucherfreundlich; und schließlich gelang es ihr, die Getreideversorgung im gesamten Zeitraum bis 1762 auch über immer wieder auftretende Versorgungslücken hinweg quantitativ sicherzustellen. In einem zweiten Schritt werden vor allem der Kostenaufwand für das römische Versorgungssystem, die Gesamtverschuldung päpstlicher Finanzen, die Masse der Subventionen und die lang-fristig unvermeidlichen Verluste näher bestimmt und auf die Konsequenzen für die Getreidepolitik hinterfragt. Mit den Auswirkungen annonarischer Getreide- und Preispolitik auf die Bäcker und Grundrente zeigt Reinhardt die systemimmanenten Defekte des römischen Systems auf.

Der Umbruch des Jahres 1763, der den Glauben „an die quasi mythische Unver-letzlichkeit des Brotgewichts" nahm, führte zum Untergang der alten annonarischen Strukturen; im Frühjahr 1764 sah sich die Annona zu einer massiven Verteuerung des Brotes gezwungen — in der Hoffnung, durch diese Maßnahme die Versorgungseng-pässe abzuschwächen; der römische Weizenverbrauch war zu diesem Zeitpunkt um 10,8 % gegenüber dem Vorjahr, um 13,1 % sogar gegenüber dem Jahr 1761 gestiegen. Den Zusammenbruch führt Reinhardt letztlich auf die Reduzierung der Anbauflächen und die Anbauverweigerung der Oberschicht zurück. Im Ergebnis gaben sozialpoliti-sche Weichenstellungen und der Gewinnverzicht im Interesse der allgemeinen Ord-

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458 Literaturberichte

nung den Ausschlag für die konsequent verfolgte Brotpreisstabilität der Annona; „die Politik des grauen Erfolges, des Abschneidens in guten und Anstückens in schlechten Jahren, erbrachte ärgerliche Nachteile, aber ein unschätzbares Privilegium, nämlich Uberleben am Tiber".

Berlin Joachim B a h l c k e

Michael F. F e l d k a m p , Studien und Texte zu r Geschichte der Kölner Nun t i a tu r . Bd. 1: Die Kölner Nun t i a tu r und ihr Archiv. Eine archiv- und quel lenkundl iche Unte r suchung . — Bd. 2: D o k u m e n t e und Material ien über Jur isdikt ion, Nunt ia tursprengel , Hausha l t , Zeremoniel l und Verwal tung der Kölner N u n t i a t u r (1584—1794). (Collectanea Archivi Vaticani. 30 — 31.) Cit tà del Vat icano 1994. 312 u. 514 S.

Die beiden bereits erschienenen Bücher der auf vier Bände angelegten umfangrei-chen Studie zur Kölner Nuntiatur werfen zum einen ein Licht auf die Entstehung und historische Entwicklung der Nuntiatur und ihres Archivs und illustrieren zum anderen durch gezielt ausgewählte Dokumente die Bedeutung dieser Nuntiatur für die Reichs-kirche und deren Stellung in Mittel- und Nordeuropa. Im ersten deskriptiven Teil wird die Stellung der Nuntiatur seit ihren Anfängen (1584) bis zu ihrer Aufhebung (1794) dem Leser vor Augen geführt, wobei auch auf Besonderheiten Bezug genommen wird wie z. B. der wechselnde Residenzort der Nuntiatur — Köln, Münster, Aachen, Lüttich und Koblenz — bzw. das Nichtvorhandensein eines Nuntiaturgebäudes, wie es an den großen europäischen Nuntiaturen wie in Wien, Paris oder Madrid der Fall war. In der für die Kölner Nuntiatur entwickelten Typologie eines Karrieremusters ist bezeich-nend, daß Köln für die Nuntien, die vielfach italienischen Adelsfamilien entstammten, eine Art Durchgangsposten war und somit ein Sprungbrett für eine Karriere an der Kurie darstellte. Die Auswahl des Nuntiaturpersonals (20 bis 25 Personen) lag vielfach in der Hand des Nuntius; der engere Kreis, die „familiares", die vielfach aus Italien mit-gebracht wurden und in der Nuntiatur wohnten, werden in „famiglia alta (nobile)" und „famiglia bassa" unterschieden. In dem präzise ausgearbeiteten Schema der an der Nun-tiatur ausgeübten Dienste wird aufgezeigt, daß dem Administrator oder Internuntius, ein seit dem frühen 17. Jahrhundert geschaffener Posten, die Leitung der Nuntiatur in den Zeiten der Vakanz oblag. Dem Vorsitzenden des Nuntiaturgerichts — dem Auditor — der entweder deutscher oder italienischer Nationalität war, unterstand der gesamte Bereich von Streitangelegenheiten, d. h. sowohl zivile wie geistliche Streitsachen, die an die Nuntiatur in zweiter, dritter oder vierter Instanz herangetragen worden waren. Dem Abbreviator oblag die Führung der Kanzlei — also die gesamte administrative Verwal-tung der Nuntiatur —, er hatte somit die Beschlüsse des Nuntius auszuführen. Neben dieser detaillierten Beschreibung dieser wichtigsten Ämter an der Nuntiatur werden auch die niedrigeren Posten wie Privatsekretär, Schreiber, Kopist und Mitglieder des Haushalts — Maestro di camera, Maestro di casa und Kapläne — vorgestellt und ihr Aufgabenbereich genauestens definiert. Eine Besonderheit stellt der Apostolische Bücherkommissar oder Bücherzensor dar, der zwar von der Apostolischen Kammer entlohnt, aber vom Nuntius ernannt wurde und somit zum eigentlichen Nuntiaturper-sonal gehörte und dieser in besonderer Weise verpflichtet war. Zum einen erstellte er zweimal jährlich einen für die Frankfurter Buchmesse erstellten Katalog katholischer Druckwerke und zum anderen hatte er zu überwachen, daß vom Heiligen Offiz und von der Indexkongregation verbotene Bücher nicht verkauft wurden.

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Neben dieser Darstellung der Nuntiatur und ihrer Mitarbeiter nimmt einen wich-tigen Teil des ersten Bandes die Beschreibung der Entstehung und Entwicklung des Nuntiaturarchives ein. Nachdem in der frühen Phase die Dokumente vielfach in den Privatarchiven der Nuntien abgelegt wurden, sind unter Nuntius Chigi Akten aus Klo-sterarchiven und Notariaten zu 30 Kartons zusammengefügt, etikettiert und inventari-siert worden. Die Kölner Nuntiatur sollte für die Gründung anderer Nuntiaturarchive wie Luzern (1660) oder Polen beispielgebend werden. Der Nuntius Sanfelice ließ um 1655 die Akten nach Sachbereichen ordnen und zum leichteren Auffinden ein Inventar anlegen. Nach der Auflösung der Nuntiatur 1794 wurden die Archivalien zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach Rom gebracht, wo 1832 berichtet wird, daß sie sich in der Ewigen Stadt befinden. Es sollte bis 1927/28 dauern, bis die letzten Teile dieses Archivs aus dem päpstlichen Palast in das Vatikanische Archiv transportiert wurden. In seiner Schlußbemerkung hat der Autor zu einer Neubewertung der Tätigkeit der Kölner Nuntien in der Reichskirche aufgerufen. Ansätze dazu liefert er, wenn er etwa fordert, das sehr ambivalente Schlagwort vom Nuntius als „Quasiordinarius" neu zu bedeuten und möglicherweise nicht mehr zu verwenden. Eine solche Bewertung ist nur möglich, wenn die deutsche Kirchengeschichtsforschung sich der Archivalien der Kölner Nuntien annimmt, die im Archivio Segreto Vaticano liegen. Mit Spannung ist deswegen das vom Verfasser (Feldkamp) angekündigte Gesamtinventar des Fondo „Archivio della Nuntiatura di Colonia" zu erwarten.

Im zweiten Band wurden repräsentative Dokumente aus diesem Archiv ediert, wie Gebührenordnung, Berichte über Visitationsreisen, Verzeichnis über monatliche finan-zielle Zuwendungen an den Nuntien, Ernennung des Auditors, Informationen zum Zeremoniell, die Forderung nach mehr bischöflichen Rechten verbunden mit einer Einschränkung der Jurisdiktion der Päpste und Nuntien, Gründung des Nuntiaturar-chivs etc. Zu jedem Dokument wird am Beginn ausgewiesen, in welchem Bestand es sich befindet und in welcher Form es dort abgelegt wurde, d. h. als Original, Minute, Abschrift oder ob es gedruckt ist. Die am Beginn dieses Bandes gedruckte Tabelle mit einer Aufstellung der Nuntien, Internuntien, Auditoren und Abbreviatoren mit den Amtsdaten bietet eine klare Ubersicht über die an der Nuntiatur beschäftigten Per-sonen und somit wertvolles Hilfsmittel zu Erfassung des Personalstandes. Der aus-führliche und präzise Index am Ende ermöglicht ein rasches Auffinden der in der Edi-tion erwähnten Personen und Institutionen.

Die in diesem Archiv verwahrten Dokumente sind wichtige Quellen zur Reichs-kirche; sie ermöglichen auch neue Einblicke in das kirchliche Leben Deutschlands zwi-schen Westfälischem Frieden und Französischer Revolution. Die Akten beschränken sich nicht nur auf das Kölner Erzbistum, sondern sie betreffen auch Belgien und Osterreich, weil intensivste Kontakte mit der Brüsseler und Wiener Nuntiatur bestehen. Die Edition dieser Dokumente läßt einige neue Interpretationen historischer Ereignisse wie die des Westfälischen Friedens oder der Einigung zwischen Frankreich und dem Rheinbund (1657) erwarten. In diesem Archiv liegen aber auch Akten, die negative Seiten der Reichskirchenpolitik zutage bringen wie Säkularisationsabsichten von Klöstern zugunsten von Gründung von Seminaren und bischöflichen Landesuni-versitäten, Streitigkeiten um Jurisdiktion, Immunität, Pfründen etc.

Diese mehrbändige Studie zur Kölner Nuntiatur, die eine ausführliche Analyse des Archivbestandes bringt und die historische Entwicklung der Nuntiatur und ihres Archivs aufzeigt, soll einen Anstoß bieten, daß die anderen europäischen Nuntiaturar-chive in gleicher Weise der Forschung zugänglich gemacht werden. Wichtig wäre eine solche Studie für die Wiener Nuntiatur, denn der Nuntius am Kaiserhof hatte eine

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ungleich wichtigere Bedeutung als der Kölner. Leider ist die Bearbeitung der Wiener Nuntiatur mit dem ausgezeichneten, von Walter Wagner publizierten Teilinventar bis 1792 — in erster Linie handelt es sich um Informationsprozesse (vgl. H. Hoberg, Die Visitationes im Archivio della Nunziatura di Vienna des Vatikanischen Archivs, in: Historische Blickpunkte. Festschrift für Johann Rainer, Innsbruck 1988, S. 283—287) — in ihrer Anfangsphase stecken geblieben. Eine Erforschung des Wiener Archivs in Anlehnung an das für die Kölner Nuntiatur entwickelte Schema würde für die Geschichte der österreichischen Monarchie und des österreichischen Kaiserhauses auf alle Fälle neue Blickpunkte ergeben. Sicherlich würden einige bislang vertretene Ansichten in der Beziehung zwischen Kaiserhaus und Kurie neu überdacht und revi-diert werden müssen.

Rom Christine Maria G r a f i n g e r

John P. S p i e l m a n , The City & The Crown. Vienna and the Imperial Court, 1600—1740. Purdue University Press, West Lafayette/Ind. 1993. 264 S., Karten, Abb.

Das neue Buch von Professor Spielman hält nicht, was der Titel zu versprechen scheint. Im wesentlichen handelt es sich um eine auf Primärquellen (vor allem des Obristhofmarschallamts im Haus-, Hof- und Staatsarchiv, des Hofquartiermeister-amts im Hofkammerarchiv, des Hofkriegsrats im Kriegsarchiv sowie des Wiener Stadt- und Landesarchivs) beruhende Geschichte des Wiener Hofquartierwesens und seiner Bedeutung für die bürgerliche und adelige Bautätigkeit in Wien im 17. und frühen 18. Jahrhundert. Konflikte zwischen Bürgerschaft und Krone erwuchsen besonders „from the clash between privileges and exemptions" (73) im Bereich der Einquartierung von Angehörigen des Hofes in Privathäusern. In der auf eine bestimmte Zahl von Jahren befristeten Befreiung von der Hofquartierpflicht für den Fall der Vergößerung eines Hauses seit der Mitte des 17. Jahrhunderts sieht Spielman nicht zu Unrecht „a tool for transforming the city" (100), insgesamt überschätzt er aber wohl die Bedeutung dieser Befreiungen für die hochbarocke Bautätigkeit in Wien.

Abgesehen von dem durch die Beschränkung auf das Hofquartierwesen stark ver-engten Blickwinkel, enthält das Buch zahlreiche sachliche Fehler, die offenbar auf die teilweise mangelnde Vertrautheit des Autors mit der österreichischen und Wiener Geschichte sowie der dazu existierenden Fachliteratur zurückzuführen sind. Ein paar krasse Beispiele: der Babenberger Leopold III. war kein „duke" (132); Claudius Inno-centius du Paquier gründete die Wiener Porzellanmanufaktur 1718 keineswegs „in the Augarten" (198), sondern in der Rossau (Porzellangasse!); 1721 war Gundaker Graf Starhemberg seit sechs Jahren nicht mehr Hofkammerpräsident (198); mit dem in die Reihe der „old vine villages well beyond the new lines" aufgenommenen „Mödling" (209) ist offenbar Döbling gemeint.

