_Christie_Agatha - Das Haus an der Düne

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- 1 - Agatha Christie Das Haus an der Düne Titel des Originals: »Peril at End House« Die Hauptpersonen des Romans sind: Hercule Poirot der berühmte Privatdetektiv Miss Nick Buckley eine junge Frau Maggie Buckley ihre Kusine Frederica Rice ihre Freundin Ellen Wilson Nicks Haushälterin Charles Vyse Rechtsanwalt George Challenger Marineoffizier Jim Lazarus Kunsthändler Michael Seton ein junger Pilot Mr. Croft Mrs. Croft ein Ehepaar aus Australien Inspektor Japp Beamter von Scotland Yard Der Roman spielt in St. Loo, einem Badeort in Südengland. 1 Von allen Küstenstädten des südlichen England gebührt St. Loo der erste Preis. Es trägt seinen Namen >Königin unter den Badeorten< zu Recht und erinnert einen eindringlich an die Riviera. Nach meiner Meinung ist das Gestade von Cornwall überhaupt genauso reizvoll wie die südliche Meeresküste Frankreichs.

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Agatha Christie

Das Haus an der Düne Titel des Originals: »Peril at End House«

Die Hauptpersonen des Romans sind:

Hercule Poirot der berühmte Privatdetektiv Miss Nick Buckley eine junge Frau Maggie Buckley ihre Kusine Frederica Rice ihre Freundin Ellen Wilson Nicks Haushälterin Charles Vyse Rechtsanwalt George Challenger Marineoffizier Jim Lazarus Kunsthändler Michael Seton ein junger Pilot Mr. Croft Mrs. Croft

ein Ehepaar aus Australien

Inspektor Japp Beamter von Scotland Yard

Der Roman spielt in St. Loo, einem Badeort in Südengland.

1

Von allen Küstenstädten des südlichen England gebührt St. Loo der erste Preis. Es trägt seinen Namen >Königin unter den Badeorten< zu Recht und erinnert einen eindringlich an die Riviera. Nach meiner Meinung ist das Gestade von Cornwall überhaupt genauso reizvoll wie die südliche Meeresküste Frankreichs.

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Ich ließ dies meinem Freund Hercule Poirot gegenüber verlauten.

»Das stand gestern auf der Menükarte des Speisewagens gedruckt, mon cher. Mithin entbehrt Ihre Bemerkung der Ursprünglichkeit.«

»Aber pflichten Sie mir nicht bei?« Er lächelte und beantwortete meine Frage nicht sofort, so daß

ich sie wiederholte. »Verzeihung, Hastings. Meine Gedanken befanden sich auf

der Wanderschaft. Hatten sich tatsächlich nach jenem Landstrich begeben, den Sie soeben erwähnten.«

»Dem Süden Frankreichs?« »Ja. Ich dachte an den letzten Winter, den ich dort zubrachte,

und seine nicht alltäglichen Ereignisse.« Jetzt entsann ich mich. Im internationalen Luxuszug war ein

Mord begangen worden, und Poirot hatte das verwickelte und scheinbar unentwirrbare Rätsel mit seinem üblichen, untrüglichen Scharfsinn gelöst.

»Wie ich noch jetzt bedauere, daß ich damals nicht mit Ihnen war!« rief ich aus.

»Das bedauere ich ebenfalls«, sagte Poirot, »denn Ihre Erfahrung hätte mir unschätzbare Dienste geleistet.«

Ich sah ihn unsicher von der Seite an. Durch lange Bekanntschaft gewitzigt, mißtraute ich seinen Komplimenten. Doch diesmal schien es ihm wirklich ernst zu sein. Und warum schließlich auch nicht? Ich verfügte über eine reichliche Erfahrung hinsichtlich der Methoden, die er anzuwenden pflegte.

»Mir fehlte damals besonders Ihre lebhafte Einbildungskraft, Hastings«, fuhr er fort. »Man braucht ein gewisses Maß an flotter Unterstützung. Mein Diener Georges, ein prächtiges Geschöpf, mit dem ich bisweilen den einen oder anderen Punkt erörterte, hat nicht ein Fünkchen Phantasie.«

Diese Bemerkung dünkte mich höchst belanglos.

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»Sagen Sie, Poirot, tritt denn niemals die Versuchung an Sie heran, Ihre Tätigkeit wieder aufzunehmen? Dieses passive Leben ...«

»Bekommt mir ausgezeichnet, mein Freund. In der Sonne zu sitzen - kann es etwas Bezaubernderes geben? Auf der Höhe des Ruhms vom Schauplatz abzutreten - welch erhabene Geste! Man raunt und tuschelt von mir: >Das ist Hercule Poirot! Der Große, der einzige! Was er leistet, hat nie zuvor jemand geleistet und wird auch nach ihm niemand leisten!< Eh bien - das genügt mir. Mehr verlange ich nicht. Ich bin eben bescheiden.«

Ich würde das Wort bescheiden bestimmt nicht benutzt haben. Mir schien es nämlich, als ob der Egoismus meines zierlichen Freundes mit den Jahren nicht verblaßt sei. Und seine augenblickliche Haltung, wie er sich in den Sessel zurücklegte, seinen Schnurrbart strich und wohlig und selbstzufrieden umherblickte, bestärkte mich in meiner Ansicht.

Wir saßen auf der Terrasse des Hotels Majestic, des größten und elegantesten in St. Loo, das eine herrliche Aussicht auf die See gewährt. Im Garten unter uns wiegten sich die Palmen. Die See leuchtete in einem tiefen, lieblichen Blau, der Himmel war klar, und die Sonne schien mit der leuchtenden Glut, die eine Augustsonne immer haben sollte, doch in England so oft leider nicht hat. Und ringsum ein emsiges Bienengesumm, ein angenehmer, munterer Laut - alles zusammen trug dazu bei, daß wir uns wunschlos zufrieden fühlten. Wenn das Wetter so blieb, würde der geplante achttägige Aufenthalt eine köstliche Erholung werden!

Ich nahm die Morgenzeitung auf, die meiner Hand entglitten war, und fuhr fort, mich mit den neuesten Ereignissen zu befassen. Die politische Lage schien unbefriedigend und gleichzeitig uninteressant zu sein. Unruhen in China ... ein langer Bericht über ein großangelegtes Schwindelunternehmen in der Hauptstadt. Im allgemeinen aber nichts, was man als besonders fesselnd oder aufregend hätte bezeichnen können.

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»Merkwürdige Sache, diese Papageienkrankheit«, bemerkte ich, indem ich das Blatt umschlug.

»Sehr merkwürdig.« »Zwei weitere Todesfälle in Leeds.« »Höchst bedauerlich.« Wieder drehte ich eine Seite um. »Noch immer kein Lebenszeichen von diesem Seton, der zu

einem Flug um die Welt gestartet ist. Schneidiger Kerl, das muß man sagen. Setons Wasserflugzeug, der >Albatros<, soll übrigens eine bedeutende Erfindung sein. Traurig, wenn er Pech gehabt hätte, obgleich noch kein Grund zu ernstlicher Sorge vorhanden ist. Er kann ja auf einer der Inseln im Stillen Ozean eine Notlandung vorgenommen haben.«

»Die Bewohner der Salomon-Inseln sind noch Kannibalen, nicht wahr?« geruhte Poirot sich freundlich zu erkundigen.

»Wenn man von solchen Leistungen liest«, sagte ich, ohne seinen Wissensdurst zu befriedigen, »erfüllt es einen mit Stolz, daß man Engländer ist.«

»Es tröstet über die Niederlagen in Wimbledon hinweg.« »Ich ... ich ...meinte ...« begann ich. Mit einer graziösen Handbewegung schnitt der kleine Franzose

meine versuchte Entschuldigung ab. »Nun, ich bin keine Amphibie wie die Maschine des armen

Hauptmanns Seton, sondern Kosmopolit«, verkündete er. »Und für die Engländer habe ich, wie Sie wissen, stets die größte Bewunderung gehegt. Zum Beispiel auch für die Gründlichkeit, mit der sie sich täglich der Lektüre ihrer Zeitung widmen.«

Meine Aufmerksamkeit wurde bereits wieder von politischen Nachrichten gefesselt.

»Na, dem Minister des Innern gibt man manch harte Nuß zu knacken«, schmunzelte ich.

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»Der Ärmste! Ja, ja, er hat so seine Sorgen. So viele und so schwere, daß er in den allerunwahrscheinlichsten Revieren nach Hilfe sucht.«

Ich starrte Poirot an. Mit einem feinen Lächeln zog er seine Morgenpost aus der

Tasche, fein säuberlich gebündelt, und aus dem dicken Stoß wählte er einen Brief aus, den er mir herüberreichte.

»Er muß uns gestern verfehlt haben«, sagte er. Ich las den Brief mit dem angenehmen Kitzel der Erregung. »Aber, Poirot«, rief ich, »das ist sehr schmeichelhaft!« »Meinen Sie, mein Freund?« »Nun, er rühmt doch in den wärmsten Ausdrücken Ihre

Geschicklichkeit.« »Damit hat er ja recht«, sagte Poirot, bescheiden seine Augen

niederschlagend. »Er bittet Sie, diese Angelegenheit für ihn zu untersuchen -

stellt es dar, als täten Sie ihm einen persönlichen Gefallen.« »Richtig, mein Teuerster. Es erübrigt sich, mir all das zu

wiederholen, da ich den Brief bereits selbst gelesen habe.« »Jammerschade! Nun ist's aus mit unserer Erholung hier.« »Wieso? Beruhigen Sie sich, es ist keineswegs aus.« »Doch, der Minister schildert die Sache als dringend.« »Vielleicht hat er recht - vielleicht auch nicht. Diese Politiker

geraten sehr leicht aus dem Häuschen. Ich habe selbst in der Deputiertenkammer in Paris ...«

»Gut, gut - wir sollten wirklich unsere Anordnungen treffen, Poirot. Der Expreß nach London ist bereits fort. Der nächste Zug ...«

»Nicht so stürmisch, Hastings; ich bitte Sie darum. Immer diese Erregung, immer dieser Aufruhr! Wir werden weder heute noch morgen nach London fahren.«

»Aber dieser Ruf ...«

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»Kümmert mich nicht. Ich gehöre nicht zu Ihrer Polizei, Hastings. Man fordert mich als Privatdetektiv auf, den Fall zu übernehmen. Und ich lehne es ab.«

»Sie lehnen ab?« »Freilich. Ich werde die Absage mit vollendeter Höflichkeit

schreiben, mein Bedauern ausdrücken, meine Entschuldigungen, werde erklären, daß ich untröstlich bin - aber was wollen Sie eigentlich? Ich habe mich in den Ruhestand zurückgezogen ... ich bin erledigt.«

»Sie sind nicht erledigt«, versicherte ich warm. »Da spricht der gute Freund. Und nebenbei haben Sie recht.

Die grauen Zellen arbeiten noch in alter Frische; die Arbeitsweise ist noch nicht veraltet, nicht überholt. Aber ich habe mich in den Ruhestand zurückgezogen, mein Freund. Aus - ein für allemal! Ich bin kein Bühnenstar, der dem ihn vergötternden Publikum ein Dutzend Abschiedsvorstellungen gibt. In voller Großmut sage ich: Man muß den jungen Leuten die Bahn frei machen. Vielleicht erweisen sie sich als ganz brauchbar - jedenfalls reicht ihr Können für diese fraglos langweilige Affäre des Innenministeriums.«

»Aber, Poirot, bedenken Sie doch das Kompliment, das diese Aufforderung in sich birgt.«

»Pah, über Komplimente bin ich erhaben! Der Innenminister, ein Mann mit gesundem Menschenverstand, sagt sich, wenn er mich vor den Wagen spannen kann, daß der Erfolg gewiß ist. Leider aber widerfährt dem Herrn Minister das Pech, daß Hercule Poirot seinen letzten Fall geklärt hat.«

Ich sah ihn an. Innerlich beklagte ich seine Hartnäckigkeit, da eine solche Aufgabe dem Weltruhm, dessen er sich bereits erfreute, noch weiteren Glanz verliehen hätte. Andererseits rang mir seine unnachgiebige Haltung allerdings Bewunderung ab.

Plötzlich schoß mir ein Gedanke durch den Kopf.

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»Ich wundere mich, daß Sie keine Angst haben«, lächelte ich. »Eine derartig nachdrückliche Erklärung wird sicherlich die Götter herausfordern.«

»Unmöglich, daß irgendwer die Entscheidung Hercule Poirots zu erschüttern vermöchte!«

»Unmöglich, Poirot?« »Richtig, mein Freund, man sollte ein solches Wort nicht im

Munde führen. Ma foi, ich behaupte nicht, daß ich, sollte eine Kugel hier neben mir in die Wand einschlagen, den Fall nicht untersuchen würde. Schließlich ist man doch nur ein Mensch!«

Wieder lächelte ich. Ein kleines Kiesel war gerade unweit von uns auf die Terrasse geschnellt, und Poirots phantasievolle Ableitung regte auch meine Einbildungskraft an. Jetzt erhob sich mein Freund und nahm den Kiesel auf, während er gleichzeitig weiterredete: »Ja, man ist nur ein Mensch. Man ist der schlafende Hund, gut und brav, doch der schlafende Hund kann aufgestöbert werden.«

Er nickte ein paarmal, ziemlich geistesabwesend, wie mir schien. Und ohne ersichtlichen Grund ging er zu meinem Erstaunen plötzlich die Stufen hinab, die von der Terrasse zum Garten führten. In diesem Augenblick bog ein junges Mädchen um eine der Hecken und eilte zur Treppe.

Ich hatte eben die Feststellung gemacht, daß es eine auffallend hübsche junge Dame war, als meine Aufmerksamkeit durch Poirot abgelenkt wurde, der - ohne zu achten, wohin er trat - über eine Wurzel gestolpert und zu Boden gestürzt war. Er befand sich gerade der jungen Dame gegenüber, und vereint halfen sie und ich ihm wieder auf die Beine. Obwohl ich mich mit meinem Freund beschäftigte, prägte sich meinem Hirn ein Bild von dunklem Haar, einem kecken Gesicht und großen, veilchenblauen Augen ein.

»Ich bitte tausendmal um Verzeihung!« stammelte Poirot. »Mademoiselle, Sie sind zu liebenswürdig. Wie ich meine Ungeschicklichkeit bedauere - au! - mein Fuß schmerzt ziemlich

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stark. Nein, nein, es ist nichts Ernstliches... ein verstauchter Knöchel. In wenigen Minuten wird's vorbei sein. Aber wenn Sie, Hastings, und Mademoiselle mich zwischen sich nehmen würden - ach, es ist beinahe unbescheiden, das zu verlangen.«

Ich an seiner Linken und die hübsche Fremde an seiner Rechten - so schafften wir Hercule Poirot bald zu einem Stuhl auf der Terrasse, worauf ich riet, einen Arzt holen zu lassen. Doch mein Freund verbat es sich rundweg.

»Ich sagte Ihnen doch bereits, daß es nichts ist. So ein verknackster Knöchel bereitet im Augenblick böse Pein, aber es geht rasch vorüber.« Er schnitt eine Grimasse. »Sehen Sie, in wenigen Sekunden werde ich es schon vergessen haben ... Mademoiselle, noch einmal tausend Dank für Ihre Güte! Bitte, wollen Sie nicht Platz nehmen?«

Die junge Dame setzte sich. »Ich glaube ja auch, daß man sich keine Sorgen zu machen

braucht - aber möchten Sie nicht trotzdem lieber einen Arzt kommen lassen?« unterstützte sie mich.

»Mademoiselle, ich versichere Ihnen, es ist eine Geringfügigkeit. Das Vergnügen, das mir Ihre Gesellschaft bereitet, verjagt bereits den Schmerz.«

»Das ist köstlich!« lachte die Unbekannte. »Ein Cocktail gefällig?« mischte ich mich ein. »Nun ...« Sie zauderte. »Also ja, wenn Sie mittrinken.« »Martini?« »Ja, bitte.« Ich ging, um die Bestellung aufzugeben. Bei meiner Rückkehr

fand ich Poirot und das junge Mädchen in angeregtester Unterhaltung begriffen.

»Denken Sie sich, Hastings«, sagte er, »jenes Haus dort auf der Landspitze, das wir so bewundert haben, gehört Mademoiselle.«

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»Tatsächlich?« Ich ging auf meines Freundes Bemerkung ein, obgleich ich mich nicht entsann, jemals irgendwelche Bewunderung geäußert zu haben. In Wirklichkeit hatte ich das Haus kaum wahrgenommen. »Es sieht verwunschen und unnahbar aus, wie es so abgesondert und fern von allen übrigen Behausungen daliegt.«

»Man nennt es das Endhaus«, erläuterte unser Gast. »Ach, ich hänge sehr daran - aber es ist ein baufälliger, alter Besitz, der mehr und mehr zur Ruine wird.«

»Sind Sie der letzte Sproß eines alten Geschlechts, Mademoiselle?«

»Geschlechts? Oh, eine so großspurige Bezeichnung beanspruchen wir Buckleys nicht! Aber immerhin ist die Familie seit zwei oder drei Jahrhunderten hier ansässig. Mein Bruder starb vor drei Jahren, so daß ich die letzte bin.«

»Das ist traurig. Und Sie leben dort ganz allein?« »Nun, ich bin ziemlich oft verreist, und wenn ich mich hier

aufhalte, geht immer viel fröhliches Volk im Haus aus und ein.« »Wie schrecklich modern! Und ich malte mir aus, wie Sie in

finsteren, geheimnisvollen Räumlichkeiten wohnten, in denen ein Familiengeist spukt.«

»Herrlich! Welch eine begnadete Phantasie Sie besitzen! Nein, es spukt nicht im geringsten. Oder wenn - dann ist der Geist sehr wohlwollend gesinnt. Ich bin nämlich innerhalb von drei Tagen dreimal mit knapper Not dem Tode entronnen, so daß wirklich ein Zauber über meinem Leben walten muß.«

Kerzengerade saß plötzlich mein Freund. »Dem Tode entronnen? Das interessiert mich, Mademoiselle.« »Nichts Aufregendes! Ein paar alltägliche Unfälle.« Sie bog

mit einem Ruck den Kopf beiseite, weil eine Wespe vorbeisummte. »Verflixte Wespen! Da muß irgendwo ein Nest in der Nähe sein.«

»Haben Sie einen solchen Groll gegen Wespen und Bienen, Mademoiselle? Sind Sie vielleicht einmal gestochen worden?«

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»Nein. Aber ich hasse ihre Art, wie sie einem haarscharf am Gesicht vorbeiflitzen.«

In diesem Augenblick kamen die Cocktails. Wir hielten unsere Gläser hoch und machten die üblichen albernen Redensarten.

»Ich bin hier im Hotel als Cocktailliebhaberin bekannt«, sagte Miss Buckley. »Vermutlich hat man sich schon gewundert, weil ich mich so lange nicht blicken ließ.«

Poirot räusperte sich und setzte sein Glas nieder. »Ah, eine Tasse gute Schokolade ist auch nicht zu verachten!« murmelte er. »Aber in England versteht man sie nicht zu bereiten. Dafür gibt's in England anderes Hübsches. Die jungen Mädchen zum Beispiel, die Art, wie sie ihre Hüte aufsetzen und abnehmen ... so niedlich ... so leicht und ungezwungen.«

Das Mädchen blickte ihn erstaunt an. »Was meinen Sie? Warum sollen wir das nicht?« »Das können Sie mich nur fragen, weil Sie jung sind - so jung,

Mademoiselle. Mir hingegen erscheint es das allernatürlichste, eine Frisur zu haben, hoch und steif, und oben drüber schwebt ein Hutungetüm, mit vielen Hutnadeln festgehalten. Da und da und da!«

Er vollführte drei boshafte Bewegungen in der Luft, oberhalb seines Kopfes.

»Aber das ist doch entsetzlich unbequem!« »Das will ich meinen!« seufzte Poirot, und keine geplagte

Modedame hätte es mit mehr Inbrunst beteuern können. »Wenn der Wind blies, war es eine Qual - Migräne die unausbleibliche Folge.«

Miss Buckley zog den einfachen, breitrandigen Filzhut, der ihr pikantes Gesicht so wirkungsvoll umrahmte, herunter und warf ihn auf den leeren vierten Stuhl.

»Und jetzt machen wir dies!« lachte sie übermütig. »... was vernünftig und bezaubernd ist«, vollendete Poirot mit

einer leichten Verbeugung.

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Ich betrachtete derweil mit stummem Wohlgefallen den hutlosen Mädchenkopf. Das dunkle Haar war gelockt und verlieh seiner Besitzerin etwas Koboldartiges. Und etwas Koboldartiges umwitterte sie überhaupt. Das kleine, lebhafte Gesicht, von asiatisch anmutendem Schnitt, die ungewöhnlich großen blauen Augen und etwas anderes - etwas Gejagtes, Fesselndes, Atemberaubendes. War es ein Hauch von Leichtsinn? Dunkle Schatten lagen unter den Augen.

Die Terrasse, auf der wir saßen, war ziemlich leer. Die Hauptterrasse, die die meisten Gäste bevorzugten, begann gleich an der Ecke des Gebäudes und zog sich rechtwinklig oberhalb der Klippen hin, die hier steil zur See abfielen.

Jetzt tauchte an dieser Hausecke ein Mann auf, sonnenverbrannt, frisch und sorglos, mit dem schaukelnden Gang, der den Seeleuten eigen ist.

»Nick ... Nick!« rief er. Miss Buckley erhob sich. »Aha, ich wußte, daß man mich suchen würde. George, hier

bin ich.« »Freddie lechzt nach einem Trunk. Komm doch.« Mit unverhüllter Neugier streifte sein Auge Poirot, der sich

beträchtlich von der Mehrzahl der Freunde Nicks unterscheiden mußte.

Das Mädchen schickte sich an, die gegenseitige Vorstellung zu übernehmen.

»Kapitän Challenger - Mister ...« Doch zu meiner Überraschung nannte ihr Poirot den Namen,

auf den sie wartete, nicht. Statt dessen stand er auf, verbeugte sich sehr förmlich und murmelte: »Von der englischen Marine? Oh, ich habe eine Hochachtung vor der Flotte Großbritanniens.«

Derartige Bemerkungen zählen nicht zu der Art, die ein Engländer freudig begrüßt. Kapitän Challenger schoß das Blut ins Gesicht, und Nick Buckley rettete die Situation auf ihre Weise.

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»Los, George. Gaff nicht so. Gehen wir zu Freddie und Jim.« Lächelnd wandte sie sich dann an Poirot: »Besten Dank für den Cocktail. Ich hoffe, daß der Knöchel Ihnen keinen bösen Streich mehr spielt.«

Mit einem flüchtigen Nicken, das mir galt, schob sie ihre Hand in des Seemanns Arm, und gemeinsam verschwanden sie beide um die Ecke.

»Also, das ist einer von Mademoiselles Freunden«, brummte Poirot nachdenklich. »Einer von dem fröhlichen Volk. Was halten Sie von ihm? Fällen Sie Ihr sachverständiges Urteil, Hastings. Ist er das, was Sie eine ehrliche Haut zu nennen pflegen?«

Ich überlegte eine Sekunde, um mir genau darüber klarzuwerden, was Poirot wohl unter einer ehrlichen Haut verstünde, und erwiderte dann unentschlossen: »Er scheint, soweit ein oberflächlicher Blick überhaupt ein Urteil gestattet, nicht übel zu sein.«

»Das möchte ich wirklich wissen«, sagte Hercule Poirot. Die junge Dame hatte ihren Hut liegenlassen. Poirot nahm ihn

auf und wirbelte ihn auf der Spitze seines Zeigefingers geistesabwesend herum. »Hegt er wohl zärtliche Gefühle für sie? Wie denken Sie darüber, Hastings?«

»Mein lieber Poirot, wie kann ich Ihnen das verraten! Geben Sie mir lieber den Hut, den die Dame nötig haben wird. Ich will ihn ihr bringen.«

Mein Freund kümmerte sich nicht um meine Aufforderung. Nach wie vor tanzte der Hut auf seinem Finger.

»Nun geben Sie ihn doch her!« »Noch nicht. Dies Spiel gefällt mir ... Ich werde alt und

kindisch, nicht wahr, mon cher?« Dieser Satz deckte sich so vollkommen mit dem, was ich

dachte, daß ich fassungslos war, als ich es in Worte gekleidet hörte. Poirot stieß ein leises Gekicher aus und legte dann, vornübergeneigt, einen Finger gegen die Nase.

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»Aber nein - so gänzlich blöde bin ich doch nicht, wie Sie denken. Gewiß wollen wir den Hut zurückgeben - jedoch später. Wir werden ihn persönlich im Endhaus abliefern und uns so die Gelegenheit verschaffen, die reizende Miss Nick wiederzusehen.«

»Poirot! Weiß Gott, ich glaube, Sie haben sich verliebt.« »Sie ist ein hübsches Mädchen, wie?« »Haben Sie sich nicht mit eigenen Augen überzeugt? Was

fragen Sie mich danach?« »Weil ... ja, sehen Sie, ich kann nicht unbefangen urteilen.

Heutzutage ist für mich alles Junge schön. Jeunesse ... jeunesse - es ist die Tragik meiner Jahre. Deshalb nehme ich meine Zuflucht zu Ihnen. Ihr Urteil ist infolge Ihres langen Aufenthalts in Argentinien auch nicht auf der Höhe der Zeit, doch nicht so altmodisch wie das meinige. Miss Nick ist hübsch, ja? Sie hat die Sex-Appeals?«

»Ein Sex-Appeal genügt vollkommen, Poirot. Und die Antwort muß meines Erachtens bejahend ausfallen. Warum nehmen Sie so lebhaften Anteil an der Dame?«

»Tue ich denn das?« »Nun, erinnern Sie sich doch, was Sie mich eben gefragt

haben!« »Mon ami, es besteht ein kleines Mißverständnis zwischen

uns, das ich gleich klären möchte. Möglich, daß die Dame mich fesselt - aber viel mehr fesselt mich ihr Hut.«

Machte er Witze? Doch nein, es schien ihm ernst zu sein. »Ja, Hastings, dieser Hut hier!« Er hielt ihn mir auf

hocherhobenem Finger unter die Augen. »Bemerken Sie den Grund meines Interesses?«

»Es ist ein netter Hut, wenngleich ein ziemlich alltäglicher«, versicherte ich verwirrt. »Eine Menge junger Mädchen laufen mit solchen Hüten herum,«

»Sie irren - nicht mit einem solchen!«

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Ich musterte die Kopfbedeckung genauer. »Sehen Sie, Hastings?« »Ein glatter Haarfilz. Erstklassige Ware ...« »Ich verlange von Ihnen keine Beschreibung des Hutes.

