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InstitutfürTheologie

undPolitikFriedrich-Ebert-Str.7D-48153Münsterwww.itpol.de

arbeitspapier II

Andreas Hellgermann

Erziehung zur 'Inkompetenz' –Messianisch-widerständiger

Religionsunterricht statt neoliberalerKompetenzgehirnwäsche

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arbeitspapier I Iak rel igionslehrer_innen

Erziehung zur 'Inkompetenz' – Messianisch-widerständigerReligionsunterricht statt neoliberaler Kompetenzgehirnwäsche

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Andreas Hellgermann

Erziehung zur 'Inkompetenz' –Messianisch-widerständiger

Religionsunterricht statt neoliberalerKompetenzgehirnwäsche

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Wenn man heute ein betriebs-wirtschaftl iches Studium ab-solviert oder einen x-beliebigenanderen Managementkurs,dann weiß man, was zu tun ist,wenn man etwas erreichen wil l :Man muss Ziele definieren undMaßnahmen festlegen. Ein an-schl ießendes Control l ing wirdfeststel len, ob die Ziele erreichtwurden und die Maßnahmengegriffen haben. Günther An-ders, der fast schon in Verges-senheit geratene Technik- undMedienkritiker, dessen Grundt-hema die Zerstörung der Hu-manität war, war äußerstskeptisch gegenüber dieser Artvon technologischer „Auftei-lung“ in Zwecke und Mittel dort,„wo es ums 'Ganze' geht, inder Politik oder in der Philoso-phie“. (1 ) Wir Pädagogen soll-ten seine Skepsis tei len undgerade weil er sich um das„Ganze“ sorgt, von ihm lernenkönnen. In „Die Antiquiertheitdes Menschen“ stel lt er seinenBetrachtungen über Rundfunkund Fernsehen eine kleineGeschichte voran, mit der dieseinmal auszuprobieren wäre:

„Da es dem König aber weniggefiel , dass sein Sohn, diekontrol l ierten Straßen verlas-send, sich querfeldein herum-trieb, um sich selbst ein Urtei lüber die Welt zu bilden,schenkte er ihm Wagen undPferd. 'Nun brauchst du nichtmehr zu Fuß zu gehen', warenseine Worte. 'Nun darfst du esnicht mehr', war deren Sinn.'Nun kannst du es nicht mehr',deren Wirkung.“ (2)

Funktioniert nicht auch Schule so?Der Lehrer ist der König, und dieSchule hat die Aufgabe, den Schü-lerInnen Möglichkeiten bereitzu-stel len, ein Urtei l über die Welt zubilden. Ja, man kann sogar so weitgehen zu sagen, dass, wie in un-serer kleinen Geschichte, die Weltgar nicht mehr als Ganzes vor-kommt bzw. durch Pferd und Wa-gen die Möglichkeiten der Welt-erfahrung und -wahrnehmung dra-matisch eingeschränkt werden.Darüber hinaus führt das, was derKönig tut, auch zur Einschränkungder Wil lensfähigkeit des Königs-sohnes. Es ist sehr leicht vorstel l-bar, dass das Herumtreiben eineungeheure Wil lenskraft freisetzt,die durch ein Erfahrungs- undWahrnehmungsmedium begrenztund in eine bestimmte Richtunggeleitet wird. Nun könnte Schuleauch anders sein: Anstatt das Her-umtreiben durch den vielfältigenEinsatz von Medien, Methoden,Richtl inien und Lehrplänen zu ver-hindern, könnte sie SchülerInneneinen Raum in die Welt hinein er-öffnen, durch den und in dem tat-sächlich ein eigenes Urtei l über dieWelt möglich wird. Wir wissen alle,dass das nicht so ist.

Zurück zu unserem Titel und zudem damit vorgegebenen Thema.Es soll also um Neoliberal ismus inder Schule, um Kompetenz und dieMöglichkeiten eines messianisch-widerständigen Religionsunterrich-tes gehen. Dass die Kompetenzdabei nicht so gut wegkommt, istoffensichtl ich. Wir halten es aberfür notwendig, sich intensiver mitdem Kompetenzbegriff und dendamit verbundenen Veränderungenin der Schule auseinanderzuset-zen. Die provozierende Formulie-

rung: „Erziehung zur Inkompe-tenz“ fordert dazu auf, eineneoliberale Kompetenzgehirn-wäsche – vor al lem im Religi-onsunterricht – nichtmitzumachen. Natürl ich habenwir nichts gegen Kompetenz.Allerdings behaupten wir, dassdas neoliberale Kompetenzge-rede in letzter Instanz Inkom-petenz produziert. DieseDoppeldeutigkeit ist in unse-rem Titel bewusst angelegt.Darüber hinaus wollen wirdeutl ich machen, dass dieProduktion einer spezifischenSubjektivität für das neolibera-le Projekt zentral ist. Für die-ses sind Schule im Ganzen,die Reduktion des Bildungsbe-griffs, das lebenslange Lernen,und der Bolognaprozess sowichtige Handlungsfelder!Messianisch-widerdständigerReligionsunterricht kommtnicht darum herum, die damitgegebenen Formen von Sub-jektproduktion theoretisch undpraktisch – also im tatsächli-chen Religionsunterricht – zuunterlaufen.

Die betriebswirt-schaftliche Betrach-tungsweise

Im Vergleich zu anderen ge-sel lschaftl ichen Bereichen ver-laufen Entwicklungen in derSchule zeitverzögert. Währendvielerorts Kritik am neolibera-len Denken und Handeln nichtmehr zu leugnen ist, ist dieseKritik in der Schule noch längstnicht angekommen. Zumeinen, weil neoliberale Verän-derungskonzepte, die vor 1 5bis 20 Jahren angestoßenwurden, erst jetzt in die SchuleEinzug halten, und zum ande-ren, weil sie als solche nichterkannt werden. Denn es ge-

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l ingt den entsprechenden „Re-formbemühungen“, sich not-wendige Veränderung undberechtigte Kritik an den be-stehenden schulischen Zu-ständen zunutze zu machen.So wird Schule zu einer maß-gebenden Agentur des Neoli-beral ismus, und es besteht dieGefahr, auf dem Weg über Bil-dung und Erziehung Gesell-schaft noch langfristiger zudurchdringen und generatio-nenübergreifend zu prägen.