Spielman schafft es, die Reformen im Finanzwesen der Habsburgermonarchie und der Stadt Wien im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts zu besprechen („analysieren" wäre zuviel gesagt), ohne die 1706 gegründete Wiener Stadtbank auch nur zu erwähnen! (198f.) Auf Seite 173 entsteht der Eindruck, der 1704 errichtete Linienwall stamme aus den 90er Jahren des 17. Jahrhunderts. (Vgl. Bertrand Michael Buchmann, Der Wiener Linienwall. Geschichte und Bedeutung, Phil. Diss., Wien 1974; ders., Der Wiener Linienwall. Entstehung und strategische Bedeutung, in: Wiener Geschichts-

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blätter 31, 1976.) Die Vergrößerung des Wiener Burgfrieds gegen Ende des ^ . J a h r -hunderts wird ohne Kenntnis der maßgeblichen Monographie von Ferdinand Opll, Der Wiener Burgfried. Studien zum Kompetenzbereich des Magistrats vor und nach der Türkenbelagerung von 1683 (Wien 1985), besprochen.

Spielman hat weder die zahlreichen Dissertationen über die Finanzen der Stadt Wien und die Wiener Ratsbürger in der Frühen Neuzeit konsultiert noch die Reihe „Wiener Geschichtsbücher", in der beispielsweise die Monographien von Walter Hurn-melberger und Kurt Peball über die Befestigungen Wiens und von Rupert Feucht-müller über die Herrengasse erschienen sind. Die Wiener Stadtguardia-Soldaten und ihre an der Stadtmauer und auf den Basteien errichteten „Soldatenhäusel" spielen eine Hauptrolle in dem Buch. Man ist daher verblüfft festzustellen, daß der Autor die ein-schlägige Literatur nicht benützt hat, insbesondere: Alois Veltzé, Die Wiener Stadt-guardia 1531 — 1741 (Wien 1902) und Viktor Bibl, Die Wiener Polizei (Leipzig-Wien-New York 1927). Es fehlt daher zum Beispiel jeder Hinweis auf das konflikt-reiche Verhältnis zwischen der 1646 von der niederösterreichischen Regierung gebil-deten Rumorwache und der seit 1582 dem Hofkriegsrat unterstehenden Stadtguardia sowie darauf, daß im Jahre 1723 vier Kompanien Dragoner, die für den Patrouillen-dienst und die Überwachung auf dem Glacis und in den Vorstädten zuständig waren, eine neue Kaserne in der Leopoldstadt bezogen, also nicht in Privathäusern einquar-tiert wurden.

Die gesamte architekturgeschichtliche Literatur wird von Spielman schlicht und einfach ignoriert. Ich nenne nur drei Beispiele: Gerhart Egger, Von der Renaissance bis zum Klassizismus, in: Geschichte der Architektur in Wien (Geschichte der Stadt Wien, N. R. VII, 3, Wien 1973); Hans Sedlmayr, Johann Bernhard Fischer von Erlach (Wien 1976); Hellmut Lorenz, Domenico Martinelli und die österreichische Barockar-chitektur (Wien 1991). Nicht einmal die anregende, für das Thema eigentlich unent-behrliche Studie von Wolfgang Pircher, Verwüstung und Verschwendung. Adeliges Bauen nach der Zweiten Türkenbelagerung (Wien 1984), und die Bücher von Harry Kühnel über die Hofburg (Wien 1964 und 1971) scheinen dem Autor untergekommen zu sein. Daß er nicht einmal das Standardwerk zur historischen Entwicklung der Sozialtopographie Wiens von Elisabeth Lichtenberger, Die Wiener Altstadt. Von der mittelalterlichen Bürgerstadt zur City, Textband und Kartenband (Wien 1977), ver-wendet hat, ist eigentlich unbegreiflich.

Mit einem Wort: das Buch ist eine ziemliche Enttäuschung. Bleibt nur zu hoffen, daß nicht ein österreichischer Verlag unbedarft genug ist, eine Ubersetzung herauszu-bringen.

Wien Thomas W i n k e l b a u e r

Kathol ische A u f k l ä r u n g — Aufk l ä rung im Kathol ischen Deutschland . Herausg . v. H a r m K l u e t i n g . (Studien zum achtzehnten Jah rhunder t . 12.) Meiner , H a m b u r g 1993. 438 S.

Der Band vereinigt zwanzig Beiträge von Historikern, Kirchenhistorikern, Litera-turwissenschaftlern und Philosophen. Die meisten davon wurden 1988 in Trier auf der von der „Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts" veranstal-teten Tagung „Katholische Aufklärung — Aufklärung im Katholischen Deutschland" als Vorträge präsentiert. Dem Zweck entsprechend, bieten die Vorträge im großen und ganzen zusammenfassende Darstellungen, die durch umfangreiche Anmerkungsappa-

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rate ausgestattet sind und somit dem Leser einen raschen Überblick über den Stand der Forschung verschaffen können. Vier der Beiträge nehmen Stellung zu allgemeinen Fragen der katholischen Aufklärung und zur Wirkungsgeschichte, drei greifen Themen der Philosophie und der Theologie auf, zwei Beiträge befassen sich mit Orden, zwei Beiträge handeln vom höheren Bildungswesen, zwei behandeln Themen der literarischen Produktion, sieben stellen die katholische Aufklärung in einigen welt-lichen und geistlichen Territorien vor.

Der Herausgeber eröffnet mit einem umfassenden, weit ausgreifenden Überblick über Aufklärung und Katholizismus in Deutschland. Dabei werden Fragen der Perio-disierung und Regionalisierung ebenso behandelt wie die theologisch-innerkirchlichen Bestrebungen von Episkopalismus und Febronianismus. Mönchtum und Bildungs-wesen werden als Hauptsektoren der Reformen eigens herausgegriffen. Norbert Hinske, Trier, frägt kurz und bündig, inwieweit die Aufklärung im katholischen Deutschland von originär katholischen Impulsen getragen worden sei. Hans Meier, München, handelt von der weitgehend ablehnenden Einstellung der Katholiken im 19. Jahrhundert der Aufklärung gegenüber, von dem durch das Erste Vaticanum aus-gelösten Revisionsprozeß und vom neuesten Stand der katholischen Diskussion mit den zwei Schwerpunkten Menschenrechte und Religionsfreiheit. Daran überprüft er exemplarisch das Verhältnis von Aufklärung und katholischer Tradition. Das Fazit: „In einer Zeit aufbrechender Fundamentalismen versteht man manche Positionen katholischer Aufklärung besser . . . Sind nicht, gemessen an Khomeini, die Christen im Abendland heute fast Voltairianer?" Philipp Schäfer, Passau, zeigt an einzelnen zeitge-nössischen Theologen das Urteil über die Aufklärung und den danach einsetzenden Wandel bis hin zum Zweiten Vaticanum. Bruno Bianco, Triest, leistet in seiner einge-henden Analyse der Psychologie Storchenaus, eines Kärntner Jesuiten, einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Wolff-Rezeption durch die an österreichischen Universi-täten lehrenden Jesuiten. Als Zeichen für die „Lebendigkeit und Intensität der österrei-chischen Aufklärungsbewegung" werden der weite, gesamteuropäische Horizont von Storchenaus Argumentation und seine große Urteilsfreiheit herausgehoben. Mit Umsicht und in aller Deutlichkeit bestimmt der inzwischen verstorbene Heribert Raab die theologischen, kirchen- und reichsrechtlichen und schließlich politischen Posi-tionen der „katholischen Ideenrevolution". Es ist wohl die beste Einführung für alle, die sich überhaupt erst mit dem Thema vertraut machen wollen. Georg Heilingsetzer, Linz, faßt die Forschungen über den Benediktinerorden im süddeutsch-österreichi-schen Raum, Winfried Müller jene über den Jesuitenorden daselbst zusammen. Von den Universitäten im katholischen Deutschland handelt bewährt Notker Hammer-stein, während Michael Trauth, Trier, nur die Reform der medizinischen Fakultät Trier aufgreift. Welche literarischen Formen und Inhalte die Kritik am Mönchswesen fand, zeigt Hans-Wolf Jäger, Bremen. Roger Bauer, München, wiederum handelt von den Besonderheiten der sich ausbildenden österreichischen Literatur, wo barocke Formen der Rhetorik für neue, weltliche Themen verwendet werden und im Gegensatz zum norddeutschen Subjektivismus Vorstellungen vom Ganzen der Schöpfung weiter-leben. Schließlich jene Beiträge, die einzelnen Territorien gewidmet sind. Gute Über-blicke vermitteln Andreas Kraus, München, über Bayern, Ludwig Hammermayer, München, über das Erzstift Salzburg, Friedhelm Jürgensmeier, Mainz/Osnabrück, über Kurmainz, Alwin Hanschmidt, Vechta, über das Fürstbistum Münster, Rudolfine Freiin von Oer, Münster, über die Aufklärung in den Territorien des Kurfürsten von Köln, und Günter Christ, Köln, über Bamberg. Schließlich Elisabeth Kovacs, Wien, die in ihrem Beitrag über den Josephinismus in Osterreich dem von Eduard Winter

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geprägten Begriff „Reformkatholizismus" eine Absage erteilt und auch ein Ungeniigen an dem Begriff „Katholische Aufklärung" zu erkennen gibt. Sie definiert Josephi-nismus als Staatskirchentum, als ein System, das an einzelne Personen, zumal Herr-scher und deren Berater, fixiert erscheint. So sei Joseph II. „in den meisten Fällen nur der Exekutor von Regierungsanweisungen seines Großvaters Karl VI. und dessen regalistischen Forderungen" (S. 258) gewesen. Dieser Ansatz reduziert die Komple-xität des Phänomens und der Entwicklungen auf Einzelpersonen. So wichtig Einzel-personen wie Prinz Eugen sind, so viel es da in der Tat noch zu fragen und zu for-schen gibt, man wird auch einmal darangehen müssen, die Länder der böhmischen Krone miteinzubeziehen, insgesamt die katholische Kirche als Teil der im Wandel begriffenen ständisch-agrarischen Gesellschaft zu erfassen und im weiteren das Kon-zept des Staates in Frage zu stellen, das dem im 19. Jahrhundert geprägten Wort „Staatskirchentum" zugrunde liegt.

Graz Grete K l i n g e n s t e i n

R e v o l u t i o n und konservatives B e h a r r e n . Das Alte Reich und die Französische Revolut ion. Herausg . v. Karl O t m a r Freiherr von A r e t i n u. Karl H ä r t e r . (Veröffent l . d. Inst, f ü r Europäische Geschichte Mainz . Abt. Univer-salgeschichte. Beihef t 32.) Philipp von Zabern , Ma inz 1990. 220 S.

Dieser Band enthält die erweiterten und überarbeiteten Vorträge, die auf einer Tagung zum Thema „Deutschland und die Französische Revolution" des Mainzer Instituts für Europäische Geschichte, Abteilung für Universalgeschichte, 1989 in Mainz gehalten wurden. Ziel des Kolloquiums war es, über die kurzfristigen und direkten Auswirkungen der Französischen Revolution auf Deutschland hinaus die Strukturen der „geistigen Revolution" aufzudecken und die Frage zu klären, warum es in Deutschland keine revolutionäre Situation gab, sondern einen von den Macht- und Funktionseliten eingeleiteten Modernisierungsprozeß.

Den allgemeinen Bezugsrahmen zum Tagungsthema stellte Karl Otmar von Aretin her, der in der vorrevolutionären Zeit zwischen dem französischen und deutschen Absolutismus unterscheidet und betont, daß es in Deutschland keine staatsrechtliche Debatte über die Umwandlung der Reichsverfassung in eine Repräsentatiwerfassung gab, die mit der geführten Diskussion in Frankreich vergleichbar gewesen wäre. Ent-sprechende Vorstellungen fehlten angeblich nach Meinung des Verfassers auch bei den deutschen Jakobinern. Aretin vergißt hier offenbar, daß ζ. B. in den Diskussionen der Mainzer Jakobiner sehr wohl über eine künftige Verfassung nachgedacht wurde. Nachdem zunächst die aufgeklärte Öffentlichkeit in Deutschland auf die revolutio-nären Ereignisse in Frankreich positiv reagierte, änderte sich deren Einstellung nach der Hinrichtung des französischen Königs und dem Ende der Mainzer Republik. Nun setzte eine „Rückbesinnung auf die Werte der Reichsverfassung" ein. Das Ende des Alten Reiches schuf dann die Möglichkeit, in den Einzelstaaten Reformen über eine „Revolution von oben" zu verwirklichen. In dieser Modernisierung konnten sich jedoch weder das Prinzip der Volkssouveränität noch die in der Reichsverfassung ent-haltenen ständischen Freiheiten durchsetzen.

Die Beiträge der ersten Arbeitsgruppe (Leitung Rolf Reichardt und Hans-Jürgen Lüsebrink) befassen sich mit Problemen des ideologischen und kulturellen Transfers der Französischen Revolution (Beiträge von Rolf Reichardt, Elisabeth Botsch, Hans-Jürgen Lüsebrink, Erich Pelzer und Ulrike Möllney). Den methodischen Ansatz der

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zweiten Gruppe (Leitung: Elisabeth Fehrenbach und Winfried Schulze) zur unmittel-baren Erfahrung des revolutionären Frankreich, seiner Herrscher und seiner Truppen in Deutschland bilden territoriale, empirische Fallstudien, die das Spannungsverhältnis von traditionellen Elementen und Modernisierungstendenzen aufzeigen (Eva Kell, Jürgen Müller, Wolfgang Müller, Erich Schunk, Claudia Ulbrich, Jörg Engelbrecht). Alle territorialen Fallstudien bestätigen, daß die Revolution kaum eine unmittelbare Nachahmung des revolutionären Vorbildes bewirkte. In den bisherigen Forschungen zu den Sozialprotesten in Deutschland im Zeitalter der Revolution sind jedoch — im Gegensatz zu diesen Ergebnissen — zahlreiche direkte und indirekte Bezüge zu den revolutionären Umwälzungen in Frankreich nachgewiesen worden, die die Aussagen in den Fallstudien etwas relativieren.