Jedenfalls zeigen mir Ihre Worte, daß Sie nicht sehen. Wann sehen Sie eigentlich mal? Es erstaunt mich immer von neuem, wie selten das vorkommt! Aber geben Sie doch nur acht, Sie liebe, alte Schlafmütze - es ist nicht nötig, die grauen Gehirnzellen zu bemühen, die Augen allein genügen. Geben Sie gut acht, geben Sie acht...«

Und dann endlich sah ich, worauf er meine Aufmerksamkeit lenken wollte. Der Hut drehte sich jetzt langsam auf seinem Finger, und dann steckte er jenen Finger geschickt durch ein Loch in der Krempe. Als Poirot merkte, daß ich endlich die Bedeutung seiner Rede erfaßt hatte, zog er den Finger heraus und reichte mir den Hut ... Es war ein kleines, kreisrundes Loch, dessen Zweck ich mir nicht vorzustellen vermochte.

»Entsinnen Sie sich, wie Miss Nick zurückzuckte, als eine Biene ganz nahe an ihrem Gesicht vorüberflog? Nun haben wir davon das Loch im Hut ...!«

»Aber eine Biene kann doch nicht ein solches Loch machen!« »Sehr richtig geurteilt - Ihr Scharfsinn ist fabelhaft, Hastings.

Nein, eine Biene oder Wespe kann es nicht. Wohl aber eine Kugel.«

»Eine Kugel?« »Allerdings. Eine Kugel wie diese.« Er streckte mir die Handfläche entgegen, auf der ein kleiner

Gegenstand lag. »Eine unnütz vergeudete Kugel, mon ami. Das war nämlich

der vermeintliche Kiesel, der auf die Terrasse aufprallte, als wir vorhin plauderten. Eine abgeschossene Kugel!«

»Sie meinen ...«

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»Ich meine, daß ein einziger Zoll genügt haben würde, damit das Loch nicht in der Krempe, sondern im Kopf säße. Ist Ihnen jetzt mein Interesse verständlich, Hastings? Sie hatten übrigens recht, als Sie meinten, man solle das Wort unmöglich nicht gebrauchen. Ja, man ist nur ein Mensch ... Ah! Aber der Schütze beging einen schweren Fehler, als er ein Dutzend Meter von Hercule Poirot entfernt auf sein Opfer schoß! Ah, das wird er zu büßen haben! Sehen Sie jetzt ein, daß wir in das einsame Haus dort auf der Landzunge eindringen und mit Miss Nick wieder Fäden anknüpfen müssen? >Innerhalb von drei Tagen dreimal mit knapper Not dem Tode entronnen<, sagte sie nicht so? Wir dürfen nicht zögern, Hastings. Die Gefahr ist in allernächster Nähe.«

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»Poirot«, sagte ich zu meinem Freund, »ich habe nachgedacht.«

»Eine vortreffliche Übung. Fahren Sie damit fort.« Wir nahmen an einem kleinen Tisch nahe beim Fenster den

Lunch ein. »Dieser Schuß muß ganz dicht bei uns abgefeuert worden sein.

Und dennoch haben wir ihn nicht gehört.« »Und Sie meinen, daß man ihn in dieser friedlichen Stille, in

der das Plätschern des Wellengekräusels der einzige Laut ist, hätte vernehmen müssen?«

»Freilich.« »Nun, ganz so sonderbar, wie Sie zu glauben scheinen, ist es

nicht. An gewisse Geräusche gewöhnt man sich so schnell, daß man ihrer kaum noch gewahr wird. Den ganzen Vormittag, mein Lieber, statteten Rennboote der Bucht einen Besuch ab. Zuerst störte es Sie nicht wenig, bald darauf merkten Sie es gar nicht mehr. Aber bei dem Radau, den nur eins dieser Boote vollführt, könnte auch ein Maschinengewehr abgefeuert werden, ohne daß Sie darauf achten würden.«

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»Ja, das stimmt.« »Ah, voilà!« raunte Poirot. »Mademoiselle und ihre Freunde,

die offenbar ebenfalls hier essen wollen. Daher muß ich den Hut zurückgeben. Aber das schadet nichts. Die Angelegenheit ist ernsthaft genug, um einen Sonderbesuch zu rechtfertigen.«

Hurtig sprang er von seinem Stuhl auf, durchquerte den Raum und überreichte den Hut gerade in dem Augenblick, als Miss Buckley und ihr Gefolge sich zu Tisch setzten.

Es waren vier Personen: Nick Buckley, Kapitän Challenger, ein anderer Herr und eine andere junge Dame. Von unserem Platz aus konnten wir sie nur schlecht beobachten. Von Zeit zu Zeit dröhnte das Lachen des Seemanns - eine schlichte, gute Seele anscheinend -, dem ich bereits Wohlwollen entgegenbrachte.

Mein Freund war während der Mahlzeit einsilbig und zerstreut. Er zerkrümelte sein Weißbrot, stieß dann und wann einen wunderlichen, kurzen Ausruf hervor, der wie ein Stoßgebet klang, und malte mit seinem Obstmesser unleserliche Hieroglyphen auf das schneeweiße Tischtuch. Und da meine verschiedenen Versuche, eine Unterhaltung anzuknüpfen, kein Entgegenkommen fanden, gab ich sie schließlich auf.

Er blieb auch noch am Tisch sitzen, nachdem er längst seinen Käse verzehrt hatte. Als jedoch die andere Gesellschaft aufbrach, erhob er sich ebenfalls, und wir folgten ihr in die Halle, wo Poirot schnurstracks auf Nick zuschritt.

»Mademoiselle, darf ich Sie bitten, mir eine Sekunde allein Gehör zu schenken?«

Miss Buckley runzelte die Stirn, und ich vergegenwärtigte mir ihre Gefühle. Sie hatte wohl Angst, daß dieser wunderliche, kleine Ausländer sich zu einer Plage auswachsen könnte. Ziemlich unwillig trat sie ein paar Schritte beiseite.

Unmittelbar darauf breitete sich ein Ausdruck der Überraschung über das Koboldgesichtchen und wurde immer

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deutlicher, je länger Poirot in seinem hastigen Getuschel fortfuhr.

Ich selbst fühlte mich derweil recht unbehaglich, bis Challenger mir taktvoll zu Hilfe kam, indem er mir eine Zigarette anbot und ein paar höfliche Bemerkungen machte. Wir hatten uns gegenseitig abgeschätzt und waren nicht abgeneigt, Freunde zu werden. Ich bildete mir ein, daß ich auf jeden Fall besser zu ihm paßte als der Mann, in dessen Gesellschaft er den Lunch eingenommen hatte, dieser magere, blonde, geschniegelte Jüngling mit der fleischigen Nase und der überbetonten Eleganz, mit dem anmaßenden Gebaren und lässigen Näseln. Seine Glätte und Gelecktheit mißfielen mir sehr.

Dann musterte ich verstohlen die fremde Frau. Sie saß mir gegenüber in einem bequemen Korbstuhl und nahm gerade den Hut ab. Eine durchaus nicht alltägliche Erscheinung - eine müde, gelangweilte Madonna, dieser Ausdruck kennzeichnete ihr Wesen am besten. Sie hatte helles, fast farbloses Haar, das ein Scheitel in der Mitte teilte und das tief über die Ohren gekämmt im Nacken in einen Knoten geschlungen war. In dem bleichen, abgezehrten und dennoch fesselnden Gesicht leuchteten lichtgraue Augen mit weiten Pupillen.

»Setzen Sie sich doch, bis Ihr Freund seine Zwiesprache mit Nick beendigt hat«, sagte sie plötzlich, während sie mich mit seltsam weltfernem Blick betrachtete.

Sie sprach matt und geziert und langsam. Niemals zuvor war mir eine so müde Schönheit begegnet. Seelisch müde, nicht körperlich, als ob sie alles und jedes in dieser Welt schal und wertlos gefunden hätte.

»Miss Buckley hatte heute vormittag die große Liebenswürdigkeit, meinem Freunde zu helfen, als er sich im Garten den Fuß verstauchte«, erklärte ich, indem ich ihrer Aufforderung nachkam.

»Ja, Nick erzählte es uns.« Ihr Blick wurde schärfer. »Nichts Schlimmes mit dem Knöchel, nicht wahr?«

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Ich fühlte, wie ich unter diesen unentwegten Blicken errötete. »Eine vorübergehende Verstauchung«, gab ich zur Antwort.

»Oh, das ist gut. Ich freue mich zu hören, daß Nick das Ganze nicht etwa erfand. Sie ist die talentierteste kleine Lügnerin, die je unter Gottes Himmel lebte. Erstaunlich - wirklich eine Begabung.«

Was hätte ich darauf erwidern sollen? Und mein Unbehagen schien sie höchlichst zu ergötzen.

»Nick ist eine meiner ältesten Freundinnen«, sagte sie, »und ich meine immer, Treue sei solch eine fade Tugend, wie? Hauptsächlich von den Schotten gepflegt, wie Sparsamkeit und Heiligung des Sonntags. Aber Nick ist wirklich eine Lügnerin, nicht wahr, Jim? Jenes Märchen über die Bremsen ihres Autos - und Jim beteuert, daß alles von A bis Z erfunden ist.«

Der geschniegelte Geck sagte mit seiner lässigen, weichlichen Stimme: »Ich verstehe etwas von Autos.«

Er drehte den Kopf zur Seite. Draußen stand unter zahlreichen anderen Fahrzeugen ein langer, roter Wagen. Er schien länger und röter zu sein als jeder Wagen auf diesem Erdball und hatte eine lange, glänzende Haube. Ein Superwagen!

»Ist das Ihr Auto?« erkundigte ich mich, einer plötzlichen Eingebung folgend.

»Ja«, antwortete der Jüngling nickend. Mich überfiel das Gelüst zu entgegnen: So sieht es auch aus! Glücklicherweise gesellte sich Poirot in diesem Augenblick zu

uns. Ich erhob mich, worauf er mich beim Arm faßte, sich flüchtig gegen die Gesellschaft verneigte und mich blitzschnell von dannen zog.

»Ich habe vereinbart, mein Freund, daß wir Mademoiselle um halb sieben besuchen. Bis dahin wird sie von der Autofahrt zurück sein. Ja, ja, gewiß wird sie zurück sein - heil und gesund.«

Auf seinem Gesicht lag Sorge, und seine Worte klangen bedrückt.

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»Was haben Sie denn mit ihr gesprochen?« »Ich forderte sie auf, mir eine Unterredung zu gewähren, so

bald als möglich. Natürlich sperrte sie sich ein wenig. Sie denkt - ich kann ihre Gedanken förmlich durch ihr Hirn spazieren sehen! -, wer ist das, dieses Männchen? Wenn sie gekonnt hätte, würde sie mich abschlägig beschieden haben. Doch das ist nicht so leicht bei einem so plötzlichen, unerwarteten Überfall; da fällt es leichter, sich zu fügen. Und sie hat verlauten lassen, daß sie um sechs Uhr dreißig zurück sein wird. Voilà!«

Ich bemerkte, daß dann ja alles in schönster Ordnung sei, aber meine Bemerkung fand wenig Wohlwollen. Tatsächlich war Poirot so sprungbereit wie die sprichwörtliche Katze. Den ganzen Nachmittag rannte er in unserem Wohnzimmer umher, hielt halblaute Selbstgespräche und rückte die Nippsachen bald auf diesen, bald auf jenen Fleck. Wenn ich ihn anredete, winkte er ab oder schüttelte den Kopf.

Schließlich brachen wir kurz vor sechs Uhr auf. »Unglaublich, daß jemand in einem Hotelgarten einen Schuß

gewagt haben sollte«, griff ich, während wir die Terrassenstufen hinabstiegen, auf das vormittägliche Ereignis zurück. »Nur ein Verrückter wäre dazu fähig.«

»Das kann ich nicht so ohne weiteres unterschreiben, Hastings. Eine Bedingung vorausgesetzt, würde es sogar eine leidlich sichere Sache sein. Erstens ist der Garten öde und verlassen. Die Leute, die im Hotel verkehren, gleichen einer Schafherde. Weil sich die Sitte eingebürgert hat, auf der Terrasse zu sitzen, die eine Aussicht auf die Bucht bietet, sitzen alle auf dieser Terrasse. Bloß ich, der närrische Sonderling, sitze dort, wo ich den Garten überblicke. Und selbst von dort aus sah ich nichts. Allerdings gibt es Deckung in Hülle und Fülle: Bäume, Palmengruppen, blühendes Strauchwerk. In schönster Behaglichkeit könnte sich da jemand ungesehen verbergen, um zu warten, bis Mademoiselle an ihm vorbeikommen würde. Und ganz bestimmt kommt sie auf diesem Weg, weil die Hauptstraße einen großen Bogen beschreibt und Mademoiselle Nick Buckley zu jenen

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Leuten gehört, die sich immer verspäten und deshalb immer abschneiden müssen.«

»Trotzdem ist das Wagnis ungeheuer. Er hätte doch gesehen werden können, und ein Revolverattentat vermag auch der Geschickteste hinterher nicht als einen Unfall zu frisieren.«

»Nein - als einen Unfall nicht.« »Was meinen Sie?« »Nichts - eine Idee, die ebensogut der Berechtigung entbehren

mag. Halten wir uns daher vorläufig nicht mit ihr auf, sondern kümmern wir uns lieber um das, was ich vorhin sagte: eine wesentliche Bedingung.«

»Und wie heißt sie?« »Bestimmt werden Sie mir das erzählen können, Hastings.« »Warum soll ich Sie des Vergnügens berauben, auf meine

Kosten gescheit zu sein?« »Schau, schau! Welch beißender Spott! Nun, was in die Augen

springt, ist meines Erachtens das Folgende: Der Beweggrund zu dem Mordanschlag kann nicht offenkundig, nicht einleuchtend sein. Wenn er es wäre, dann freilich wäre die Gefahr tatsächlich zu groß, als daß der Attentäter sich ihr aussetzen dürfte. Man würde raunen: >Ob es nicht etwa Herr Soundso tat? Wo war Herr Soundso, als der Schuß abgefeuert wurde?< Nein, Hastings, Ursache und Zweck des Mordes können nicht offenkundig sein. Und das eben läßt mir keine Ruhe. Tausendmal versuche ich mich selbst zu beschwichtigen, indem ich mir einrede: >Sie sind zu vieren. Keine Gefahr, solange sie alle zusammen sind ...< Meine Angst wird dadurch nicht gebannt. Ich muß wissen, was es mit diesen drei Unfällen auf sich hat.«

Er machte jäh auf dem Absatz kehrt und fuhr fort: »Es ist noch sehr zeitig, Hastings. Wir werden den anderen Weg einschlagen; dem Garten können wir keine Geheimnisse mehr ablauschen. Nähern wir uns Miss Nicks Residenz lieber auf dem offiziellen Zugang!«

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Unser Weg führte aus dem Vorderportal des Hotels hinaus und einen steilen, rechts seitlich gelegenen Hügel empor. Oben zweigte ein schmaler Pfad ab. »Nur zum Endhaus«, belehrte den nicht Ortskundigen ein Schild. Wir folgten diesem Pfad, der nach etlichen hundert Metern einen scharfen Knick machte und an einem verfallenen Tor endete, dem ein neuer Anstrich gutgetan haben würde.

Jenseits des Gattertors lag links eine kleine Pförtnerwohnung. Sie bildete einen auffallenden Gegensatz zu dem verwitterten Tor und dem grasbewachsenen Weg. Schmuck und gepflegt war der kleine Garten, der sie umgab; die Fensterrahmen und die Läden waren erst kürzlich gestrichen worden, und schlohweiße Gardinen bewegten sich leise im Luftzug.

Über ein Blumenbeet gebückt, jätete ein Mann in einer abgetragenen Norfolkjacke. Als die Pforte knarrte, wandte er sich um, und wir sahen in ein wetterhartes Greisengesicht. Aber trotz seiner Jahre war der Mann kernig und rüstig; die blauen, zwinkernden Augen hatten nichts von ihrer Schärfe eingebüßt.

»Guten Tag!« grüßte er, als wir vorüberschritten. Ich erwiderte seinen Gruß, und während wir auf dem

grasbewachsenen Weg weitergingen, hatte ich das untrügliche Gefühl, daß diese blauen Augen forschend an unseren Rücken hafteten.

»Ich wundere mich ...«, sagte Poirot nachdenklich. Doch dann geruhte er nicht zu erklären, worüber er sich wunderte.

Das Haus selbst, groß und geräumig, bot einen ziemlich trübseligen Anblick. Es lag eingepfercht zwischen hohen Bäumen, deren Zweige das Dach berührten, und bedurfte dringend gründlicher Reparaturen. Poirot zog die Glocke, eine altmodische Glocke, an der man mit herkulischer Kraft reißen mußte, damit sie einen Ton von sich gab, die dann aber, nachdem sie sich einmal zum Bimmeln entschlossen hatte, unentwegt traurig widerhallte.

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Eine Frau mittleren Alters öffnete die Tür. In ihrem einfachen schwarzen Kleid wirkte sie sehr bescheiden und sehr achtbar.

Miss Buckley, gab sie an, sei noch nicht zurückgekehrt, und Poirot sagte ihr daraufhin, daß wir uns mit ihrer Herrin verabredet hätten. Es gelang ihm jedoch nicht so ohne weiteres, sie hiervon zu überzeugen, denn augenscheinlich brachte sie wie sehr viele meiner Landsleute einem Ausländer von vornherein Mißtrauen entgegen, und ich schmeichle mir, daß meine Erscheinung den Ausschlag gab. Wir wurden für würdig befunden und in das Wohnzimmer geleitet.

Hier war nichts von Trübseligkeit zu spüren. Der Raum ging auf die See hinaus, und hell flutete der Sonnenschein durch die Fenster. Bei der etwas schäbigen Einrichtung stießen die verschiedensten Stile aufeinander - allermodernste, aber billige Sachlichkeit mußte sich mit der behäbigen Gemütlichkeit des Viktorianischen Zeitalters vertragen. Die Vorhänge waren aus verblichenem Brokat, während man für die neuen Bezüge bunte, lebhafte Töne gewählt hatte und die Kissen wahrhaft schreiende Farben aufwiesen. Von den Wänden blickten Familienbilder herab. Einige dieser Damen und Herren mußten sich zu Lebzeiten eines bemerkenswert guten Aussehens erfreut haben. Ein Plattenspieler, dessen Platten achtlos herumlagen, und ein Kofferradio sorgten für Miss Nicks musikalische Unterhaltung; für Bücher schien sie hingegen nichts übrig zu haben. Nur eine Zeitung lag aufgeschlagen auf der Sofalehne. Poirot hob sie auf, um sie, als er sah, daß es der >St. Loo Herald< war, mit einer verächtlichen Grimasse wieder an Ort und Stelle zu legen. Irgend etwas bewog ihn indes, sie ein zweites Mal aufzunehmen, und während er eine Spalte überflog, trat Nick Buckley ein.

»Bring das Eis, Ellen!« rief sie, ehe sie die Tür schloß. »So, da bin ich, meine Herren - mit Mühe und Not habe ich die anderen abgeschüttelt. Nun spannen Sie mich nicht länger auf die Folter - was gibt es?«

»Gemach, Mademoiselle«, entgegnete mein Freund.

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Die Frau, die uns die Tür geöffnet hatte, brachte Eis und ein Tablett mit Flaschen, und Nick mixte sachkundig die Cocktails, ohne mit ihrem Geplapper aufzuhören. Schließlich machte sie Poirots Schweigsamkeit, so ungewohnt bei ihm, stutzig. Mitten im Gläserfüllen hielt sie inne und fragte kurz: »Nun?«

»Erlauben Sie mir, Mademoiselle, auf Ihre Gesundheit zu trinken.« Poirot nahm ihr den Cocktail aus der Hand. »Auf Ihre stetige gute Gesundheit.«

Dem klugen Mädchen entging der Nachdruck, den er auf seine Worte legte, nicht.

»Ist ... ist ...« »Ja, Mademoiselle. Dies.« Er hielt ihr die Kugel hin. »Wissen

Sie, was das ist?« »Natürlich. Eine Kugel«, erwiderte sie verwirrt. »Richtig, Mademoiselle. Und heute vormittag flog nicht eine

Wespe, sondern diese Kugel an Ihrem Gesicht vorbei.« »Sie meinen doch nicht im Ernst, daß irgendein

verbrecherischer Narr in einem Hotelgarten schoß?« »Gewiß meine ich das.« »Also, wenn da nicht ein Zauber über meinem Leben waltet!«

rief Nick. »Das ist nun Nummer vier.« »Ja«, sagte Poirot. »Das ist Nummer vier. Jetzt erzählen Sie

mir bitte Näheres über die anderen drei - Unfälle.« Sie hob überrascht den Kopf. »Ich muß mich vergewissern, Mademoiselle, daß es wirklich

Unfälle waren.« »Was soll es denn sonst gewesen sein?« »Mademoiselle, machen Sie sich bitte auf einen bösen Schreck

gefaßt. Wie nun, wenn Ihnen jemand nach dem Leben trachtete?«

Nicks Antwort bestand aus einem Lachanfall, der überhaupt nicht enden wollte.

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»Gott, ist das köstlich!« Wieder ein perlendes Lachen. »Mein lieber Herr, wer in aller Welt könnte den Einfall haben, mir nach dem Leben zu trachten? Ich bin nicht die junge, schöne Erbin, durch deren Tod Millionen frei werden. Wenn doch nur jemand versuchte, mich zu töten - was würde das für eine herrlich gruselige Geschichte sein! Aber ich fürchte, da besteht wenig Hoffnung.«

»Wollen Sie mir diese Unfälle schildern, Mademoiselle?« »Natürlich - doch es steckt rein gar nichts dahinter. In meinem

Schlafzimmer hängt ein schweres Bild über meinem Bett, das in der Nacht herabfiel. Zufällig hatte ich unten eine Tür schlagen hören und ging hinunter, um sie zu schließen. So wurde ich gerettet, denn das Ungetüm hätte mir sicher den Kopf zertrümmert. Das war Nummer eins.«

»Weiter, Mademoiselle«, drängte Poirot ohne den Anflug eines Lächelns. »Jetzt Nummer zwei.«

»Oh, das ist noch dümmer. Ich benutze, wenn ich in der See bade, meist einen steilen Ziegenpfad, der an den Klippen abwärts zu einem Felsen führt, der sich prächtig zum Kopfsprung eignet. Nun, und da löste sich irgendwie ein Block, kam hinter mir hergerollt und verfehlte mich nur um wenige Zentimeter. Der dritte Unfall gleicht diesen beiden in nichts; Mit den Bremsen meines Autos war etwas nicht in Ordnung; der Garagenwärter hat es mir lang und breit erklärt, doch hörte ich nicht recht zu. Jedenfalls würden die Bremsen, wenn ich durch mein Tor und den Hügel abwärts gefahren wäre, nicht funktioniert haben, und ich wäre - heidi! - mitten in das Rathaus gesaust. Ein verteufelter Krach, eine leichte Verunstaltung des Rathauses und eine völlige Vernichtung von Miss Nick Buckley! Doch dank meinem unausrottbaren Hang, stets etwas zu vergessen, kehrte ich noch einmal um und sauste nur in die Lorbeerhecke.«

»Und Sie können mir nicht die genaue Ursache sagen?« »Da müssen Sie zu Motts Garage gehen, wenn Sie es genau

wissen wollen. Irgendeine Schraube war gelockert worden. Ich

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habe Ellens kleinen Jungen stark im Verdacht, daß er daran herumgefingert hat. Alle Jungen pfuschen gern an Autos herum, wenn Ellen auch schwört, er habe den Wagen nie angerührt.«

»Wo ist Ihre Garage, Mademoiselle?« »Auf der anderen Seite des Hauses.« »Ist sie verschlossen?« Nicks Augen weiteten sich vor Erstaunen. »Bewahre. Warum

abschließen?« »Also kann sich irgend jemand unbemerkt am Wagen zu

schaffen machen?« »Ja ... ich denke. Doch das ist so albern.« »Nein, Mademoiselle, es nicht albern. Sie verstehen noch

immer nicht: Sie befinden sich in Gefahr, Mademoiselle, in ernster Gefahr. Ich sage es Ihnen! Ich! Und Sie wissen nicht, wer ich bin?«

»Nein«, versetzte Nick atemlos. »Ich bin Hercule Poirot.« »Oh!« Es war ein laues Höflichkeitswort. »Mein Name ist Ihnen geläufig, wie?« »O ja.« Verlegen zerknüllte sie ihr Taschentuch. »Sie fühlen sich unbehaglich«, meinte Poirot, der sie scharf

beobachtete. »Das bedeutet, vermute ich, daß Sie meine Bücher nicht gelesen haben.«

»Nun ... ja ... nicht alle. Doch ich kenne selbstverständlich die Namen.«

»Mademoiselle, Sie sind eine höfliche kleine Lügnerin. Wie konnte ich es vergessen - Sie sind ja noch ein Kind! Unmöglich, daß Sie von mir gehört haben. Der Ruhm vergeht so schnell. Mein. Freund wird Ihnen die nötigen Erläuterungen geben.«

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Nick richtete den Blick erwartungsvoll auf mich, und ich räusperte mich befangen. »Monsieur Poirot ist ... war ... ein großer Detektiv«, erklärte ich.

»Ah, mein Freund!« rief Poirot. »Wissen Sie nicht mehr zu sagen? Sagen Sie Mademoiselle doch, daß ich ein einzigartiger Detektiv bin, unübertroffen, der bedeutendste, der jemals gelebt hat!«

»Das erübrigt sich jetzt«, meinte ich eisig. »Sie haben es ihr bereits selbst gesagt.«

»Mais oui. Aber mir wäre es lieber gewesen, die Bescheidenheit wahren zu können. Man soll sich nicht selber loben.«

»Man soll sich keinen Hund halten und dann selber zu bellen gezwungen sein«, stimmte ihm Nick mit gutmütigem Spott zu. »Wer ist übrigens der Hund? Doktor Watson, vermute ich.«

»Mein Name ist Hastings«, stellte ich mich vor. »Schlacht bei Hastings im Jahre 1066!« trumpfte Nick auf.