Das neoliberale Dogma, dasGery Becker 1 976 formulierte,kennzeichnet die Sichtweiseauf Mensch und Gesellschaft,die den Rahmen für al le fol-genden Schritte bereitstel lt. DieHumankapitaltheorie, die erund andere entwickelt haben,eröffnet den Blick auf mensch-l iches Verhalten aus einer öko-nomischen Perspektive und dieFelder für die damit verbunde-nen Verwertungsinteressen: „Inder Tat bin ich zu der Auffas-sung gekommen, daß der öko-nomische Ansatz soumfassend ist, daß er auf al lesmenschliche Verhalten an-wendbar ist . . . seien es wie-derkehrende oder selteneEntscheidungen, handle essich um emotionale oder nüch-terne Ziele, reiche oder armeMenschen, Männer oder Frau-en, Erwachsene oder Kinder,kluge oder dumme Menschen,Patienten oder Therapeuten,Geschäftsleute oder Politiker,Lehrer oder Schüler.“ (3)Schon Marx hat diese Per-spektive im ersten Satz des„Kapital“ auf den Punkt ge-bracht, indem er die Ware alsdie Elementarform der kapita-l istischen Produktionsweiseidentifiziert. Auch dem Verhal-ten von Menschen wird nundiese Elementarfom überge-stülpt. (4) Mit ihr verbunden istdie Dominanz der betriebswirt-schaftl ichen Betrachtungswei-se, die sich auch in der Schulewiederfindet.

Grundlegend für dieses Menschen­bild ist eine Veränderung der Auf­fassung von dem, was Ökonomieim Neoliberalismus ist: Hier geht esnicht mehr um Dinge, Investitionen,Berechnungen etc., sondern imKern ist „Ökonomie … die Wissen­schaft des menschlichen Verhal­tens, die Wissenschaft menschl­ichen Verhaltens als eine Bezieh­ung zwischen Zwecken und knap­pen Mitteln, deren Verwendungsich gegenseitig ausschließen.“(L.C. Robbins, Essay on the Natureand Significance of EconomicScience, London 1932, Neuausga­be 1962, S. 16)Dadurch wird einer Verbindung zuallen anderen Wissenschaftenmenschlichen Verhaltens, bspw.der Pädagogik ein Raum eröffnet,der nun immer weiter gefüllt wird.Dreh­ und Angelpunkt hierfür ist dieaus dieser Grundauffassung resul­tierende „Humankapitaltheorie“ (dievor allen Dingen von den beidenNobelpreisträgern Becker undSchultz entwickelt worden ist): „Dasbesondere Kennzeichen des Hu­mankapitals besteht darin, daß esein Teil des Menschen ist. Es ist hu­man, weil es im Menschen verkör­pert ist, und Kapital, weil es einQuelle zukünftiger Befriedigungoder zukünftiger Erträge oder eineQuelle von beidem ist.“ (TheodoreW. Schultz, Investment in HumanCapital: The Role of Education andof Research, New York 1971, S. 48)Damit wird alles das, was derMensch bekommt, als Ertrag bzw.Einkommen auf sein Kapital be­trachtet, und alle Veränderungensind Investitionen zur Vergrößerungdes vorhandenen Kapitals – ebendes Humankapitals. Bildung undErziehung sind auf der individuellenund auf der gesellschaftlichen Ebe­ne immer als Investitionen in dasvorhandene und zu vergrößerndeHumankapital anzusehen. An die­ser Stelle treffen sich der in die Bil­dung eingeführte Kompetenzbegriffund die Humankapitaltheorie.Bei dem, was in Schule und Ausbil­dung gelernt wird, geht es jetztnicht mehr darum, die Welt zu ver­

stehen, sich in ihr orientierenund sie verändern zu können,sondern darum, Fähigkeitenund Fertigkeiten zu entwickeln,die wie jedes andere Kapitalauch eingesetzt werden kön­nen, um entsprechende Erträgezu erzielen. Spätestens zu Be­ginn des 21. Jahrhunderts wirddie Humankapitaltheorie vonder OECD aufgegriffen und zurBasistheorie ihrer Untersu­chungen (Bspw. PISA) undEmpfehlungen. Die OECD ver­bindet diesen ökonomischenAnsatz mit der Vorstellung,dass Lernen in den verschie­densten Zusammenhängen zueiner Kompetenzvermehrungim weitesten Sinne führt unddiese Kompetenzen, auf demMarkt zum eigenen Wohlerge­hen eingesetzt, eine individuel­le Nutzenmaximierung ermögli­chen. Dahinter steht die alteund mehr denn je gültige Vor­stellung von Adam Smith, dassdie „unsichtbare Hand desMarktes“ die egoistischen Ein­zelinteressen letztendlich zumWohlergehen aller ausgleicht.Dementsprechend ist die Vor­stellung der OECD von Hu­mankapital: „Das Humankapitalist der Bestand an Fähigkeitenund Kenntnissen, die der ein­zelne besitzt oder – normaler­weise durch Bildung und Aus­bildung – entwickelt und so­dann als Gegenleistung für einEinkommen auf dem Arbeits­markt anbietet.“ Dieses Hu­mankapital wird verstanden als„in Individuen verkörperteKenntnisse, Fähigkeiten, Kom­petenzen und Eigenschaften,die die Erzeugung persönli­chen, gesellschaftlichen undökonomischen Wohlergehensermöglichen“. (OECD 2001 und2002 zitiert nach: Jörg Nicht,Thomas Müller, Kompetenzenals Humankapital in: Initial –Berliner Debatte Februar 2010)

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Zunächst einige Beispiele, dieerst in der Summe ihre Wirk-mächtigkeit deutl ich werdenlassen.