Die letzte Gruppe (Leitung: Karl Otmar von Aretin und Eberhard Weis) befaßte sich mit wichtigen, thematisch unterschiedlichen Problemen der Spannweite lang- und kurzfristiger Wirkungen der Revolution als Herausforderung an das Ancien Régime in Deutschland (Eckhard Buddruss, Karl Härter, Wolfgang Jäger). Am Schluß dieses Bandes steht ein Vortrag von Alain Ruiz über das Leben deutscher Augenzeugen und Akteure im revolutionären Deutschland, der öffentlich im Mainzer Rathaus als Ergän-zung zur Tagung gehalten wurde.

Innsbruck Helmut R e i η al t e r

M o n i k a P r ü l l e r , Das Karmel i t innenklos ter „Unsere Liebe Frau vom Berge Karmel" zu St. Pöl ten (1706—1782). Mi t einem Beitrag von Karl G u t k a s . (Studien u. Forschungen aus dem N O . Inst, f ü r Landeskunde . 14. = N Ö Schri f ten 47. Wissenschaft . ) N Ö . Inst i tut f ü r Landeskunde , Wien 1992. 230 S., Abb.

Mit dieser monographischen Untersuchung wird eine Lücke geschlossen, eine Lücke in der Erforschung der im historischen Bewußtsein der Gegenwart sowie in der historischen Literatur etwas vernachlässigten Klöster, welche im Zug der josephini-schen Reformen der Aufhebung verfielen. Neben ebenfalls erst in jüngster Zeit wieder in das Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit gedrungenen „namhaften" Kloster-stiftung des Mittelalters mit demselben Schicksal, wie etwa die Kartäuserklöster, waren es auch relativ junge Häuser von zum Teil erst in der Frühen Neuzeit populär gewordenen Ordensgemeinschaften, so auch der St. Pöltner Frauenkarmel, eine hoch-adlige Stiftung des frühen 18. Jahrhunderts, Institut und Dokument barocker Fröm-migkeit gleichermaßen.

In der Einleitung geht die Autorin auf die Erträge der bisherigen Forschung zum gegenständlichen Kloster ein und bietet eine Art Bericht über Methodik und Ergeb-nisse ihrer eigenen Arbeit, welche tatsächlich in Konzeption und Quellenbenutzung weit über alle bisherigen Vorarbeiten hinausgeht.

Sodann werden die Quellen vorgestellt, wobei das zum Teil abenteuerliche Schicksal von Klosterarchiv und Klosterchronik nachgezeichnet wird, soweit es zurückzuverfolgen ist. Letztere Quelle, glücklicherweise erhalten und für die Geschichte des gegenständlichen Klosters von größter Wichtigkeit, ist anscheinend zur Gänze in deutscher Sprache geschrieben worden, was sich aus den von der Autorin gebrachten Zitaten ergibt, im Kapitel über die Quellen allerdings nicht erwähnt wird.

Weitere, gleichsam „rahmende" Kapitel befassen sich mit der Geschichte des Kar-meliterordens, dessen Förderung durch das Kaiserhaus in der Barockzeit sowie mit der Stadt St. Pölten am Beginn des 18. Jahrhunderts.

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Danach wird die Gründungsgeschichte untersucht, wobei nicht nur besonders auf die Person der Stifterin (Maria Antonia Josepha Fürstin von Montecuccoli) einge-gangen wird, sondern die der Gründung zunächst entgegenstehenden Schwierigkeiten untersucht werden — was Stadt-, kirchen- und sozialgeschichtlich gleichermaßen interessant ist, wenngleich hier keine völlig neuen Phänomene zutage treten.

Sodann wird eine Fülle von Angaben zur Baugeschichte des gegenständlichen Klo-sters gemacht, wobei die Autorin in einer guten Kombination Originalpläne, Quellen und die kunsthistorische Literatur heranzieht. — Die vielen Fotos und Faksimilewie-dergaben sind hier für den Leser eine willkommene Ergänzung des Textes.

Das nächste Kapitel über das Leben im Kloster ist wohl als das zentrale anzu-sehen; hier die Quellen zum Sprechen zu bringen, ist erwiesenermaßen nicht einfach, da das Außergewöhnliche, ja Katastrophale, eher zur Aufzeichnung gelangt ist als das Alltägliche. Namentlich dieses Kapitel, auf dessen Ergebnisse im einzelnen hier unmöglich eingegangen werden kann, ist imstande, Impulse auch für verwandte Wis-senschaftsdisziplinen zu liefern, so etwa Wirtschafts- und Sozialgeschichte, aber auch Realienkunde.

Weitere Abschnitte der Untersuchung beschäftigen sich mit den letzten Lebens-jahren der Stifterin, der finanziellen Lage des Klosters, den Karmeliterpatres, der Auf-hebung des Klosters und der weiteren Verwendung des Klostergebäudes. Das letztere geht schon über in den von Karl Gutkas beigesteuerten Abriß über die Geschichte des Klostergebäudes von der Aufhebung bis in die Gegenwart, in welcher glücklicherweise die Revitalisierung und damit endgültige substantielle Rettung der Baulichkeiten geschehen ist.

Der Anhang bietet wertvolles zusätzliches Material: ein Verzeichnis der St. Pöltner Karmelitinnen, eine Liste der Priorinnen sowie das Aufhebungsinventar von 1782.

Quellen- und Literaturverzeichnis bilden den Abschluß dieser sorgfältig recher-chierten, wohlausgearbeiteten und in ihren Ergebnissen noch lange nicht erschöpfend auswertbaren Untersuchung.

Wien Ralph A n d r a s c h e k - H o l z e r

Sylvia H a h n — W o l f g a n g M a d e r t h a n e r — Gerald S p r e n g n a g e l , A u f b r u c h in der Provinz . Niederösterre ichische Arbeiter im 19. Jah rhunder t . Ver lag f ü r Gesellschaftskri t ik, Wien 1989. 215 S., Abb.

Der vorliegende Band vereinigt zwei Fallstudien zur Geschichte der niederösterrei-chischen Arbeiterschaft, die im Rahmen eines gleichnamigen Forschungsprojekts ent-standen sind. Gemeinsam ist beiden Untersuchungen die zentrale Frage nach dem Prozeß der Klassenkonstituierung, die sie in den theoretischen Kontext der neueren Arbeitergeschichte einbindet, und die Intention, unter Verwendung einer breiten Palette von Quellen sozialhistorische Prozesse anschaulich und auch für den Laien nachvollziehbar aufzubereiten (Vorwort von H. Konrad, S. 3).

Sylvia Hahn schildert die Umwandlung Wiener Neustadts von einer Kleinstadt mit handwerklich geprägter Gewerbestruktur zu einem der bedeutendsten Industriestand-orte der Monarchie. Betrachtet werden zunächst die Veränderungen der Betriebs- und Branchenstruktur sowie die Rolle, die den frühindustriellen Unternehmern in diesem Transformationsprozeß zukam. Dabei setzt die Autorin sehr geschickt zwei Fallstu-dien zur Veranschaulichung ein, die Geschichte der Seiden- und Samtmanufaktur Bräunlich als Beispiel für die frühe „Textiiphase" der Industriellen Revolution, die

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466 Literaturberichte

Siglsche Maschinenfabrik (später Wiener Neustädter Lokomotivfabrik) für die Phase der Hochindustrialisierung, in der Schwerindustrie und Maschinenbau als Leitsek-toren fungierten. Diese Abschnitte gehören zu den gelungensten des ganzen Bandes: Einzelfall und Strukturentwicklung werden einmal tatsächlich wechselseitig erhellend aufeinander bezogen, verschiedenste Quellentypen überzeugend integriert und inter-pretiert. Ein weiteres Kapitel thematisiert die Auswirkungen des geschilderten Pro-zesses auf die Arbeitnehmer, insbesondere die Herausbildung einer industriellen Arbeiterschaft. Betont wird dabei zurecht das noch lang andauernde Hineinragen vor-industriell geprägter Vorstellungen und Handlungsmuster in eine im Kern bereits kapitalistisch strukturierte Wirtschaftsverfassung — etwa in Gestalt des Gesellenwan-derns. Ausführlich dokumentiert Hahn Umfang und Struktur der Zuwanderung, die allein den wachsenden Arbeitskräftebedarf der jungen Industriestadt decken konnte, allerdings auch erhebliche neue Probleme schuf, vor allem bei der Bereitstellung von angemessenem Wohnungsraum für die Neuankömmlinge. Die ersten Konjunktur-krisen im letzten Drittel des 19. Jahrhundert konfrontierten Arbeiter und städtische Bürgerschaft zudem mit dem bisher unbekannten Phänomen industrieller Massenar-beitslosigkeit. Diese Erfahrungen waren entscheidend für die Herausbildung eines Klassenbewußtseins der Wiener Neustädter Arbeiterschaft und für ihren Zusammen-schluß in Arbeitervereinen und Gewerkschaften. Diese Anfänge der organisierten Arbeiterbewegung bis in die 1880er Jahre hinein werden in einem abschließenden dritten Kapitel relativ knapp skizziert. Insgesamt erreicht Hahns Darstellung im zweiten Teil nicht mehr ganz die Prägnanz und Dichte des Anfangs, und auch das reichlich beigegebene Bild- und Tabellenmaterial wird zunehmend „nur" illustrativ eingesetzt. (Vgl. ζ. B. die Abbildungen auf S. 103 und 105, denen übrigens auch ein Quellennachweis fehlt, oder die etwas unmotiviert eingeblendete Textzeile am Fuß der S. 90.) Dennoch macht die Untersuchung deutlich, welchen Gewinn die Verwendung vielfältiger Quellengattungen für Erkenntnis und Vermittlung sozialhistorischer Pro-zesse bedeuten kann.

Dies läßt sich so uneingeschränkt für den zweiten Beitrag des Bandes nicht behaupten. G. Sprengnagel und W. Maderthaner untersuchen darin die Entstehung einer ländlichen Industriearbeiterschaft am Beispiel des Fischerschen Feilen-, Guß-stahl- und Walzwerks in Furthof im oberen Traisental. Auch diese Studie beginnt mit der Gründung der „Feilen-Fabrique" im ausgehenden 18. Jahrhundert und verfolgt das Schicksal von Werk und Arbeiterschaft bis zum Ersten Weltkrieg. In diesem Zeitraum wurde der Betrieb selbst vom patriarchalisch geführten Familienunternehmen in eine AG umgewandelt, die Belegschaft entwickelte sich von ζ. T. hoch qualifizierten, ge-und angelernten Handwerkern mit entsprechendem Selbstverständnis zu einer klassen-bewußten Industriearbeiterschaft.

Beide Prozesse haben sich gegenseitig beeinflußt, und es ist spannend zu lesen, wie die Autoren diese Zusammenhänge entwickeln. Die standortbedingte Isolation des Werks Furthof machte es notwendig, die erforderlichen Arbeitskräfte entweder — im Fall qualifizierter Facharbeiter — durch „Import" von außerhalb, sonst aber aus der bäuerlichen Bevölkerung der Umgebung zu rekrutieren. Dadurch bietet sich Gelegen-heit, den Übergang aus dem vorindustriell-bäuerlichen ins industriell-proletarische Milieu zu untersuchen. Die Autoren machen davon Gebrauch, indem sie das ganze Instrumentarium der quantifizierenden historischen Sozialforschung einsetzen, soweit die vorhandenen Daten es erlauben. Herkunft , Heiratsverhalten und soziale Verkehrs-kreise werden für zwei Generationen Furthofer Arbeiter analysiert, wobei sich für die zweite Kohorte (1877 —1897) deutlich eine überwiegende Selbstrekrutierung der

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Arbeiterschaft nachweisen läßt — empirische Untermauerung der These von der Kon-stituierung einer Arbeiterklasse auch in ländlicher Umgebung.

Allerdings: Was der Text durchaus überzeugend darlegt, wird durch die beigege-benen Graphiken und Illustrationen nicht immer ebenso einleuchtend dokumentiert. Zumal die Bildbeigaben sind gelegentlich so unspezifisch, daß ihr Aussagewert gegen Null geht. Als Beispiel sei hier auf die Abb. 3/S. 162 verwiesen: Ein Gruppenfoto von — vermutlich — Furthofer Arbeitern (nähere Hinweise zu Objekt, Entstehungszeit und Quelle fehlen hier wie auch in anderen Fällen) im für solche Aufnahmen typischen Stil des 19. Jahrhunderts wird durch die Legende kommentiert: „Breites tradiertes Arbeiterwissen: Feilenschmiede." Der Leser darf rätseln, welchen Zusammenhang von Bild, Untertitel und dem Inhalt der Studie die Autoren hier wohl gemeint haben könnten. In solchen Beispielen (es gibt mehrere davon) zeigen sich doch auch die Grenzen einer aufs „Kulinarische" (S. 3) bedachten Präsentationsform. Da, wo kein stringenter Sachbezug mehr hergestellt wird, verkommt die anschaulich gemeinte Bei-gabe leicht zum bloßen Dekor, statt ergänzender Information drohen Manipulation oder Irreführung zumal dann, wenn auch ein Laienpublikum angesprochen werden soll. An die Adresse des Verlags zu richten ist dagegen die Aufforderung nach mehr Sorgfalt beim Lektorat; eine derartige Fülle von ζ. T. sinnentstellenden Druckfehlern, wie sie hier zu registrieren war, erscheint nicht mehr tolerabel.

Trotz solcher Ärgernisse bleibt der vorliegende Band jedoch eine wichtige Publi-kation, der man viele aufmerksame und kritische Leser — und ebenso viele metho-disch vergleichbare Untersuchungen — wünschen möchte.

Wien Juliane M i k o l e t z k y

D e u t s c h e r B u n d und deutsche Frage 1815 — 1866 — Europäische O r d -nung , deutsche Poli t ik und gesellschaftl icher Wande l im Zeital ter der bür-ger l ich-nat ionalen Emanzipa t ion . Herausg . v. H e l m u t R u m p i e r . (Wiener Beiträge zu r Gesch. d. Neuzei t . 16/17.) Verlag f ü r Geschichte und Politik, Wien 1990. 316 S.