»Wer wagt da zu behaupten, daß ich nicht eine vorzügliche Bildung genossen habe? ... Ach, das Ganze ist zu, zu herrlich! Glauben Sie, jemand will mich wirklich aus der Welt schaffen? Mumpitz, so etwas geschieht nur in Büchern. Monsieur Poirot gleicht einem Arzt, der eine geheime Krankheit entdeckte und nun wünscht, daß jedermann sie hätte.«

»Sacré tonnerre!« donnerte Poirot. »Wollen Sie jetzt wohl mal ernsthaft sein? Findet ihr Grünschnäbel von heute denn alles zum Lachen? Meinen Sie, es wäre spaßhaft, Mademoiselle, wenn Sie als hübsche kleine Leiche mit einem niedlichen kleinen Loch im Kopf statt im Hut im Hotelgarten lägen? Würden Sie auch dann noch lachen?«

»Unirdisches Gelächter, zu hören bei einer Spiritistensitzung«, deklamierte Nick. »Doch Scherz beiseite, Ihre Sorge rührt mich wirklich, Mr. Poirot - trotzdem aber muß ein Unfall vorliegen.«

»Sie sind so eigensinnig wie der Satan!«

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»Daher habe ich ja auch den Namen. Von meinem Großvater behauptete der Volksmund, daß er seine Seele Old Nick, dem Teufel, verschrieben habe, und jeder nannte ihn den alten Nick. Er war ein lustiger Alter. Ich betete ihn an, folgte ihm auf Schritt und Tritt, so daß bald der Spitzname der alte und der junge Nick entstand. In Wirklichkeit heiße ich Magdala.«

»Ein ungewöhnlicher Name, Mademoiselle.« »Ja. Doch unsere Familie scheint ihn gepachtet zu haben. Es

hat innerhalb der verschiedenen Generationen eine ganze Menge Magdalas gegeben. Das ist ebenfalls eine Magdala.« Sie zeigte auf ein Bild an der Wand.

»Ah!« Und auf ein Porträt weisend, das über dem Kamin hing, erkundigte sich mein Freund: »Ist das Ihr Großvater, Mademoiselle?«

»Richtig geraten. Ein ausgezeichnetes Bild, nicht wahr? Jim Lazarus wollte es mir schon abkaufen, doch ich will mich nicht vom alten Nick, den ich so sehr ins Herz geschlossen habe, trennen.«

Poirot blickte noch einige Sekunden zu dem Gemälde empor und bemerkte dann: »Kehren wir nun zu unserer eigentlichen Angelegenheit zurück, Mademoiselle. Ich flehe Sie an, ernsthaft zu sein. Sie leben in denkbar größter Gefahr. Heute schoß jemand auf Sie mit einer Mauserpistole ...«

»Eine Mauserpistole?« Nun war sie doch bestürzt. »Ja. Wissen Sie jemanden, der eine Mauserpistole besitzt?« »Ich habe selber eine.« Schon wieder zuckte ein Lächeln um

den hübschen Mund. »Ich habe sie von Vater geerbt, der sie aus dem Krieg mitbrachte. Seither liegt sie irgendwo hier herum. Ah, warten Sie, erst vorgestern sah ich sie in jener Schublade.«

Sie zeigte auf den antiken Sekretär. Und nun ging sie, wie von einer plötzlichen Idee beherrscht, zu ihm hinüber und zog die Schublade auf.

»Oh!« In ihrer Stimme schwang ein neuer Klang - ängstliche Bestürzung. »Die Pistole ... ist fort, Mr. Poirot.«

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Von diesem Augenblick an änderte sich die Unterhaltung, als seien alle Mißverständnisse plötzlich verschwunden. Eine Kluft von vielen Jahren trennte Poirot und die junge Dame. Sein Ruhm und Ruf bedeuteten ihr nichts - sie entstammte einer Generation, die nur die großen Namen der unmittelbaren Gegenwart kennt. Und deshalb schlug sie auch seine Warnungen leichtfertig in den Wind. Sie sah in ihm nur einen komischen, bejahrten Ausländer, den die Natur mit einer ergötzlichen melodramatischen Ader ausgestattet hatte.

Diese Einstellung war für Poirot ein Rätsel. Anfänglich litt auch seine Eitelkeit. Er, der in dem felsenfesten Glauben lebte - und diesem Glauben auch unentwegt Ausdruck verlieh -, daß alle Welt Hercule Poirot kenne, begegnete hier einem Menschenkind, das ihn nicht kannte. Sehr heilsam für ihn - wie ich mir innerlich sagte -, doch in Hinsicht auf den gegenwärtigen Zweck bestimmt nicht nützlich.

Mit der Entdeckung der fehlenden Pistole gelangte die Angelegenheit indes auf eine neue Entwicklungsstufe. Nick hörte auf, sie als einen belustigenden Zeitvertreib zu behandeln. Und wenn sie sie auch noch immer auf die leichte Schulter nahm, so geschah es, weil sie infolge Gewohnheit und Veranlagung alle Ereignisse leichthin abtat. Dennoch konnte man einen deutlichen Wandel in ihrem Verhalten feststellen.

Sie kam zurück und setzte sich mit gerunzelter Stirn auf die Armlehne eines Sessels. »Das ist großartig«, meinte sie.

Poirot wirbelte zu mir herum und rief: »Erinnern Sie sich, Hastings, wie ich zu Ihnen von einer Idee sprach? Nun, sie war fehlerfrei, meine kleine Idee! Nehmen wir mal an, Mademoiselle wäre erschossen im Hotelgarten gefunden worden. Oh, sie hätte dort stundenlang unentdeckt liegen können, denn nur sehr wenige Leute wählen diesen Weg. Und neben ihr, gerade ihrer Hand entfallen, liegt die eigene Pistole, die zweifellos die gute Madame Ellen als Mademoiselle gehörig erkannt haben würde,

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Dann wären Andeutungen laut geworden von geheimem Leid und Kummer, von Schlaflosigkeit ...«

Nick strich verlegen über das Sesselpolster. »Das ist wahr. Ich bin wirklich zu Tode betrübt. Jeder von meinen Freunden versichert mir, daß ich nervös sei. Ja, sie alle sagen ...«

»... und hätten bewirkt, daß der Spruch auf Selbstmord lautete«, vollendete Poirot, ohne auf ihre Zwischenbemerkung zu achten. »Mademoiselles Fingerabdrücke, und keine sonstigen, gebührend auf dem Pistolengriff - voilà, es wäre alles so einfach und überzeugend gewesen!«

»Wie schrecklich amüsant!« rief Miss Buckley, doch es klang nicht, als ob es sie schrecklich amüsierte.

Poirot faßte die Worte in dem herkömmlichen, gedankenlosen Sinn auf, in dem sie geäußert wurden. »N'est-ce pas? Aber Sie verstehen, Mademoiselle, daß es so nicht weitergehen darf. Vier Fehlschläge - ja, aber das fünftemal könnte es klappen.«

»Dann nur heraus mit dem gummibereiften Leichenwagen!« murmelte Nick.

»Aber wir sind hier, mein Freund und ich, um das Unheil abzuwenden!«

In meinem Herzen quoll wegen dieses >wir< ein Gefühl der Dankbarkeit auf. Gewöhnlich pflegte Poirot nämlich meine Existenz zu übersehen.

»Ja«, mischte ich mich ein. »Sie dürfen sich nicht beunruhigen, Miss Buckley, denn wir werden Sie beschützen.«

»Wie unglaublich nett von Ihnen!« lobte Nick. »Das Ganze ist trotz aller Gefahr herrlich. So prickelnd, so erregend!«

Noch immer trug sie ihre leichtfertige, überhebliche Art zur Schau, während ich doch geschworen haben würde, daß auf dem Grunde der veilchenblauen Augen ängstliche Sorge lauerte.

»Und nun müssen wir als erstes zu einer Beratung schreiten«, ließ sich Poirot vernehmen. Er setzte sich und lächelte unseren Schützling freundlich an: »Mademoiselle, ich kann Ihnen die

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althergebrachte Frage nicht ersparen: Haben Sie irgendwelche Feinde?«

Nick Buckley schüttelte energisch den Kopf. »Ich fürchte, nein«, sagte sie im Ton des Bedauerns.

»Bon. Dann werden wir diese Möglichkeit ausschalten. Und jetzt kommt die in Kinos und Detektivromanen übliche Frage: Wer zieht aus Ihrem Tod Nutzen, Mademoiselle?«

»Das vermag ich mir beim besten Willen nicht vorzustellen, und daher dünkt mich ja auch alles solch ein Unsinn. Sehen Sie, da ist freilich dieser greuliche, alte Kasten, aber mit Hypotheken bis zum Schornstein belastet, baufällig, mit undichtem Dach. Und eine Kohlengrube oder etwas ähnlich Kostbares kann doch in den dazugehörigen Klippen nicht verborgen sein.«

»So, das Haus ist belastet?« »Ja. Was blieb mir anderes übrig? Zwei Todesfälle,

verhältnismäßig kurz hintereinander. Zuerst starb mein Großvater, genau vor sechs Jahren, und hierauf mein Bruder. Das gab meinen Finanzen des Rest.«

»Und Ihr Vater?« »Er kam schwerverwundet aus dem Krieg heim, zog sich eine

Lungenentzündung zu und starb. Meine Mutter raffte der Tod hinweg, als ich ein Wickelkind war. Ich lebte hier mit Großvater. Er und Vater vertrugen sich nicht, was mich nicht wunderte, und so fand es Vater zweckdienlicher, mich hierzulassen und allein die Welt zu durchstreifen. Gerald - mein Bruder - vertrug sich gleichfalls nicht mit Großvater, und wenn ich ein Junge gewesen wäre, hätte ich mich wohl auch nicht mit ihm vertragen. Von mir beliebte Großvater oft zu sagen, daß ich ein Span des alten Hauses sei und seinen Geist geerbt habe.« Sie lachte. »Er war, glaube ich, ein alter Taugenichts, aber sehr vom Glück begünstigt. Hierzulande ging die Sage, daß alles, was er anfaßte, zu Gold würde. Da er jedoch der Spielleidenschaft frönte, zerrann ihm alles schnell wieder unter den Fingern, und bei seinem Tod hinterließ er außer dem Haus und dem

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dazugehörigen Grundstück kaum etwas. Ich war, als er starb, gerade sechzehn und Gerald zweiundzwanzig. Vor drei Jahren wurde Gerald bei einem Autounglück getötet, und der Besitz ging an mich über.«

»Und nach Ihnen, Mademoiselle? Wer ist Ihr nächster Verwandter?«

»Mein Vetter Charles. Charles Vyse, Rechtsanwalt in St. Loo. Gut und ehrenwert, aber ziemlich einfältig. Er gibt mir vortreffliche Ratschläge und bemüht sich, meine verschwenderischen Neigungen zu unterdrücken.«

»Er erledigt für Sie Ihre geschäftlichen Angelegenheiten, wie?«

»Ja ... wenn Sie es so nennen wollen. Ich habe freilich nicht viel zu erledigen. Er besorgte für mich die Hypotheken und vermietete das Pförtnerhäuschen.«

»Ah, danach wollte ich mich gerade erkundigen! Es ist also vermietet?«

»Ja, an Australier. Croft heißen sie. Bedrückend in ihrer Liebenswürdigkeit. Ständig beschenken sie mich mit Sellerie, frühen Erbsen, zartem Salat und dergleichen. Sie sind entsetzt darüber, wie ich den Garten verwahrlosen lasse, und Mr. Croft fällt mir mit seinen Belehrungen und Anregungen oft auf die Nerven. Aber wie sich wehren, wenn alles in überströmender Freundlichkeit vorgebracht wird? Mrs. Croft, die Arme, ist ein Krüppel und liegt den ganzen Tag auf dem Sofa. Und sei's, wie es sei - sie bezahlen pünktlich die Miete, und das ist die Hauptsache.«

»Wie lange sind sie schon hier?« »Ungefähr sechs Monate.« »Nun zu Ihrem Vetter - übrigens, von Ihres Vaters oder von

Ihrer Mutter Seite her?« »Von Mutters. Sie hieß als Mädchen Amy Vyse.« »Bien! Haben Sie außer diesem Vetter noch andere

Verwandte?«

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»In Yorkshire etliche Vettern und Kusinen zweiten, dritten Grades - Buckleys.«

»Sonst niemand?« »Nein.« »Dann ist es sehr einsam für Sie.« Nick sah überrascht auf. »Einsam? Welch ein drolliger Einfall!

Die meiste Zeit des Jahres bin ich in London. Und Verwandte, wissen Sie, sind in der Regel verheerend. Sie mischen sich in alles und jedes, erziehen, mahnen. Es ist viel lustiger, alleinzustehen.«

»Dann will ich mein Mitgefühl nicht unnütz verschwenden, Mademoiselle, Sie sind eben eine durch und durch moderne junge Dame. Nun bitte zu Ihrem Haushalt.«

»Oh, Monsieur Poirot, wie großartig das klingt! Ellen ist der Haushalt. Und ihr Mann, der die Obliegenheiten eines Gärtners erfüllt - nicht allzu gut. Weil ich ihnen erlaubt habe, ihr Kind bei sich zu haben, bezahle ich ihnen herzlich wenig Lohn. Ellen sorgt für mich, wenn ich hier bin, und lade ich mir Gäste ein, dann nehmen wir uns für den Tag irgendeine Hilfskraft hinzu, die wir gerade aufgabeln können. Übrigens gebe ich Montag eine Gesellschaft. Es ist die Regattawoche, wissen Sie.«

»Montag - und heute ist Sonnabend. Ja, ja. Und weiter, Mademoiselle, Ihre Freunde? Jene zum Beispiel, mit denen Sie heute im Hotel aßen?«

»Freddie Rice, die helle Blondine, ist eigentlich meine beste Freundin. Sie hat ein widerwärtiges Leben. Mit einer wahren Bestie verheiratet - einem Kerl, der trinkt und Rauschgift nimmt und überhaupt ein Schuft schlimmster Sorte ist. Vor einem oder anderthalb Jahren hat sie ihn verlassen und lebt nun so in den Tag hinein. Ich wollte, weiß Gott, sie erreichte die Scheidung und heiratete Jim Lazarus.«

»Lazarus? Den Kunsthändler in der Bond Street?« »Ja. Jim ist der einzige Sohn. Schwimmt natürlich im Geld.

Haben Sie seinen Wagen gesehen? - Er ist ein sehr anständiger

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Mensch und Freddie ehrlich zugetan. Überall sieht man sie zusammen. Über das Wochenende wohnen sie im Majestic und werden am Montag auch unter meinen Gästen sein.«

»Und Mrs. Rices Gatte?« »Der Schurke! Er ist von allen fallengelassen worden.

Niemand weiß, wo er steckt. Und das verschlimmert Freddies Lage, weil man, um eine Scheidung gegen einen Mann zu betreiben, doch wissen muß, wo er sich aufhält.«

»Fraglos, Mademoiselle.« »Arme Freddie!« sagte Nick versonnen. »Einmal hatte sie ihn

ausfindig gemacht, ihm alles klargelegt, worauf er sagte, daß er einwillige, jedoch zu knapp bei Kasse sei, um sich den Luxus gestatten zu können, eine Frau mit ms Hotel zu nehmen und hierdurch einen Schuldfall zu schaffen. Darauf rückte Freddie alles heraus, was sie besaß - und er nahm es und verduftete. Seit jenem Tag hat niemand wieder etwas von ihm gehört. Prächtiges Mittel, sich Geld zu verschaffen!«

»Gerechter Himmel!« rief ich aus. »Mein Freund Hastings ist empört«, bemerkte Hercule Poirot.

»Sie müssen Ihre Worte abwägen, Mademoiselle. Erst unlängst aus den weiten, unabsehbaren Pampas zurückgekehrt, hat er mit der Zeit nicht Schritt gehalten, hat die heutige Sprache noch nicht gelernt.«

»Ist da ein Grund, sich zu empören?« Nick blickte mich mit ihren großen blauen Augen verdutzt an. »Ich meine doch, jeder weiß, daß es solche geriebenen Burschen gibt. Trotzdem nenne ich es einen hundsgemeinen Trick. Die arme Freddie war damals in einer solchen Geldklemme, daß sie überhaupt nicht wußte, was beginnen.«

»Ja, ja, eine unangenehme Geschichte. Und Ihre übrigen Freunde, Mademoiselle? Der Kapitän Challenger?«

»George? ... George kenne ich schon von Kindesbeinen an - oder wenigstens seit fünf Jahren«, schränkte sie ein. »Eine gute Seele, der George.«

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»Er möchte Sie heiraten, nicht wahr?« »Hin und wieder erwähnt er es. So in den frühen

Morgenstunden oder nach dem zweiten Glas Portwein.« »Aber Sie bleiben hartherzig.« »Wäre es gut, wenn George und ich uns heirateten? Wir sind

doch beide arm wie Kirchenmäuse. Und außerdem kann George gräßlich langweilig sein. Er klebt so am Althergebrachten ... ein Mensch der alten Schule. Kein Wunder, da er nahe an Vierzig ist.«

Die Bemerkung fuhr mir wie ein Stich ins Herz. »Gewiß, dann steht er ja auch schon mit einem Fuß im Grabe«,

sagte Poirot, ohne eine Miene zu verziehen. »O nein, Mademoiselle, Sie haben mich nicht verletzt! Ich bin ein Großpapa ... Und jetzt erzählen Sie mir mehr über diese Unfälle. Über das Bild vielleicht.«

»Es ist wieder aufgehängt worden. Wenn Sie wollen, können Sie es besichtigen.«

Sie war bereits aufgestanden, um uns in das Schlafzimmer zu führen. Das fragliche Gemälde, ein Ölbild in einem breiten, schweren Rahmen hing gerade über dem Kopfende des Bettes.

»Sie erlauben, Mademoiselle?« sagte Poirot, indem er die Schuhe abstreifte und auf die Bettstelle kletterte. Er untersuchte sowohl das Bild als auch den Draht und prüfte bedächtig das Gewicht. »Wem das auf den Kopf fällt, der ist geliefert«, lautete sein Urteil. »Hing es vorher ebenfalls an einem Draht?«

»Ja, Monsieur Poirot. Aber der war nicht so dick. Es schien mir nach den Erfahrungen richtiger, einen stärkeren zu bestellen.«

»Das ist verständlich. Haben Sie sich die Bruchstellen angesehen? Waren die Enden abgenutzt?«

»Ich denke wohl. Aber ich muß offen gestehen, daß ich nicht sonderlich darauf achtete. Welchen Grund hätte ich gehabt?«

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»Sehr richtig bemerkt. Nichtsdestoweniger möchte ich jenes Drahtstück gern mal in Augenschein nehmen. Es liegt sicher noch irgendwo im Hause.«

»Ich fürchte, der Handwerker, der den neuen Draht befestigte, wird den alten fortgeworfen haben.«

»Schade! Ich hätte ihn sehr gern gesehen.« »Sie glauben also nicht, daß es ein Unfall war, Monsieur

Poirot?« »Schwer zu beurteilen, Mademoiselle. Die Beschädigung an

den Bremsen Ihres Autos können Sie jedenfalls nicht als Unfall auslegen. Und der Stein, der die Klippe hinabrollt? - Wollen Sie mir die Stelle, wo es geschah, zeigen?«

Bereitwillig geleitete uns Nick in den Garten und von dort zu dem Klippenrand. Blau flimmerte und glitzerte die See unter uns. Ein holperiger Pfad führte an der Felsenwand abwärts. Nick gab uns eine ausführliche Schilderung des Vorfalls, und Hercule Poirot nickte stumm. Dann fragte er: »Wie viele Zugänge hat Ihr Garten, Mademoiselle?«

»Den Vordereingang, an der Pförtnerwohnung vorbei, kennen Sie. Dann ist da noch ein Eingang für Lieferanten - ein Mauerpförtchen. Ferner gibt's noch eine Gattertür hier geradeaus auf dem Klippensaum; durch sie gelangt man auf einen Zickzackpfad, der von der Bucht zum Hotel Majestic führt. Und dann kann man natürlich schnurstracks durch eine Lücke in der Hecke in den Garten des Majestic gelangen. Das ist der Weg, den ich heute vormittag einschlug. Auch wenn man zur Stadt will, schneidet man auf diese Art ein beträchtliches Stück ab.«

»Und wo arbeitet Ihr Gärtner meistens?« »Im Gemüsegarten lungert er meistens herum, oder er hockt

unter dem Vorwand, die Sichel schärfen zu müssen, im Geräteschuppen.«

»Mithin auf der anderen Seite des Hauses, so daß er es kaum gewahr würde, wenn sich jemand hierher schliche und einen Felsbrocken löste.«

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Nicks schlanke Gestalt erschauerte. »Meinen Sie immer noch, daß dies der wahre Sachverhalt ist? Ich wage Ihnen natürlich nicht zu widersprechen, Monsieur Poirot, wenngleich das Ganze mir so nichtig erscheint.«

Mein Freund holte die Kugel hervor. »Dies hier war keinesfalls nichtig, Mademoiselle«, sagte er.

»Das kann nur ein Irrer gewesen sein.« »Möglich. Das Thema: >Sind alle Verbrecher etwa Irre?<

würde übrigens einen fesselnden Unterhaltungsstoff nach einem guten Dinner abgeben. Vielleicht kranken ihre kleinen grauen Zellen wirklich an einer Mißbildung - ja, es ist wohl anzunehmen. Jedoch ist das eine Frage für die Mediziner. Mir obliegt eine andere Aufgabe. Ich habe an den Unschuldigen zu denken, nicht an den Schuldigen; an das Opfer und nicht an den Verbrecher. Mit Ihnen beschäftige ich mich jetzt, Mademoiselle, nicht mit Ihrem unbekannten Angreifer. Sie sind jung, Sie sind schön; und die Sonne lacht, und die Welt ist verlockend - das ganze Leben, die Liebe liegt noch vor Ihnen. An alles denke ich, Mademoiselle. Sagen Sie, sind Ihre Freunde Mrs. Rice und Mr. Lazarus schon lange hier?«

»Freddie landete am Mittwoch in dieser Gegend. Sie will mit Bekannten ein paar Tage in Tavistock verbringen und machte gestern von dort einen Abstecher hierher. Jim ist, wenn ich nicht irre, auf einer Autofahrt begriffen.«

»Und Kapitän Challenger?« »Er wohnt in Devonport, kommt aber, sooft er kann, herüber.

Zum Wochenende eigentlich regelmäßig.« Wieder nickte Poirot. Und dann gingen wir langsam zum Haus

zurück, in nachdenklichem Schweigen. »Haben Sie eine Freundin, der Sie vollkommen vertrauen

können, Mademoiselle?« fragte mein Freund plötzlich. »Freddie.« »Außer Mrs. Rice.« »Außer; ... Ich weiß nicht... Warum?«

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»Weil ich möchte, daß eine Freundin Ihnen Gesellschaft leistet - und zwar sofort.«

»Oh!« - Nick starrte in die Weite, offensichtlich wenig erbaut von diesem Vorschlag. Trotzdem schien sie ihn zu erwägen. »Maggie käme wohl auch in Frage«, meinte sie zaudernd.

»Wer ist Maggie?« »Eine meiner Kusinen aus Yorkshire. Eine große Familie, der

Vater ist Geistlicher. Maggie ist so alt wie ich, besucht mich fast jeden Sommer, obwohl ich, um ganz ehrlich zu sein, diese Besuche nicht als Vergnügen empfinde. Die gute Maggie ist so ein überaus unschuldiges Mädchen. Im stillen hatte ich gehofft, daß ich dieses Jahr von Maggies Besuch verschont bleiben würde.«

»Aber nein, Mademoiselle!« ereiferte sich Hercule Poirot. »Ihre Kusine eignet sich ausgezeichnet für meine Zwecke. Genauso eine Person schwebt mir vor.«

»Also gut!« seufzte Nick. »Ich werde ihr telegraphieren, um so mehr, als ich nicht wüßte, wen ich sonst auftreiben könnte. Jeder hat doch jetzt schon seine Verabredungen getroffen, jeder ist bereits vergeben. Aber wenn nicht etwa der Ausflug des Kirchenchors oder eine ähnliche hochwichtige Angelegenheit sie abhält, wird Maggie sicher kommen. Was Sie allerdings von ihr erwarten ...«

»Können Sie es einrichten, daß sie mit in Ihrem Zimmer schläft?«

»Weshalb nicht!« »Und Miss Maggie würde nicht denken, daß dies doch

eigentlich ein seltsames Ansinnen sei?« »Maggie denkt und überlegt niemals. Dafür widmet sie sich

mit Treue und Ausdauer den Werken der christlichen Nächstenliebe. Also abgemacht, ich werde sie telegraphisch für Montag herbitten.«

»Warum nicht für morgen?«

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»Mit Sonntagszügen? Wenn ich ihr dergleichen zumute, wird sie glauben, ich läge im Sterben. Nein, lassen wir es bei Montag. Wollen Sie Maggie über das furchtbare Schicksal, das mich bedräut, aufklären, Monsieur Poirot?«

»Sind Sie immer noch zum Scherzen aufgelegt? Sie haben Mut, Mademoiselle, und das freut mich.«

»Es ist doch immerhin eine Ablenkung«, sagte Nick. Irgend etwas in diesem Satz ließ mich aufhorchen, und ich

warf ihr einen forschenden Blick zu. Hatte sie sich uns nicht restlos anvertraut? Irgendein Geheimnis noch für sich behalten?

Als wir in das Wohnzimmer zurückgekehrt waren, nahm Poirot zerstreut die Zeitung vom Sofa. »Lesen Sie sie regelmäßig, Mademoiselle?« erkundigte er sich.

»Den >St. Loo Herald<? Nein, nicht gründlich. Ich hatte ihn aufgeschlagen, um mich über die Flutzeiten zu orientieren, die jede Woche veröffentlicht werden.«

»Ah, ich verstehe. Haben Sie übrigens jemals ein Testament gemacht?«

»Ja. Vor sechs Monaten. Kurz vor meiner Op.« »Wie bitte? Ihre Op?« »Meine Operation. Blinddarm. Jemand von meinen Freunden

behauptete, ich müßte eine testamentarische Verfügung treffen. So tat ich es und kam mir ungeheuer wichtig dabei vor.«

»Und die Bestimmung dieses Testaments?« »Das Endhaus vermachte ich Charles. Was sonst noch da war -

wenig genug -, bestimmte ich für Freddie. Aber wahrscheinlich würden die Verbindlichkeiten - ich glaube, das ist der Fachausdruck - die Nachlaßmasse überstiegen haben.«

Poirot äußerte sich hierzu nicht. Nachdem er eine Weile das Teppichmuster angestarrt hatte, erhob er sich und sagte: »Ich möchte mich jetzt verabschieden, Mademoiselle. Au revoir! Nehmen Sie sich in acht.«

»Vor was?«

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»Sie sind klug. Ja, da haben wir den schwachen Punkt: Nach welcher Seite sollen Sie Vorsicht walten lassen? Wer vermöchte das zu sagen? Aber haben Sie Vertrauen, Mademoiselle. In wenigen Tagen werde ich die Wahrheit aufgedeckt haben.«

»Bis dahin Vorsicht vor Gift, Bomben, Revolverschüssen, Autounfällen und Pfeilen, die in das geheime Gift der südamerikanischen Urwaldindianer getaucht wurden!« ergänzte Nick zungenfertig.

»Spotten Sie nicht über sich selbst, Mademoiselle«, rügte Poirot ernst, während er der Tür zuschritt.