Nach dem Sturz Allendes1 973 in Chile begann das Ex-periment einer neoliberalenÜberformung der Gesellschaftunter dem Diktator AugustoPinochet mit dem Einzug einerVielzahl von Beratern in dieSchlüsselpositionen der chile-nischen Gesellschaft. Da derNeoliberal ismus aus seinemSelbstverständnis heraus eineVerordnung von Veränderungvon oben herab (eigentl ich)nicht akzeptieren kann, ist derBerater der entscheidende Ty-pus zur Durchsetzung vonVeränderungen. Er hat in viel-fältiger Weise auch Einzug indie Schule gehalten. Sein In-strument ist zum Beispiel dieQualitätsanalyse. Er kommtvon außen und wil l helfen, dieQualität von Schule zu ver-bessern. Im Anschluss an sei-ne Analyse gibt es keineDirektive von oben, sondernim Zentrum steht nun die Ziel-vereinbarung, die die Berate-nen möglichst selbst formu-l ieren.

Dabei ist interessant, dass dieMöglichkeiten von externerBeratung an Schulen universi-tär (an der pädagogischen undnicht an der betriebswirt-schaftl ichen Fakultät) erforschtwerden. Man kommt dort zufolgendem Ergebnis: „Mit Bl ickauf die zukünftige Bedeutungexterner Schulentwicklungs-beratung antizipieren die Ex-perten zunächst einmal aus-nahmslos einen Anstieg in derBeratungsnachfrage von Sei-ten der Schulen. Bei der ex-ternen Beratung handele essich demnach keineswegs umeine Modeerscheinung, manstehe derzeit eher am Beginn

einer langfristigen Entwicklung.Nach Meinung eines Befragtenwürden Schulen dann in größeremMaße auf Beratungsbedarfe sto-ßen, wenn sie sich der Anforde-rung, eigenverantwortl ich zu han-deln, stärker stel lten. Wenn siedann Gelegenheit hätten, Bera-tungsangebote wahrzunehmen,würde sich der Stel lenwert vonBeratung noch einmal deutl ich er-höhen.“ (5)

_ Die Instrumente zur Verbes-serung werden selbstverständl ichin privatwirtschaftl ichen Zusam-menhängen hervorgebracht. InDeutschland steht die Bertels-mann Stiftung hier an vordersterFront. Grundprinzip ist die kos-tenfreie Zur-Verfügung-Stel lungeines solchen Instruments, bis eseingeführt ist und funktioniert,und die anschließende Übernah-me und Fortführung – weil es jafunktioniert – durch eine staatl i-che Finanzierung. Zugleich wer-den hier Räume geschaffen, dienun marktförmig strukturiert sind,in denen dann jeweils wiederBerater tätig werden können.

_ Dabei steht die Abkehr vonder Inhaltsorientierung in derSchule hin zu einer Kompetenz-und Handlungsorientierung anzentraler Stel le. Verbunden mitihr hat sich eine neue Spracheherausgebildet, ein Jargon, Be-griffe, die nun den Schulal ltagüberschwemmen und mit Inhaltgefül lt werden müssten: Lern-coach, Lernberater, systemischeNotengebung, individuel le För-derung, Portfol io, Selbstorgani-sation, kooperatives Lernen,Qualifikationen, Kompetenzen,Standards, lebenslanges Lernen:Diese „Zauberworte“ finden sichin didaktischen Jahresplanungen,Schulprogrammen und Unter-richtsentwürfen von Lehramtsan-wärterInnen. Mit diesen Konzep-ten und Begriffen und demÜbergang von der Inhalts- zurHandlungsorientierung soll ein-

hergehen, dass das Lernkli-ma freier, die Schüler selbst-ständiger und das Leben inder Postmoderne heteroge-ner wird. Ist es dann nicht ei-genartig, dass andererseitsüberal l Einengungen, Gänge-lungen, Homogenisierungenvorgenommen werden? Inder Schule (und vielen ande-ren gesellschaftl ichen Orten)gibt es ein Ausmaß an Stan-dardisierungen, das unerträg-l ich geworden ist und ineinem scheinbaren Wider-spruch zu den Zielvorstel lun-gen steht, die als Losungausgegeben werden. Womithat dieser vermeintl iche Wi-derspruch zu tun?

Macht und Handeln beiFoucault: Lenkungdurch Individualisie-rung

Michel Foucault, der französi-sche Philosoph und Analytikerder Macht, hat sich relativ spätund leider nicht mehr systema-tisch mit einer Machtform be-schäftigt, die in ihrem ange-stammten Kontext, zumindestin unserer Gesellschaft, immermehr an Bedeutung verlorenhat: der Pastoralmacht.

Für Foucault ist die Pastoral-macht eine besondere Formder Macht, die sich von derMacht eines Herrschers unter-scheidet: Sie ist die sich umdas Heil der Herde sorgendeMacht des Hirten. Sie sol lte ur-sprünglich, im christl ichen Kon-text, „das Seelenheil des Ein-zelnen im Jenseits sichern“. (8)Der Hirte kümmert sich – in An-lehnung an das Bild des NeuenTestaments – nicht (nur) umdas Wohl der ganzen Herde,sondern um das Wohl bzw. Heileines jeden einzelnen Schafes,

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also „um jeden Einzelnen, unddas sein Leben lang.“ DieseMachtform lässt sich „nur aus-üben, wenn man weiß, was inden Köpfen der Menschen vorsich geht, wenn man ihre See-le erforscht, wenn man siezwingt, ihre intimsten Geheim-nisse preiszugeben. Sie setztvoraus, dass man das Be-wusstsein des Einzelnen kenntund zu lenken vermag.“ (8)Der prototypische Ort dieserHirtenmacht ist – wie könntees anders sein – die Beichte inder katholischen Kirche.

Auch wenn diese Machtforminnerhalb der Kirche immermehr zerrinnt, so heißt dasnicht, dass sie überhaupt anBedeutung verl iert. FoucaultsThese: Die Pastoralmacht isteine Machtform, die ausge-hend von über Jahrhunderteeingeübten kirchl ichen Prakti-ken wiederzufinden ist in denunterschiedl ichsten Bereichenunserer modernen bzw. post-modernen Gesellschaft. Undsie ist eine individual isierendeMachtform, eine Form derLenkung, die nicht unmittelbarauf das Subjekt, sondern aufsein Handeln zielt.