Von kaum zeitgemäßerer Aktualität hätte der 1990 erschienene Sammelband der Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit sein können, zumal die „sanfte Revolu-tion" im Spätherbst 1989 der „deutschen Frage" eine bis dahin ungeahnte Brisanz ver-lieh. Erklärtes Ziel der insgesamt vierzehn Einzelstudien ist es, Funktion und Effizienz des Deutschen Bundes als „supraregionalem Ordnungsmodell" innerhalb eines deut-schen Nationalstaatskonzepts neu zu hinterfragen.

Auf eine umfassende historiographische Bestandsaufnahme als Ansatz für eine gedankliche Revision des Stellenwerts des Deutschen Bundes innerhalb der europäi-schen Staatenwelt des 19. Jahrhunderts (vgl. F. Fellner, Perspektiven für eine historio-graphische Neubewertung des Deutschen Bundes, 21—30, und H. Seier, Der Deutsche Bund als Forschungsproblem 1815 bis 1960, 31 — 58) folgen in insgesamt drei, thema-tisch übergeordneten Kapiteln Untersuchungen zu öffentlich-rechtlichen Konzep-tionen, zu gesellschaftlich-ökonomischen und zu machtpolitisch-strategischen Kon-stellationen der am Wiener Kongreß gegründeten Föderation 39 souveräner deutscher Staaten. Neben verfassungs- und militärpolitischen Fragestellungen (vgl. W. Siemann, Wandel der Politik — Wandel der Staatsgewalt, 59—73; R. D. Billinger Jr., They sing the best songs badly: Metternich, Frederick William IV, and the German confedera-

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468 Literaturberichte

tion during the war scare of 1840 — 41, 94—113, und L. Hobelt, Zur Militärpolitik des Deutschen Bundes, 114—135) wird im ersten Abschnitt auch der Problemkreis der Politisierung der Öffentlichkeit und ihrer Kommunikationsträger (vgl. F. Th. Hoefer, Der „Strukturwandel der Öffentlichkeit" im Spiegel der politisch-polizeilichen Unter-suchungen Metternichs, 74—93) sowie der politischen Bestrebungen des „Dritten Deutschland" (vgl. P. Burg, Die Triaspolitik im Deutschen Bund, 136—161) kritisch reflektiert und historisch analysiert. Während die drei Beiträge des zweiten Kapitels im wesentlichen der Erforschung des Wandels der sozialen und wirtschaftlichen Rahmen-bedingungen zwischen 1815 und der Reichsgründung von 1871 verpflichtet sind (vgl. H. Kiesewetter, Region und Nation in der europäischen Industrialisierung, 1815 bis 1871, 162—185; H.-W. Hahn, Mitteleuropäische oder kleindeutsche Wirtschaftsord-nung in der Epoche des Deutschen Bundes, 186—214, und H. Rumpier, Das „Allge-meine Deutsche Handelsgesetzbuch" als Element der Bundesreform im Vorfeld der Krise von 1866, 215—234), befassen sich vier Autoren in einem dritten und letzten Forschungsabschnitt mit der (de)stabilisierenden Wirkung des Deutschen Bundes im europäischen Mächtekonzert des 19. Jahrhunderts (vgl. W. D. Gruner, Der Deutsche Bund und die europäische Friedensordnung, 235—263; E. E. Kraehe, Austria, Russia and the German Confederation, 1813—1820, 264—280; P. W. Schroeder, Europe and the German Confederation in the 1860's, 281—291, und M. Derndarsky, Habsburg zwischen Preußen und Deutschland, 292—313).

Kleine Pikanterie am Rande: Die von Wolf D. Gruner in seinem Beitrag (vgl. S. 235) aufgezeigte Interdependenz bzw. Korrelation zwischen „Deutschem Bund" und „deutscher Integrationspolitik" bzw. europäischer Friedensordnung wurde zwi-schenzeitlich zur politischen Realität, wenngleich mit stark differenziertem Inhalt!

Innsbruck Gernot O. G ü r t l e r

Wilhelm B r a u n e d e r , Leseverein und Rechtskul tur . D e r Juridisch-poli t i-sche Leseverein zu Wien 1840—1990. M a n z , Wien 1992. 650 S.

Das Jubiläum zum 150jährigen Bestehen des Juridisch-politischen Lesevereins in Wien bot dem Wiener Ordinarius für Rechtsgeschichte einen solennen Anlaß zur Auf-arbeitung der Vereinsgeschichte. Brauneder schuf aber darüber hinaus eine umfang-reiche kulturhistorische Studie, die mehr ist als nur Jubelband einer Sozietät, mehr als isolierte Vereinsgeschichte einer Institution, welche besonders im Vormärz eine über Wien, sogar über das Gebiet des Deutschen Bundes hinausreichende zentrale Rolle im Austausch von Informationen und in der Meinungsbildung politisch Interessierter und Engagierter spielte.

Um den hohen Stellenwert des Vereins in der Herausbildung einer bürgerlichen, politisch mündigen Öffentlichkeit sowie dessen Beitrag für die Entwicklung der öster-reichischen Rechtskultur zu dokumentieren, geht Verf. von zwei zentralen Problem-feldern der Gründungsphase aus, die bereits im Vereinsnamen bewußt angesprochen werden: einerseits von der allgemeinen Situation der Lesevereine mit ihrem Span-nungsverhältnis zu Staat und Zensur, und andererseits von den Termini „juridisch" und „politisch" sowie deren Bedeutungswandel in Realität und Wissenschaft bzw. Stu-dium.

Die Hauptkapitel 2 bis 5 bieten einen chronologische Abriß der Geschichte des Vereins von der Gründungsidee bis zur Gegenwart. Für jede der wichtigen „Epochen"

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in der Vereinsentwicklung werden das „juridisch-politisch Bedeutsame" der Phase ebenso herausgearbeitet wie vereinsinterne Strukturen. Durch eine weit über Engel-Janosi hinausgehende detaillierte Analyse der Organisation, der Statuten, der Biblio-theksbestände, der Vereinsmitglieder hinsichtlich ihrer Herkunft und beruflichen Konstellation etc. wird die Sozietät einer Neubewertung unterzogen.

Die 1840 initiierte Vereinigung wandte sich an ein gebildetes, vorzüglich juristisch geschultes Publikum (Advokaten oder hohe Beamte), hohe Militärs, Universitätspro-fessoren, Ärzte, Theologen und Schriftsteller. Dieser Zielgruppe sollte das für die Zeit einmalige und hinsichtlich seiner Streuung erstaunliche Bücher- und Zeitschriftenan-gebot für wissenschaftliche Studien und zur Allgemeinbildung, wohl auch zur — nie ausgesprochenen — Förderung der politischen Mündigkeit nützen. Gerade für die Konstituierungsphase 1841 bis ca. 1849 drängen sich, stets vom Verfasser in der Dar-stellung methodisch berücksichtigt, Vergleiche mit ähnlichen Sozietäten im Deutschen Reich bzw. in der Habsburgermonarchie auf. So weist speziell die der Rezensentin ver-traute Grazer Situation bei der Gründung des Lesevereins am Joanneum Parallelen sowie personelle Verflechtungen zu Wien auf: Dem Leser begegnet als Gründungsmit-glied des Juridisch-politischen Lesevereins der vereinserfahrene Prof. Joseph Kudler aus Graz wieder, vormals Direktor des Lesevereins am Joanneum und Gründungsmit-glied der Steiermärkischen Landwirtschaftsgesellschaft.

Obwohl es beim Juridisch-politischen Leseverein zwei Kategorien von Vereinsan-gehörigen gibt (Teilnehmer und Mitglieder), obwohl der hohe Mitgliedsbeitrag selek-tiert, wird im Vereinsleben bereits Demokratie praktiziert. Die Mitglieder genießen nicht nur das Recht der Benützung, sondern auch das der Mitbestimmung. In einer all-gemeinen Versammlung wird über Vorstand und Direktion (Referent, Sekretär, Rech-nungsführer) durch „Kugelung" oder „geheimes Scrutin" abgestimmt und die Vereins-leitung auf ein Jahr gewählt. Die Jahre 1848/49 zeigen den Leseverein als Ort vorbe-reitender Gespräche, des gemeinsamen Verfassens von Petitionen, als Treffpunkt jener Meinungsbildner, welche das Bild vom Revolutionsgeschehen zeichneten: u. a. Hebbel und Frankl (Korrespondenten der Augsburger Allgemeinen Zeitung) sowie die Feuille-tonisten der Wiener Zeitung, welche sich unter Heyssler und Stubenrauch zum Sprachrohr des Lesevereins entwickelt. Den Leseverein als Reservoir von politisch Aktiven auf kommunaler und staatlicher Ebene bezeugen auch die Karrieren einzelner Lesevereinsmitglieder im Provisorischen niederösterreichischen ständischen Ausschuß, im ständischen Zentralausschuß, im österreichischen Ministerrat, sowie die exkursori-sche Untersuchung zum Wiener Parlament und zur Frankfurter Nationalversamm-lung, in der Lesevereinsangehörige verschiedener politischer Lager in der Funktion eines Vizepräsidenten und in den Unterausschüssen zu finden waren. Verwiesen sei vor allem auf die wesentliche Mitwirkung von namhaften Mitgliedern an den Verfas-sungsarbeiten 1851/54, 1860, 1861, 1867. Die erste Regierung in der zweiten konstitu-tionellen Ära nach dem Dezember 1867 mit fünf Lesevereinsmitgliedern darf „Lesever-einskabinett" genannt werden. Die Leistungen herausragender Persönlichkeiten werden in Kurzbiographien gewürdigt. Der Verlust der Monopolstellung in der Infor-mationsvermittlung, die durch die neue Vereinsgesetzgebung ermöglichte Aufsplitte-rung, die Konkurrenz durch eine eigene Standesvertretung der Advokaten verändern zwar den Charakter des ab den 1850er Jahren zunehmend „unpolitisch" agierenden, aber nicht entpolitisierten Zusammenschlusses, das hohe Ansehen und die immense Vorbildwirkung jedoch bleiben bis ins 20. Jahrhundert wirksam. Trotz einer Modifi-kation des Vereinszweckes zugunsten der „Vermittlung geselligen Verkehres" über-wiegt noch der breit angelegte Bildungsanspruch, ablesbar an den Bibliotheksinven-

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470 Literaturberichte

taren, die in den 1880er Jahren als Sachgebiete Rechtswissenschaft, Staatswissenschaft (insgesamt nur ca. 25 % gegenüber 50 % im Vormärz), Geschichte und ihre Hilfswis-senschaften, Philosophie und Belletristik sowie Lexika, Fachzeitschriften und eine Broschürensammlung auflisten, wobei im Vielvölkerstaat die Publikationen in deut-scher Sprache mit 96 % dominieren.

Das mit „Ausklang" fast pessimistisch betitelte letzte Hauptkapitel dokumentiert den Wandel des Lesevereins hin zu einem „unauffälligen Anwalts-Verein mit Stif-tungscharakter". Dem quantitativen Höhepunkt in bezug auf seine Mitglieder — 893 im Jahre 1913 — folgte ein bis in die Gegenwart anhaltender Schwund an Attraktivität, damit verbunden eine Schrumpfung auf die Kerngruppe der Rechtsanwälte. Der heu-tige Charakter des „Lesevereins ohne Lesesubstrat" wurde in den 1960er Jahre durch die Veräußerung des umfangreichen Buchbestandes an die Universität Edmonton/ Kanada entscheidend geprägt. Heute gilt der Hauptzweck des Vereins der Förderung juristisch-wissenschaftlicher Forschung (Hunna-Preis) und des Journalismus, der Kommunikation und fachlichen Weiterbildung von Anwälten durch Seminare der Anwaltsakademie.

Im Epilog seiner Arbeit gibt der Verfasser Einblick in die Quellenlage und schil-dert seinen Prozeß der Materialsichtung in Wien und Edmonton/Kanada, wohin die Bibliotheksbestände im Ausmaß von ca. 13.500 „books and pamphlets" Mitte der sech-ziger Jahre verkauft worden waren.

Der rund zweihundert Seiten umfassende Anhang ist dem Benutzer — vornehm-lich dem (Rechts-, Kultur-) Historiker, Juristen, Publizisten — in mehrfacher Hinsicht nutzbringend: Die ausgewählten Dokumente wie Antrag auf Vereinsgründung, Bewil-ligung, Statuten, Polizeiberichte etc. verdeutlichen die Stationen und Probleme einer Vereinsgründung im Vormärz. Zusammen mit der Edition der „Bücherverzeichnisse" (darunter auch Landkarten und Gesetzesblätter) von 1844/1847 mit rund 560/plus 970 Titeln in alphabetischer Ordnung mit den entsprechenden Zensurvermerken bieten sie reiches und anregendes Material für vergleichende Analysen von Lesever-einen, wie sie für die Habsburgermonarchie im Gegensatz zu Deutschland noch recht lückenhaft vorliegen. Eine repräsentative Auswahl berühmter Persönlichkeiten (ergänzt im Personenregister) geben die Zusammenstellungen von Lesevereinsmitglie-dern für den Vormärz, die Jahre 1880—1887, 1907 sowie die Listen der Direktions-bzw. Vorstandsmitglieder von der Gründung bis zur Gegenwart.

Daß sich bei einer so umfangreichen Studie einige Flüchtigkeitsfehler eingeschli-chen haben, sei angemerkt, ohne die Sorgfalt der Recherchen und bei der Erstellung des Textes und der Belege schmälern zu wollen. Allerdings wird der wissenschaftlich orientierte Benutzer den üblichen Anmerkungsapparat vermissen; daß sich Belege bzw. Verweise auf weitere Informationsquellen im Quellen- und Literaturverzeichnis nur nach Kapiteln geordnet — dazu noch chronologisch nach Erscheinungsjahr — finden, erschwert die Suche bzw. Weiterarbeit mit der unüberschaubaren Fülle biblio-graphischer Angaben; so wären gewiß auch im analytischen Teil Querverweise auf ent-sprechende Quellenpassagen im Anhang von einigem Nutzen. Diese bescheidenen Gravamina fallen jedoch, wie gesagt, angesichts der gebotenen Fülle von Material und Einsichten nicht ins Gewicht. Informative bildliche Quellen, Tabellen und Graphiken ergänzen den umfassenden, ebenso lesenswerten wie gut lesbaren Band in anschauli-cher Weise und arrondieren diesen wichtigen Beitrag zur Geschichte österreichischer Rechts- und Vereinskultur.