Doch auf der Schwelle zögerte er abermals. »Welchen Preis bot Ihnen übrigens Mr. Lazarus für das Porträt Ihres Großvaters?«

»Fünfzig Pfund.« »Ah!« Die Blicke meines berühmten Freundes suchten das

dunkle, verschlagene Gesicht über dem Kamin. »Aber wie ich Ihnen sagte, will ich mich von dem alten Herrn

nicht trennen.« »Das verstehe ich vollkommen, Mademoiselle!« Und mit dieser Versicherung schritt Hercule Poirot endgültig

hinaus.

4

»Poirot«, begann ich, sobald wir auf dem grasbewachsenen Weg dahinschritten, »da ist noch ein Punkt, über den ich Sie nicht im unklaren lassen möchte.«

»Und das wäre, mon ami?« Ich erzählte ihm, welche Ansicht Mrs. Rice hinsichtlich der

schadhaften Bremse und des dadurch verursachten Autounfalles hegte.

»O la la! Das ist interessant. Freilich gibt es eine gewisse Sorte von Menschen, eitel und hysterisch, die, um von sich reden zu

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machen, allerlei wunderbare Rettungen aus Todesnot erleben und Ihnen die erstaunlichsten Histörchen auftischen, die sich niemals ereigneten. Solche Leute fügen sich sogar schwere körperliche Schäden zu, um die Fabel zu unterstreichen.«

»Sie vermuten doch nicht, daß ...« »Daß wir Mademoiselle Nick in diese Gruppe einreihen

müssen? Nein, das nicht, Hastings. Denken Sie doch, welche Schwierigkeiten es uns kostete, sie von der ihr drohenden Gefahr zu überzeugen! Und bis zum Schluß verschanzte sie sich hinter der Maske halb spöttischen Unglaubens. Dieses kleine Mädchen ist das mustergültige Beispiel der heutigen jungen Generation. Mrs. Rices Darlegung verliert dadurch jedoch keineswegs an Interesse. Was könnte sie veranlaßt haben, es zu sagen? Und warum es sagen, selbst wenn es der Wahrheit entspräche? Es war unnötig - beinahe ungeschickt und taktlos.«

»Ja«, erwiderte ich, »Sie haben recht. Sozusagen an den Haaren zerrte sie es in die Unterhaltung - ohne triftigen Grund, soweit ich urteilen konnte.«

»Das ist sonderbar. Bei Gott, das ist sonderbar. Aber ich begrüße es immer mit Freude, wenn solch sonderbare Nebenumstände auftauchen - sie weisen den Weg.«

»Den Weg - wohin?« »Mein trefflicher Hastings. Sie legen Ihren Finger auf die

wunde Stelle! Wohin? Wohin? ...« »Warum bestanden Sie auf dem Kommen von Miss Nicks

Kusine, Poirot?« Mein Freund hielt im Gehen inne und bewegte den Zeigefinger

aufgeregt durch die Luft. »Überlegen Sie doch, Hastings. Wie sind wir gehemmt! Wie sind uns die Hände gebunden! - Einem Mörder nachjagen, nachdem das Verbrechen begangen wurde, ist ein Kinderspiel, zum mindesten für einen Mann von meiner Behendigkeit. Durch die Ausführung des Verbrechens hat der Mörder sozusagen mit seinem Namen unterzeichnet. Aber in unserem Fall liegt kein Verbrechen vor - und, was mehr ist, wir

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wünschen es nicht. Und ein Verbrechen zu entdecken, bevor es zur Ausführung gelangt - nun, vor solcher Schwierigkeit hat selten ein Detektiv gestanden.

Was ist unser Hauptziel«, fuhr er in seinem schwungvollen Vortrag fort. »Die Sicherheit Mademoiselles. Und das ist nicht leicht, mein lieber Hastings. Wir können sie nicht Tag und Nacht bewachen; wir können noch nicht einmal einen tüchtigen Polizisten vor ihrer Tür aufpflanzen, damit er sie bewacht, und ebensowenig können wir die Nacht im Schlafzimmer einer jungen Dame zubringen, so daß die Angelegenheit von Schwierigkeiten förmlich strotzt.

Aber eins konnten wir dennoch: dem Mörder Hindernisse in den Weg legen, indem wir Mademoiselle warnten und ihr eine völlig unparteiische Zeugin beigesellen. Um diese beiden Hindernisse zu nehmen, dazu bedarf es eines sehr geschickten Menschen.«

Er machte eine Pause und sagte hierauf in ungewohnt zaghaftem Ton: »Aber wissen Sie, was ich fürchte, Hastings?«

»Nun?« »Daß er ein sehr geschickter Mensch ist. Und dieses Gefühl

raubt mir die Ruhe. Wirklich, Hastings, unter einer derartigen Unruhe habe ich noch nie gelitten.«

»Poirot, Sie machen mich ja ganz nervös!« rief ich aus. »Nervös? Meinen Sie, ich sei es nicht? - Hören Sie, mein

Freund, jene harmlose Zeitung auf der Sofalehne, der >St. Loo Herald< war aufgeschlagen und umgeknickt - nun, an welcher Stelle wohl? Dort, wo eine kleine Rubrik das Folgende besagte: >Unter den Gästen, die im Hotel Majestic Wohnung genommen haben, befinden sich Mr. Hercule Poirot und Hauptmann Hastings.< Angenommen, daß jemand diese Notiz las? ... Man kennt doch meinen Namen, all und jeder kennt ihn.«

»Miss Buckley kannte ihn nicht«, fiel ich ihm mit einem Grinsen ins Wort.

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»Sie ist ein Wirrkopf - sie zählt nicht«, schnauzte mein Freund. »Ein ernster Mensch jedoch, ein Verbrecher noch dazu, kennt ihn. Und er wird erschrecken, wird sich wundern, Fragen stellen. Dreimal hat er einen Mordversuch unternommen, und jetzt taucht Hercule Poirot in der Nachbarschaft auf. >Ist das ein zufälliges Zusammentreffen<? bohrt die Frage in ihm. Die Furcht wird ihn überkommen, daß es kein Zufall ist. Und dann?«

»Dann macht er sich aus dem Staub.« »Ja - oder er holt, wenn ihn wirkliche Verwegenheit beseelt,

blitzschnell, ohne Zeitverlust, zum Schlag aus. Noch ehe es mir möglich ist, Nachforschungen anzustellen, liegt Mademoiselle - paff - tot am Boden. So würde der kühne Verbrecher handeln.«

»Aber warum glauben Sie denn, daß eine andere Person als Miss Buckley die Notiz las?«

»Miss Buckley las sie bestimmt nicht. Als ich meinen Namen erwähnte, sagte er ihr nichts, war ihr nicht einmal bekannt. Haben Sie nicht ihr Gesicht beobachtet? Außerdem ließ sie später einfließen, daß sie nur wegen der Flutzeit einen Blick in die Zeitung würfe. Und auf jener Seite war keine Gezeitentafel.«

»Sie meinen, Poirot, jemand im Hause ...« »Jemand im Haus oder jemand, der Zutritt zu ihm hat. Wie Sie

sich wohl erinnern, Hastings, stand das Fenster offen - also eine Kleinigkeit, sich Zutritt zu verschaffen, ganz abgesehen davon, daß fraglos Miss Buckleys Freunde ein und aus gehen.«

»Haben Sie einen bestimmten Verdacht?« »Nichts!« Poirot breitete mit vielsagender Geste beide Hände

aus. »Meine Weissagung, daß der Beweggrund zu dem Mordanschlag nicht offenkundig sein kann, bewahrheitet sich. Das gewährleistet die Sicherheit des Täters, das gestattet ihm, so dreist vorzugehen wie heute vormittag. Dem Anschein nach ist es klipp und klar, daß niemand Grund hat, Nicks Tod zu wünschen. - Der Besitz? Gewiß, der geht an den Vetter über, der jedoch das verschuldete und baufällige Haus sicher nicht als einen fetten Bissen betrachtet. Familiensinn kann auch nicht

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hineinspielen, da der Rechtsanwalt nicht Buckley, sondern Vyse heißt. Trotzdem werden wir ihm ein wenig auf den Zahn fühlen ... Dann ist da noch Madame - die Busenfreundin - mit dem Aussehen einer Madonna ...«

»Was? Sie fühlten das auch?« rief ich. Poirot schenkte meinem Zwischenruf keine Beachtung.

»Welchen Anteil hat sie an der Sache?« redete er weiter. »Sie versicherte Ihnen, daß ihre Freundin Nick eine Lügnerin ist. C'est gentil, ça! Weshalb sagte sie Ihnen das? Ist sie bange, daß Nick etwas ausplaudern könnte? Hängt dieses Etwas mit dem Auto zusammen? Oder führte sie dies als Beispiel an, während ihre wirkliche Furcht etwas anderes betraf? Hat sich jemand in verbrecherischer Absicht an dem Wagen zu schaffen gemacht, und wer? Und weiß sie Näheres darüber? - Dann dieser schöne Jüngling, Mr. Lazarus. Welchen Platz soll man ihm zuweisen? Mit seinem protzigen Wagen und seinem Geldsack. Hat er seine Hände irgendwie mit im Spiel? - Kapitän Challenger ...«

»...ist makellos«, schnitt ich ihm das Wort ab. »Dafür möchte ich mich verbürgen. Ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle.«

»Zweifellos hat er das, was Sie gute Kinderstube und gesellschaftliche Formen nennen. Ich jedoch, der Ausländer, lasse mich von diesen Eigenschaften weniger bestechen und in meiner Untersuchung nicht dadurch beeinflussen. Aber ich gestehe Ihnen gern, daß es auch mir schwerfällt, Kapitän Challengers Persönlichkeit mit dem Fall zu verquicken.«

»Nein, er kann nichts damit zu schaffen haben«, sagte ich voll Wärme.

Hercule Poirot betrachtete mich grübelnd von der Seite. »Hastings, Sie üben auf mich eine ungewöhnliche Wirkung aus; Sie haben nämlich einen so ausgesprägten Riecher nach der falschen Richtung, daß ich beinahe versucht bin, sie einzuschlagen! Sie sind voll und ganz jener treffliche Männertyp, der - ehrlich, gutgläubig, rechtschaffen - unweigerlich jedem Schurken ins Garn geht; der sein anständig erworbenes Geld in zweifelhaften Ölfeldern oder nicht

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vorhandenen Goldbergwerken anlegt. Aus Hunderten von Ihresgleichen ziehen die Schwindler ihr tägliches Brot. Ah, unbedingt werde ich diesen Kapitän Challenger studieren - Sie, Hastings, haben meine Zweifel geweckt.«

»Mein lieber Poirot«, erregte ich mich, »Sie sind wirklich verdreht! Ein Mann, der in der Welt herumgekommen ist wie ich ...«

»... lernt niemals«, sagte mein Freund mit traurigem Kopfschütteln. »Es ist erstaunlich - aber es verhält sich so.«

»Meinen Sie, ich hätte mit meiner Farm in Argentinien Erfolg gehabt, wenn ich ein solch gutgläubiger Trottel wäre, wie Sie ihn da schildern?«

»Wüten Sie nicht gegen sich selbst, mon cher. Sie haben einen großen Erfolg drüben gehabt - Sie und Ihre Gattin.«

»Bella läßt sich immer durch mein Urteil leiten.« »Sie ist so weise, wie sie reizend ist«, entgegnete Poirot.

»Warum wollen wir uns streiten, mein Freund? Sehen Sie, dort vor uns liegt die Garage des besagten Mott, mithin die Garage, deren Miss Buckley Erwähnung tat. Einige Kreuz-und-quer-Fragen werden uns zur Wahrheit über jenen kleinen Autounfall verhelfen.«

Also suchten wir den Garagenbesitzer auf, dem Poirot erklärte, daß ihn Miss Buckley hierher empfohlen habe. Er erkundigte sich, ob er für einige Nachmittagsausflüge einen Wagen mieten könne, und kam von diesem Gespräch unmerklich auf die Erörterung des Schadens, den Miss Buckleys Wagen vor kurzer Zeit erlitten hatte. Sofort öffneten sich die Schleusen von Mr. Motts Beredsamkeit, und mit einem gewaltigen Wortschwall beteuerte er, daß ihm so etwas noch nie vorgekommen sei. Nie, in seinem ganzen Leben! Hierauf ging Mr. Mott dazu über, uns die technischen Einzelheiten auseinanderzusetzen, und obwohl weder Poirot noch ich sonderliche Fachkenntnisse besaßen, drängte sich uns doch die unverkennbare Tatsache auf, daß jemand sich an dem Wagen zu schaffen gemacht hatte.

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»Also so steht es damit«, knurrte Poirot ingrimmig, als wir von dannen schlenderten. »Die kleine Nick hatte recht und der reiche Mr. Lazarus unrecht. Hastings, mein Freund, das gibt zu denken!«

»Was werden wir nun beginnen?« »Dem Postamt einen Besuch abstatten und ein Telegramm

befördern, falls es nicht schon zu spät ist.« »Ein Telegramm?« »Jawohl, ein Telegramm«, wiederholte Hercule Poirot mit

verstockter Einsilbigkeit. Die Post hatte ihre Schalter noch nicht geschlossen, und Poirot

füllte ein Formular aus und reichte es dem Beamten, ohne mich über Inhalt oder Empfänger der Depesche zu unterrichten. Und da ich fühlte, daß mein Freund nur auf eine Frage von mir wartete, hütete ich mich, ihm diesen Gefallen zu tun.

»Ärgerlich, daß morgen Sonntag ist«, bemerkte er auf dem Heimweg zum Hotel. »Wir müssen unseren Besuch bei Mr. Vyse daher leider bis Montag verschieben.«

»Vielleicht gelingt es Ihnen, seine Privatadresse in Erfahrung zu bringen.«

»Gelingen, gewiß. Doch gerade das möchte ich unbedingt vermeiden. Ich würde vorziehen, ihn vorerst beruflich um Rat zu fragen und mir von diesem Gesichtspunkt aus ein Urteil über ihn zu bilden.«

»Vielleicht wäre es das beste«, pflichtete ich bei. »Die Antwort auf eine schlichte, kleine Frage würde zum

Beispiel schon sehr ausschlaggebend sein. Wenn Mr. Charley Vyse heute um zwölf Uhr dreißig in seinem Büro saß, war er es nicht, der den Schuß im Hotelgarten abfeuerte.«

»Sollten wir nicht auch die Alibis der drei im Majestic nachprüfen?«

»Das ist bedeutend schwieriger. Wie leicht kann sich der eine oder andere für ein paar Minuten von den übrigen getrennt

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haben! Ein hastiges Entschlüpfen aus einem der zahlreichen französischen Fenster - Rauchzimmer, Halle, Schreibsalon - flugs im Schütze der Bäume und Sträucher zu der Stelle, wo Miss Nick vorüber muß, den Schuß abfeuern und blitzschnell zu den zwei anderen zurückeilen ...! Aber bislang haben wir noch keineswegs die Gewißheit, daß wir auf alle Rollenträger in dem Drama gestoßen sind. Wie steht's mit der bescheidenen Ellen - und ihrem bisher unsichtbaren Ehemann? Beides Hausgenossen, und möglicherweise mit irgendeinem Groll gegen unsere kleine Nick im Herzen. Ferner dürfen wir die unbekannten Australier in der Pförtnerwohnung nicht übersehen. Und da mögen noch mehr sein, Freunde und Bekannte von Miss Buckley, gegen die sie keinen Argwohn hegt und die sie daher nicht erwähnte. Eine Stimme in meinem Innern raunt mir zu, daß hinter allem etwas steckt, das noch nicht ans Tageslicht gekommen ist. Ich habe auch das Gefühl, daß Miss Buckley mehr weiß, als sie uns erzählte.«

»Sie wollen sagen, Poirot, daß sie mit etwas hinter dem Berg hält?«

»Ja.« »Vielleicht in dem Bestreben, den, nach dem wir fahnden, zu

decken?« Hercule Poirot schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein, nein.

In dieser Hinsicht - ich meine in bezug auf diese Attentate - gewann ich den Eindruck, daß sie uns nichts verschwieg. Doch da ist noch etwas anderes hinter den Dingen - etwas, von dem unsere kleine Nick glaubt, daß es nichts mit den sogenannten Unfällen zu tun hat. Und ich möchte erfahren, was es ist. Denn ich - das sage ich, ohne mich zu brüsten! - bin ein gut Teil scharfsinniger als ein kleines, quirliges Frauenzimmerchen. Ich, Hercule Poirot, sähe vermutlich einen Zusammenhang, wo sie keinen sieht, und hätte den Schlüssel, nach dem ich suche. Ja, ich gestehe es offen und ehrlich, Hastings, daß ich vorläufig im dicksten Nebel dahintaste, und solange ich nicht in diesem Nebelgrau den Schimmer des ureigentlichen Beweggrundes

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erspähe, werden wir nicht vorankommen. Es gibt in diesem Fall eine geheime Triebfeder, die ich nicht erfasse. Welches ist sie, Hastings? Welches ist sie?«

»Sie werden es herausfinden, Poirot«, beschwichtigte ich den Aufgeregten.

»Wenn ich es nur nicht zu spät herausfinde!« erwiderte er düster.

5

Am Abend war Tanz im Hotel. Nick Buckley erschien mit ihren Freunden zum Dinner und winkte uns einen fröhlichen Gruß zu.

Sie trug ein duftiges, rotes Chiffonkleid, das auf dem Boden nachschleppte, und aus der roten Hülle hoben sich schneeweiß der Nacken und die Schultern und ihr dunkler Kopf.

»Ein betörender kleiner Teufel!« bemerkte ich. »Der Gegensatz zu ihrer Freundin, wie?« Frederica Rice war in Weiß gekleidet und tanzte mit einer

trägen, müden Grazie, die sich von Nicks Lebendigkeit unterschied wie Wasser von Feuer.

»Sie ist schön«, hörte ich Poirot plötzlich sagen. »Wer? Unsere Nick?« »Nein, die andere. Ist sie gut? Ist sie böse? Ist sie nur

unglücklich? Man kann darüber kein Urteil fällen. Sie ist ein Rätsel - oder, vielleicht, nichts von allem.«

Und damit erhob er sich zu meiner Überraschung. Nick tanzte mit George Challenger, während Frederica und Lazarus gerade innehielten und an ihren Tisch zurückkehrten. Dann ging Jim Lazarus fort, und Poirot schritt, von mir gefolgt, geradewegs auf die alleingebliebene Mrs. Rice zu. Ich wußte, daß er Winkelzüge und Umschweife nicht sehr liebte.

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»Sie erlauben?« Er legte die Hand auf die Rückenlehne des freien Sessels und war in der nächsten Sekunde auch schon hineingeglitten. »Es liegt mir daran, mit Ihnen einige Worte zu wechseln, während Ihre Freundin tanzt.«

»Ja?« Ihre Stimme klang kühl und teilnahmslos. »Madame, ich weiß nicht, ob Ihre. Freundin es Ihnen erzählt

hat. Wenn nicht, will ich es nachholen: Heute wurde ein Mordanschlag auf sie verübt.«

Fredericas graue Augen weiteten sich vor Entsetzen und Überraschung. »Wie soll ich das verstehen, Monsieur?«

»Im Garten dieses Hotels wurde auf Mademoiselle Buckley geschossen.«

Sie lächelte plötzlich - ein sanftes, mitleidiges, nachsichtiges Lächeln. »Hat Nick Ihnen das erzählt?«

»Nein, Madame. Ich sah es selbst. Hier ist die Kugel.« Unwillkürlich schreckte sie ein wenig zurück, als er ihr das

kleine, runde Ding hinhielt. »Aber dann ... aber ...« »Es handelt sich also um keine Erfindung Mademoiselles - das

kann ich beeiden. Und außerdem haben sich in den letzten Tagen verschiedene seltsame Unfälle zugetragen. Sie werden es wissen, Madame - oder nein, doch wohl nicht. Denn Sie trafen ja hier erst gestern ein, nicht?«

»Ja, gestern.« »Wenn ich recht unterrichtet bin, waren Sie vordem mit

Freunden in Tavistock.« »Ja.« »Darf ich mich nach dem Namen dieser Freunde erkundigen,

Madame?« Hochmütig zog sie die Augenbrauen empor. »Bitte, was

veranlaßt Sie zu dieser Frage, Monsieur?« Im Nu war Poirot die leibhaftige, unschuldsvolle

Verwunderung. »Pardon, Madame. Tausendmal Pardon! Ich benahm mich höchst ungeschickt. Aber da ich selbst Freunde in

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Tavistock habe, bildete ich mir ein, daß Sie mit ihnen zusammengetroffen sein könnten - Buchanan heißen meine dortigen Freunde.«

»Ich erinnere mich nicht, diesen Namen gehört zu haben, also bin ich ihnen wohl nicht begegnet«, erwiderte sie höflich. »Unterhalten wir uns doch lieber über Nick anstatt über gleichgültige Fremde. Wer schoß auf Nick? Weshalb?«

»Ich weiß nicht wer - noch nicht!« gab ihr Poirot zur Antwort. »Aber ich werde den Schützen ausfindig machen. Ja, ganz bestimmt. Ich bin nämlich Detektiv, Madame. Hercule Poirot ist mein Name.«

»Ein sehr berühmter Name.« »Madame sind zu liebenswürdig.« »Was wünschen Sie, das ich tun soll?« sagte sie langsam. Und

ich glaube, daß Poirot eine solche Frage ebensowenig erwartet hatte wie ich.

»Ich möchte Sie bitten, Madame, über Ihre Freundin zu wachen.«

»Von Herzen gern.« »Das ist mein einziges Anliegen, Madame.« Er stand auf,

verbeugte sich rasch, und wir schritten wieder zu unserem eigenen Tisch hinüber.

»Poirot, decken Sie Ihre Karten nicht allzusehr auf?« glaubte ich warnen zu müssen.

»Mon ami, welcher andere Weg bleibt mir? Mein Vorgehen entbehrt vielleicht der Spitzfindigkeit, dafür hat es aber den Vorzug der Sicherheit. Ich kann kein Wagnis eingehen! Jedenfalls verschaffte uns die Zwiesprache mit Madame über eins volle Klarheit...«

»Nun?« »Madame war nicht in Tavistock. Wo war sie dann? Ah, auch

das wird mir nicht verborgen bleiben! Unmöglich, Hercule Poirot hinters Licht zu führen. - Sehen Sie, der schöne Jim hat

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sich wieder eingestellt. Jetzt erzählt sie es ihm, er schaut zu uns herüber. Er ist gescheit, der Bursche. Betrachten Sie seine Schädelform. Ah, ich wünschte, ich wüßte ...«

»Was?« fragte ich, als er zögerte. »Was ich am Montag wissen werde«, versetzte er zweideutig. Ich sah ihn an, enthielt mich aber jeder Bemerkung, so daß er

seufzte: »Sie werden nicht mehr von Neugierde geplagt, mein Freund. In frühen Tagen ...«

»Es wäre gut, wenn Sie auf ein Vergnügen verzichten würden«, sagte ich kühl.

»Sie meinen?« »Das Vergnügen, auf Fragen die Antwort zu verweigern.« »Ah, das ist boshaft!« »Ganz recht.« »Schön, schön«, brummte Poirot. »Der große Schweigsame:

vor zwanzig Jahren eine äußerst beliebte Romanfigur.« Kurz darauf kam Nick an unserem Tisch vorbei. Sie trennte

sich von ihrem Partner und schoß auf uns zu wie ein farbenfroher Vogel. »Tanzen am Rande des Todes!« warf sie leicht hin.

»Es ist eine neue Sensation, Mademoiselle?« »Ja, eine recht spaßige.« Schon wieder war sie auf und davon und winkte noch einmal

zurück. »Ich wollte, sie hätte sich diese Bemerkung eben geschenkt,

Poirot. Tanzen am Rande des Todes! Dergleichen liebe ich nicht.«

»Ich weiß. Es kommt auch der Wahrheit zu nahe. Unerhörten Mut hat das kleine Ding. Aber unglücklicherweise erfordert der gegenwärtige Augenblick nicht Mut, sondern Vorsicht.«

Der folgende Tag war ein Sonntag. Wir hatten uns zur Abwechslung auf der vorderen Terrasse niedergelassen, und es

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mochte halb zwölf sein, als Poirot plötzlich aufsprang und rief: »Kommen Sie, mein Freund. Wir werden einen kleinen Versuch anstellen. Ich habe mich vergewissert, daß Jim Lazarus und Madame im Auto fortgefahren sind, und mit ihnen Mademoiselle. Die Luft ist also rein.«

»Rein für was?« »Das werden Sie sehen.« Wir gingen die Stufen hinab und quer über einen schmalen

Grasstreifen. Dort lag das Tor, durch das man auf den Zickzackpfad gelangte, der sich hinab zur See schlängelte. Lachend und schwatzend kam eine Schar Badegäste bergauf. Als sie vorüber waren, schritt Poirot auf die Stelle zu, wo ein unauffälliges Pförtchen in rostigen Angeln die halbausgelöschte Aufschrift trug: >Endhaus, Privat.< Nirgends zeigte sich eine Menschenseele, und wir spazierten ungehindert hindurch.

Eine Minute später erreichten wir den Weg, den wir mit Nick zusammen gegangen waren. Poirot stattete den Klippen einen flüchtigen Besuch ab, spähte hinab und ging dann auf das Haus zu. Die Terrassentür stand weit offen, und wir drangen schnurstracks ins Wohnzimmer vor. Doch auch hier verweilte Poirot nicht. Er öffnete die Tür, betrat die Halle und stieg die Treppe hinauf zu Nicks Schlafzimmer, ich immer dicht auf seinen Fersen. Oben setzte er sich auf das Bett und zwinkerte mir vielsagend zu.

»Na, mein Freund, ist es nicht höchst einfach? Niemand hat unser Kommen bemerkt, niemand wird unser Fortgehen bemerken. In voller Sicherheit könnten wir hier irgendeine Absicht ausführen ... zum Beispiel den Drahtaufhänger eines Gemäldes so weit durchfeilen, daß er nach wenigen Stunden reißen muß. Und sollte durch Zufall doch jemand sich auf der Vorderseite des Hauses aufhalten und unsere Ankunft bemerken - nun, da fehlte es nicht an einer durchaus triftigen Erklärung ... sofern wir als Freunde der jungen Hausherrin bekannt sind.«

»Das heißt, daß wir einen Fremden ausschalten können?«

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»Jawohl, Hastings. Nicht nach einem verlaufenen, landfremden Irren müssen wir Ausschau halten, sondern den Kreis näher um Nicks Heim herumziehen.«

Er wandte sich, um das Zimmer zu verlassen, und ich folgte ihm. Keiner sprach ein Wort, wahrscheinlich weil Sorge und Unruhe an uns nagten.