Dies hilft uns zu verstehen,wie die scheinbar offenerenLernformen mit dem Phäno-men der Machtausübung undLenkung zusammenhängenund so mit dem Projekt desNeoliberal ismus verwobenwerden können. Das Ent-scheidende an der Pastoral-macht ist, dass sie eineMachttechnik ist, die durchandere als die kirchl ichen In-stitutionen übernommen wirdund als neue, vielfältig ver-wendbare Machtform zur Ver-fügung steht. Die ehemals aufdas Jenseits ausgerichtetePastoralmacht kreist nun umdas Heil des Menschen imDiesseits und damit um das

Subjekt. Wie, das wird in der klei-nen Geschichte von Günther An-ders deutl ich. Der König schenktdem Königssohn Pferd und Wa-gen, damit er nicht mehr zu Fuß zugehen braucht. Hier sind die bei-den Elemente der Sorge und derIndividual isierung enthalten, diesich als Lenkung und damit Pro-duktion einer bestimmten Subjekti-vität zeigen.

Diese Macht ist gerade nicht zuverwechseln mit Gewalt oderZwang. Wenn wir uns die Verände-rungen in der Schule anschauen,dann lässt sich über einen länge-ren Zeitraum zeigen, wie sich dieFormen der Einwirkungen aufSchülerInnen immer weiter vonGewalt und Zwangsmaßnahmenentfernt haben. Stattdessen habensich Machttechniken entwickelt, dienäher am Subjekt sind, gerade weilsie nicht mehr versuchen direkt aufdas Subjekt einzuwirken, sondernsein Handeln in den Blick nehmen.Nur so kann es gelingen, das Be-wusstsein des Einzelnen zu errei-chen und dadurch zu lenken,anstatt es zu zwingen.

An dieser Stel le wird nun auchdeutl ich, wozu die Standardisierun-gen in der Schule gebraucht wer-den: Ähnlich einem Beichtspiegel,wie er noch in den 60er und 70erJahren in kathol ischen Kirchen üb-l ich war und durch den die Einhal-tung der Gebote detai l l iert abge-fragt wurde, sind Standardi-sierungen die entscheidende Kon-trol l instanz in Bezug auf dasHandeln, weil nur mit ihnen über-prüft werden kann, ob „richtig“ ge-handelt wurde. Und sie sind zu-gleich der Hinweis auf dasMisstrauen gegenüber wirkl icherIndividual ität und wirkl icher Hetero-genität, die möglicherweise dochzu „falschem“ Handeln führenkönnten. (So ist auch der Beicht-spiegel der lebendige Beweis da-für, dass dem eigentl ichen Gebotnicht getraut und es durch die ein-

geführten Standards konterka-riert wurde.) Darüber hinaussind sie der Garant und Indika-tor für die Marktförmigkeit dererworbenen Qualifikationenund Kompetenzen.

Michel Foucault über die Funk­tionsweise von Machtbezie­hungen, die immer auf dasHandeln von Menschen aus­gerichtet sind: „In Wirklichkeitsind Machtbeziehungen defi­niert durch eine Form vonHandeln, die nicht direkt undunmittelbar auf andere, son­dern auf deren Form von Han­deln einwirkt. Eine handelndeEinwirkung auf Handeln, aufmögliches oder tatsächliches,zukünftiges oder gegenwärti­ges Handeln. Gewaltbeziehun­gen wirken auf Körper undDinge ein. Sie zwingen, beu­gen, brechen, zerstören. Sieschneiden alle Möglichkeitenab. Sie kennen als Gegenpolnur die Passivität, und wennsie auf Widerstand stoßen, ha­ben sie keine andere Wahl, alsden Versuch, ihn zu brechen.Machtbeziehungen beruhendagegen auf zwei Elementen,die unerlässlich sind, damitman von Machtbeziehungensprechen kann: der 'Andere'(auf den Macht ausgeübt wird)muss durchgängig und bis ansEnde als handelndes Subjektanerkannt werden. Und vorden Machtbeziehungen musssich ein ganzes Feld möglicherAntworten, Reaktionen, Wir­kungen und Erfindungen öff­nen.“ (Michel Foucault, Subjektund Macht, in: ders., Ästhetikder Existenz, S. 96) In der Ge­schichte vom Königssohn sindPferd und Wagen natürlichauch Teil eines Machtzusam­menhangs. Denn hier ge­schieht die „handelndeEinwirkung auf Handlen“, dieFoucault benannt hat. Der Kö­nig stellt seinem Sohn einen

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Handlungsraum zur Verfü­gung, ein neues Lernfeld, indem bestimmte Verhaltens­weisen vorstrukturiert und an­dere vernachlässigt werden.

Was ist eigentlich dasProblem?

Schauen wir uns eine grund-sätzl iche Definition an, die fürdie Entwicklung von Schulenach dem Pisa-Schock maß-gebend geworden ist, Pfl icht-programm in allen Ausbil-dungsseminaren für LehrerIn-nen: Franz E. Weinert hatKompetenzen beschrieben als„die bei Individuen verfügba-ren oder durch sie erlernbarenkognitiven Fähigkeiten undFertigkeiten, um bestimmteProbleme zu lösen, sowie diedamit verbundenen motivatio-nalen, vol itionalen (d. h. ab-sichts- und wil lensbezogenen)und sozialen Bereitschaftenund Fähigkeiten, um die Pro-blemlösungen in variablen Si-tuationen erfolgreich und ver-antwortungsvoll nutzen zukönnen“. (9) Diese Begriffsklä-rung ist die am meisten ver-wendete, die auch in entspre-chenden Vereinbarungen derKultusministerkonferenz auf-taucht.

In ihr wird definiert, was in derFolge unter Kompetenz zuverstehen ist. Und damit wirdfestgelegt, was und wie in derSchule gelernt werden soll .Lehrpläne werden auf die For-mulierung von Kompetenzenhin ausgerichtet und auch dieLehrerausbildung ist kompe-tenzorientiert. Dabei ist esdoch irgendwie einsichtig,dass es besser ist, in derSchule eine Fähigkeit zu erler-nen als ein Wissen. KeineFrage. Wenn ich lerne, wie ichmir selbst das jeweils brauch-bare und notwendige Wissenaneigne, dann kann ich ei-

gentl ich jede Situation bewältigen.Wenn ich nur Wissen erlerne, dannkann es sein, dass ich genau die-ses Wissen nicht brauche, um miteiner gegebenen Situation klarzu-kommen.