Graz Marlies R a f f 1er

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Lo tha r H ö b e l t , Kornb lume u n d Ka i se r ad l e r . Die deu t schf re ihe i t l i chen Pa r t e i en Al tös te r re i chs 1882—1918 . Gesch ichte u n d Po l i t i k , W i e n / O l d e n -bou rg , M ü n c h e n 1993. 387 S. , 12 S k i z z e n u . D i a g r a m m e .

Das vorliegende Werk , zunächst eine 1990 eingereichte Habilitationsschrift an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, beruht auf einer breiten, viel-fält igen Quellenbasis. Archivbestände an Staats- und Landesarchiven in Österreich, Deutschland, England und Tschechien, sowie Aufzeichnungen von Abgeordneten und deren Familienangehörigen, natürlich auch ein weiteres, bereits publiziertes Quellen-material, etwa aus Sitzungsprotokollen des Osterreichischen Reichsrates, Tagebü-chern, Briefen, Memoirenwerken, Zeitungen und Zeitschriften, dann die einschlägige wissenschaftliche Literatur, wurden entsprechend ausgewertet; der Autor konnte dabei auch frühere eigene Veröffentl ichungen, die Wahlen, politischen Parteien und Grup-pierungen sowie politisch aktiven Persönlichkeiten galten, heranziehen.

Einleitend wird die Problematik des begrenzten Wahlrechts behandelt, die Sozial-strukturen der Rechts- und Linksparteien des Parlaments, Positionen hinsichtlich Zen-tralismus und Föderalismus, die steigende Bedeutung des nationalen Faktors, „Kleri-kal ismus" und „Antiklerikalismus", die Schwierigkeiten verschiedene bürgerliche Berufsgruppen politisch einigermaßen zu einigen. Uber die nationale Grenze deutsche und tschechische Liberale zu einem Bündnis zu gewinnen, konnte nicht gelingen. Was die dabei genannten Polit iker Masaryk und Herbst, den „König von Deutschböhmen" betrifft, so ist darauf hinzuweisen, daß Masaryk mütterlicherseits deutsche Vorfahren hatte, die Familie von Herbst ursprünglich einen tschechischen Namen führte; natio-nale Grenzgänger betonen naturgemäß die Positionen, für die sie sich entscheiden, so etwa (vgl. S. 50) Anton Tomaszczuk, der Vertreter des „Inseldeutschtums" in der Bukowina. Der Kampf gegen das Konkordat („Konstitution" nicht Konkordat) sowie die Regierung Taa f fe und ihr „Fortwursteln", werden in einem eigenen Kapitel analy-siert, anschließend die Rolle des Antisemitismus, damit auch das „Linzer Programm" Schönerers, dessen Gattin übrigens auch jüdische Vorfahren hatte, was nicht hinderte, daß er den Arierparagraphen festlegte und gegen die „Judenliberalen" Stellung nahm. Der Antisemitismus führte naturgemäß auch zu einer heiklen Problematik, namentlich in Böhmen und Mähren, wo jüdische Stimmen für die Deutschen — etwa in Brünn — sehr wichtig waren. Er sollte aber auch, wie in Kapitel 3 ausgeführt wird, zum Bruch mit Prager Studentenverbindungen (vgl. S. 72 ff. über das Korporationsstudententum) Anlaß geben. Regional gab es naturgemäß mehrfach recht verschiedene Ansätze für Gestaltungen und Kontakte deutschnationaler Gruppierungen; als Beispiele werden Graz, Reichenberg und Troppau behandelt, anschließend die Auseinandersetzungen mit den Christl ichsozialen, namentlich im Falle Wiens mit dem Aufstieg Karl Luegers.

Zu einer deutschfreiheitlichen „Reichspartei" sollte es nicht kommen. In den Jahren 1892—1897 schieden sich die Geister, dabei spielte ein überbetonter Konfl ikt in der Frage der Einführung slowenischer Parallelklassen am Staatsgymnasium in Cilli, in der Südsteiermark, einer Kleinstadt mit deutscher Mehrheit , umgeben von sloweni-schen Gemeinden, eine wesentliche Rolle. Es gab kurzfrist ige Neubesetzungen von Ministerien; hingewiesen sei namentlich auf das Ubergangsministerium unter dem aus dem Lande Hannover stammenden Protestanten Erich Frh. von Kielmansegg. Im „Sturmjahr" 1897 kam es zu den Badeni-Krawallen. Kasimir Felix Graf Badeni, zuvor Statthalter von Galizien, ließ mit seinen Sprachenverordnungen, welche die Doppel-sprachigkeit der Behörden auch in deutschen Gebieten Böhmens und Mährens durch-setzen sollten, womit er den Tschechen entgegenkam, andererseits deren weiterge-

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hende Wünsche zu bremsen suchte, eine Krise ausbrechen, in der es zu argen Straßen-krawallen kam; er mußte zurücktreten. Mit den Sprachenverordnungen Badenis befaßte sich bereits das 1960—1965 erschienene aufschlußreiche Werk Berthold Sut-ters, an das Höbelt anschließen konnte. Die Krise hatte ihre Nachwirkungen im deutschbürgerlichen Lager. Radikale und Gemäßigte schieden sich. Die Sprachenver-ordnungen des Ministers Paul Frh. v. Frankenthurn, der noch zweimal kurz Minister-präsident sein sollte, könnten (so S. 168) als Schritt in die richtige Richtung angesehen werden. Hingewiesen sei auf die Abb. 6, S. 174, in welcher der Autor eine schematische Darstellung der ideologischen Positionen der Deutschfreiheitlichen um die Jahrhun-dertwende präsentiert. Besonders wichtig ist unter seinen Ausführungen über das Regierungssystem der Nach-Badeni-Ara wohl der S. 180 ff. eingeschaltete Exkurs „Konkordanzverfassung und autoritäres Regiment" bezüglich der doch erheblichen Bewegungsfreiheit der kaiserlichen Regierung mit den Möglichkeiten der über den Parteien stehenden Beamtenkabinette, denen der § 14 verhalf, parlamentarische Obstruktion wenigstens für einige Zeit zu überleben. Diesbezüglich ist die Regierung unter Ernest von Koerber zu nennen, dem freilich die Beilegung der Nationalitäten-kämpfe in Böhmen und Mähren nicht gelingen sollte. Unter den Fortschrittlichen gab es starke antiklerikale Tendenzen; man unterstützte etwa den Sozialdemokraten Karl Seitz, der so 1901 (—1918) Abgeordneter im Reichsrat werden konnte. Mitunter spielten private Affären eine nicht unerhebliche Rolle, so kam es innerhalb der Deutschnationalen zu einem argen Konflikt zwische Schönerer und Karl Hermann Wolf, der der gegnerischen Presse gute Möglichkeiten bot.

In dem Kapitel „Wirtschaft und Politik" (S. 200 ff.) befaßt sich der Autor mit der Wendung der Liberalen vom Freihandel zu einer Schutzzollpolitik; dabei waren of t jüdische Großindustrielle antisemitischen Angriffen ausgesetzt, so die Familien Mauthner und Gomperz. Natürlich gab es auch Gegensätze zwischen Angehörigen jüdischer Handelshäuser, wie etwa der Rothschildgruppe und Rudolf Sieghart, dem Direktor der Bodencreditanstalt. Neben Banken wurden auch Eisenbahngesellschaften und verschiedene Industriezweige zu Schauplätzen heftiger Auseinandersetzungen. Diese wurden bei Reichsratswahlen sehr fühlbar. Soziale Konflikte betrafen auch mit politischen Konsequenzen Kleingewerbetreibende und Handwerker; der Verfasser analysiert ferner Probleme der Landwirte, schließlich der kleinen deutschnationalen Arbeiterbewegung, in der ein Gegensatz zu fremdnationalen, etwa tschechischen, als Konkurrenten empfundenen Arbeitern, eine große Rolle spielte.

Wesentliche Änderungen brachte die Einführung des Allgemeinen (Männer-) Wahlrechts 1906; die Zahl der deutschfreiheitlichen Abgeordneten wurde erheblich reduziert. Konflikte innerhalb der Nationalitäten blieben nicht auf die deutschen Par-teien beschränkt, sie waren naturgemäß auch bei anderen, etwa bei Tschechen und Polen gegeben. Es gab „klerikale" und „antiklerikale" Tendenzen, so den Fall des in Gegensatz zur Kirche geratenen Innsbrucker Kirchenrechtslehrers Ludwig Wahr-mund. Es gelang im Nationalverband aber doch Karl Chiari eine gewisse Zusammen-arbeit von Deutschfreiheitlichen und Christlichsozialen zu erreichen. Unter Karl Groß wurden nach den Balkankriegen namentlich böhmische Probleme behandelt; zum „Böhmischen Ausgleich" sollte es wohl nicht kommen, doch schienen die nationalen Auseinandersetzungen an Schärfe zu verlieren. Auch deutschnationale und liberale Gruppierungen kamen einander wieder näher. Wichtig waren die Presseorgane; die „Neue Freie Presse", das „Neue Wiener Tagblatt" wurden in deutschnationalen Kreisen kritisch beurteilt, behaupteten aber doch führende Rollen.

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Rezensionen 473

Im Nationalitätenkampf fürchtete man mehr die Slawen als Ungarn oder Italiener; nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges hoffte man nach militärischen Erfolgen auf einen Siegfrieden. In der Außenpolitik fürchtete man vor allem Rußland und den Pan-slawismus. Man vertraute auf das starke wilhelminische Deutschland, vor Kriegsbe-ginn mitunter aber auch auf eine freundliche Stellungnahme Englands. Natürlich gab es höchst verschiedene Auffassungen und Positionen im deutschfreiheitlichen Lager. In der stark pathetischen „Osterbegehrschrift" von 1916 betonte man die Verbunden-heit mit dem Deutschen Reich, wollte aber doch auch einer stärkeren Länderauto-nomie zustimmen. Die Hoffnungen und Befürchtungen wechselten während des Kriegsverlaufes. Für Rumänien (mit seiner Hohenzollerndynastie) hatte man Sympa-thien, ebenso für Albanien. In den Jahren 1916 und 1917 gab es noch Siegeshoff-nungen, auch nach dem Frieden von Brest-Litowsk (am 3. März 1918) mit Sowjetruß-land, wobei man unter dem Einfluß Ludendorffs die Forderungen überspannt hatte. Bald sollte das Ende der Monarchie kommen; man wollte nun ein nationales Selbstbe-stimmungsrecht, namentlich für die Deutschen der Sudetenländer.

Abschließend geht der Verfasser auf die Probleme von Kontinuität und Diskonti-nuität bei Liberalen und Deutschnationalen ein. Er lehnt die Annahme eines klaren Bruches ab; dieser sei allenfalls in Wien gegeben gewesen. Beiden Gruppierungen ging es um eine Vorherrschaft der Deutschen in der westlichen Reichshälfte. Auch in der Wirtschaftspolitik gab es Ubereinstimmungen; man war beiderseits für einen „freien Wettbewerb", doch gab es bei den Deutschnationalen mehr Sozialromantik. Wesent-liche Unterschiede brachte der Antisemitismus, während der Antiklerikalismus manche Parallelen aufwies. Der Zusammenbruch des Habsburgerreiches stellte Deutschnatio-nale und Deutschfreiheitliche, ebenso wie alle anderen politischen Lager vor völlig neue, noch schwierigere Aufgaben. Sie konnten nicht gelöst werden.

Die vorliegende großangelegte Untersuchung beruht, wie eingangs ausgeführt, auf breitem Quellenmaterial und der Auswertung einer mannigfaltigen Literatur. Der Autor bemühte sich um eine Vermeidung einseitiger Perspektiven; seine Arbeit erschließt jedenfalls wesentliche, neue Einblicke in die Parteiengeschichte der späten Habsburgermonarchie; es handelt sich zweifellos um eine sehr respektable Leistung zu einer Thematik, die aus verschiedenen weltanschaulichen Blickrichtungen gewiß wei-terhin mit sehr unterschiedlichen Beurteilungen rechnen müssen wird. Diese Rezen-sion konnte nur einen sehr knappen und vereinfachten Überblick bieten; zweifellos kann das Werk weiterhin mit einem sehr lebhaften Echo rechnen.

Wien Erich Z ö l l n e r

G a l i z i e n um die Jah rhunder twende . Polit ische, soziale und kulturelle Verb indungen mit Österreichs. Herausg . v. Kar lheinz M a c k . Mi t einem Gelei twort v. E rha rd Β u s e k u. einer Einlei tung v. Richard G e o r g Ρ1 a s c h k a . (Schrif tenreihe d. Ös ter r . Os t - und Südos teuropa- Ins t . 16.) Geschichte und Poli t ik, W i e n / O l d e n b o u r g , M ü n c h e n 1990. 115 S.