Und dann blieben wir an der Biegung der Treppe beide wie angewurzelt stehen. Ein Mann kam uns entgegen. Jetzt machte auch er halt. Sein Gesicht war zwar im Schatten, aber in seiner Haltung drückte sich äußerste Verblüfftheit aus. Er begann als erster zu sprechen, schimpfte mit lauter, ziemlich rauher Stimme: »Was, zum Teufel, treiben Sie hier, möchte ich wissen?«

»Ah!« sagte Poirot. »Monsieur Croft, wenn ich nicht irre.« »Richtig. Aber was ...« »Wollen wir nicht lieber ins Wohnzimmer gehen und dort

unsere Unterhaltung fortsetzen? Ich halte es für besser.« Der andere gab den Weg frei, machte kehrt und schritt uns

voran in Miss Buckleys Wohnzimmer. »Sie erlauben, daß ich mich vorstelle«, bemerkte mein Freund,

als er die Tür geschlossen hatte. »Hercule Poirot.« Das finstere Gesicht des Mannes erhellte sich ein wenig. »Oh,

Sie sind der tüchtige Detektiv. Ich habe von Ihnen gelesen.« »Im >St. Loo Herald<?« »Bewahre. Auf dem Rückweg von Australien. Sie sind

Franzose, nicht wahr?« »Belgier, doch das ist kein großer Unterschied. Das ist mein

Freund Hauptmann Hastings.« »Freut mich, Sie kennenzulernen. - Aber was führt die Herren

hierher? Ist irgend etwas nicht im Lot?« »Es hängt davon ab, wie man es auffaßt.« Der Australier war trotz seines Kahlkopfes und seines

vorgerückten Lebensalters ein ansehnlicher Mann. Nur hatte er

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leider ein plumpes Gesicht - ein unfertiges Gesicht. Doch es wurde verschönt durch seine klaren blauen Augen.

»Ich bin herübergekommen, um Miss Buckley eine Handvoll Tomaten und eine Gurke zu bringen«, erläuterte er. »Der Mann, der ihren Garten besorgt, ist ein fauler Bursche, lungert herum und erntet nichts Rechtes. Mutter und ich möchten aus der Haut fahren, wenn wir das so mit ansehen, und es ist nur nachbarliche Pflicht, ein bißchen aufzuhelfen. Wir haben mehr Tomaten, als wir verbrauchen können. Nachbarn sollen immer gute Kameradschaft halten, meinen Sie nicht auch? - Ich kam also wie gewöhnlich über die Terrasse herein und packte meinen Korb aus. Im Begriff, wieder heimzugehen, hörte ich über mir Schritte und Männerstimmen. Natürlich wurde ich stutzig. Wenn unsere Gegend im allgemeinen von Einbrechern auch nicht heimgesucht wird, so könnte sich ja doch mal einer hierher verirren. Um mich zu überzeugen, daß alles in Ordnung sei, ging ich zur Treppe und traf auf Sie. Verstehen Sie nun mein Befremden? Und jetzt stellt sich auch noch heraus, daß Sie ein weltbekannter Detektiv sind. Was bedeutet das alles?«

»Die Erklärung will ich Ihnen nicht vorenthalten, mein lieber Mr. Croft«, sagte Poirot mit seinem gewinnendsten Lächeln. »Mademoiselle hatte vor etlichen Nächten ein aufregendes Abenteuer. Ein schweres Bild fiel auf ihr Bett. Hat sie es Ihnen vielleicht erzählt?«

»Ja. Ein reines Wunder, daß sie ohne Schaden davonkam.« »Damit der Vorfall sich in Zukunft nicht wiederholt, versprach

ich, ihr eine besondere Sicherheitskette zu besorgen. Mademoiselle sagte, daß sie zwar heute vormittag ausginge, daß ich indes auch während ihrer Abwesenheit für die Kette Maß nehmen könnte. Voilà - da haben Sie den Grund unseres Hierseins.«

Mit einer kindlichen Schlichtheit streckte er dem Australier die Hand hin.

»Also das ist alles!« Mr. Croft seufzte erleichtert auf.

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»Ja - Sie haben um nichts und wieder nichts einen Schrecken gehabt.«

»Habe ich Sie nicht schon gestern gesehen?« meinte Croft langsam. »Gestern gegen Abend. Sie gingen bei uns vorüber.«

»Richtig. Und Sie arbeiteten im Garten und wünschten uns so höflich guten Tag.«

»Ja. Freilich hätte ich mir nicht träumen lassen, daß Sie der Monsieur Hercule Poirot sind, von dem ich soviel gehört habe«, lachte der Alte. »Sagen Sie mir, Mr. Poirot, sind Sie sehr beschäftigt? Wenn nicht, möchte ich Sie nämlich bitten, mitzukommen, um nach australischer Sitte eine Tasse Vormittagstee bei uns zu trinken und meine Frau zu begrüßen, die jede Zeile, die die Zeitungen über Sie schrieben, gelesen hat.«

»Wir haben nichts vor, Mr. Croft, und nehmen Ihre Einladung mit größtem Vergnügen an.«

»Das ist fein!« »Haben Sie sich die genauen Maße notiert, Hastings?« wandte

sich Poirot an mich. Ich beeilte mich, ihm eine bejahende Antwort zu geben, worauf wir unseren neuen Freund begleiteten. Croft war ein Schwätzer, wie wir bald merkten. Er erzählte uns weitschweifig von seinem Heim unweit von Melbourne, von seinen ersten Bemühungen und Anstrengungen, von der Begegnung mit seiner Frau, von ihren weiteren vereinten Kämpfen und dem schließlichen Aufstieg.

»Sofort faßten wir den Plan zu reisen«, sagte er, »denn wir hatten stets Sehnsucht gehabt, die alte Heimat kennenzulernen. Und da die Urgroßeltern meiner Frau aus dieser Gegend stammten, kamen wir hierher, in der Hoffnung, vielleicht noch den einen oder anderen ihrer Nachkommen aufzustöbern. Doch wir bemühten uns vergeblich. Dann machten wir einen Abstecher nach dem Kontinent - Paris, Rom, die italienischen Seen, Florenz. Und in Italien wurde meine arme Frau bei einem Eisenbahnunglück schwer verletzt. Hartes Schicksal, was? Ich

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habe sie zu den berühmtesten Ärzten gebracht, und sie alle sagen dasselbe: Beschädigung der Wirbelsäule. Das heilt nur mit der Zeit aus und durch unentwegtes Liegen.«

»Wie traurig!« »Nicht wahr? Und dann hatte sie in ihrem Unglück und ihren

Schmerzen immer nur den einen Wunsch, wieder hierherzukommen. Sie meinte, alles leichter ertragen zu können, wenn wir ein Fleckchen für uns allein hätten - nur ein ganz winziges Fleckchen. Endlich fanden wir nach langem Suchen dies hier. Friedlich und still und abgelegen - keine vorbeirasenden Autos, kein Radio im Nachbarzimmer. Ich griff zu, ohne mich lange zu besinnen, und habe es nicht bereut.«

Beim letzten Satz öffnete er die Tür des Pförtnerhäuschens. »Bitte näher zu treten!« Er führte uns in ein freundliches Schlafzimmer, und dort lag auf dem Sofa eine etwa fünfzig Jahre alte Frau, mit vollem grauem Haar und einem gütigen Lächeln.

»Was meinst du wohl, Mutter, wer das ist?« rief Mr. Croft. »Wer wohl? ... Der ganz vorzügliche, weltberühmte Detektiv Mr. Hercule Poirot! Ich bringe ihn dir zu einem Schwätzchen.«

»Mein Gott! Da fehlen mir vor Freude ja die Worte!« Mrs. Croft schüttelte meinem Freund herzhaft die Hand. »Ich habe den Mordfall im Riviera-Expreß, den Sie zufällig auch gerade benutzten, verfolgt und überdies eine ganze Reihe Ihrer anderen Fälle. Seit ich zum Liegen verurteilt bin, lese ich mit Vorliebe Kriminalromane, weil nichts so gut die Zeit vertreibt. Bert, mein Lieber, geh hinaus zu Edith, damit sie den Tee anrichtet.«

»Wird besorgt, Mutter.« »Edith ist eine Art Hilfspflegerin«, erklärte uns Mrs. Croft.

'»Sie kommt jeden Morgen, um mich zurechtzumachen. Wir plagen uns nicht mit Dienstboten ab. Bert versieht Küche und Haus besser als die tüchtigste Wirtschafterin, und diese Beschäftigung und der Garten bewahren ihn vor Langeweile.«

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»So, da ist der Tee!« rief Mr. Croft, der mit einem Tablett wieder erschien, in seiner lauten Art. »Was, Mutter, das ist heute ein Extratag in unserem ruhigen Leben?«

»Ich vermute, Sie wohnen hier in St. Loo, Mr. Poirot?« erkundigte sich Mrs. Croft, während sie sich ein wenig nach vorn neigte und die Teekanne ergriff.

»Ja, Madame. Ich gönne mir einmal Ferien.« »Aber ich las doch, daß Sie sich ins Privatleben zurückzogen,

also ein für allemal Ferien gemacht haben.« »Ach, Madame, Sie dürfen nicht alles für bare Münze nehmen,

was die Zeitungen schreiben.« »Da haben Sie wohl recht. Demnach üben Sie Ihren Beruf

nach wie vor aus?« »Wenn ich einen Fall finde, der mich interessiert.« »Dann sind Sie hier wahrscheinlich auch an der Arbeit«,

meinte Mr. Croft pfiffig. »Und daß Sie Ihren Aufenthalt Ferien nennen, gehört wohl mit zum Spiel?«

»Wer wird denn so zudringliche Fragen stellen, Bert!« verwies ihn seine Frau. »Dann kommt Mr. Poirot ganz bestimmt nie wieder zu uns. - Wir sind einfache Leute«, wandte sie sich an meinen Freund, »und Ihr und Ihres Freundes Besuch ehrt uns außerordentlich. Sie ahnen nicht, welches Vergnügen Sie uns bereiten.«

Ihre Dankbarkeit war so ungekünstelt, daß mein Herz dieser mütterlichen Frau warm entgegenzuschlagen begann.

»Diese Sache mit dem Bild hätte schlecht ablaufen können«, meinte Mr. Croft ziemlich unvermittelt.

»Das arme kleine Mädchen! Ihr Leben hing wirklich an einem Haar!« bestätigte Mrs. Croft in aufrichtigem Mitgefühl. »Welch quecksilbriges Menschenkind! Wenn sie hier ist, wird das alte Haus zu einem Taubenschlag. Und doch ist sie, soviel ich gehört habe, bei den Einheimischen nicht sehr beliebt. Aber so geht's nun einmal in diesen steifen, kleinen englischen Nestern: Man verargt einem Mädchen Übermut und Fröhlichkeit. Mich

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wundert's nicht, daß sie immer nur kurze Zeit hierbleibt und daß es ihrem langnasigen Vetter nicht gelingt, sie zur Seßhaftigkeit zu bewegen als seine ... als ... na ja, ich weiß nicht, als was.«

»Klatsche nicht, Milly«, sagte Mrs. Crofts Gatte. »Aha, aus der Richtung bläst der Wind!« ergriff Poirot das

Wort. »Trauen Sie nur dem Instinkt von Madame, Mr. Croft. Also, Mr. Charles Vyse hat sein Herz an unsere kleine Freundin verloren?«

»Er ist verrückt nach ihr«, gab Milly Croft zur Antwort, »doch sie will keinen kleinstädtischen Anwalt heiraten. Und ich schelte sie darum nicht. Vyse ist ein unbeholfener Kauz. Hingegen möchte ich gern, daß sie den netten Seemann, Mr. Challenger, heiratete. Was tut's, daß er älter ist als sie? Miss Nick braucht einen soliden, gesetzten Mann. Dies Hin- und Herflattern, sogar zum Kontinent hinüber, immer allein oder mit jener wunderlich aussehenden Mrs. Rice, die zwar - wie ich sehr wohl weiß - ein lieber Mensch ist, aber nicht die Richtige für unser kleines Fräulein. Sie macht keinen allzu glücklichen Eindruck. Doch auch Miss Buckley scheint mir seit kurzem verändert und hat so einen gehetzten Blick. Und das bereitet mir Sorge, denn ich habe meine guten Gründe, dem Mädchen Teilnahme entgegenzubringen, nicht wahr, Bert?«

Mr. Croft schob ziemlich eilfertig seinen Sessel zurück. »Nicht nötig, daß du darüber redest, Milly«, sagte er.

»Möchten Sie vielleicht ein paar Fotos aus Australien sehen, Mr. Poirot?«

Von jetzt aber verlief unser Besuch bei der Familie Croft ereignislos, und zehn Minuten später verabschiedeten wir uns.

»Nette Menschen!« meinte ich. »So einfach und anspruchslos. Typische Australier.«

»Gefielen sie Ihnen?« »Ihnen nicht?« »Sie waren sehr angenehm - sehr freundlich.« »Was haben Sie dann auszusetzen?«

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»Vielleicht waren sie um eine Schattierung zu typisch«, meinte Poirot grüblerisch. »Jenes Drängen, uns australische Fotografien zu zeigen ... empfanden Sie es nicht als ein wenig übertrieben, Hastings?«

»Was sind Sie doch für ein argwöhnischer Bursche!« »Sie haben recht, mon ami. Ich bin argwöhnisch gegen all und

jeden. Denn ich habe Angst, Hastings... Angst!«

6

Poirot hielt beharrlich an dem leichten, in seiner Heimat üblichen Frühstück fest. Mich mit gutem Appetit Spiegeleier und Schinken verzehren zu sehen, quälte und erregte ihn - wenigstens behauptete er es. Infolgedessen frühstückte er im Bett - Kaffee und Brötchen -, während es mir freistand, den Tag mit dem traditionellen Morgenimbiß des Engländers zu beginnen.

Am Montagmorgen steckte ich, bevor ich nach unten ging, die Nase in sein Zimmer. Angetan mit einem prächtigen Schlafrock, saß er aufrecht im Bett.

»Bon jour, Hastings. Ich war gerade im Begriff zu läuten. Wollen Sie die Güte haben, zu veranlassen, daß diese Zeilen umgehend durch einen Boten Mademoiselle Nick geschickt werden?«

Ich streckte bereitwillig meine Hand aus. Doch Poirot betrachtete mich und seufzte schwer. »Wenn nur ... wenn nur Ihr Scheitel in der Mitte säße statt an der Seite! Hastings, mein Sohn, Sie ahnen ja nicht, welches Ebenmaß diese Haartracht Ihrer Erscheinung geben würde. Und Ihr Schnurrbart! Wenn Sie einen Schnurrbart haben müssen, dann gefälligst einen richtigen - einen Bart von der Schönheit des meinigen.«

Einen gelinden Schauder bei dieser Vorstellung unterdrückend, nahm ich den Brief aus Poirots Hand und verließ das Zimmer.

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Als ich nach beendetem Frühstück wieder mit ihm in unserem Wohnzimmer zusammentraf, wurde uns Mitteilung gemacht, daß Miss Buckley unten in der Halle wartete. Poirot bat, sie nach oben zu führen.

Lustig genug kam sie hereingeflattert, doch ich bildete mir ein, daß die Schatten unter den Augen noch dunkler seien als gewöhnlich.

»Hier!« sagte sie nach der ersten Begrüßung und reichte Poirot ein Telegramm. »Ich hoffe, das wird Sie befriedigen.«

Poirot las laut vor: »Ankomme heute fünf Uhr dreißig, Maggie.«

»Meine Pflegerin und Wächterin!« lachte Nick. »Aber ich weiß nicht, ob Sie nicht einen Fehlgriff taten. Zu einer Wächterin gehört doch wenigstens ein bißchen Verstand; der geht Maggie jedoch völlig ab. Gute Werke - das ist das einzige, wozu sie sich eignet. Freddie würde zehnmal besser verborgene Mörder auskundschaften. Und Jim Lazarus am allerbesten. Ich habe immer das Gefühl, daß man Jim nichts weismachen kann.«

»Und Kapitän Challenger?« »Ach, George! Der sieht nie etwas, wenn er nicht mit der Nase

darauf stößt. Dann freilich verbeißt er sich und läßt nicht locker. George würde sehr nützlich sein, wenn es zu einem Handgemenge käme.« Sie schob ihren Hut in den Nacken und fuhr fort: »Ich habe angeordnet, daß man den Mann, von dem Sie mir schrieben, hineinläßt. Es klingt höchst geheimnisvoll. Soll er ein Mikrophon oder etwas Ähnliches im Haus anbringen?«

Poirot schüttelte den Kopf. »Nein, nein, nichts Technisches. Eine kleine, unbedeutende Feststellung, Mademoiselle. Etwas, was ich gern wissen wollte.«

»Schon gut«, meinte Nick. »Es ist sehr amüsant, nicht?« »Ist es das, Mademoiselle?« Wohl eine Minute lang stand sie, den Rücken uns zugewandt,

und blickte aus dem Fenster. Dann drehte sie sich um. All die

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mutige Keckheit war von ihrem Gesicht verschwunden. Es war kindlich verzerrt, als sie sich bemühte, der Tränen Herr zu werden.

»Nein«, stammelte sie. »Nein, es ist nicht amüsant. Durchaus nicht. Ich habe so schreckliche Angst - und meinte bisher immer, ich sei tapfer.«

»Das sind Sie auch, mon enfant. Hastings sowohl als auch ich haben beide Ihren Mut bewundert.«

»Ja, wirklich«, bestätigte ich voll Wärme. »Nein«, wimmerte Nick, »ich bin nicht tapfer. Das Warten

zermürbt. Die ganze Zeit in der Spannung zu leben, ob sich noch mehr ereignet. Und auf welche Art es sich ereignet!«

»Ja, Mademoiselle, das kostet Nerven.« »Vergangene Nacht habe ich mir ein Bett in der Mitte des

Schlafzimmers gerichtet. Und das Fenster geschlossen und die Tür verriegelt. Als ich hierherkam, benutzte ich, entgegen meiner sonstigen Gepflogenheit, die Hauptstraße. Ich hätte es nicht über mich gebracht, durch den Garten zu gehen. Ich konnte es einfach nicht! Das fehlte zu allem übrigen noch!«

»Wie meinen Sie das, Mademoiselle? Zu allem übrigen?« Es entstand eine kleine Pause. Und dann erwiderte Nick: »Ich

meine nichts Besonderes. Was die Zeitungen vermutlich >den Zug des modernen Lebens< nennen würden. Zu viele Cocktails, zu viele Zigaretten - all dergleichen Sünden. Das hat mit schuld, daß Sie mich jetzt in solchem ... solchem lächerlichen Zustand sehen.«

Sie war in einen breiten Sessel gesunken und hockte dort müde und matt.

»Sie sind nicht offen zu mir, Mademoiselle.« »Wie können Sie das sagen, Monsieur Poirot? Ich habe Ihnen

alles erzählt.« »Über diese Unfälle ... über diese Anschläge, ja.« »Was also noch?«

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»Sie haben mir nicht alles erzählt, was in Ihrem Herzen vorgeht, in Ihrem Leben.«

»Ist dazu jemand imstande?« fragte sie gedehnt. »Mithin geben Sie es zu!« triumphierte Poirot. Aber Nick bewegte verneinend den dunklen Kopf. »Vielleicht ist es nicht Ihr Geheimnis«, bohrte mein Freund

weiter. Mir schien es, als hätte ich ein vorübergehendes Zucken ihrer

Augenlider wahrgenommen. Doch schon in der nächsten Sekunde schnellte sie mit der alten Lebendigkeit empor. »Wahr und wahrhaftig, Monsieur Poirot, ich habe Ihnen diese widerwärtige Angelegenheit bis in die kleinsten Einzelheiten erzählt. Wenn Sie annehmen, ich wüßte etwas über irgend jemand oder hätte einen Argwohn, so sind Sie in einem Irrtum befangen. Mich treibt im Gegenteil die Tatsache, daß ich keinerlei Argwohn habe, zum Wahnsinn! Weil ich kein Narr bin. Ich begreife, daß - wenn diese >Unfälle< keine Unfälle waren - sie jemand aus meiner Umgebung, jemand, der mich kennt, verursacht haben muß. Und das ist das Grauenvolle. Weil ich nicht die leiseste Ahnung habe, wer es sein könnte.«

Von neuem schritt sie zum Fenster und starrte hinaus. Poirot bedeutete mir durch ein Zeichen, nicht zu sprechen. Ich glaube, daß er nunmehr, da des Mädchens Selbstbeherrschung zusammengebrochen war, auf weitere Enthüllungen hoffte.

Als Nick abermals das Wort an uns richtete, geschah es in einer verträumten, entrückten Weise. »Soll ich Ihnen einen ganz ungereimten Wunsch beichten, den ich zeitlebens mit mir herumgetragen habe? Ich liebe mein Endhaus, und immer wollte ich dort ein Schauspiel verfassen. Es haftet dem Haus eine dramatische Atmosphäre an. Im Geiste sah ich dort alle möglichen Handlungen sich abspielen. Und nun scheint das alte Haus tatsächlich der Schauplatz eines Dramas zu werden. Jedoch ich schreibe es nicht ... ich wirke mit, bin mitten, mitten drin. Ich

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bin vielleicht die Person, die gleich im ersten Akt stirbt.« Ihre Stimme versagte.

»Nun, nun, Mademoiselle!« Poirot gab den Worten absichtlich einen munteren, entschlossenen Klang. »Das ist ja Hysterie!«

Nick drehte sich brüsk um. »Hat Ihnen Freddie gesagt, daß ich hysterisch sei?« fragte sie scharf. »Sie behauptet es nämlich bisweilen. Doch Sie müssen nicht alles glauben, was Freddie sagt. Sie hat Zeiten, in denen sie nicht ganz ... nicht ganz sie selbst ist.«

Wiederum entstand eine Pause, die Poirot durch die völlig unerhebliche Frage beendete: »Haben Sie eigentlich jemals ein Angebot für Ihren Besitz erhalten, Mademoiselle?«

»Sie meinen ein Angebot, ihn mir abzukaufen?« »Ja.« »Nein, noch nie.« »Käme denn ein Verkauf in Frage, wenn man Ihnen einen

guten Preis böte?« Nick Buckley überlegte. »Nein, ich glaube nicht. Es sei denn,

man böte mir einen solchen unsinnig hohen Preis, daß es bodenloser Leichtsinn wäre, wenn ich nicht Zugriffe.«

»Tres bien!« »Ich möchte den Besitz nicht gern verkaufen, weil er mir als

Stätte, wo ich neben Großvater meine Kindheit verlebte, ans Herz gewachsen ist.« Nick begann langsam der Tür zuzugehen. »Übrigens ist heute abend ein Feuerwerk. Wollen Sie kommen? Dinner um acht Uhr. Das Feuerwerk beginnt um neun Uhr dreißig. Wir können es vom Garten aus herrlich sehen.«

»Mit größtem Vergnügen, Miss Buckley.« »Selbstverständlich sind Sie beide gemeint«, fügte Nick hinzu. »Verbindlichen Dank«, sagte ich. »Nur ein bißchen Geselligkeit, um die gesunkenen

Lebensgeister wieder anzufeuern«, versuchte sie zu scherzen und ging dann mit einem leisen Lachen hinaus.

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»Pauvre enfant!« seufzte Hercule Poirot. Er griff nach seinem Hut und schnippte sorgsam ein unendlich

winziges Staubkörnchen vom Rand. »Gehen wir aus?« erkundigte ich mich. »Gewiß, wir haben eine Rechtsauskunft nötig, mon ami.« »Ah, ich verstehe.« »Wie wäre dies bei Ihren glänzenden geistigen Fähigkeiten

auch anders möglich, mein teurer Hastings!«

Das Büro von Vyse, Trevannion & Wynnard lag in der Hauptstraße. Wir stiegen die Treppe bis zum ersten Stockwerk empor und betraten einen Raum, wo drei Angestellte eifrig schrieben. Poirot verlangte Mr. Charles Vyse zu sprechen.

Einer der drei murmelte ein paar Worte in ein Telefon, empfing offenbar eine bejahende Antwort und führte uns mit der Bemerkung, daß Mr. Vyse bitten lasse, jenseits des Korridors zu einer Tür, die er ehrerbietig aufriß. Drinnen erhob sich hinter einem aktenbeladenen Schreibtisch Miss Buckleys Vetter, hager und blaß. Trotz seiner jungen Jahre lichtete sich das Haar an den Schläfen bereits bedenklich, und die Augen blickten durch große Brillengläser.

Poirot hatte sich nicht unvorbereitet zu diesem Besuch entschlossen. Er legte einen noch nicht unterzeichneten Vertrag, den er zufällig nach St. Loo mitgenommen hatte, dem Rechtsanwalt vor und wies auf einige Paragraphen hin, deren Unklarheit und Zweideutigkeit er bemängelte.

Es gelang Mr. Vyse, der abgemessen und korrekt sprach, bald, Poirots geheuchelte Zweifel zu zerstreuen und etliche unverständliche Punkte klarzulegen.

»Ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet«, versicherte Poirot, als er den Bogen wieder zusammenfaltete. »Für mich als Ausländer ist es sehr schwer, diese juristische Ausdrucksweise und ihre Bedeutung zu verstehen.«

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Und diese Bemerkung veranlaßte Mr. Charles Vyse zu der Frage, wer Poirot zu ihm gesandt habe.

»Miss Buckley«, sagte Poirot schlagfertig. »Ihre Kusine, nicht wahr? Eine entzückende junge Dame! Zufällig erwähnte ich ihr gegenüber meine Ratlosigkeit, worauf sie mir nahelegte, Ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ich versuchte bereits, Sie am Sonnabend gegen halb zwölf zu erreichen, aber Sie waren nicht da.«

»Ja. Ich ging am Sonnabend früher vom Büro fort.« »Mademoiselle muß sich in dem großen Haus sehr einsam

fühlen. Ich hörte, daß sie dort allein lebt.« »Leider.« »Darf ich mir die Frage gestatten, Mr. Vyse, ob irgendeine

Aussicht besteht, daß das Grundstück zum Verkauf gelangt?« »Nicht die allergeringste, wage ich zu sagen.« »Meine Frage entsprang nicht eitler Neugier. Ich suche

nämlich selbst einen derartigen Besitz, und das Klima von St. Loo bekommt mir ausgezeichnet. Allerdings befindet sich das Haus in keinem guten Zustand, vermutlich fehlt das nötige Geld für die Unterhaltung und Pflege. Würde Mademoiselle unter diesen Umständen nicht etwa doch ein Angebot in Erwägung ziehen?«

»Nie und nimmer!« versicherte Charles Vyse. »Meine Kusine hängt mit jeder Faser ihres Herzens an dem Fleck. Für alle Schätze der Welt würde sie ihn nicht hergeben - bis zu einem gewissen Grade verständlich, da es ein Familienbesitz ist.«

»Dennoch ...« »Schlagen Sie sich die Sache aus dem Kopf. Ich kenne meine

Kusine - ihre Liebe zu dem Gemäuer grenzt an Fanatismus.«

Einige Minuten später standen wir wieder auf der sonnigen Straße.

»Nun, mein Freund, welchen Eindruck machte Mr. Charles Vyse auf Sie?« begehrte Poirot zu wissen.