Aber was wird beim Erlernen vonKompetenzen eigentl ich gelernt?Und was wird nicht (mehr) gelernt?In der Definition von Weinert trittein bestimmter Typus vor Augen,der der Schüler in der Schule wer-den soll : der Problemlöser, der be-reit und in der Lage ist, jedeSituation zu bewältigen. Er ist dervon Richard Sennet beschriebene„flexible Mensch“, der handelnkann, wo immer man ihn hinstel lt,der funktioniert. Nun ist es ohneFrage sinnvoll , wenn junge Men-schen frühzeitig lernen, mit zukünf-tigen Lebenssituationen umgehenzu können, handlungsfähig zu blei-ben. Aber: Was ist, wenn die Si-tuation selber falsch ist, wenn dieGegebenheiten insgesamt infragegestel lt werden müssen, wenn esdarum geht, einmal das Ganze zusehen? Genau das wird nicht ge-lernt!

Al lerdings hält das neue Lernengegenüber einer reinen Wissens-vermittlung eine Möglichkeit bereit:Es ist ausgerichtet auf das Han-deln des Subjekts. Und: Es wil lSubjekte, die nicht mehr von au-ßen geleitet werden, sondern diegelernt haben, sich selbst zu leiten,die al l die scheinbar selbstver-ständl ichen Erfordernisse verinner-l icht haben, die wissen, wie siesein müssen, um zu funktionieren.Der Menschentypus, der diesemLernen vor Augen steht, ist 2006vom EU-Parlament festgelegt wor-den. Es ist – wie könnte es anderssein – natürl ich der Unternehmer(1 0): Eigeninitiativ und marktorien-tiert hat er die notwendigen An-triebskräfte in sich hinein verlagert.Und wenn schon kein wirkl icherUnternehmer, dann ist er ein ver-antwortungsbewusster Mitarbeiter,der in der Lage ist, wie ein Unter-

nehmer zu handeln. Er ist der-jenige, der über sein Humanka-pital verfügt und esgewinnbringend einsetzt.

Aus der Empfehlung von Euro­päischem Rat und EU­Parla­ment aus dem Jahr 2006 zuden Schlüsselkompetenzen fürlebensbegleitendes Lernen. Anzentraler Stelle steht die „Ei­geninitiative und unternehmeri­sche Kompetenz ... die Fähig­keit des Einzelnen, Ideen in dieTat umzusetzen. Dies erfordertKreativität, Innovation und Risi­kobereitschaft sowie die Fähig­keit, Projekte zu planen unddurchzuführen, um bestimmteZiele zu erreichen. Unterneh­merische Kompetenz hilft demEinzelnen nicht nur in seinemtäglichen Leben zu Hause oderin der Gesellschaft, sondernauch am Arbeitsplatz, sein Ar­beitsumfeld bewusst wahrzu­nehmen und Chancen zu er­greifen; sie ist die Grundlage fürdie besonderen Fähigkeitenund Kenntnisse, die diejenigenbenötigen, die eine gesell­schaftliche oder gewerblicheTätigkeit begründen oder dazubeitragen … Zu den notwendi­gen Kenntnissen zählt die Fä­higkeit, Chancen für persön­liche, berufliche und/oder ge­werbliche Tätigkeiten zu erken­nen, einschließlich der „größe­ren Zusammenhänge“, in de­nen Menschen leben und ar­beiten, sowie ein umfassendesVerständnis der Funktionsweiseder Wirtschaft und der Chancenund Herausforderungen, mitdenen ein Arbeitgeber oder ei­ne Organisation konfrontiertwird … An Fähigkeiten gefor­dert ist aktives Projektmanage­ment (wozu beispielsweise dieFähigkeit zur Planung und Or­ganisation, zum Management,zur Führung und Delegation,Analyse, Kommunikation, Ein­satzbesprechung, Beurteilungund Aufzeichnung gehört), er­folgreiches Auftreten und Ver­

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handeln sowie die Fähigkeit,sowohl eigenständig als auchim Team zu arbeiten. Eine we­sentliche Kompetenz ist dieFähigkeit zur Einschätzungder eigenen Stärken undSchwächen sowie die Bewer­tung von Risiken und die Be­reitschaft, gegebenenfalls Ri­siken einzugehen. Eine unter­nehmerische Einstellung istgekennzeichnet durch Initiati­ve, vorausschauendes Aktiv­werden, Unabhängigkeit undInnovation im privaten und ge­sellschaftlichen Leben sowieim Beruf. Dazu gehört auchMotivation und Entschlossen­heit, Ziele, sowohl persönli­cher Art als auch gemeinsameZiele mit anderen, auch beider Arbeit, zu erreichen.“ (EM­PFEHLUNG DES EUROPÄI­SCHEN PARLAMENTS UNDDES RATES vom 18. Dezem­ber 2006 zu Schlüsselkompe­tenzen für lebensbegleitendesLernen, in: Amtsblatt der Eu­ropäischen Union, 18. Dezem­ber 2006, S. 17 u. 18)

Man könnte nun einmal über-prüfen, inwiefern sich diegrundsätzl iche Ausrichtungvon Unterricht auf diesenMenschentypus hin veränderthat. Dafür gibt es viele Hin-weise: Lehrerkompetenzen inBezug auf die Lehrerausbil-dung, Fortbi ldungsangebote,strukturel le Veränderungen inder Organisation von Schule,Einführung von Qualitätssi-cherungssystemen, aber auchnicht zu vergessen: die Spra-che, die Begriffl ichkeiten, diein der Schule verwendet wer-den. Diese Art von Verände-rungen sind sichtbar. Schwie-rig ist es, ihre Wirkungen zubeurtei len, weil diese nicht of-fensichtl ich sind und dieNeuerung, in der Regel immereinen offenkundigen Mangelzum Ausgangspunkt hat.