Galizien, immerhin 146 Jahre Osterreich zugehörig, ist durch die Öffnung der Grenzen wieder nähergerückt, wird touristisch „erschlossen", die Medien berichten öfter über diese „versunkene Welt". Das Ost- und Südosteuropa-Institut hat von Anfang seines Bestandes an, sich auch mit diesem Gebiet in wissenschaftlicher Hin-sicht auseinandergesetzt und so schon lange das Terrain für engere Kontakte zwi-

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sehen polnischen und österreichischen Historikern vorbereitet. 1987 trafen Gelehrte beider Staaten im niederösterreichischen Schloß Grafenegg zusammen, um sich mit Galizien um 1900 zu beschäftigen. Dabei wurden die sozialen und politischen Bewe-gungen dieser Zeit ebenso behandelt, wie die Entstehung der Krakauer Akademie (Stanislaw B r z o z o w s k i ) . Zwei österreichische und sechs polnische Wissenschaftler lieferten Beiträge für den vorliegenden Band. Aus allen Aufsätzen läßt sich sehr gut die gegenseitige Befruchtung der verschiedensten Völkerschaften im alten Österreich herauslesen. Nicht nur bei der Entwicklung des Bildungswesens „zur Zeit der Auto-nomie" (Czeslawa M a j o r e k ) oder bei den Theaterstücken von Autoren des jeweils anderen Landes in Krakau, Lemberg oder Wien zwischen 1880 und 1916 (Zofia Z i e l i ñ s k a ) wird dies bestens dokumentiert. Auch anhand der politischen und sozialen Grundlagen der Beziehungen (Józef Bu s ζ k o ) , bei den Bauernbewegungen (Krzysztof D u n i n - W a s o w i c z ) und bei der Betrachtung der galizischen Frage im Zusammenhang mit den bilateralen Beziehungen Wiens mit St. Petersburg (Wolf-dieter B i h l ) wird das gegenseitige Aufeinandereinwirken klar herausgearbeitet. In der heutigen Aufbruchssituation ist dieser Band von großer Wichtigkeit. Richard G. P l a s c h k a beleuchtet im einleitenden Kapitel sehr einfühlsam die Situation Gali-ziens am Beginn des Ersten Weltkriegs und dann 1918: „Patriotismus für Österreich-Ungarn als mögliche Ausgangszone für die Selbständigkeitsbestrebungen, Zurückhal-tung gegenüber Deutschland, Feindschaft gegenüber Rußland" (S. 23) — „Haltungs-bild am Ende des Krieges: Österreich-Ungarn hatte an Boden verloren. Die Gründe: Reibungsflächen der Legion mit dem AOK, die sich wandelnde Kriegslage, Enttäu-schungen über den Ukraine-Frieden, Re-Orientierung der polnischen Gesellschaft zugunsten der Entente" (S. 24) und heute? . . . Ein wirklich interessanter Sammel-band.

Wien Lorenz M i k o l e t z ky

Un te rhänd le r des Ver t rauens . Aus den nachgelassenen Schrif ten von Sek-tionschef Dr . Richard S c h ü l l e r . Herausg . v. Jürgen N a u t z . (Studien u. Quel len zur österr . Zeitgeschichte. 9.) Geschichte und Politik, W i e n / O l d e n -bourg , M ü n c h e n 1990. 326 S.

Als „unumschränkten Herrn auf dem Gebiet der Handelsverträge" hat Michael Hainisch in seinen Lebenserinnerungen Sektionschef Richard Schüller bezeichnet und doch seiner Würdigung des Wirtschaftsfachmannes die Einschränkung hinzugefügt: „Es fehlte ihm der zu großen Leistungen unerläßliche Ernst, er hatte sich angewöhnt, an der Oberfläche zu bleiben." Vielleicht mag es diesem Mangel an Ernst, dem Hang zum Oberflächlichen im Meritorischen, zuzuschreiben sein, daß Schüller in den gut 50 Jahren seines handelspolitischen Wirkens nie im Vordergrund der politischen Bühne zu sehen und sein Einfluß weniger sichtbar als wirksam war. Von Schüllers Einfluß auf alle Bundeskanzler der Ersten Republik, von seiner entscheidenden Mitwirkung ζ. B. an den Konferenzen von Saint-Germain, London, Genf, Rappallo, Lausanne, Stresa munkelten die Zeitgenossen, sprachen die Kenner der Wirtschaftspolitik der Ersten Republik. Von seinen nachgelassenen Schriften erwarteten sich die Historiker wesent-liche Aufschlüsse für die Hintergründe des politischen und wirtschaftlichen Gesche-hens der Zwischenkriegszeit, seit Robert Kann Auszüge aus den sogenannten Erinne-rungen 1974 in der Festschrift für Adam Wandruszka publiziert und Johann Rainer Briefe Schüllers aus der Zeit der Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk abge-

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druckt hatte. Die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs hatten Richard Schüller in die USA vertrieben, seine Töchter und Verwandten leben in den verschiedensten europäi-schen Ländern, und es war daher schwierig, die nachgelassenen Papiere so zu sichten, daß sie einer Edition zugeführt werden konnten. Jürgen Nautz hat in seiner Einfüh-rung zu der Edition der autobiographischen Aufzeichnungen die Uberlieferung des Quellenbestandes dargelegt, sich dabei allerdings auf jene Schriften beschränkt, die er der Edition zugrunde gelegt hat. Es wäre wünschenswert, wenn ergänzend zusammen-gestellt werden könnte, welche anderen Schriftstücke aus Richard Schüllers Nachlaß sich noch im Familienbesitz befinden. Die der Edition der autobiographischen Auf-zeichnungen nachgestellten Briefe aus Brest-Litowsk lassen vermuten, daß doch auch noch anderes Material die Kriegswirren überstanden hat.

Nautz hat nicht nur die Überlieferung der edierten Quelle präzise geschildert, er hat der Edition auch eine „Historische Einführung" vorangestellt, in der er den Lebens- und Karriereweg Schüllers, seine Tätigkeit in den verschiedenen Wirtschafts-verhandlungen und politischen Aktionen von 1919 bis 1938, seine Flucht aus Oster-reich und seine wissenschaftliche Arbeit schildert. Diese Einführung ist auf gründli-cher, durch Verweise auf Archivmaterialien und Literatur belegte Forschungsarbeit aufgebaut und erweist den Herausgeber als wohlversierten Kenner der österreichi-schen Geschichte. Umso verwunderlicher ist es, wenn Nautz die Meinung vertritt, daß Schüller „seiner bürgerlichen Herkunft und seines jüdischen Glaubensbekenntnisses wegen" eine Ausnahmestellung in der österreichischen Beamtenstellung hatte, die durch seinen ökonomischen und pragmatischen Ansatz noch verstärkt wurde. Daß Schüllers Weigerung, sich um der Karriere willen taufen zu lassen, ihn in der Zeit der Monarchie in der Karriere behinderte, trifft zu, aber seine bürgerliche Herkunft teilte er mit der überwiegenden Mehrheit der österreichischen Beamten selbst in den ober-sten Rängen. Auch scheint mir in dieser Einführung Schüllers persönliche Beziehung zu den sozialdemokratischen Politikern überbewertet, denn die Aufzeichnungen selbst lassen doch klar erkennen, daß Schüller weit engere Verbindung mit konservativen Politikern hielt und schließlich sich dem Faschismus oder dessen Führern so genähert hatte, daß er nach dem Anschluß sich der persönlichen Protektion des Duce erfreuen konnte, ehe er über England in die USA auswanderte.

Die autobiographischen Aufzeichnungen, die hier veröffentlicht wurden, waren bald nach Ende des Zweiten Weltkrieges dem Verlag Mac Millan angeboten worden, der aber von einer Drucklegung absah, weil er die Aufzeichnungen für wenig publi-kumswirksam hielt. Tatsächlich sind sowohl die deutschsprachigen wie auch die eng-lischsprachigen autobiographischen Aufzeichnungen in einem wenig ansprechenden trockenen, notizenhaften Stil geschrieben, der den Eindruck erweckt, daß es sich eher um vorbereitende Gedächtnisnotizen als um eine endgültige Manuskriptfassung von Lebenserinnerungen handelt. Auch die zahlreichen Nachträge, die leider in einer edi-torisch unglücklichen Art dem Grundtext in kunterbunter Reihenfolge mit Verweis auf jene Seiten, zu denen sie gehören, gesammelt nachgestellt — und damit für den For-scher schlecht einsichtig — sind, unterstreichen den Charakter der Unfertigkeit.

Die Aufzeichnungen sind für den Historiker höchst aufschlußreich in der recht offenen Art, in der über Personen und Ereignisse geurteilt wird, sie bieten allerdings, streng wirtschaftsgeschichtlich gesehen, wenig konkrete Information. Es überwiegt das Anekdotenhafte, auch in der Schilderung der Krisensituationen, wobei — auch das verstärkt den Eindruck, daß es sich um einen Rohentwurf von Erinnerungen handeln muß — es immer wieder zu Wiederholungen kommt. Der Herausgeber hat mit großer Mühe den Text der Aufzeichnungen in Anmerkungen erläutert, dabei aber mit kunst-

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historischen Hinweisen und Übersetzungen auch der einfachsten fremdsprachigen Textfetzen (einschließlich der „Ubersetzung" österreichischer Sprachgewohnheiten) ein wenig übertrieben, denn trotz all dieser Erläuterungen werden diese Aufzeich-nungen nur für den Fachmann von Interesse bleiben.

Für jene Historiker aber, die die Geschichte der letzten Jahrzehnte der Habsbur-germonarchie erforschen wollen, sind diese Aufzeichnungen von unschätzbarem Wert, und auch wenn Schüller alle Wirtschaftsprobleme darin nur recht oberflächlich skiz-ziert, so bezeugen seine Aufzeichnungen doch, in welch extremem Maße die Politik, ja die Existenz der österreichischen Republik in der Zwischenkriegszeit von der Siche-rung seiner Handelsbeziehungen, seiner Kreditwürdigkeit, der Lebensmittelversor-gung und der Rohstoffbeschaffung abhängig gewesen ist. Die Publikationen von Schüllers Erinnerungen ist ein wichtiger Beitrag zur Erforschung der Geschichte der Ersten Republik — und ein Hinweis darauf, daß in den österreichischen Archiven noch eine Reihe anderer Nachlässe aus jener Zeit der Edition und der Bearbeitung harren.

Salzburg Fritz F e l l n e r

G a b r i e l e C a m p h a u s e n , Die wissenschaft l iche historische R u ß l a n d f o r -schung im Dr i t t en Reich 1933 —1945. (Europ. Hochschulschr i f ten . 3/418.) Lang, F r a n k f u r t / M . 1990. XIV, 435 S.

Bei dieser gedruckten Doktorarbeit von G. Camphausen handelt es sich um eine genau recherchierte, interessante und gut geschriebene Arbeit zur Thematik. Die Autorin hat neben der einschlägigen Literatur eine Fülle von Material aus verschie-denen Archiven sowie die Aussagen einiger Zeitzeugen verwertet.

Nach einer Einleitung befaßt sich Camphausen im zweiten Punkt ihrer Darstel-lung mit der Entwicklung der universitären historischen Rußlandkunde 1933 —1945 (Berlin, Hamburg, Königsberg, Breslau, Leipzig), im dritten Punkt mit den wissen-schaftspolitischen Zentralisierungsbestrebungen (Publikationsstelle Berlin-Dahlem, Norddeutsche bzw. Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft, Sammlung Leibbrandt, Publikationsstelle Ost und die osteuropäische Forschungsgemeinschaft, Zentrale für Ostforschung) und im vierten mit den Publikationen zur russischen Geschichte 1933—1945. Hier wird vorerst im Hinblick auf die „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas" nach der Herkunft und den Zielsetzungen, den Personalia und der inhaltlichen Gliederung, den thematischen Brennpunkten, der Außenpolitik Rußlands, den baltischen Ländern etc. unterschieden, es werden aber auch die Veröf-fentlichungen der deutschen Rußlandforschung in den über die Jahrbücher für Geschichte Osteuropas hinausgehenden Publikationsorganen besprochen (Bismarck-Ära, Rußland und England im 19. Jahrhundert, Kriegsschuldproblematik etc.).

Generell ergibt sich aus der Studie, daß a) die universitäre historische Rußland-kunde mit Ausnahme von Berlin ein großes Defizit an inhaltlich kontinuierlicher Wis-senschaftspolitik aufzuweisen hatte und b) die wissenschaftspolitischen Zentralisie-rungsbestrebungen basierend auf einer hyperaktiven Organisationsfreudigkeit in der Schaffung von Institutionen, deren Aufgaben untereinander nicht exakt abgegrenzt waren und die of t in einer gewissen Rivalität zueinanderstanden, keine große Bedeu-tung gewinnen konnten.

Aufgrund eigener Arbeiten sei hier auf das Berliner Seminar unter Hans Uebers-berger und auf den vor seiner Berufung nach Wien in Königsberg wirkenden Martin

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Winkler kurz eingegangen. So hat zweifellos, wie aus der Darstellung ersichtlich, die Konzentration der nationalsozialistischen Machthaber auf eigene, neu geschaffene, der Rußlandforschung dienende Institutionen am Berliner Seminar Wissenschaftler überleben bzw. sich entwickeln lassen, die nach dem Zweiten Weltkrieg Träger der deutschen Osteuropaforschung geworden sind. Daß man nämlich in den Jahrbüchern bis zu ihrer Einstellung im Jahre 1942 durchaus wissenschaftlich und unbeeinflußt publizieren konnte, und dies sogar der als Regimegegner geltende Georg Sacke, hat es doch einigen Personen ermöglicht, mit eben diesen und von der nationalsozialistischen Ideologie freien und zugleich hochkarätigen wissenschaftlichen Leistungen nach dem Ende des Systems Karriere zu machen. Selbst wenn Zeitzeugen postulieren, daß es nicht leicht war, unter dem dem System angehörenden Hans Uebersberger und dessen Gattin Hedwig Fleischhacker zu arbeiten, so hat vielleicht doch auch diese Konstella-tion einen gewissen Schutz für das Seminar bedeutet. Das mag nun als kein direkter Verdienst Uebersbergers gesehen werden, doch dürfte er es aus seiner Sicht anders aufgefaßt haben, denn er zeigte sich nach dem Ende des Krieges über den ausblei-benden Dank einiger alter Mitarbeiter sehr enttäuscht. Mir persönlich ist allerdings ein Fall bekannt, wo ein Schüler Uebersbergers nach 1945 den Mut hatte, in der Seminar-bibliothek aufgestellte, jedoch Uebersberger gehörende, wertvolle russische Werke mit dem Handwagen von der sowjetischen Zone in das spätere West-Berlin zu schaffen. Interessant wäre es ja auch gewesen, in dem Werk von Camphausen eine Liste der Dis-sertanten zu finden, nicht nur auf Berlin bezogen, wodurch die Bedeutung der Univer-sitätsinstitute für die spätere Ostforschung klarer erkennbar wäre. Und noch etwas. Allein aus den Akten läßt sich wohl die Haltung eines Institutsvorstandes zum System nicht eindeutig herausfiltern, dazu bedarf es unbedingt der Einsicht in private Brief-wechsel. So hat mir ein Kollege kürzlich berichtet, daß von ihm eingesehene Briefe aus den Türkenkriegen des 17. Jahrhunderts ein ganz anderes Bild über die Ereignisse böten als die auf den offiziellen Akten basierende Geschichtsschreibung. Was das Ber-liner Seminar betrifft, so hat Uebersberger in seinen Eingaben das System sicher ho-fiert, um seine Vorstellungen von der Vergrößerung des Berliner Seminars durchzu-bringen, und er war ja dann sehr enttäuscht, daß es nicht zum Zentrum der deutschen Ostforschung wurde. Mir ist ein Brief des ehemaligen Vorstandes des Wiener Semi-nars für osteuropäische Geschichte und Südostforschung, Heinrich Felix Schmid, bekannt, wo er seine positive Einstellung zum nationalsozialistischen Regime her-vorhob, als er 1938 die Grazer Universität verlassen mußte. Später war er doch ein Opfer des Systems. Man sollte es sich mit diesen Dingen nicht zu einfach machen.