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»Einen sehr negativen«, meinte ich nach kurzem Zögern. »Er ist eine seltsam negative Persönlichkeit.«

»Keine starke Persönlichkeit, wollen Sie damit sagen?« »Ja. Ein Mensch, an den man sich - sollte man ihm später

einmal wieder begegnen - niemals erinnert. Schlimmste Mittelmäßigkeit!«

»Sein Äußeres ist gewiß nicht bestechend. Haben Sie im Lauf unserer Unterhaltung einen Widerspruch bemerkt?«

»Jawohl. Hinsichtlich Mademoiselles Landsitz.« »Bravo. Würden Sie Nicks Einstellung als Liebe, die an

Fanatismus grenzt, bezeichnen?« »Es war ein zweifellos übertriebener Ausdruck.« »Richtig ... und Mr. Vyses Natur liegt es fern, sich

übertriebener Ausdrücke zu bedienen. Seine normale Haltung ist: lieber zu verringern als zu übertreiben. Dennoch behauptet er, Mademoiselle beseele eine an Fanatismus grenzende Liebe zu dem Heim ihrer Vorfahren.«

»Vor zwei Stunden war von diesem Fanatismus jedenfalls nichts zu merken, wenngleich Nick offen zugab, daß sie - was ganz natürlich ist - an dem Fleckchen Erde hängt.«

»Und folglich lügt einer der beiden«, erklärte Poirot. »Man kann sich Vyse eigentlich schwer als Lügner

vorstellen.« »Unbedingt ein großer Vorzug, wenn der Betreffende zu einer

Lüge genötigt ist! ... Und noch etwas, Hastings.« »Was denn?« »Er war am Sonnabend um halb zwölf Uhr vormittags nicht in

seinem Büro.«

7

Als wir am Abend im Endhaus anlangten, war die erste Person, auf die wir stießen, die junge Gastgeberin selbst, die, in

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einen farbenprächtigen, drachenbestickten Kimono gehüllt, durch die Halle wirbelte.

»Ach, Sie sind es nur!« »Jawohl, Mademoiselle, nur wir. Ich bin untröstlich.« »Seien Sie nicht böse - es klang grob, zugegeben. Aber Sie

werden mich verstehen, wenn ich Ihnen sage, daß ich wie auf glühenden Kohlen sitze, weil mein Kleid für heute abend noch nicht da ist. Und diese abscheuliche Schneiderin versprach mir hoch und heilig, mich nicht im Stich zu lassen.«

»Ah, eine Toilettenfrage - das freilich entschuldigt alles! Nicht wahr, die Kurverwaltung gibt heute einen großen Ball?«

»Ja. Nach dem Feuerwerk werden wir alle hingehen. Ich hoffe wenigstens, alle.« Ihre Stimme wurde plötzlich tonlos, doch in der nächsten Minute lachte der kleine Kobold schon wieder. »Sich nicht unterkriegen lassen, das ist mein Wahlspruch. Wenn man nicht an das Unheil denkt, kommt auch keins. Ich habe die aufsässigen Nerven gehörig geduckt und will heute abend lustig und fidel sein.«

Auf der alten Eichentreppe klapperten hohe Absätze, so daß Nick sich umwandte. »Das ist Maggie. Und diese beiden Herren, Maggie, sind die treuen Schildknappen, die mich vor bösen Mordbuben schützen. Nimm sie mit ins Wohnzimmer und laß dir von ihnen das Nähere erzählen.«

Wir folgten Nicks Weisung, nachdem wir mit Maggie Buckley, von der ich augenblicklich einen sehr günstigen Eindruck erhielt, einen kräftigen Händedruck getauscht hatten. Ich glaube, es war ihre ruhige Schlichtheit, die mich so anzog. Ein stilles Mädchen, hübsch nach veralteten Begriffen - ganz gewiß nicht flott und mondän. Ihr Gesicht wußte nichts von modernen Toilettenkünsten, von Puder und Lippenstift, und das schwarze Abendkleid war denkbar einfach, fast ein wenig schäbig.

»Nick hat mich mit den erstaunlichsten Erzählungen überfallen«, sagte sie mit einer wohllautenden Altstimme, »und

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muß sich dabei einige Übertreibungen geleistet haben. Wer sollte wohl Nick übelwollen? Sie kann keinen Feind haben.«

Der Blick, mit dem sie Poirot ansah, war wenig schmeichelhaft und verriet ihren Zweifel. Vermutlich war sie bisher in ihrem Leben wenig mit Ausländern in Berührung gekommen und mißtraute von vornherein einer Warnung, die von solcher Seite ausging.

»Nichtsdestoweniger versichere ich Ihnen, Miss Buckley, daß es auf Wahrheit beruht.«

Sie widersprach nicht mehr, aber auf ihrem offenen Gesicht war nach wie vor Zweifel zu lesen. »Nick faselte vorhin allerdings von Todesahnungen und dergleichen«, bemerkte sie. »Ich weiß nicht, was mit ihr los ist. Sie ist sehr aufgeregt.«

Mir lief ein Schauder über den Rücken. Doch außerdem horchte ich auf, weil mir ein dem richtigen Engländer fremder Akzent auffiel. »Sind Sie Schottin, Miss Buckley?« warf ich ein.

»Meine Mutter war Schottin«, erklärte sie. Wie ich gewahrte, betrachtete sie mich mit wohlwollenderen

Augen als meinen berühmten Freund. Und da ich fühlte, daß sie auch meinen Worten mehr Gewicht beimessen würde als den seinigen, fuhr ich fort: »Ihre Kusine zeigt große Tapferkeit. Sie ist entschlossen, so zu leben, als sei nichts geschehen.«

»Es ist das einzig richtige, nicht wahr?« erwiderte Maggie. »Ich meine damit, daß - ganz gleich, welche Gefühle in unserem Herzen wohnen - es zu nichts führt, wenn man viel Aufhebens davon macht. Das bringt nur Unerfreulichkeiten für die anderen.« Sie ließ eine Pause eintreten und sagte dann weich: »Ich habe Nick sehr, sehr lieb, denn sie ist immer gut zu mir gewesen.«

Wir konnten das Thema nicht weiter verfolgen, da Frederica Rice, sehr ätherisch und zart, das Zimmer betrat, in einem Gewand von jenem Blau, mit dem die mittelalterlichen Maler ihre Madonnen bekleideten. Bald darauf erschien auch Jim Lazarus, und dann tanzte Nick herein. Sie trug ein schwarzes

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Kleid und darüber einen wunderbaren chinesischen Schal von lebhaftem Lackrot. »Hallo, Herrschaften, Cocktails gefällig?« rief sie.

Wir bejahten alle, und Lazarus hob sein Glas. »Auf Ihr Wohl, Nick! Was haben Sie für einen kostbaren Schal! Sehr alt, nicht?«

»Ja, Ur-Ur-Urgroßvater Timothy hat ihn von einer seiner Reisen mitgebracht.«

»Es ist ein herrliches, ein unvergleichliches Stück«, begeisterte sich Jim. »Sie könnten ganz England durchsuchen, ohne einen ähnlichen zu finden.«

»Jedenfalls hält er warm und wird mir gute Dienste tun, wenn wir uns das Feuerwerk ansehen. Und er ist heiter. Ich ... ich hasse Schwarz.«

»Ja«, fiel Frederica ein, »ich glaube wirklich, es ist das erstemal, daß du ein schwarzes Kleid trägst. Warum hast du es dir gekauft?«

»Weiß ich's?« Das Mädchen warf verdrießlich den Kopf zur Seite, aber nicht rasch genug, um auch vor mir das schmerzliche Zucken ihrer Lippen verbergen zu können. »Warum tut man manches im Leben? ...«

Wir gingen zu Tisch. Ein Diener war aufgetaucht - vermutlich für diesen Abend gemietet. Das Essen war weder gut noch schlecht, der Sekt hingegen ausgezeichnet.

»George fehlt leider«, sagte Nick. »Zu dumm, daß er gestern nacht nach Plymouth zurück mußte! Ich nehme allerdings an, daß er sich im Lauf des Abends wieder einstellen wird, zum Tanz auf jeden Fall.«

Ein entfernter, keuchender Laut kam durch das offene Fenster. »Oh, diese Rennboote!« rief Lazarus. »Ich habe sie so satt.« »Das ist kein Rennboot, das ist ein Wasserflugzeug«,

verbesserte ihn Nick. »Ich glaube wahrhaftig, Sie haben recht.« »Natürlich habe ich recht. Das hört man doch am Ton.«

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»Wann werden Sie Ihre Fliegerprüfung machen, Nick?« »Wenn ich das nötige Geld habe«, lachte sie. »Und dann schwirren Sie vermutlich nach Australien ab wie

jene andere junge Dame ... wie heißt sie doch gleich?« »Das möchte ich schon.« »Ich bewundere Ihren Unternehmungsgeist«, meinte Mrs. Rice

in ihrem müden Ton. »Welch herrlich eiserne Nerven.« »Ich bewundere alle diese Flieger«, ließ sich Lazarus

vernehmen. »Wenn Michael Seton sein Flug um die Welt gelungen wäre, würde er der Held des Tages gewesen sein - und mit Recht. Sein Tod ist für England ein unersetzbarer Verlust.«

»Vielleicht ist er noch am Leben.« »Schwerlich. Die Aussichten stehen jetzt tausend zu eins.

Armer toller Seton!« »Alle Welt nannte ihn den tollen Seton, nicht wahr?« fragte

Frederica. Jim Lazarus nickte. »Er entstammt einer Familie, in der alle

ein bißchen verrückt sind. Sein Onkel, Sir Matthew Seton, der vor einer Woche starb, war ganz verdreht.«

»War er nicht der närrische Millionär, der Vogelasyle schuf?« »Ja. Kaufte für diesen Zweck Inseln. Außerdem war er ein

Frauenhasser. Irgendein Mädchen hat ihn, glaube ich, betrogen, und um sich darüber hinwegzutrösten, nahm er seine Zuflucht zur Naturgeschichte.«

»Weshalb sagen Sie, daß Michael Seton tot sei?« beharrte Nick. »Noch ist nach meiner Meinung kein Grund vorhanden, ihn aufzugeben.«

»Ach, Sie haben ihn ja persönlich gekannt!« erinnerte sich Lazarus. »Wie konnte ich das vergessen?«

»Freddie und ich lernten ihn vergangenes Jahr in Le Touquet kennen«, gab Nick Auskunft. »Er war prachtvoll, wie, Freddie?«

»Das weißt du besser, mein Schatz. Dir machte er den Hof, nicht mir. Nahm er dich nicht auch einmal im Flugzeug mit?«

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»Ja. In Scarborough. Es war ein unvergeßliches Erlebnis.« »Sind Sie auch schon geflogen, Hauptmann Hastings?«

knüpfte Maggie ein höfliches gesellschaftliches Gespräch mit mir an.

Ich mußte ihr gestehen, daß ein Flug nach Paris und zurück meine einzige Erfahrung auf dem Gebiet der Luftfahrt sei.

Plötzlich sprang Nick Buckley auf. »Da läutet das Telefon. Wartet mit dem Essen nicht auf mich. Es könnte sonst zu spät werden, denn ich habe noch eine ganze Menge Leute eingeladen.«

Ich sah nach der Uhr: Es war genau neun. Das Dessert wurde gereicht, nebst Portwein. Poirot plauderte mit Lazarus über Kunst. Gemälde, sofern sie nicht Kunstwerke von ganz hohem Sammelwert seien, müsse man heutzutage als Ladenhüter bezeichnen, hörte ich Jim Lazarus sagen. Und hierauf begannen die beiden, sich über den neuen Baustil und die neuen Möbelformen zu streiten.

Derweil bemühte ich mich, meiner Pflicht zu genügen und Maggie zu unterhalten, aber ich fand bei ihr wenig Unterstützung. Gewiß, sie antwortete liebenswürdig, doch ohne den Ball zurückzuwerfen. Es war eine beschwerliche Aufgabe für mich.

Die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, vom Rauch ihrer Zigarette umkräuselt, saß Frederica Rice traumverloren auf ihrem Platz - ein nachdenklicher blonder Engel!

Als die Zeiger meiner Uhr auf zwanzig Minuten nach neun vorgerückt waren, steckte Nick den Kopf zur Tür herein. »Raus mit euch allen! Die Lämmer erscheinen, zwei und zwei.«

Gehorsam standen wir vom Tisch auf. Nick, die plötzlich ihre burschikose Art abgelegt hatte, begrüßte bereits mit der Bescheidenheit, wie man sie wohl in den einheimischen Gesellschaftskreisen von St. Loo bei einem jungen Mädchen erwartete, die Ankömmlinge, weit über ein Dutzend, denen

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niemand besonders auffällige Eigenschaften hätte nachrühmen können. Auch Charles Vyse befand sich unter ihnen.

Jetzt gingen wir alle aus der Halle in den Garten. Für die älteren Damen und Herren waren an der Stelle, die einen Blick auf See und Hafen bot, einige Stühle aufgestellt worden, doch die meisten von uns standen herum. Und während die erste Rakete zum Himmel zischte, vernahm ich eine laute, unbekannte Stimme.

»Es ist zu schade, daß Mrs. Croft nicht auch hier sein kann«, zwitscherte dann Nick. »Wir hätten sie auf einer Trage oder etwas Ähnlichem herbringen sollen.«

»Gewiß ist's schade«, trompetete Mr. Croft. »Doch Mutter beklagt sich niemals. Immer frohgemut, immer geduldig ... Da, die zweite ist noch schöner!« Dies galt dem goldenen Funkenregen, der sich am Himmel zeigte.

Die Nacht war dunkel und mondlos, da es drei Tage vor Neumond war und - wie oft im Sommer, ziemlich kalt. Maggie Buckley, die dicht neben mir stand, fröstelte. »Ich will schnell ins Haus laufen und mir einen Mantel holen«, murmelte sie.

»Lassen Sie mich gehen, Miss Buckley.« »Nein, Sie würden ihn nicht finden.« Und mit raschen Schritten ging sie dem Hause zu. In diesem

Augenblick ertönte Frederica Rices matte Stimme: »Oh, Maggie, bringen Sie den meinen auch mit. Er hängt in meinem Zimmer.«

»Sie hat es nicht mehr gehört«, sagte Nick. »Ich werde ihn dir mitbringen, Freddie, denn ich brauche einen Pelz. Bei diesem Wind wärmt der Schal nicht genug.«

In der Tat wehte eine scharfe Brise von der See her. Ich wurde, während unten am Kai Böllerschüsse losknatterten,

von einem älteren Fräulein ins Gespräch gezogen, das allmählich in ein strenges Verhör über mein Leben, über Beruf, Neigungen und voraussichtliche Dauer meines Aufenthaltes in St. Loo ausartete.

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Päng! Eine Flut grüner Sterne ergoß sich über den Nachthimmel und verwandelte sich dann in Rot, dann in Blau und endlich in Silber.

Eine neue sprühte empor, und noch eine ... »Oh und ah - das sagt man herzlich gern eine Weile«, raunte

da Poirot mir ins Ohr. »Aber schließlich wird es eintönig, finden Sie nicht auch? Brrr! Das Gras ist so naß; ich werde bestimmt einen Schnupfen kriegen. Und keine Möglichkeit, einen richtigen Fliedertee zu bekommen!«

»Einen Schnupfen? In dieser lieblichen Sommernacht?« »Eine liebliche Nacht! Eine liebliche Nacht! ... Sie versteigen

sich zu diesem Ausspruch, weil der Regen nicht wie aus Kannen niederplatscht, Hastings. Immer, wenn es nicht regnet, ist es bei euch Engländern eine liebliche Nacht. Hätte ich ein kleines Thermometer zur Hand, so würde ich Sie bald eines Besseren belehren.«

»Freilich«, gab ich zu, »würde mir mein Mantel nicht gerade unangenehm sein. Wenn man erst kürzlich aus den Tropen heimgekehrt ist ...«

»Vor dieser Nässe an den Füßen habe ich Angst.« Mit katzenartiger Bewegung hob Poirot erst den einen und hinterher den anderen Fuß vom Boden empor. »Meinen Sie nicht, daß es möglich wäre, ein Paar Überschuhe aufzutreiben?«

Ich unterdrückte ein Lächeln. »Geben Sie diese Hoffnung auf, mein Lieber.«

»Dann werde ich mich ins Haus setzen«, erklärte er. »Ist diese Schaustellung es vielleicht wert, daß ich mir ihretwegen einen Schnupfen hole? Und hinterher vielleicht eine Lungenentzündung?«

Während er sich noch weiter entrüstete, wandten wir unsere Schritte dem Hause zu. Lautes Knattern hinter uns zeigte an, daß unten am Kai das Feuerwerk seinen Fortgang nahm.

»Im Grund unseres Herzens sind wir alle Kinder«, meinte Poirot. »Feuerwerkskörper, Ballspiele, ja, und selbst der

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Zauberkünstler, der Mann, der das Auge überlistet, so sehr es auch Obacht gibt ... aber, was ist Ihnen denn?«

Ich hatte mit der einen Hand seinen Arm gepackt, während ich mit der anderen nach vorn zeigte.

Wir befanden uns etwa hundert Meter vom Haus entfernt, und zwischen uns und der offenen Tür lag eine zusammengekrümmte Gestalt mit einem scharlachroten chinesischen Schal.

»Mon dieu!« wisperte Poirot. »Mon dieu ...«

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Ich glaube, daß wir nur ein paar Sekunden dort standen, erstarrt vor Grauen, unfähig, uns zu rühren. Doch mir kam es wie eine Stunde vor. Dann bewegte sich Poirot, indem er meine Hand abschüttelte, steif wie ein Automat vorwärts.

»Es ist geschehen«, murmelte er, und ich kann kaum die qualvolle Bitterkeit in seiner Stimme beschreiben. »Trotz allem, trotz meiner Vorsicht ist es geschehen. Ah, ich elender Stümper, warum hütete ich sie nicht besser? Ich hätte es voraussehen müssen. Nicht einen Augenblick hätte ich von ihrer Seite weichen dürfen.«

»Poirot, Sie verdienen keinen Tadel«, sagte ich mühsam. Meine Zunge klebte am Gaumen, und ich vermochte nur undeutliche Worte hervorzubringen.

Mein Freund antwortete mit einem kläglichen Kopfschütteln und kniete, unbekümmert um das feuchte Gras, neben der Gestalt nieder.

Und in dieser Sekunde traf uns ein zweiter Schlag, denn fröhlich und hell erschallte Nicks Stimme, und gleich darauf erschien Nick selbst, sich scharf gegen das erleuchtete Zimmer hinter ihr abhebend, in dem Viereck der Tür. »Es tut mir leid, Maggie, daß es so lange dauerte«, rief sie. »Aber ...«

Sie brach ab, starrte auf das Bild vor ihr.

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Mit einem heiseren Ausruf drehte Poirot den leblosen Körper auf dem Rasen um. Und ich blickte in das bleiche Gesicht Maggie Buckleys.

Im Nu stand Nick neben uns. Schrill schrie sie auf. »Maggie ... oh! Maggie ... es kann nicht sein ...«

Poirot untersuchte noch die am Boden Liegende. Schließlich erhob er sich mit unendlicher Langsamkeit.

»Ist sie ... ist...« Nick konnte den Satz nicht vollenden. »Ja, Mademoiselle. Sie ist tot.« »Aber warum? Warum? Wer kann ihr nach dem Leben

getrachtet haben?« »Nicht Ihre Kusine wollte man töten, Mademoiselle, sondern

Sie«, erwiderte Poirot schnell und bestimmt. »Doch man wurde irregeführt durch den Schal.«

»Barmherziger Gott, weshalb konnte ich es nicht sein!« wehklagte Nick. »Oh, weshalb konnte ich es nicht sein? Mir liegt nichts am Leben - jetzt. Ich wäre einverstanden, froh, glücklich gewesen, zu sterben.«

Wild schlug sie mit den Armen durch die Luft und begann zu taumeln, so daß ich schnell hinzusprang.

»Bringen Sie sie ins Haus, Hastings«, befahl Poirot. »Und dann läuten Sie die Polizei an.«

»Die Polizei?« »Selbstverständlich. Sagen Sie, jemand sei erschossen worden.

Und hinterher bleiben Sie bei Mademoiselle Nick. Auf keinen Fall dürfen Sie sich von ihr entfernen.«

Ich gab durch ein Kopfnicken zu verstehen, daß ich seine Anordnungen verstanden hätte, und schleppte das halb ohnmächtige Mädchen ins Wohnzimmer, wo ich es auf das Sofa bettete, um dann auf der Suche nach dem Telefon in die Halle zu eilen. Fast wäre ich hierbei mit Ellen zusammengeprallt. Sie stand dort starr und steif wie eine Bildsäule, mit einem sehr merkwürdigen Ausdruck auf ihrem sanften Gesicht. Ihre Augen

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glitzerten, und wiederholt befeuchtete sie mit der Zunge ihre trockenen Lippen. Sobald sie meiner ansichtig wurde, erkundigte sie sich: »Ist... ist etwas passiert, Sir?«

»Ja«, entgegnete ich kurz. »Wo ist das Telefon?« »Doch nichts Schlimmes, Sir?« »Ein Unfall«, wich ich aus. »Jemand ist schwer verletzt.

Deshalb muß ich telefonieren.« »Wer ist verletzt worden, Sir?« fragte sie gierig. »Miss Buckley. Miss Maggie Buckley.« »Miss Maggie? Miss Maggie?« Ihre Hände begannen zu

zittern. »Sind Sie sicher ... ich meine ... ist es wirklich Miss Maggie?«

»Ich bin vollkommen sicher. Warum?« »Oh - nichts. Ich ... ich dachte, es könnte eine der anderen

Damen sein. Ich dachte, vielleicht Mrs. Rice.« »Also bitte, wo ist das Telefon?« »In dem Zimmer hier, Sir.« Sie öffnete die Tür und wies auf

den Apparat. »Danke«, sagte ich. Und da sie Neigung bekundete, noch

länger zu verweilen, fügte ich hinzu: »Mehr brauche ich nicht. Danke.«

»Wenn Sie Doktor Graham ...« »Nein, nein. Gehen Sie bitte.« Widerstrebend, so langsam wie nur möglich, zog sie sich

zurück. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde sie draußen an der Tür horchen, aber ich konnte es nicht verhindern, ganz abgesehen davon, daß sie binnen kurzem doch alles erfahren mußte.

Nachdem ich die Polizei unterrichtet hatte, rief ich auf eigene Verantwortung auch den von Ellen erwähnten Dr. Graham an, dessen Nummer ich im Telefonbuch ausfindig machte. Nick sollte auf jeden Fall ärztliche Behandlung zuteil werden, wenn auch kein Arzt der Welt dem armen Mädchen helfen konnte, das

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draußen im Grase lag. Dr. Graham versprach, umgehend zu kommen, und rasch legte ich den Hörer auf.

Wenn Ellen wirklich draußen gelauscht hatte, so verstand sie, in Windeseile zu verschwinden, denn als ich wieder hinaus in die Halle trat, war sie leer.

Nick versuchte im Wohnzimmer tapfer, aufrecht zu sitzen. »Könnten Sie mir wohl ... etwas Kognak holen?«

Ich eilte ins Eßzimmer, fand das Gewünschte und kehrte zurück. Ein paar Schlückchen Alkohol belebten die Ärmste. Die Farbe begann in die blassen Wangen zu strömen.

»Es ist alles ... so furchtbar«, stammelte sie, während ich ihr ein Kissen unter den Kopf schob. »Alles ... überall.«

»Ich weiß, mein Kind, ich weiß.« »Nein, Sie wissen es nicht. Und es ist solch ein Unsinn! Wenn

ich nur da draußen läge - dann wäre alles vorüber ...« »Sie müssen sich nicht mit derartigen krankhaften Gedanken

plagen, Miss Buckley.« Doch immer und immer wiederholte sie: »Sie wissen es nicht!

Sie wissen es nicht!« Dann fing sie plötzlich zu schreien und zu weinen an. Ein

hoffnungsloses Schluchzen, wie ein Kind. Und weil ich meinte, es würde ihr Erleichterung bringen, unternahm ich keinen Versuch, ihren Tränenstrom zu dämmen. Als der erste, wilde Anfall vorbei war, stahl ich mich zum Fenster und schaute hinaus. Vor etlichen Minuten hatte ich verstörte Aufschreie gehört. Wirklich drängte sich jetzt die ganze Gästeschar im Halbkreis um den Schauplatz der Tragödie, und wie eine Schildwache trieb sie Poirot in die gebührende Entfernung zurück. Während ich noch auf meinem Beobachtungsposten stand, schritten zwei Gestalten in Uniform über die Grasfläche. Die Polizei.

Ruhig nahm ich meinen Platz neben dem Sofa wieder ein. Nick hob ihr tränenüberströmtes Gesicht. »Müßte ich vielleicht irgend etwas tun?«

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»Nein. Poirot wird alles Nötige erledigen.« Eine Minute oder zwei starrte Nick schweigend vor sich hin.

Dann sagte sie: »Arme Maggie. Arme, liebe, gute Maggie. In ihrem ganzen Leben hat sie niemandem ein Härchen gekrümmt. Und solch ein entsetzliches Ende mußte gerade ihr beschieden sein? Ich habe das Gefühl, als hätte ich sie getötet, da ich ihr Kommen verlangte.«

Was sollte ich ihr darauf antworten? Wie wenig kann man die Zukunft voraussehen! Als Poirot darauf bestand, daß eine Freundin bei Nick weilte, ahnte er nicht, daß er das Todesurteil eines unbekannten jungen Mädchens unterzeichnete.

Obgleich es mich verlangte, zu wissen, was draußen vor sich ging, erfüllte ich getreulich Poirots Anweisung und harrte auf meinem Posten neben Nick aus. Ich atmete jedoch erleichtert auf, als sich die Tür öffnete und Poirot und ein Polizeiinspektor ins Zimmer traten. Gleich hinter ihnen kam ein Herr, der offensichtlich Dr. Graham war. Ohne zu zögern, schritt er auf Nicks Lager zu.

»Wie fühlen Sie sich, Miss Buckley? Das muß ein furchtbarer Schock für Sie gewesen sein.« Seine Finger suchten den Puls. »Nun, nicht so arg schlimm.«

Er wandte sich an mich: »Hat man ihr irgend etwas gegeben?« »Etwas Kognak.« »Ich bin schon wieder ganz in Ordnung«, sagte die tapfere

kleine Nick. »Imstande, einige Fragen zu beantworten?« »Gewiß.« Mit einem einleitenden Hüsteln trat der Polizeiinspektor hinzu

und wurde von Nick durch ein wehes Verziehen des Mundes, das wohl ein Lächeln sein sollte, begrüßt.