Ein einfaches Beispiel: die Beno-tung. Ausgangspunkt ist die al lenLehrerInnen und SchülerInnen be-kannte Ungerechtigkeit bei der No-tenvergabe. Eine Antwort daraufbesteht darin, durch ausgeklügelteSysteme die Benotung auf dieSchülerInnen selbst zu übertragen.Sie bekommen zum Beispiel beidem leidigen Thema Gruppenarbeiteine Gesamtnote in Form vonPunkten, die dann – sie selbst wis-sen ja viel besser, wer wie intensivam Arbeitsprozess beteil igt war –durch Aushandlung untereinandervertei lt werden. Solch ein Systemhat viele „Vortei le“: Es stärkt undfördert die Eigenverantwortl ichkeit,die Fähigkeit, sich selbst einzu-schätzen, die Selbstorganisationund den Blick für ein gerechtesAushandeln untereinander.

Was passiert tatsächlich in diesemZusammenhang aus einer Per-spektive, die das Ganze in denBlick nimmt und sich fragt, was fürein Subjekt hier produziert wird undwofür es gebraucht wird?

In diesem kleinen Baustein werdenMacht- und Diszipl inierungstechni-ken in das Subjekt hinein verlagertbzw. durch die SchülerInnen inter-nal isiert, ohne dass noch die Frageentstehen könnte, ob das Beno-tungssystem als Ganzes ungerechtist. So wird Ungerechtigkeit ver-deckt, anstatt sie erkennbar zumachen. Zugleich wird durch dasAushandeln der Noten das „Sich-als-Einzelne-Wahrnehmen“ derSchüler und Schülerinnen geför-dert und der Blick von außen ver-innerl icht. Damit werden Markt-fähigkeit und Marktförmigkeit trai-niert.

„Jeder ist seines Glückes Schmied“ist eine so banale wie entschei-dende Losung des neoliberalenProjektes, die immer dann aus derTasche geholt wird, wenn es darumgeht, die Ungerechtigkeit vonStrukturen auf den Einzelnen ab-zuwälzen. Da dies in der Regel

nicht zu einer Lösung, sonderntendenziel l zur Überforderungdes Subjekts in Schul-, Univer-sitäts- und Arbeitszusammen-hängen führt und der Einzelnenun damit beschäftigt ist, mitden jeweil igen Anforderungenklarzukommen, kann das Gan-ze als Ganzes, die gesell-schaftl iche Grundordnung, nichtmehr in den Blick kommen undkritisch hinterfragt werden. Da-mit ist auch der Begriff „Kritik“zu einem anderen geworden.Natürl ich muss auch „Kritikfä-higkeit“ gelernt werden. Diesebezieht sich aber ebenfal ls nurnoch auf individuel le Prozesseoder Gruppen. Es geht hierbeiledigl ich darum, sich unterein-ander Kritik sagen und dieseaushalten zu können; um dasGanze niemals.

Der Markt als zentraleGröße

Dass diese Subjektproduktionselbstverständl ich nicht aufSchule zu reduzieren ist unddass sie Schattenseiten hat,l iegt auf der Hand. Vor al lemAlain Ehrenberg (11 ) hat be-schrieben, welche gesellschaft-l ichen Folgen die Formen derMachtausübung durch Indivi-dual isierung haben. Die Verän-derungen in der Schule sindeinerseits Spiegel und Resultatder ohnehin stattfindenden ge-sel lschaftl ichen Prozesse, an-dererseits die Voraussetzungdafür, diese Machttechniken inum so stärkerem und in den In-dividuen gut verankertem Maßein anderen gesellschaftl ichenBereichen fortzuführen, einher-gehend mit einer tendenziel lenVerschulung der gesamten Ge-sellschaft – einer unbegrenztenAusweitung des Erziehungs-projektes. Die Bemühungen, le-benslanges Lernen in denVordergrund zu rücken und die-

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ses durch Kompetenzniveausfestzuschreiben, geben Aus-kunft darüber. Die beschriebe-nen Prozesse zentrieren sichauf das Subjekt und nicht um-sonst, so stel lt Ehrenberg fest,ist die Depression das paradig-matische Krankheitsbi ld derPostmoderne. Wir müssen unsfragen, inwiefern wir in derSchule maßgeblich dazu bei-tragen, dieses „erschöpfteSelbst“ bzw. den Menschenty-pus, der irgendwann einmal er-schöpft sein wird, zu produ-zieren. Denn immer ist dasIndividuum die Stel lschraube,an der gedreht werden muss,um diese Anpassungsleistun-gen durchzuführen. Das Gan-ze, die gesellschaftl ichen Rah-menbedingungen, kommt nichtmehr in den Blick bzw. wird da-durch verschleiert.

Alain Ehrenberg verweist dar­auf, wie entsprechenden Insti­tutionen – eben auch derSchule – die Aufgabe zu­kommt, das Individuum le­benslang zu formen und wiedie vom Individuum ausgehen­den Initiativen einen Beitrag zudieser Formgebung des Selbstleisten. Damit verweist er auchauf das Subjekt, das von derEU unter dem Stichwort „Ei­geninitiative und unternehmeri­sche Kompetenz“ beschriebenwurde: „Indem staatliche, pro­fessionelle, schulische und pri­vate Institutionen in die per­sönliche Initiative einfließen,begleitet von einer neuen Sit­tenfreiheit und einem größerenOrientierungsspektrum, wirddem Psychischen eine völligneue gesellschaftliche und da­mit persönliche Dimension ver­liehen. Der Versuch, auf dieProbleme der Person einzuge­hen, nimmt die Form einer un­ter Umständen lebenslangenBetreuung der Individuen an.Sie ist eine Art Wartung, die

aus verschiedenen professionellenPerspektiven durchgeführt wird:pharmakologisch, psychothera­peutisch oder sozialpolitisch. Pro­dukte, Personen oder Organi­sationen sind ihre Medien. Dieseverschiedenen Akteure, die ausdem öffentlichen Dienst oder ausprivaten sozialen Diensten kom­men, beziehen sich alle auf diesel­be Regel: eine Individualität erzeu­gen, die selbstständig handeln undsich verändern kann, indem siesich auf ihre inneren Antriebestützt. Diese Regel kann ebensoals Mittel zur Beherrschung wie alsMittel zur Wiedereingliederungoder zur therapeutischen Behand­lung verwendet werden. Die Kon­frontation, die Strategien oder dieUrteile der Akteure entstehen in­nerhalb dieser Vorstellungsweltund nicht in derjenigen eines 'End­kampfes' oder einer Lebensversi­cherung. Diese Regel ist zu einemTeil unserer selbst geworden, ist inunsere Sitten eingegangen undprägt unsere Sprache ('Projekteentwickeln', 'einen Vertrag schlie­ßen', 'Motivationen erzeugen'usw.). Diese neuen gemeinsamenFormen, Individualität zu erzeu­gen, sind die Instanzen desSelbst.“ (Alain Ehrenberg, Das er­schöpfte Selbst, Frankfurt am Main2008, S. 299)