Merkwürdigerweise galt ja Martin Winkler als eindeutiges Opfer der Nazis, obwohl nach eigenen Untersuchungen dies doch sehr fraglich ist. So hat er ja nach einer bei ihm erfolgten Hausdurchsuchung im Jahre 1938 in Wien in einem Bericht sehr genau dargelegt, was er für reichsdeutsche Behörden seit seiner Tätigkeit in Wien im Jahre 1935 alles getan hat. Nur eine wirklich vorurteilsfreie und unter Einbezie-hung der in einer Diktatur sehr üblichen Verhaltensweise betriebene Forschung kann hier Klarheit schaffen. Vielleicht könnte hier wie im Falle Uebersberger eine Einsicht in einen Briefwechsel mit Heinrich von Srbik neue Erkenntnisse bringen.

Überrascht hat mich der Name Max Vasmers im Zusammenhang mit der von Alfred Rosenberg geschaffenen Zentrale für Ostforschung. Vasmer hat sich ja sehr negativ über den Osteuropahistoriker Hans Koch geäußert, als dieser Mitte der fünf-ziger Jahre auf Betreiben der österreichischen Unterrichtsverwaltung eine Professur am damaligen Seminar für osteuropäische Geschichte und Südostforschung der Uni-versität Wien erhalten sollte, und zwar zwecks Belebung der österreichischen Ostfor-

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schung. Der Seminarvorstand Heinrich Felix Schmid hat den Brief Vasmers mit den Hinweisen auf die besonders ausgeprägte nationalsozialistische Einstellung Kochs der österreichischen Unterrichtsverwaltung vorgelegt und im übrigen die Pläne des Mini-steriums dadurch durchkreuzt, daß er die Professur von der Fakultät nicht einfordern ließ. Ein Ordinariat an der Evangelisch-theologischen Fakultät hat Koch abgelehnt. Also doch ein kleiner schwarzer Fleck auf der sonst so weißen Weste Vasmers.

An Druckfehlern sei in der sonst ordentlich geschriebenen Arbeit auf die Verun-staltung des Namens Schuschnigg mit „Schuschnick" (S. 116) und auf ein falsches Zitat bei den Jahrbüchern für Geschichte Osteuropas auf S. 54 in Anmerkung 112 (N. F. 32/1984 nicht 1934) hingewiesen. Weiters sei noch vermerkt, daß die auf den Seiten 180—181 gegebene Charakterisierung der Ostpolitik Rosenbergs mißverständ-lich bzw. unklar und unzutreffend ist.

Insgesamt handelt es sich bei der mit einem Verzeichnis der Archivmaterialien, einem Literaturverzeichnis und einem Namensindex ausgestatteten Arbeit von Camp-hausen um eine äußert wichtige und grundlegende Arbeit.

Wien Manfred S t o y

F r a n z M ü l l e r , Ein „Rechtskathol ik" zwischen Kreuz und H a k e n k r e u z : F ranz von Papen als Sonderbevol lmächt igter Hit lers in Wien 1934—1938. (Europ . Hochschulschr i f ten . 3/446.) Lang, F r a n k f u r t / M a i n 1990. 403 S.

Anders als es der Titel des Werkes auf ersten Blick vermuten ließe, ist diese 1988 mit dem Ludwig-Jedlicka-Gedächtnispreis ausgezeichnete Arbeit keineswegs auf die Person des deutschen Sonderbotschafters in Wien, den früheren Vizekanzler Franz von Papen ausgerichtet, sondern über jeden biographischen Aspekt hinausreichend bestrebt, die Geschichte der Außenpolitik des Dritten Reiches in ihrer Akzentsetzung auf den europäischen Südosten zu erforschen. Papen ist in dieser, die Einverleibung Österreichs in das Deutsche Reich voraussetzenden Südostpolitik eine der zentralen Figuren, die interessanterweise von der auf Diplomatiegeschichte konzentrierten For-schung zur Anschlußfrage bisher doch überraschend vernachlässigt worden ist. Obschon die Literatur zum Thema „Anschluß" — gerade im Zusammenhang mit dem Bedenkjahr von 1988 — schon ganze Bibliotheken füllt, vermag Franz Müller mit seinen Forschungen unser Wissen um die Vorgeschichte des Anschlusses in bemer-kenswert reichem Detail ebenso wie in der kritischen Analyse in ganz entscheidender Weise zu vermehren. Dies liegt zum einen darin begründet, das Müller in wirklich umfassender Weise das zum Thema gehörige Quellenmaterial zu erfassen vermocht hat: die Bestände des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes in Bonn, des Bundes-archivs Koblenz, des Archivs für Zeitgeschichte in München, des Allgemeinen Verwal-tungsarchivs in Wien und des Instituts für Zeitgeschichte in Wien sind vor allem auch was die darin verwahrten Nachlässe anbelangt mit größter Sorgfalt durchforscht worden. Neben dieser gründlichsten Archivforschung dokumentiert Müller in seiner Darstellung eine stupende Kenntnis der einschlägigen gedruckten Quellen und der Literatur bis hinein in die kleinsten, an versteckter Stelle erschienenen Spezialabhand-lungen. Müller hat es sich zum Ziel gesetzt, „eine Orientierung auf möglichst vielen Feldern der deutschösterreichischen Beziehungen" zu schaffen und auf der Suche nach den Einflüssen Papens ist es ihm gelungen, das ganze Gewirr der persönlichen, materiellen, ideologischen wie gesellschaftlichen Vernetzung des deutsch-österreichi-

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sehen Verhältnisses durchsichtig und durchschaubar zu machen. So ist seine Darstel-lung nicht nur eine Geschichte der Außenpolitik des Dritten Reiches, sondern in ganz wesentlichen Abschnitten eine Analyse der österreichischen Innenpolitik, die offen-kundig macht, wie persönliche Intrigen, politische wie institutionelle Rivalitäten und wirtschaftliche Interessen ein Klima geschaffen haben, in dem die diplomatischen Ränke und parteipolitischen Konflikte jenen Intentionen zuarbeiteten, mit denen der deutsche Sonderbotschafter v. Papen die mitteleuropäischen Expansionsbestrebungen des Dritten Reiches zu verwirklichen suchte. Müller beschreibt mit größter Akribie die vielen kleinen Bausteine, aus denen der Weg Österreichs zum Anschluß gebaut worden ist. Die Rolle Papens in diesem Unternehmen lag, wie Müller überzeugend darlegen kann, „in der weitgehenden Interessenidentität begründet, die Papen in der Oster-reichfrage mit Hitler verbunden hat". Beide betrachteten, wie Müller abschließend resümiert, „die Beherrschung Österreichs bzw. die Begründung eines Großdeutschen Reiches als Sprungbrett einer reichsdeutschen Expansion in den südosteuropäischen Raum. Der Unterschied . . . bestand darin, daß Papen als Interessenvertreter der Groß-industrie das Konzept eines Mitteleuropäischen Wirtschaftstages', d. h. eine sanfte friedliche Expansion vertrat", währenddes Exponenten der NSDAP auf eine gewalt-same Lösung dieser Probleme hinzusteuern suchten.

Neben diesen grundsätzlich bedeutsamen Ergebnissen bringt das Buch von Franz Müller aber auch noch eine Vielzahl von interessanten und aufschlußreichen Mittei-lungen in Nebenfragen des von ihm gewählten Themas: die Forschungsergebnisse zur Politik der Reinthaller-Gruppe, die reichsdeutschen Kreditstützungsaktionen und die Förderung des NSDAP-Flüchtlingshilfswerkes, die Unterstützung des Wiener Kultur-bundes oder die Unterstützung einzelner Zeitungen und Zeitschriften in Osterreich können als Beispiele für die Detailfragen angeführt werden, in denen Müller aufgrund seiner umfassenden Quellenforschung unser Wissen um die Problematik der österrei-chischen Unabhängigkeit — und Abhängigkeit — von Deutschland entscheidend über den bisherigen Forschungsstand hinausführt.

Müllers Buch ist ein herausragender Beitrag zu dem Bemühen um Aufarbeitung der Geschichte Österreichs auf dem Weg in das Dritte Reich.

Salzburg Fritz F e l l n e r

Fünfzig Jahre danach — der „ A n s c h l u ß " von innen und außen gesehen. Beiträge zum Internationalen Symposion von Rouen, 29. Februar—4. März 1988. Herausg. v. Felix K r e i s s l e r . Europa, Wien 1989. 286 S.

Wie immer bei Sammelbänden, sind auch die Beiträge des vorliegenden Bandes auf höchst unterschiedlichem Niveau angesiedelt. Nur eine Minderheit basiert auf der Erschließung neuer Quellen — gerade die Beiträge zur internationalen Politik bringen wenig neues: Vielfach beschränken sie sich auf eine wenig hintergründige Auswertung von Pressestimmen (bis hin zur öffentlichen Meinung Bulgariens), Erika Weinzierl berichtet über die Berichte des französischen Militärattaches in Wien, Erich Bielka erinnert sich an die Märztage im Generalkonsulat in München, dem er damals zuge-teilt war. Christian Kloyber bringt das Kunststück zuwege, über den mexikanischen Protest gegen den Anschluß zu referieren, ohne des kurz darauf abgeschlossenen Olhandelsabkommens Mexikos mit dem Dritten Reich oder der innenpolitischen Krise um Ex-Präsident Calles Erwähnung zu tun, um zuguterletzt auch noch den konserva-tiven Monarchisten Alaman aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Vorgänger

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480 Literaturberichte

der Außenpolitik Cardenas' zu reklamieren. Eine interessante Teilanalyse über die weitere Karriere der Außenamtselite liefert Oliver Rathkolb.

Die herausragenden Beiträge von österreichischer Seite stammen zweifellos von Gerhard Botz und Helmut Konrad. Botz („War der Anschluß erzwungen?") liefert trotz tagespolitischer Zwischenbemerkungen ein eindrucksvolles Beispiel dafür, daß ausgeprägte persönliche Stellungnahmen eine Ubereinstimmung im „inhaltlich-fakten-bezogenen" Bereich nicht beeinträchtigen müssen (eine Tatsache, die Kreissler ein-gangs mit der Warnung vor der Konvergenz von „Links-" und „Rechtsrevisionisten" durchaus als Gefahr zu betrachten scheint). Botz betont die Machtergreifung im Inneren — und zwar von „oben" und von „unten"; die „Opferthese" belegt er selbst mit dem Ausdruck „Lebenslüge und Staatspropaganda" (110). „Die Österreicher hatten in der Zwischenkriegszeit nicht ein fehlendes Nationsbewußtsein, sondern ein nichtösterreichisches, ein mehr oder weniger deutsches. Ob uns heutigen Österrei-chern . . . das paßt oder nicht." (114) Wenn seine Begrifflichkeit vom „paranazistischen Substrat" der österreichischen Gesellschaft auch auf Widerspruch stoßen wird, ist ihm wohl zuzustimmen, was den Dissens zur obenerwähnten „Lebenslüge" betrifft. Helmut Konrad analysiert in einem lesenswerten Beitrag den regional sehr unter-schiedlichen Anklang der NSDAP bei Bauern und Arbeitern.

Winfried Garscha polemisiert gegen die Thesen Schmidls, um schließlich zu keinem anderen Ergebnis zu kommen: Nicht die Drohung damit, wohl aber der Ein-marsch am 12. März waren tatsächlich überflüssig. Ein Problem besonderer Art stellt das Einleitungsessay des Herausgebers dar: Rührend die unverhohlene Aufforderung zur „Aneignung der Geschichte", das Eingeständnis, daß eine tausendjährige Vergan-genheit für ihn notwendigerweise „im Nebel der grauen Vorzeit" verschwimmt, bemer-kenswert schließlich, wie der bekannte Spott fortschrittlicher Fachkollegen über die Geschichte der „Haupt- und Staatsaktionen" in die Wahl eines dynastischen Formal-akts als historischem Wendepunkt mündet, nämlich der Ausrufung des Kaisertums Österreichs 1804, die nicht einmal an den Verwaltungsstrukturen ein Jota zu ändern vermochte. Seltsam, wie konventionell bei zeitgeschichtlichen Kontroversen gerade „progressive" Autoren oft zu argumentieren pflegen . . .

Wien Lothar H ö b e l t

B e r l i n im Zweiten Weltkr ieg. D e r Un te rgang der Reichshaupts tadt in Augenzeugenber ich ten . Herausg . v. H a n s Dietrich S c h ä f e r . Ubera rb . N e u -ausg. (Serie Piper . 1357.) Piper, M ü n c h e n 1991. 390 S., 36 Abb.