»Dieses Mal habe ich nicht den Verkehr gefährdet«, rang sie sich einen Scherz ab. Ich schloß aus diesen Worten, daß sie diesem Hüter des Gesetzes schon häufiger gegenübergestanden hatte.

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»Ich bedauere unendlich, Miss Buckley, daß mich ein so trauriger Vorfall hierherführt«, entgegnete der Inspektor. »Nun hat mir Mr. Poirot, dessen Name mir und jedem meiner Kollegen bekannt ist, erzählt, daß man nach seiner festen Überzeugung vorgestern im Garten des Majestic auf Sie geschossen habe.«

»Ich dachte, es sei eine Wespe. Aber es war in Wirklichkeit keine.«

»Und vorher hatten Sie ein paar seltsame Unfälle?« »Ja - wenigstens war es seltsam, daß sie sich so kurz

hintereinander ereigneten.« Und sie schilderte sachlich die verschiedenen Begebenheiten.

»Gut. Wie kam es, daß Ihre Kusine heute abend Ihren Schal trug?«

»Wir waren beide gegangen, um unsere Mäntel zu holen, und ich hatte im Vorbeigehen meinen Schal auf dieses Sofa geworfen. Dann lief ich nach oben, schlüpfte in den Pelz, den ich noch jetzt trage, und holte auch für meine Freundin, Mrs. Rice, einen warmen Umhang aus ihrem Zimmer. Da rief mir Maggie zu, daß sie ihren Mantel nicht finden könne, worauf ich sagte, dann würde er wohl unten sein. Sie ging hinunter und rief herauf, daß er auch dort nicht sei. Ich fragte, ob sie ihn etwa im Auto gelassen habe, und erbot mich, ihr einen von meinen Mänteln hinunterzubringen. Doch sie wehrte ab mit der Begründung, daß ihr, die aus dem rauhen Yorkshire komme, auch der chinesische Schal genüge, wenn ich ihr erlaubte, ihn zu benutzen. Natürlich rief ich >ja< und fügte hinzu, daß ich in einer Minute ebenfalls unten sein würde. Und als ich dann aus dem Hause trat ...da ... da ...«

»Regen Sie sich nicht auf, Miss Buckley«, unterbrach sie der Polizeiinspektor, der wohl auch das Zittern ihrer Stimme hörte. »Mehr brauche ich hierüber nicht zu wissen. Wollen Sie mir jetzt noch sagen, ob Sie einen Schuß vernahmen - oder zwei Schüsse?«

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Nick schüttelte den Kopf. »Nein, nur das Prasseln und Knattern des Feuerwerks.«

»Freilich, in all diesem Lärm ging ein Schuß unter. Und wahrscheinlich werden Sie die Frage, ob Sie auf irgend jemand Verdacht haben, ebenfalls verneinen.«

»Niemand habe ich in Verdacht«, bestätigte Nick. »Und meiner Ansicht nach mit Recht. Es dürfte sich wohl um

die Mordgier eines Wahnsinnigen handeln. Scheußliche Affäre! Jedenfalls brauche ich Sie heute nicht mit weiteren Fragen zu belästigen, Miss Buckley! Erlauben Sie mir nochmals, mein herzlichstes Beileid auszudrücken.«

Dr. Graham trat statt seiner wieder an das Sofa heran. »Ich möchte Ihnen anraten, Miss Buckley, nicht hierzubleiben, und habe darüber bereits mit Mr. Poirot gesprochen. Wir haben hier ein ausgezeichnetes Sanatorium, und da Sie einen Nervenschock hatten, und Ruhe, völlige Ruhe ...«

»Ist der Nervenschock nicht nur ein Vorwand?« unterbrach ihn Nick, die großen Augen auf Poirot gerichtet.

Er kam langsam näher. »Ich will, daß Sie sich sicher fühlen, mon enfant. Und ich will auch, daß Sie sicher sind. Sie werden eine nette, praktische, nüchtern denkende Pflegerin um sich haben. Wenn Sie nachts aufwachen und rufen - gleich wird sie zur Stelle sein. Verstehen Sie?«

»Ja«, sagte Nick, »ich verstehe. Aber Sie nicht: Hinfort habe ich keine Angst mehr, Mr. Poirot. Ob dieser Weg oder jener - es ist mir herzlich gleichgültig. Wenn irgendwer mich morden will, so soll er es tun!«

»Pst! Pst!« warf ich ein. »Sie sind jetzt überreizt.« »Sie verstehen nicht. Niemand versteht es!« sagte sie verwirrt. »Ich glaube tatsächlich, Mr. Poirots Vorschlag ist sehr gut«,

suchte Dr. Graham die Aufgeregte zu beschwichtigen. »Ich nehme Sie gleich in meinem Wagen mit. Und dann verschreiben wir ein paar Tropfen, damit Sie schön schlafen. Nun, was meinen Sie dazu?«

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»Es ist einerlei. Machen Sie mit mir, was Sie wollen.« Poirot streichelte behutsam die kleine Mädchenhand. »Ich weiß, Mademoiselle, welche Gefühle Sie bewegen müssen. Beschämt und mit blutendem Herzen stehe ich vor Ihnen. Ich, der Schutz verhieß, war nicht fähig zu beschützen. Ich habe elend versagt. Aber wenn Sie wüßten, wie ich unter meinem Fehlschlag leide, Mademoiselle, würden Sie mir verzeihen.«

»Schon gut!« sagte Nick im gleichen dumpfen Ton. »Sie müssen sich nicht mit Selbstvorwürfen quälen. Ich bin überzeugt, Sie taten das Menschenmögliche; niemand hätte mehr tun können. Bitte. Mr. Poirot, seien Sie nicht unglücklich.«

»Sie sind sehr großzügig, Mademoiselle.« »Nein, ich ...« Man hörte Lärm in der Halle. Dann flog die Tür auf, und

Kapitän Challenger raste ins Zimmer. »Was heißt das alles?« schrie er. »Ich bin gerade

angekommen, finde einen Polizisten am Tor, der auf meine Frage angibt, es sei jemand tot. Um Gottes willen, was bedeutet das? Ist es ... ist es... Nick?«

Entsetzlich klang diese angstgepreßte Stimme, und ich vergegenwärtigte mir plötzlich, daß Poirot sowie der Arzt, die vor dem Sofa standen, Nick völlig verdeckten. Bevor jemand Zeit fand zu antworten, wiederholte er seine Frage: »Sagen Sie mir ... es kann nicht wahr sein ... ist Nick tot?«

»Nein, mon ami«, erwiderte Poirot weich. »Sie lebt.« Er trat beiseite, so daß Challenger die kleine Gestalt auf dem Sofa sehen konnte.

Sekundenlang starrte der Kapitän sie ungläubig an. Dann, schwankend wie ein Betrunkener, flüsterte er: »Nick ... Nick!«

Plötzlich lag er auf den Knien neben ihrem Lager, und den Kopf in seinen Händen bergend, stammelte er: »Nick ... mein Liebling ... ich dachte, du wärest tot.«

Miss Buckley richtete sich halb auf. »Nichts ist mir geschehen, George. Sei kein Idiot. Ich bin ganz heil.«

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Er hob den Kopf und blickte wild umher. »Aber jemand ist tot? Der Polizist hat es doch gesagt.«

»Ja. Maggie, die liebe, gute Maggie. Oh!« Ein Krampf verzerrte ihr Gesicht.

Der Arzt und Poirot drängten Challenger zurück, griffen Nick unter die Arme und führten sie hinaus.

»Je eher Sie ins Bett kommen, desto besser«, erklärte Dr. Graham, ehe sich die Tür hinter den dreien schloß. »Ich habe Mrs. Rice gebeten, Ihnen das Notwendigste einzupacken.«

George Challenger rüttelte mich an der Schulter. »Ich verstehe nicht. Wo bringt man sie hin?« Und als er von mir die nötige Erklärung erhalten hatte, seufzte er erleichtert: »O ja, das ist gut. Doch jetzt, Hastings, lassen Sie mich den Zusammenhang wissen. Was für ein erschütterndes Trauerspiel! Das arme junge Ding!«

»Kommen Sie, und mixen Sie sich einen steifen Drink«, riet ich und zog ihn ins Eßzimmer. »Sie sind ja ganz aus den Fugen geraten!«

»Ist das ein Wunder?« fragte er, während er das Whiskyglas an die Lippen führte. »Ich dachte, es wäre Nick.«

Wahrlich, über die Gefühle des Kapitäns George Challenger konnte kein Zweifel herrschen: Sein Herz war durchsichtig wie Glas!

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Ich glaube ohne Übertreibung behaupten zu dürfen, daß ich die nun folgenden Stunden nie in meinem Leben vergessen werde. Poirot verfiel in einen solchen Trübsinn, daß ich mich ernstlich um ihn sorgte. Unaufhörlich rannte er im Zimmer auf und ab, häufte Bannflüche auf sein eigenes Haupt und war stocktaub gegen meine wohlgemeinten Vorstellungen.

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»Weiß Gott, ich bin hart dafür gezüchtigt worden, daß ich eine zu hohe Meinung von mir hatte! Ja, gezüchtigt! Ich, Hercule Poirot, war meiner zu sicher.«

»Nein, nein«, unterbrach ich seine Selbstvorwürfe. »Aber wer konnte eine derartige beispiellose Kühnheit ahnen?

Ich glaubte alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen getroffen zu haben; ich hatte den Mörder gewarnt...«

»Gewarnt? Den Mörder?« »Allerdings. Ich hatte die Aufmerksamkeit auf mich gelenkt

und ihn deutlich merken lassen, daß ich irgendwen verdächtigte. Nach meiner Meinung wurde es dadurch für ihn zu gefährlich, seinen Mordversuch zu wiederholen. Rings um Mademoiselle hatte ich einen Kordon gezogen, und er schlüpfte hindurch! Beinahe unter unseren Augen schlüpfte er frech und dreist hindurch! Uns allen und all unserer Wachsamkeit zum Trotz erreichte er sein Ziel!«

»Er erreichte es nicht«, erinnerte ich ihn. »Pah, das ist reiner Zufall! Von meinem Standpunkt aus ist das

kein Unterschied. Es hat ein Menschenleben gekostet, Hastings - wessen Leben, ist unwesentlich.«

»Natürlich ... so meinte ich es auch nicht.« »Auf der anderen Seite allerdings trifft das, was Sie sagen, zu.

Und das macht das Ganze noch schlimmer - zehnmal schlimmer. Denn weiter als je befindet sich der Mörder von seinem Ziel entfernt. Verstehen Sie, mein Freund? Die Dinge haben sich zum Schlimmsten gewandelt, weil möglicherweise nunmehr zwei blühende junge Menschenleben ihm zum Opfer fallen werden.«

»Nicht, solange Sie da sind!« rief ich eindringlich. Mein Freund hielt in seiner Wanderung inne, ergriff meine

Hände und preßte sie, daß es mich fast schmerzte. »Merci, mon ami, merci! Sie vertrauen noch dem alten Poirot, Ihr Glaube an ihn ist nicht erschüttert, und das flößt mir neuen Mut ein. Ein zweites Mal wird Hercule Poirot nicht versagen. Ich werde meinen Irrtum gutmachen - denn sehen Sie, lieber Hastings, es

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muß mir ein Irrtum unterlaufen sein. Irgendwo hat es in meinen gewöhnlich so trefflich geordneten Begriffen und Ansichten gehapert. Daher will ich ganz von neuem beginnen, und diesmal werde ich nicht fehlgehen.«

»Dann meinen Sie also, daß Miss Buckleys Leben noch bedroht ist?«

»Mein Freund, aus welchem anderen Grund hätte ich sie sonst in das Sanatorium geschickt?«

»Nicht wegen des Nervenschocks?« »Unsinn! Von einem Nervenschock können Sie sich im

eigenen Heim besser erholen als in einem Krankenhaus. Dort ist's nicht anheimelnd - Korridore mit grünem Linoleum, einseitige Unterhaltung mit den Pflegerinnen, Mahlzeiten auf einem Tablett serviert, unausgesetztes Waschen und Säubern. Nein, nein, es handelt sich einzig und allein um die Sicherheit. Der Doktor, den ich ins Vertrauen zog, wird alle durch die Umstände bedingten Anordnungen treffen. Niemandem, auch der besten Freundin nicht, ist es gestattet, Miss Buckley zu sehen. Nur für Sie und mich gilt diese Vorschrift nicht. Für die übrigen heißt's: Strikter Befehl des Arztes! Eine Redensart, gegen die keiner sich auflehnen kann.«

»Ja. Nur ...« »Nur was, Hastings?« »Das läßt sich nicht bis in alle Ewigkeit fortführen.« »Eine ungemein treffende Bemerkung. Es gibt uns aber eine

kleine Atempause. Und vergegenwärtigen Sie sich auch, daß in der Art unserer Betätigung eine Änderung eingetreten ist.«

»Inwiefern?« »Unsere ursprüngliche Aufgabe hieß, die Sicherheit

Mademoiselles zu gewährleisten, während unsere jetzige viel weniger schwierig und uns seit langem vertraut ist. Sie verlangt nicht mehr, als daß wir einen Mörder zur Strecke bringen.«

»Das nennen Sie weniger schwierig?«

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»Aber selbstverständlich. Der Mörder hat, wie ich Ihnen vor einigen Tagen sagte, durch Ausführung eines Verbrechens mit seinem Namen unterzeichnet, er ist aus dem Dunkel herausgetreten.«

»Glauben Sie ...« Ich zögerte und fuhr dann fort: »Glauben Sie, daß die Polizei mit ihrer Ansicht, der Täter sei ein herumschweifender, mordsüchtiger Irrer, recht hat?«

»Ich bin im Gegenteil fester als zuvor überzeugt, daß dies nicht zutrifft, Hastings.«

»Also glauben Sie ernstlich ...« Da ich innehielt, vollendete Poirot meinen Satz: »... daß der

Mörder in Mademoiselles Freundeskreis zu suchen ist? Ja, mon ami, das glaube ich.«

»Aber die Vorgänge des heutigen Abends schließen diese Möglichkeit beinahe aus. Wir waren doch alle zusammen, Poirot, und ...«

»Könnten Sie von einer x-beliebigen Person beschwören, Hastings, daß sie unsere kleine Gesellschaft dort oben auf dem Klippenrand nie verließ?« unterbrach mich mein Freund. »Gibt es irgend jemanden unter den Anwesenden, von dem Sie beeiden würden, daß Sie ihn die ganze Zeit über gesehen haben?«

»Nein«, erwiderte ich langsam, durch seine Worte stutzig geworden, »das wäre mir allerdings nicht möglich. Es war dunkel. Wir bewegten uns alle mehr oder weniger hin und her. Verschiedentlich bemerkte ich Mrs. Rice, Lazarus, Sie, Croft, Vyse - doch die ganze Zeit über, nein!«

Poirot nickte. »Sehr richtig. Und es bedurfte zu der Tat nur weniger Minuten. Stellen Sie sich die Situation vor, Hastings: Die beiden Mädchen begeben sich ins Haus, und gleich darauf schlüpft der Mörder unbemerkt hinweg, verbirgt sich hinter jener Sykomore in der Mitte des Rasens. Jetzt tritt Nick Buckley - oder vielmehr die vermeintliche Nick Buckley - aus der Tür, nähert sich ihm unwissentlich bis auf einen Meter, und in rascher Folge feuert er drei Schüsse auf sie ab.«

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»Drei?« rief ich verwundert. »Jawohl, drei. Er durfte diesmal dem Zufall keinen Spielraum

lassen. Wir haben nämlich drei Kugeln in Maggies Leiche gefunden.«

»War das nicht sehr gewagt?« »Wahrscheinlich weniger gewagt als ein einziger Schuß. Eine

Mauserpistole macht, wie Sie wissen, keinen großen Lärm. Ihr Ton, der ein bißchen dem Knattern des Feuerwerks ähnelt, würde sich daher gut dem von ihm verursachten Geräusch anpassen.«

»Haben Sie die Pistole gefunden?« »Nein. Und das beweist meines Erachtens einwandfrei, daß

kein Fremder die Tat beging. Nicht wahr, wir waren uns doch darüber einig, daß im Garten des Majestic Miss Buckleys eigene Pistole nur aus dem Grund benutzt wurde, um den Anschein eines Selbstmordes zu erwecken? Gut! Jetzt aber, Hastings, gibt's keine Vorspiegelung von Selbstmord mehr. Der Mörder weiß, daß er uns damit nicht länger betrügen kann.«

Ich überlegte und mußte die Logik von Poirots Ausführungen anerkennen. »Und wo ließ er nach Ihrer Meinung die Waffe?«

»Schwer zu sagen! Doch die See ist außerordentlich nah zur Hand. Ein richtiger Schwung mit dem Arm, und die Pistole sinkt auf Nimmerwiedersehen auf den Meeresgrund. Natürlich dürfen wir diese Lösung nicht als völlig sicher bezeichnen - nur würde ich an des Mörders Stelle so gehandelt haben.«

Bei seiner nüchternen Sachlichkeit überlief mich ein gelinder Schauder. »Meinen Sie, ihm sei sofort klargeworden, daß er die falsche Person tötete?« fragte ich gepreßt.

»Durchaus nicht ... Ha, das muß eine unliebsame kleine Überraschung für ihn gewesen sein, als ihm die Wahrheit aufging!« sagte Poirot voll Ingrimm. »Und sich dann weder durch eine Miene noch durch ein unbedachtes Wort zu verraten - verdammt, das heißt sich im Zaume halten!«

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In diesem Augenblick entsann ich mich des seltsamen Gebarens der Wirtschafterin Ellen und zögerte nicht, meine Wahrnehmungen Poirot mitzuteilen, der gespannt aufhorchte.

»Sie verriet Überraschung, daß Miss Maggie die Tote war?« fragte er, als ich geendet hatte.

»Große Überraschung.« »Wie merkwürdig! Und dennoch bereitete ihr die einfache,

nackte Tatsache des traurigen Vorfalls offensichtlich keine Überraschung! Ja, da müssen wir mal ein bißchen hineinleuchten. Wer ist diese Ellen? So ruhig, so rechtschaffen nach englischen Begriffen. Sollte sie es sein, die ...« Er brach ab.

»Wenn Sie die Unfälle einbeziehen«, warf ich hin, »so gehörten gewiß die Kräfte eines Mannes dazu, um den schweren Felsblock die Klippen hinabrollen zu lassen.«

»Nicht unbedingt, mon ami. Es ist weitaus mehr eine Frage des Gleichgewichts, sozusagen, einer richtigen Ansetzung des Hebels. O nein, auch eine Frau könnte es vollbringen.« Wieder begann er seine Wanderung, aber jetzt mit gemäßigten Schritten. »Auf jedem einzelnen, der gestern abend in Nicks Haus weilte, lastet Verdacht. Nichtsdestoweniger neige ich zu der Ansicht, daß die einheimischen Gäste kaum in Frage kommen; sie waren flüchtige Bekanntschaften, und zwischen ihnen und der jungen Gastgeberin bestand keine Vertraulichkeit.«

»Charles Vyse war gleichfalls eingeladen«, erinnerte ich. »Gewiß, übersehen dürfen wir ihn nicht. Er ist logischerweise

sogar der am schwersten vom Verdacht Betroffene.« Verzweifelt fuhr sich Poirot durchs Haar und warf sich dann in

einen Sessel, der dem meinen gegenüberstand. »Voilà - immer kehren wir zu ein und demselben zurück: dem

Beweggrund! Wir müssen den Beweggrund auskundschaften, Hastings, oder wir werden das Verbrechen nie verstehen. Und da stehe ich nun wie ein junger, grüner Anfänger ratlos da! Wer kann einen Beweggrund haben, Mademoiselle aus der Welt zu schaffen? Ich, Hercule Poirot, habe den albernsten Vermutungen

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Raum gewährt und den schimpflichsten Flügen der Phantasie nicht Halt geboten. Ich, Hercule Poirot, habe mir die Denkweise des allerbilligsten Schauerromans zu eigen gemacht. Hat der Großvater, der alte Nick, der, wie man allgemein annimmt, sein Geld verspielte, es wirklich verspielt, habe ich mich gefragt, oder schaffte er es etwa heimlich beiseite? Liegt es vielleicht irgendwo in dem alten Haus verborgen? Ist es vielleicht im Garten vergraben worden? Und mit dieser Möglichkeit rechnend, erkundigte ich mich - schamvoll gestehe ich es ein! - bei Mademoiselle Nick, ob sie jemals ein Angebot für den Besitz erhalten habe.«

»Mein lieber Poirot, ich halte das im Gegenteil für eine glänzende Eingebung!« rief ich. »Wer weiß, ob Sie damit nicht auf dem rechten Weg sind?«

Poirot stöhnte. »Habe ich's mir doch gedacht! Oh, Hastings, ich ahnte welch großes Gefallen Ihr romantischer, aber ziemlich mittelmäßiger Geist daran finden würde. Vergrabene Schätze - was könnte Sie wohl mehr entflammen ...?«

»Nun, ich sehe tatsächlich nicht ein, warum ...« »Weil die nüchterne, alltäglichste Erklärung in neunzig von

hundert Fällen die wahrscheinlichste ist«, herrschte er mich an. »Dann Mademoiselles Vater - in bezug auf ihn habe ich mit noch schmählicheren Ideen gespielt. Er war ein Weltenbummler. Nehmen wir mal an, sagte ich mir, daß er einen Edelstein gestohlen hätte - meinetwegen das Auge eines asiatischen Götterbildes. Nun sind fanatische, eifersüchtige Priester auf seinen Fersen ... Jawohl, Hastings, zu solchen Tiefen hin ich, Hercule Poirot, gesunken. Doch auch andere Mutmaßungen habe ich hinsichtlich Nicks Vater gehegt, weniger verstiegene und daher wahrscheinlichere. Ist er etwa im Laufe seines Nomadendaseins eine zweite Ehe eingegangen? Und lebt irgendwo ein näherer Erbe als Charles Vyse? Aber auch diese Annahme führt zu nichts, denn wir stoßen auf dieselbe Schwierigkeit: daß überhaupt keine wertvolle Erbschaft vorhanden ist.

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Ich habe keine Möglichkeit vernachlässigt«, führte er weiter aus. »Noch nicht einmal das rein zufällige Angebot, das Mademoiselle Nick von Jim Lazarus gemacht wurde. Sie erinnern sich, Hastings? Den Vorschlag, ihres Großvaters Bild zu veräußern. Am Sonnabend telegraphierte ich an einen Sachverständigen, damit er hier an Ort und Stelle das Porträt prüfe; er war der Mann, dem unsere kleine Nick - wie ich sie brieflich bat - Zutritt zum Haus gewähren sollte. Vorausgesetzt, es wäre mehrere tausend Pfund wert?«

»Mein Lieber, Sie wollen doch nicht andeuten, ein reicher Mann wie der junge Lazarus ...«

»Ist er reich? Der Schein trügt bisweilen. Selbst eine alteingesessene Firma mit palastartigen Ausstellungsräumen und allen Äußerlichkeiten des Blühens und Gedeihens kann auf schwachen Füßen stehen. Und was tut man dann? Rennt man etwa umher und klagt, daß die Zeiten schlecht seien? Nein! Man kauft einen neuen, luxuriösen Wagen. Man wirft etwas mehr mit dem Geld um sich als gewöhnlich, man lebt etwas prunkhafter. Alles um des Kredites willen, verstehen Sie? Doch gelegentlich ist eine Weltfirma wegen etlicher tausend Pfund Sterling zusammengekracht ...

Oh, mein lieber Hastings, ich weiß, daß es weit hergeholt ist«, fuhr er fort, meinen Einwürfen zuvorkommend, »doch es ist nicht so schlecht wie rachsüchtige Priester oder vergrabene Schätze. Immerhin besteht eine Beziehung zu den Dingen, die sich ereignet haben. Und wir dürfen über nichts hinweggehen - nichts, das uns der Wahrheit näherbringen könnte.«

Mit sorgsamen Fingern ordnete er die Gegenstände, die vor ihm auf dem Tisch lagen, in Reih und Glied. Als er weitersprach, war seine Stimme ernst und zum erstenmal vollkommen ruhig.

»Der Beweggrund!« sagte er. »Lassen Sie uns auf ihn zurückgreifen und dann still und planmäßig an das Rätsel herantreten. Wie viele Beweggründe gibt es für einen Mord? Welches sind die Beweggründe, die ein menschliches Wesen verleiten, einem Mitmenschen das Leben zu rauben?

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Ich möchte, daß wir krankhafte Veranlagung, blutgierigen Wahnsinn vorderhand ausscheiden, weil ich überzeugt bin, daß die Lösung nicht auf diesem Gebiet liegt. Desgleichen wollen wir Totschlag als Folge eines zügellosen Temperaments ausscheiden. Unser Fall ist kaltblütig vorbereiteter Mord.

Welches aber sind die Beweggründe, die zu einem solchen Mord treiben?

Erstens: Gewinnsucht. Wer hatte durch Mademoiselle Buckleys Tod etwas zu gewinnen? Direkt oder indirekt? Nun, da kommt Charles Vyse nicht in Frage. Er erbt einen Besitz, der, vom geldlichen Standpunkt aus betrachtet, ein wertloses Erbe ist, selbst wenn Vyse die Möglichkeit hätte, die Hypothek abzutragen, kleine Sommervillen auf dem Grundstück zu errichten und durch deren Vermietung einen geringfügigen Verdienst zu erzielen. Wertvoll wäre das Erbe nur für jemand, der an ihm als Familienbesitz mit ganzem Herzen hinge. Familiensinn ist freilich ein in manchen Menschen unausrottbar wurzelnder Instinkt, und er hat in einzelnen mir bekannten Fällen auch zum Verbrechen geführt. Doch ein solcher Beweggrund paßt nicht auf Charles Vyse.

Die einzige Person, der Mademoiselles Tod Nutzen bringen würde, ist Madame Rice. Doch wie gering ist auch dieser Nutzen! Und soweit ersichtlich, gewinnt niemand anders durch Mademoiselle Buckleys Ableben.

Der zweite Beweggrund? Haß - oder Liebe, die in Haß umgeschlagen ist. Das aus Leidenschaft begangene Verbrechen. Da haben wir freilich den Ausspruch der scharfsinnigen Madame Croft, daß sowohl Charles Vyse als auch Kapitän Challenger in das junge Mädchen verliebt seien.«

»Nun, ich sollte meinen, daß wir uns über Challengers Gefühle persönlich ein Urteil hätten bilden können«, lächelte ich.

»Ja, denn der ehrliche Seemann trägt sie offen zur Schau. Was den anderen anbetrifft, bauen wir auf das Wort von Madame Croft. Wenn nun Charles Vyse fühlte, daß ihm ein Rivale den Rang abgelaufen hätte, würde er dann so bis in alle Tiefen

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aufgerührt sein, daß er in schmerzlicher Raserei lieber seine Kusine tötete, als sie des Bevorzugten Frau werden zu lassen?«

»Es klingt allzu überspannt und romanhaft«, urteilte ich nach einigem Zaudern.