Warum aber eignet sich der Para-digmenwechsel von einer Inhalts-zur Kompetenzorientierung, der anvielen Stel len so „vernünftig“, sonachvollziehbar ist, so gut, neoli-berale Konzepte, neoliberalesDenken in die Schule zu bringen?Entscheidend hierbei ist, dass dasIndividuum – wie gerade auch vonEhremberg beschrieben – zumDreh- und Angelpunkt al ler Bemü-hungen wird. Alle Lernkonzepte,al le Maßnahmen in der Schulesind auf dieses ausgerichtet. Lern-theorien, so zum Beispiel durchden Fokus auf die moderne Ge-hirnforschung, gehen weg von derSache, an der und auf die hin ge-

lernt wird, und betonen die indi-viduel len Wege des Lernens,die individuel len Konstruktionenvon Wissen und weisen, wieder Konstruktivismus – eineBasistheorie momentaner „Re-formbemühungen“ – , eine ge-meinsame objektiv gegebeneWelt zurück.

Paolo Freire, der brasil ianischeBefreiungspädagoge, der nichtin Vergessenheit geraten sollte,bringt es auf den Punkt: „Indemman so von der eigenen Weltabgekoppelt wird, verl iert mandie Möglichkeit, kulturel le Weg-weiser auszubilden, die einenbefähigen, die Welt zu verste-hen, wie auch in ihr zu handelnund sie zu transformieren. Dar-um ist die neoliberale pragmati-sche Einstel lung in aggressiverWeise darauf aus, einen Bruchzwischen einem selbst und sei-ner Welt zu bewirken, indemman eine tiefgehende Verbin-dung zwischen einem selbstund dem Markt geltend macht.In anderen Worten, der Fokusder Erziehung in der neolibera-len Welt ist darauf gerichtet, wieman ein kompetenter Verbrau-cher wird, wie man ein kompe-tenter Vertei ler von Wissenwird, ohne irgendwelche ethi-schen Fragen zu stel len.“ (1 2)Eine zentrale Frage also l ießesich folgendermaßen formulie-ren: Geht es in der Schule umdie gemeinsame Welt, in derwir leben oder führen Lernpro-zesse zu einer Zentrierung aufdas Subjekt und damit Vermin-derung von Weltbezug, die denEinzelnen als denjenigen vorAugen hat, der in dem gegebe-nen Ganzen agiert, weil er ge-lernt hat Situationen zu bewäl-tigen, Probleme zu lösen, findigzu sein und in dieser Findigkeitdas Ganze, wie es eben ist,voran zu treiben, ohne zu wis-sen, wohin es geht und ohne zufragen, wohin es geht. Das istgemeint, wenn Freire davon

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spricht, dass die neoliberalepragmatische Einstel lung dar-auf aus ist, „einen Bruch zwi-schen einem selbst und seinerWelt zu bewirken.“ Emanzipati-on und Solidarität sind unver-zichtbare Kategorien Freiresbefreiender Pädagogik. Siewerden gebraucht, um denBruch zwischen mir und derWelt nicht zuzulassen und auchnicht in die Individual isierungs-fal le zu tappen, die am Endeatomisierte Erschöpfung pro-duziert.

Lebenslanges Lernen

In einer neoliberalen Welt je-doch ist Markt die zentraleGröße, auf die hin Schule aus-gerichtet ist. Ein letztes Beispielsol l dies deutl ich machen: DerDeutsche Qualifikationsrahmenfür Lebenslanges Lernen(DQR) legt ein Bezugssystemvor, das „bi ldungsbereichs-übergreifend alle Qualifikatio-nen des deutschen Bildungs-systems umfasst. Als nationaleUmsetzung des EuropäischenQualifikationsrahmens (EQR)berücksichtigt der DQR die Be-sonderheiten des deutschenBildungssystems und trägt zurangemessenen Bewertung undzur Vergleichbarkeit deutscherQualifikationen in Europa bei.Ziel ist es, Gleichwertigkeitenund Unterschiede von Qualifi-kationen transparenter zu ma-chen und auf diese WeiseDurchlässigkeit zu unterstüt-zen. Dabei gi lt es, durch Quali-tätssicherung und -entwicklungVerlässl ichkeit zu erreichen unddie Orientierung der Qualifizie-rungsprozesse an Lernergeb-nissen (,Outcome-Orientie-rung') zu fördern.“ (1 3)

Das hier höchste zu erreichen-de Niveau – das Idealsubjekteuropäischer Bildungsanstren-gungen – wird folgendermaßenbeschrieben:

Auf Niveau 8 verfügt man über„Kompetenzen zur Gewinnung vonForschungserkenntnissen in einemwissenschaftl ichen Fach oder zurEntwicklung innovativer Lösungenund Verfahren in einem berufl ichenTätigkeitsfeld … Die Anforde-rungsstruktur ist durch neuartigeund unklare Problemlagen ge-kennzeichnet.“ Die höchste zu er-reichende personale Kompetenzbesteht darin, für „neue anwen-dungs- oder forschungsorientierteAufgaben Ziele unter Reflexion dermöglichen gesellschaftl ichen, wirt-schaftl ichen und kulturel len Aus-wirkungen (zu) definieren“ unddementsprechend geeignete Mittelzu „wählen und neue Ideen undProzesse (zu) entwickeln.“ (1 4)

Jenseits der Frage, ob Sprachehier nicht schon genug verrät, seiauf folgenden Punkt verwiesen: ImEQR/DQR geht es eigentl ich nichtum konkrete Qualifikationen fürdas Berufsleben, sondern um le-benslanges Lernen, das per defini-tionem über den Bereich von Arbeitund Beruf hinausgehen sollte. Inder Beschreibung der jeweil igenKompetenzniveaus, die für einenEU-Bürger erreichbar sind, ge-schieht das Umgekehrte: Lebens-langes Lernen wird mit der Ver-fügbarkeit für den Arbeitsmarkt ineins gesetzt. Und: Nicht einmal Ni-veau 8 entspricht dem, was Jo-hann Amos Comenius, Begründerder Didaktik im 1 7. Jahrhundertund Namensgeber einer Vielzahlvon EU-Förderprogrammen, zumAusgangspunkt und Ziel seiner Di-daktik gemacht hatte: „Alle al lesganz zu lehren.“ Schon das huma-nistische Bildungsideal der bürger-l ichen Gesellschaft hat diesniemals einlösen können (und wol-len). Das neoliberale Erziehungs-projekt der EU führt Comenius'Anspruch vollends ad absurdum.