Auszüge aus bisher schon bekannten und auch unbekannteren Tagebuchaufzeich-nungen liefern hier ein eindrucksvolles, spannendes und zuweilen auch ergreifendes sowie erschütterndes Bild von den Lebensumständen der Berliner Bevölkerung in den Jahren des Zweiten Weltkrieges. Dabei ist es nur in geringem Maße die große Politik, die eine Rolle spielt, es sind vielmehr die Lebensverhältnisse, sprich Nöte des kleinen Mannes, die im Vordergrund stehen. Besonders informativ ist die zusammenfassende Studie am Beginn des Bandes, wo es dem Herausgeber hervorragend gelungen ist, die wichtigsten Aussagen zu den verschiedenen Themen zusammenzufassen. Die Augen-zeugenberichte selbst gliedern sich in „Die allgemeine Stimmung in Berlin 1939 bis 1941", „Der wirtschaftliche Niedergang seit dem Rußlandfeldzug", „Judendeporta-tionen", „Die Flächenbombardierung 22. bis 26. November 1943", „Arbeitsmoral und

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Kriminalität", „Unterhaltung", „Fremdarbeiter", „Tagesangriffe", „Schlacht um Berlin", „Unter russischer Besatzung".

Bei der Lektüre der Berichte kommt man unwillkürlich zu dem Schluß, daß diese mit der Schilderung des menschlichen Verhaltens angesichts der lebensbedrohenden permanenten Bombardements eine wahre Fundgrube für jeden Psychologen sein müssen. Da liest man ζ. B. auf S. 289: Jetzt stirbt die Stadt und ist nichts mehr zu retten. Müde, gleichgültige Menschen. Gespräch des Pförtners am völlig vernichteten Scherlhaus mit einer weinenden Frau: „Sei doch froh, sa' ick dir, daß er ins Massen-grab gekommen ist. Da is er wenstens nich alleene." Man liest mit Interesse, daß all die Kriegsjahre hindurch mit einer einzigen Ausnahme, nämlich nach dem Frankreich-feldzug, die Stimmung der Bevölkerung äußerst gedrückt war. Man hoffte und sehnte sich nach jedem Erfolg nach einem endgültigen Frieden. Diese Stimmung findet sich ja auch in den Goebbelstagebüchern, deren Verfasser sich immer wieder Sorgen um die Berliner Bevölkerung machte. Man vernimmt mit einigem Erstaunen, daß trotz strenger Strafen die Diebstähle zunahmen und die Jugend in zunehmendem Maße ver-kommen ist. Heute wird uns das anders dargestellt. Sehr häufig ist auch zu lesen, wie die jederzeit möglichen Todesarten zu einem starken Amüsement der Menschen und zu einem Abnehmen der Moral geführt haben.

Bemerkenswert fand ich eine Notiz im Kapitel Judendeportationen. Dazu las ich seinerzeit im Buch „Das Warschauer Getto" von Joe J. Heydecker (dtv 1280, 1983, S. 36) über einen hämischen und triumphierenden Ausdruck in den Gesichtern der Umstehenden, wenn die Juden bei ihrem Abtransport rasch und mit gesenktem Kopf die Fahrzeuge bestiegen. Hier ist auf S. 130 zu lesen, daß sich am Rosenthaler Platz die Arbeiterfrauen zusammengerottet und laut gegen die Judentransporte protestiert hätten. „Bewaffnete SS mit aufgepflanztem Bajonett und Stahlhelm holte Elendsge-stalten aus den Häusern heraus. Alte Frauen, verängstigte Männer wurden auf Last-wagen geladen und fortgeschafft. ,Laßt doch die alten Frauen in Ruhe!' rief die Menge, ,geht doch endlich an die Front, wo ihr hingehört.' Schließlich kam ein neues Aufgebot SS und zerstreute die Protestierenden, denen sonst nichts weiter geschah." Einige Zeilen weiter liest man dann eine Erklärung für das im allgemeinen passive Ver-halten der Bevölkerung: „Was interessieren mich die Juden, ich denke nur an meinen Bruder bei Rshew, alles andere ist mir völlig gleichgültig."

Aber nicht nur das Leiden der in die Todeslager abtransportierten Juden und im Bombeninferno umherirrender und nach ihren Angehörigen suchender Menschen ergreift. Bei Bombentreffern im Zoo und speziell im Aquarium kamen ein Drittel der Tiere ums Leben. Lutz Heck berichtet: „Wie eine Vision aus Dantes Inferno war der Anblick dieser mächtigen, vom Luftdruck innerlich verletzten, von einstürzenden Mauern zerdrückten, von Sprengstücken verwundeten und sich vor Schmerzen win-denden Riesenechsen, die sich im fußtiefen Wasser der Halle krümmten oder die Besu-chertreppe herabwälzten . . ." (S. 162 ff.) Große Mühe bereitete die Zerlegung der toten Elefanten, „wobei die Männer in den Brustkörben der Dickhäuter wie in einem Gitterkäfig herumkrochen oder in Bergen von Gedärmen hantierten . . ." (S. 164).

Wieder für den Psychologen ist wohl interessant, daß trotz einer Fülle defaitisti-scher Äußerungen seitens der Bevölkerung etwa Göring und Goebbels begeistert akklamiert wurden, wenn sie sich in der Menge zeigten. Vom Bombenhumor geborene Spottverse wie „Komm Herr Ley, sei unser Gast, Und gib uns die Hälfte, die Du uns versprochen hast, Nicht Pellkartoffeln und salzigen Hering, Nein, was Du ißt und Hermann Göring, Jüppchen darf davon nichts wissen; Sonst werden wir noch mehr beschissen", überlebten und fanden sich später in der DDR. In einem Wartehäuschen in Lichtenberg konnte ich vor Jahren lesen: „Komm Erich, sei Du unser Gast, und gib

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uns nur die Hälfte von dem, was Du uns versprochen hast. Aber laß es bloß nicht die Russen wissen, sonst werden wir auch noch um diesen Teil besch . . ."

Man könnte noch eine Fülle von interessanten Details bringen, was nicht möglich ist. Die Lektüre ist jedem an der Zeitgeschichte Interessierten sehr empfohlen. Einzig und allein das Kapitel über Berlin unter russischer Besatzung ist nicht repräsentativ. Die wenigen Tagebuchausschnitte zeigen ein etwas zu positives Bild der russischen Soldateska, wenn es auch von dieser Seite in vielen Fällen Hilfe und Verständnis gegeben hat.

Wien Manfred S t o y

Geschichte der G e w e r k s c h a f t e n in der Bundesrepubl ik Deutschland . Von den Anfängen bis heute. Herausg . v. H a n s - O t t o H e m m e r , Kur t T h o m a s S c h m i t z . Bund, Köln 1990. 528 S.

Der vorliegende Sammelband besteht aus neun, von verschiedenen Autoren behan-delten Teilen, die chronologisch, aber mit unterschiedlichen Schwerpunkten die Geschichte der Gewerkschaften in (der Bundesrepublik) Deutschland von 1945 bis 1989 darstellen. Daran schließen sich von Klaus Armingeon zusammengestellte Tabellen (S. 459 — 487) der Mitgliedszahlen der Gewerkschaften sowie leider nur einiger weniger Daten zur Entwicklung der Arbeitsbeziehungen. Der Band wird durch einen Anhang (S. 489—528; erstellt von Gabriele Weiden), der unter anderem ein umfangreiches Verzeichnis einschlägiger Literatur und nützliche Register enthält, ergänzt.

Als ersten Abschnitt in der Geschichte der deutschen Gewerkschaften nach 1945 behandelt Siegfried Mielke (S. 19—83) ausführlich den organisatorischen Neuaufbau unter Besatzungsverhältnissen bis zur Gründung des DGB im Oktober 1949. Ausein-andersetzungen um die Organisationsform — die Frage der Einheitsgewerkschaft ins-gesamt und die Probleme der Einbindung der Angestelltenorganisationen im beson-deren — kennzeichneten diese Phase. Mielke geht dabei im Detail nur auf die Verhält-nisse in den Zonen der westlichen Alliierten ein, die Entwicklung in der sowjetischen Besatzungszone wird nur, soweit sie Auswirkungen auf die Entwicklung in den übrigen Regionen hatte, berücksichtigt. Die Lage der Gewerkschaften in der ersten Hälfte der 1950er Jahre schildert Werner Müller (S. 85—147), der weniger auf die organisatorische Entwicklung als auf die Politik des Dachverbandes (DGB) bzw. der verschiedenen Industriegewerkschaften eingeht. Streiks, Auseinandersetzungen um Tarifverträge, „der Kampf um die Mitbestimmung, programmatisches Scheitern und der Übergang zum gewerkschaftlichen Pragmatismus" (Teil II, Titel) bilden den Schwerpunkt seiner Schilderung. Der Zeit des deutschen „Wirtschaftswunders" sind zwei Teile zugedacht. Einmal setzt sich Helga Grebing (S. 149—182) mit dem Wandel des Selbstverständnisses der Gewerkschaften („Bewegung oder Dienstleistungsorgani-sation", Teil III, Titel) anhand der sehr stark an Einzelpersönlichkeiten festgemachten Programmdiskussion und den Positionen, die die Gewerkschaften in zentralen politi-schen Fragen bezogen, auseinander. Zum anderen befaßt sich Rainer Kalbitz (S. 183 — 247) mit der Tarifpolitik der Gewerkschaften und den Arbeitskämpfen in der Hochkonjunktur, wobei er auf die bemerkenswerte Kontinuität der Lohnfindungs-systeme von der Kriegswirtschaft in die 1950er Jahre verweist (S. 187—200). Arno Klönne und Hartmut Reese (S. 249—279) behandeln die Periode von 1966 bis 1969, als sich die deutschen Gewerkschaften nach der außerordentlich langen Prosperitäts-

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phase der Wiederaufbauära einem wirtschaftlichen Abschwung und in der Großen Koali-tion einer neuartigen politischen Konstellation gegenübersahen, die nicht zuletzt ihre Beziehungen zur SPD einer Belastungsprobe aussetzte. Die SPD-FDP-Koalition hin-gegen wird von Klaus Lompe (S. 281—338) zumindest in ihren Anfangsjahren als gün-stige Rahmenbedingung für die gewerkschaftliche Politik dargestellt. Die führende Regierungsbeteiligung der SPD bot die Möglichkeit zur Realisierung gewerkschaftlicher Reformvorhaben. Die Zeit vom ersten „Olschock" 1973 bis in die frühen 1980er Jahre behandeln Klaus von Beyme (S. 339—374) und Walther Müller-Jentsch (S. 375—412) in zwei analog aufgebauten Abschnitten (1973 —1978 bzw. 1978/79—1982/83). Es geht um die zunächst nur mit Schwierigkeiten gelingende Anpassung an die Wirtschafts- und Beschäftigungskrise und die daraus resultierenden neuen Schwerpunkte gewerkschaftli-cher Tätigkeit. Abschließend befassen sich Hans-Otto Hemmer, Werner Milert und Kurt Thomas Schmitz (S. 413—458) mit den Problemen, die die Gewerkschaften seit der „Wende", vor allem aber auch im Gefolge der „Neue-Heimat-Affaire" in den 1980er Jahren in einem gewandelten gesellschaftspolitischen Klima und in einer sich neuformie-renden Weltwirtschaft zu bewältigen hatten und haben.

Der Gesamteindruck, den die Darstellung der Geschichte der bundesdeutschen Gewerkschaften seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vermittelt, ist zwiespältig, und diese Zwiespältigkeit ergibt sich daraus, daß die Entwicklung seit 1945 sich aus dem Blickwinkel der Arbeitnehmerorganisationen im Gegensatz zum dominanten Bild der sich etablierenden deutschen Wohlstandsgesellschaft nicht ohne weiteres als ein Erfolgsbericht liest. Den Gewerkschaften mißlang nach 1945 die Realisierung ihrer auf eine grundlegende Reform der kapitalistischen Ökonomie gerichteten Vorstel-lungen, die Zeit der wirtschaftlichen Prosperität erzwang ihre Anpassung an die Impe-rative wirtschaftspolitischer Kalküle fast ebenso sehr wie die krisenhafte Entwicklung seit den 1970er Jahren. Die Autoren werten vielmehr übereinstimmend die Anpas-sungsleistungen der Gewerkschaften als positiv und auch als Garantie für eine im Ver-gleich zu Gewerkschaften in anderen westlichen Staaten stärkere und stabilere Organi-sation (Beyme). Nicht ganz einsichtig wird aus dieser Perspektive, woher die Gewerk-schaften als Entwicklungs„nehmer" das auch für die erfolgversprechende Anpassung erforderliche Modernisierungspotential beziehen; oder anders betrachtet: ob und welche Rolle die Gewerkschaften — etwa im Rahmen korporativer, sozialpartner-schaftlicher Strategien — für die Formierung der deutschen Wohlstandsgesellschaft spielten. Vielleicht aber fallen diese Fragen unter jene, die wegen der geringen zeitli-chen Distanz noch nicht angemessen beantwortet werden können (vgl. S. 16). Als ein vermeidbarer Mangel hingegen erscheint die zu karge Unterfütterung der Gewerk-schaftsgeschichte (als Geschichte der Organisationen und deren Aktivitäten) mit sozialgeschichtlichen Informationen. Dieser Mangel fällt insbesondere im Vergleich mit dem Pendant des vorliegenden Bandes, der „Geschichte der deutschen Gewerk-schaften von den Anfängen bis 1945" (herausg. v. Ulrich Borsdorf unter Mitarb. v. Gabriele Weiden. Bund-Verlag, Köln 1987), auf; die Lage der Arbeiter und Ange-stellten, auch unter vergleichsweise günstigen wirtschaftlichen Verhältnissen, stellt einen wesentlichen Bezugspunkt gewerkschaftlicher Politik dar, die durch Kürzel wie „Wirtschaftswunder" oder „Beschäftigungskrise" nicht ausreichend charakterisiert werden kann. Ähnlich würde die an mehreren Stellen als Problembereich konstatierte Organisierung bestimmter Gruppen (Frauen, Jugendliche, Angestellte, Gastarbeiter) eine ausführlichere und konkrete Diskussion verdienen.

Wien Margarete G r a n d n e r

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