Das Ganze sehen zu lernen aberist und bleibt eine Voraussetzungdafür, die Notwendigkeit grundle-gender gesellschaftl icher Verän-derungen zu erkennen und Trans-

formationsprozesse in Gang zusetzen, die sich nicht von mehroder weniger wohlmeinendenReformvorschlägen blendenlassen.

Was bedeutet dies nunfür einen messianisch-widerständigen Religi-onsunterricht?

Wenn es stimmt,- dass schulische „Reformbe-mühungen“ auf ein neolibe-rales Subjekt abzielen, dasanpassungsfähig, anpas-sungsbereit und mobil le-benslang lernt,

_ dass Handlungsorientierung,Kompetenzorientierung, indi-viduel le Förderung, Inklusionetc. die wirkl iche Problematikvon Schule ausblenden, in-dem sie den Fokus auf Ein-ordnungs- und Verwertungs-prozesse legen, gesellschaft-l iche Ursachen nicht analy-sieren und eine Anerkennungder Schüler/innen, so wie siesind, nicht geben bzw. ver-weigern,

_ und dass Schule systema-tisch verhindert, einen Blickfür das Ganze zu bekommen,

dann sollte für einen messia­nisch­widerständigen Religi­onsunterricht zuallererst gelten:

Der Religionslehrer muss sichdurch eine „zweite Naivität“(Kuno Füssel) von der „Hyper­komplexität der permanentenReformvorschläge“ befreiendurch das Vertrauen darauf,„dass in der konkreten Lehr­und Lernsituation selbst dasPotenzial eines guten … Reli­gionsunterrichts steckt“. (1 5)

Der Religionsunterricht hat inder Schule – vor allem, wenndies von anderen nicht getanwird – die Aufgabe, einen Blickfür das Ganze zu ermöglichen

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und so die Hermetik von Si­tuationsbewältigungen auf diegemeinsame Welt hin zudurchbrechen.

Der Religionsunterricht unddie Religionslehrer haben dieWahl, entweder eine an­schlussfähige Anpassungslei­

Anmerkungen

1 Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen Bd. 1 , München 1 987, S. 1 002 a.a.O. S. 973 Gary S. Becker, Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens, Tübingen 1 982,

S. 7. Wenn im Folgenden weiterhin von Neoliberal ismus gesprochen wird, so sind Becker undFoucault die Bezugspunkte für einen ansonsten schil lernden und ungenauen Begriff, insofern sichMichel Foucault in seiner Auseinandersetzung mit dem Neoliberal ismus vor al lem auch auf Beckerund seine Humankapitaltheorie bezieht. (Michel Foucault, Die Geburt der Biopolitik. Frankfurt amMain 2006) Es gibt eine späte „Antwort“ von Becker auf Foucault in einem Seminar der Universitätvon Chicago, gehalten im Mai 201 2. (http: //vimeo.com/43984248)

4 Karl Marx, Das Kapital, Erster Band: „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapital istischeProduktionsweise herrscht, erscheint als eine 'ungeheure Warensammlung', die einzelne Ware alsseine Elementarform.“ Berl in 1 972, S. 49

5 Kathrin Dedering, Martin Goecke, Melanie Rauh unter Mitarbeit von Christoph Höfer, ExterneSchulentwicklungsberatung in Nordrhein-Westfalen – Grundinformationen. Eine Untersuchung imRahmen des DFG-Projektes „Wie beraten die Berater? Externe Berater als Akteure derSchulentwicklung“ an der Universität Bielefeld, Fakultät für Erziehungswissenschaft,abgeschlossen im Mai 201 0, S. 52

6 Michel Foucault, Subjekt und Macht, in: ders. , Ästhetik der Existenz, herausgegeben von DanielDefert und Francois Ewald, Frankfurt am Main 2007, S. 88

7 a.a.O.8 a.a.O. S. 899 zitiert nach: Eckard Klieme, Was sind Kompetenzen und wie lassen sie sich messen?, in:

Pädagogik 6/041 0 EMPFEHLUNG DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 1 8. Dezember

2006 zu Schlüsselkompetenzen für lebensbegleitendes Lernen, in: Amtsblatt der EuropäischenUnion, 1 8. Dezember 2006, S. 1 7 u. 1 8

11 Alain Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst, Frankfurt am Main 20081 2 Paulo Freire, Eine Antwort, in: ders. , Bi ldung und Hoffnung, herausgegeben von Peter Schreiner,

Norbert Mette, Dirk Oesselmann, Dieter Kinkelbur, Münster, New York, München, Berl in 2007, S.1 36

1 3 Deutscher Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen verabschiedet vom ArbeitskreisDeutscher Qualifikationsrahmen (AK DQR) am 22. März 2011 , S. 3

1 4 a.a.O. S. 71 5 Kuno Füssel, „Ihr habt es nicht nötig, euch vor Arschlöchern niederzuknien“, Katechetische

Blätter 1 34 (2009), S. 1 80

stung zu erbringen oder immerwieder den Finger in die Wunde zulegen.

Orientierungspunkt für den Religi­onsunterricht muss ein „biblischer“Bildungsbegriff sein. Messianisch­widerständiger Religionsunterrichtist diesem Bildungsbegriff ver­

pflichtet und muss sich ihn im­mer wieder neu in und für diejeweiligen konkreten Lehr­ undLernsituationen erarbeiten.Zentral für ihn sind Gerechtig­keit sowie der durch die escha­tologische Heilsbotschaft Jesubegründete Glaube, dass einewirkliche Alternative möglich ist.