»Es klingt unenglisch, wollten Sie sagen, mein Lieber. Zugegeben. Aber sogar Engländer werden von Gemütserregungen heimgesucht, und Naturen wie Charles Vyse am allerersten. Er ist ein beherrschter junger Mann, einer, der seine Gefühle, obwohl sie von ungeahnter Heftigkeit sein können, nicht leicht zeigt. Niemals würde ich den Kapitän Challenger eines aus Gefühlsgründen begangenen Mordes verdächtigen. Nein, nein, das entspricht nicht seiner Natur. Bei Charles Vyse hingegen wäre es denkbar, wenngleich mich diese Theorie nicht gänzlich befriedigt.

Ein weiterer Beweggrund ist Eifersucht. Ich trenne sie absichtlich von dem zuvor Erörterten ab, da Eifersucht nicht unbedingt erotischen Regungen entspringen muß. Da gibt es Neid und Mißgunst - Neid wegen des Besitzes, wegen des Vorranges. Solch eine Eifersucht trieb den Jago Ihres großen Shakespeare zu einem der geschicktesten Verbrechen - ich urteile jetzt als Kriminalist -, die je begangen wurden.«

»Warum nennen Sie es geschickt?« fragte ich, mit meinen Gedanken nicht ganz bei der Sache.

»Parbleu!« fluchte mein Freund. »Weil er andere dazu brachte, es auszuführen. Stellen Sie sich doch heutzutage einen Verbrecher vor, dem man keine Handschellen anlegen kann, weil er nie etwas selber getan hat. Aber nicht um diesen Punkt dreht sich unsere Unterhaltung, Hastings, sondern darum, ob Eifersucht irgendwelcher Art für unser Verbrechen verantwortlich zu machen ist. Wer hat Grund, Mademoiselle zu beneiden? Eine andere Frau? Madame Rice? Aber soweit ersichtlich, besteht keine Rivalität zwischen den beiden Freundinnen - allerdings gilt auch hier die Einschränkung: soweit ersichtlich!

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Endlich: die Furcht. Ist Mademoiselle Nick zufällig Mitwisserin einer Tatsache, die, wenn allgemein bekannt, einen anderen Menschen ruinieren würde? Sollte dies zutreffen, so erkläre ich mit aller Bestimmtheit, daß Nick selbst sich dieses Geheimnisses nicht bewußt ist, wodurch die Schwierigkeiten für uns noch vergrößert werden. Denn weil sie den Schlüssel zu dem Rätsel nichtsahnend hütet, ist sie nicht imstande, uns einen Fingerzeig zu geben.«

»Halten Sie das wirklich für möglich, Poirot?« »Es ist eine Annahme, Hastings, zu der ich allerdings nur aus

Mangel an anderen halbwegs stichhaltigen Gründen gelange. Wenn Sie die übrigen Möglichkeiten ausgesondert haben, krampfen Sie sich an die eine, die noch bleibt, und sagen: So muß es sein ...«

Er schwieg eine lange Zeit. Als er endlich seine Versunkenheit abschüttelte, zog er einen Bogen Papier aus seiner Mappe und begann zu schreiben.

»Was machen Sie da?« fragte ich nach einem Weilchen, von Neugier geplagt.

»Ich stelle eine Liste zusammen, mon ami. Eine Liste jener Personen, die Mademoiselle Nick umgeben, und in der, sofern meine Theorie richtig ist, der Name des Mörders enthalten sein muß.«

Wohl zwanzig Minuten lang flog seine Feder eifrig über das Papier. Dann reichte er mir den Bogen herüber und fragte: »Was halten Sie davon?«

Ich las das Folgende: A. Ellen B. Ihr Mann, der die Obliegenheiten eines Gärtners versieht C. Beider Kind D. Mr. Croft E. Mrs. Croft F. Mrs. Rice

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G. Mr. Lazarus H. Kapitän Challenger I. Charles Vyse K. ??? Bemerkungen:

A. Ellen - Verdächtige Umstände. Ihr Verhalten und ihr Reden bei Bekanntwerden des Verbrechens. Hatte die beste Gelegenheit, die >Unfälle< herbeizuführen und von dem Vorhandensein der Pistole zu erfahren. Hingegen unwahrscheinlich, daß sie sich an den Autobremsen zu schaffen machte. Außerdem scheint die verbrecherische Denkart ihren geistigen Horizont zu übersteigen. Beweggrund: keiner - falls nicht Haß aus irgendeinem unbekannten Antrieb. Anmerkung: weitere Nachforschungen betreffs ihres Vorlebens und allgemeiner Beziehungen zu Nick Buckley.

B. Ihr Mann. - Dasselbe wie oben. Nur Wahrscheinlichkeit größer, daß er sich an den Bremsen zu schaffen machte. Anmerkung: müßte einem Verhör unterzogen werden.

C. Kind. - Kommt als Täter nicht in Frage. Anmerkung: müßte einem Verhör unterzogen werden, weil möglicherweise von ihm wertvolle Auskünfte zu erhalten.

D. Mr. Croft. - Einziger verdächtiger Umstand die Tatsache, daß wir ihm auf der Treppe zum Schlafzimmer begegneten. Hatte jedoch sofort ziemlich glaubwürdig klingende Erklärung zur Hand. Von seinem Vorleben nichts bekannt. Beweggründe: keine.

E. Mrs. Croft. - Verdächtige Umstände: keine. Beweggründe: keine.

F. Mrs. Rice. - Verdächtige Umstände: hinreichende Gelegenheit. Forderte Nick Buckley auf, ihr einen Mantel mitzubringen. Hat vorsätzlich den Eindruck zu erwecken versucht, daß Nick eine Lügnerin sei, deren Erzählungen über die >Unfälle< man nicht glauben dürfe. War nicht in Tavistock zur Zeit der Unfälle.

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Wo? Beweggründe: Gewinnsucht? Sehr gering. Eifersucht? Möglich, doch nichts bekannt. Furcht? Ebenfalls möglich, doch nichts bekannt. Anmerkung: mit Nick darüber reden. Die Unklarheiten erhellen. Möglicherweise Einwirkungen von Frederica Rices unglücklicher Ehe.

G. Mr. Lazarus. - Verdächtige Umstände: Kaufangebot für Bild. Sagte, Autobremsen seien in Ordnung gewesen (nach Bekundung von Mrs. Rice). Kann sich bereits vor Freitag in der Nachbarschaft aufgehalten haben. Beweggründe: keine, außer Nutzen aus dem Gemäldekauf. Anmerkung: herausfinden, wo Lazarus vor seiner Ankunft in St. Loo war; desgleichen, wie Finanzen der Firma Lazarus & Sohn stehen.

H. Kapitän Challenger. - Verdächtige Umstände: keine. Da die ganze letzte Woche in der Nähe, allerdings Gelegenheit für Herbeiführung der >Unfälle<. Erschien eine halbe Stunde nach der Ermordung Maggies. Beweggründe: keine.

I. Mr. Vyse. - Verdächtige Umstände: war zur Zeit, als der Schuß im Hotelgarten abgefeuert wurde, nicht in seinem Büro. Günstige Gelegenheit. An seinen Aussagen über eventuellen Verkauf von Nicks Endhaus berechtigte Zweifel. Mensch von beherrschtem Temperament. Würde wahrscheinlich von dem Vorhandensein der Pistole wissen. Beweggründe: Gewinnsucht? Gering. Liebe oder Haß? Möglich. Furcht? Unwahrscheinlich. Anmerkung: nachforschen, wer Geld für Hypothek gab; ferner, wie Geldverhältnisse bei Vyses Rechtsanwaltsbüro sind.

K. Es könnte ein K vorhanden sein, dann aber jedenfalls ein Fernstehender. Immerhin durch irgend etwas mit einem der vorher Aufgeführten verbunden, etwa mit A, D, E oder F. Vorhandensein eines K würde 1. Ellens mangelnde Überraschung bei Bekanntwerden des Mordes und ihre

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angenehme Befriedigung erklären (obwohl andererseits Menschen ihrer Art bei jedem Todesfall eine angenehme Erregung verspüren); könnte 2. die Veranlassung sein, daß die Australier das Pförtnerhäuschen mieteten; könnte 3. Frederica Rices etwaige Furcht vor Enthüllung eines Geheimnisses oder ihre etwaige Eifersucht bewirken.

Ich fühlte, während ich las, daß Poirot mich beobachtete. »Guter englischer Stil?« fragte er voll Stolz. »Ich beherrsche

Ihre Sprache schriftlich viel besser als mündlich, mein lieber Hastings.«

»Es ist ein Meisterwerk«, sagte ich warm, »weil in ihm alle Möglichkeiten klar herausgearbeitet sind.«

Er nahm mir die Bogen aus der Hand und starrte sinnend darauf nieder. »Ein Name springt mir förmlich in die Augen: Charles Vyse. Er hatte die allerbesten Gelegenheiten, und wir ließen ihm die Wahl zwischen zwei Beweggründen. - Wenn dies eine Liste von Rennpferden wäre, würde er als Favorit starten, wie?«

»Sicherlich ist Vyse der Verdächtigste.« »Sie haben doch im allgemeinen die Neigung, mein teurer

Hastings, das am wenigsten Wahrscheinliche zu bevorzugen. Das rührt daher, weil Sie zu viele Detektivgeschichten schmökern. - Doch um zu unserem Mann zurückzukehren - dagegen spricht die Kühnheit des Verbrechens! Und vergessen Sie nicht, was ich Ihnen am ersten Tage unsers Hierseins sagte: Der Beweggrund kann nicht offenkundig sein. Das wiederhole ich Ihnen auch heute.«

Mit einer plötzlichen Bewegung knitterte er die Bogen zu einem Ball zusammen und warf ihn aufs Parkett.

»Nein!« rief er, als ich entrüstet einen Widerspruch laut werden ließ. »Diese Liste habe ich vergebens angefertigt. Vergebens? - Nein, das stimmt nicht ganz. Sie hat jedenfalls meinen Geist geklärt. Ordnung und Planmäßigkeit! Das ist die

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erste Stufe. Mit peinlicher Genauigkeit die Tatsachen sortieren. Hierauf folgt die zweite Stufe, bei der die Psychologie eine Rolle spielt und das fehlerfreie Arbeiten der kleinen grauen Zellen. Ich rate Ihnen, mein lieber Hastings, gehen Sie zu Bett.«

»Nein«, weigerte ich mich, »nur, wenn auch Sie sich hinlegen. Ich lasse Sie jetzt nicht allein.«

»Sie treuester aller Freunde! Aber sehen Sie, Hastings, beim Denken können Sie mir nicht beistehen. Und ich werde nichts anderes tun als denken.«

Ich schüttelte energisch den Kopf. »Vielleicht wollen Sie doch späterhin den einen oder anderen Punkt mit mir erörtern.«

»Gut, gut, ich füge mich dem ehrlichen Freund. Dann setzen Sie sich bitte aber wenigstens in jenen bequemen Armsessel.«

Auf diesen Vorschlag ging ich ein. Allmählich begann das Zimmer zu verschwimmen und zu versinken. Das letzte, was in meinem Gedächtnis haftenblieb, war Poirot, wie er sorgfältig die zerknüllten Bogen vom Fußboden aufhob und dem Papierkorb anvertraute. Dann muß ich in tiefen Schlaf gesunken sein.

10

Es war heller Tag, als ich erwachte. Poirot saß noch auf demselben Platz, noch in derselben

Haltung. Doch in seinen Augen glimmte jener katzenartige grüne Schimmer, den ich so gut kannte.

Steif und unbeholfen rang ich mich in meinem Sessel zu einer aufrechten Stellung empor. Zeitlebens hatte ich Schlafen in einem Sessel verabscheut, jetzt jedoch erwies es sich insofern von Nutzen, als ich nicht in dem behaglichen Zustand träger Benommenheit und Schlaftrunkenheit erwachte. Vielmehr begann der Verstand sofort genauso rührig zu arbeiten wie vor vielen Stunden, ehe ich in Schlaf versank.

»Poirot«, jubelte ich, »Ihr Nachdenken hat gute Früchte getragen!«

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Er nickte, lehnte sich dann vornüber und trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Mein lieber Hastings, nachdem Sie sich so schön ausgeruht haben, geben Sie mir die Antwort auf folgende drei Fragen: Weshalb kaufte sie, die niemals Schwarz trägt, ein schwarzes Abendkleid? Weshalb sagte sie gestern abend: >Mir liegt nichts am Leben ... jetzt...<?«

Ich starrte ihn an. Denn diese Fragen schienen die eigentliche Sache noch nicht einmal zu streifen.

»Die Antwort, Hastings, die Antwort!« befahl mein Freund. »Was die erste Frage betrifft, so erinnere ich mich, daß die

kleine Nick in einem unserer Gespräche erwähnte, daß sie kürzlich Kummer gehabt habe.«

»Richtig. Doch worüber wohl?« Da ich dies unmöglich wissen konnte, sprang ich ohne

weiteres zu der Frage über, die sich mit Miss Buckleys Kleidern beschäftigte. »Und das schwarze Abendkleid ... jeder liebt bisweilen die Abwechslung.«

»Für einen verheirateten Mann sind Sie auf dem Gebiet der weiblichen Psyche verzweifelt wenig bewandert, mon ami«, stellte Poirot kopfschüttelnd fest. »Wenn eine Frau denkt, daß eine bestimmte Farbe ihr nicht steht, dann weigert sie sich, sie zu tragen. Merken Sie sich das für künftige schwierige Fälle, mon ami.«

»Nun, dann paßte Schwarz vielleicht zu ihrer Stimmung, nachdem sie diese Unfälle erlitten hatte.«

»Nein, das paßte gar nicht - wenigstens zu den Unfällen nicht. Durch die Ermordung ihrer Kusine von Grauen gelähmt zu sein, sich deshalb mit Selbstvorwürfen zu zerfleischen - all das ist natürlich. Doch das andere nicht. Nick sprach vom Leben wie von etwas wertlos Gewordenem. Das ist nicht in Einklang zu bringen mit ihrem früheren Verhalten. Sie war trotzig und keck gewesen, ja ... sie hatte meine Worte in den Wind geschlagen, ja ... und dann, als sie bei uns im Hotel die Selbstbeherrschung verlor, hatte sie Angst. Angst, Hastings - beachten Sie es wohl -,

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weil das Leben süß war und sie nicht sterben wollte. Aber von Schwermut und Lebensüberdruß keine Spur! Selbst vor dem Dinner dünkte sie das Leben noch lebenswert. Mithin stehen wir, mon ami, einem psychologischen Wechsel gegenüber. Und das ist ungemein wichtig. Was bekehrte die lustige Nick zu einem anderen Standpunkt?«

»Der Schreck über Maggies Tod.« »Das bezweifle ich. Der Schreck löste ihr zwar die Zunge, aber

der Wechsel war schon vorher eingetreten. Gibt es denn gar nichts, was ihn verursacht haben könnte?«

»Ich wüßte von nichts.« »Denken Sie nach. Gebrauchen Sie Ihre kleinen grauen

Zellen.« »Wirklich ...« »In welchem Augenblick hatten wir zum letztenmal

Gelegenheit, Mademoiselle zu beobachten?« »Ich glaube beim Dinner.« »Ganz recht. Nachher sahen wir nur, wie sie Gäste begrüßte,

bald mit dem einen, bald mit dem anderen ein paar Höflichkeitsfloskeln tauschte - kurz, eine ganz mechanische, förmliche Handlung. Was aber ereignete sich gegen Ende des Dinners, Hastings?«

»Sie ging zum Telefon«, sagte ich zögernd. »Na, endlich, mein Lieber! ... Sie ging zum Telefon und war

lange Zeit abwesend, wenigstens zwanzig Minuten. Finden Sie nicht, daß dies reichlich lange ist für einen telefonischen Anruf? Wer sprach mit ihr? Was wurde ihr mitgeteilt? Hat sie denn überhaupt telefoniert? Hastings, wir müssen erfahren, was in diesen zwanzig Minuten geschah, denn damit erhalten wir auch den Fingerzeig, nach dem wir bis jetzt ohne großen Erfolg ausschauen.«

»Ist das nicht ein etwas voreiliger Schluß?«

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»Mais non, mais non! Vor Tagen habe ich Ihnen erklärt, daß Mademoiselle etwas zurückhält, von dem sie glaubt, daß es keine Beziehungen zu dem Mord hat. Doch ich, Hercule Poirot, weiß es besser: es muß eine Beziehung zum Mord haben. Vor Tagen schon bin ich mir bewußt geworden, daß da irgendein mitwirkender Umstand fehlt. Fehlte er nicht, dann würde das Ganze klipp und klar vor meinen Augen liegen. Und da es nicht klipp und klar vor meinen Augen liegt - eh bien -, ist der fehlende Umstand der Schlußstein des Mysteriums! Ich weiß, Hastings, daß ich recht habe; ich weiß, daß ich die Antwort auf jene drei Fragen brauche. Und dann ... und dann ... beginne ich zu sehen ...«

»Trotzdem meine ich, daß augenblicklich ein Bad und ein Rasierapparat angebracht wären«, seufzte ich und reckte meine steifen Glieder.

Als ich mich nach einem warmen Bad, das die Steifheit verjagt hatte, anzog, fühlte ich bereits, daß ein heißer Kaffee mir ganz zu meinem normalen Selbst verhelfen würde. Meiner Gewohnheit getreu, ging ich nach unten in das Frühstückszimmer und blätterte während des Frühstücks die Zeitung durch. Doch sie brachte außer der Tatsache, daß Michael Setons Tod nunmehr endgültig bestätigt worden sei, wenig Neues. Wie würde morgen die Schlagzeile lauten? Etwa: »Mädchenmord während eines Feuerwerks. Rätselhafter Vorfall ...« So ähnlich wahrscheinlich.

Im Begriff, mich wieder nach oben zu begeben, sah ich Frederica Rice auf meinen Tisch zukommen. Noch blonder erschien sie mir am hellen Morgen. Oder hob das Kleid aus schwarzem Marocain mit dem weißen Kragen diese Blondheit besonders hervor?

»Ich möchte Mr. Poirot sprechen, Hauptmann Hastings. Wissen Sie, ob er schon aufgestanden ist?«

»Wir werden ihn oben im Wohnzimmer finden«, erwiderte ich. »Kommen Sie nur mit.«

»Ich danke Ihnen.«

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»Hoffentlich haben Sie nicht allzu schlecht geschlafen«, erkundigte ich mich, während wir das Frühstückszimmer verließen.

»Natürlich hat mich die Sache sehr mitgenommen, obgleich ich Maggie Buckley nur oberflächlich gekannt habe. Nicht auszudenken, wenn es Nick gewesen wäre!«

»Vermutlich sahen Sie Miss Maggie gestern zum ersten Male.«

»Nein. Ich lernte sie in Scarborough kennen, als sie mit Nick zum Lunch hinüberkam.«

»Welch furchtbarer Schlag für die armen Eltern!« »Ja, furchtbar«, sprach sie mir nach. Aber es klang sehr

unpersönlich. Frederica Rice war - so urteilte ich innerlich - eine Egoistin, die nur Interesse für das hatte, was sie selbst betraf.

Poirot, ebenfalls in die Morgenzeitung vertieft, sprang auf und begrüßte die blonde Frau mit all seiner gewohnten gallischen Höflichkeit. »Madame!« sagte er. »Ich bin entzückt, Sie zu sehen.«

Frederica Rice ließ sich müde lächelnd in den angebotenen Sessel fallen. Ihre beiden Hände ruhten auf den Armlehnen. Kerzengerade saß sie da und starrte verloren ins Weite, ohne ihr Anliegen vorzubringen. Und irgendwie wirkten ihr Schweigen und ihr Entrücktsein beängstigend.

»Mr. Poirot«, begann sie nach mehreren Minuten, »ich gehe wohl in der Vermutung nicht fehl, daß dieser traurige Vorfall ... ich meine, daß eigentlich Nick als Opfer auserkoren war?«

»Darüber besteht wohl kein Zweifel, Madame.« Frederica zog ein wenig die Stirn kraus. »Weiß Gott, Nicks

Leben schützt ein geheimer Zauber!« In ihrem Ton war eine Unterströmung, die ich nicht verstand. »Das Glück, sagt man, geht immer im Kreise«, bemerkte

Poirot. »Vielleicht. Jedenfalls ist es nutzlos, dagegen anzukämpfen.«

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Jetzt lag nur Müdigkeit in ihrer Stimme. Nach einigen Sekunden fuhr sie fort: »Ich muß sowohl Sie, Mr. Poirot, als auch Nick um Verzeihung bitten. Bis gestern abend glaubte ich Ihnen nämlich nicht; ich hätte mir nicht träumen lassen, daß Nick von einer ernstlichen Gefahr bedroht sei. Jetzt allerdings sehe ich ein, daß man alles sorgfältig prüfen muß, und daß auch Nicks unmittelbarer Freundeskreis nicht gegen Verdacht gefeit sei. Lächerlich natürlich, doch nicht wegzuleugnen, nicht wahr, Mr. Poirot?«

»Madame, ich bewundere Ihre Klugheit.« »Vor drei Tagen legten Sie mir einige Fragen über Tavistock

vor, die ich, wie Sie über kurz oder lang herausfinden würden, nicht wahrheitsgemäß beantwortete. Ich war nicht in Tavistock.«

»Wirklich, Madame?« »Ja. Denn ich fuhr mit Mr. Lazarus Anfang vergangener

Woche nach dem kleinen Nest Shellacombe, was ich verschwieg, um die bösen Zungen nicht herauszufordern.«

»Shellacombe? Das liegt ungefähr sieben Meilen von hier entfernt.«

»Ja, so ungefähr.« Immer noch jene sanfte, entrückte Müdigkeit! »Darf ich zudringlich sein, Madame?« »Fragt man da heutzutage erst um Erlaubnis ...?« »Vielleicht haben Sie recht, Madame. Wie lange sind Sie

schon mit Mr. Lazarus befreundet?« »Ich lernte ihn vor sechs Monaten kennen.« »Und Sie haben ihn gern, Madame?« Frederica zuckte die schmalen Schultern. »Er ist - reich.« »O la la«, rief Poirot. »Das klingt sehr häßlich aus Ihrem

Mund.« »Ist es nicht besser, ich sage es selbst, als daß Sie es sagen?«

fragte Mrs. Rice mit einem spöttischen Lächeln.

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»In Ihrer Bemerkung liegt viel Wahres. Darf ich wiederholen, Madame, daß Sie sehr klug sind?«

»Nächstens werden Sie mir ein Diplom ausstellen, Monsieur«, sagte sie, indem sie sich erhob.

»Mehr wollen Sie mir nicht erzählen, Madame?« »Nein - das war alles. Ich werde jetzt ein paar Blumen kaufen

und sehen, wie es Nick geht.« »Oh, das ist außerordentlich liebenswürdig von Ihnen. Im

übrigen aber, Madame, danke ich Ihnen für Ihre Offenheit.« Sie warf ihm einen scharfen Blick zu, schien noch etwas

hinzufügen zu wollen, besann sich dann doch eines anderen und ging aus dem Zimmer, um mir, der ich ihr die Tür öffnete, zum Abschied ein flüchtiges Lächeln zu schenken.

»Ja, ja, sie ist sehr klug«, murmelte mein Freund, »doch Hercule Poirot nicht minder.«

»Was meinen Sie damit?« »Daß es sehr gut und sehr nett war, mich den Reichtum Jim

Lazarus' schlucken zu lassen.« »Ich muß sagen, daß ihre Bemerkung mich anekelte.« »Mon cher ami, wie immer haben Sie die richtige Reaktion am

unrichtigen Ort! Augenblicklich handelt es sich nicht um eine Taktfrage. Wenn Madame Rice einen ergebenen Freund hat, der über Reichtümer verfügt und ihr alle Wünsche erfüllen kann - nun, dann besteht doch für Madame Rice offenkundig keine Notwendigkeit, ihre beste Freundin zu ermorden!«

»Oh!« sagte ich. »C'est ça ..., Oh!« »Warum hielten Sie die kühle Blonde nicht ab, in das

Sanatorium zu gehen?« »Warum sollte ich zeigen, daß ich meine Hand im Spiel habe?

Hindert vielleicht Hercule Poirot die kleine Nick, ihre Freunde zu empfangen? Welch lächerlicher Einfall! Die Ärzte und die Pflegerinnen sind es, die Einspruch erheben. Vor allem die

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lästigen Pflegerinnen, vollgestopft mit Verordnungen, Vorschriften und ärztlichen Befehlen!«

»Fürchten Sie nicht, man könnte den einen oder anderen doch zu ihr lassen? Wenn Nick darauf besteht?«

»Niemand, mein lieber Hastings, tritt über ihre Schwelle außer Ihnen und mir. Und je eher wir uns auf den Weg machen, desto besser.«

Ohne vorherige Anmeldung stürzte in diesem Augenblick George Challenger ins Zimmer, kochend vor Zorn und Entrüstung.

»Wollen Sie mir gefälligst sagen, was das bedeutet, Mr. Poirot?« schrie er meinen Freund an. »Ich telefonierte mit dem verdammten Sanatorium, in das man Nick verschleppt hat, erkundigte mich nach ihrem Befinden und wann ich sie besuchen könnte. Und da erhalte ich den Bescheid, die Ärzte hätten jeden Besuch untersagt. Was heißt das? Rundheraus: Ist das Ihr Werk, Mr. Poirot? Oder ist Nick infolge der Aufregung ernstlich erkrankt?«

»Monsieur, ich versichere Ihnen, daß ich in meinem ganzen Leben noch keine Richtlinien für Krankenhäuser und dergleichen Anstalten ausgearbeitet habe. Wie sollte ich so etwas wagen? - Warum läuten Sie nicht den Arzt an - wie hieß er doch gleich? Ach ja, Graham ... Doktor Graham.«

»Schon besorgt, Mr. Poirot. Er sagt, Nick befände sich so wohl, wie nach den Umständen zu erwarten wäre - die üblichen Flausen. Ich kenne alle diese Tricks, weil mein Onkel Arzt ist. Nervenarzt in London, Harley Street. Psychoanalyse und all den Krimskrams. Daher weiß ich, wie man Verwandte und Freunde mit süßen Worten fernhält. Doch in diesem Falle glaube ich, daß Nick keineswegs zu krank ist, um jemanden empfangen zu dürfen, sondern daß Sie, Mr. Poirot, hinter allem stecken.«

Mein Freund betrachtete den zornigen Seemann voll nachsichtiger Güte, und nicht zum erstenmal gewahrte ich, daß Poirot einem Verliebten freundliche Gefühle entgegenbrachte.

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»Nun hören Sie mich einmal an, mon ami!« sagte er. »Wenn ein Besuch vorgelassen wird, kann man die übrigen nicht abweisen. Verstehen Sie? Entweder alle oder keiner. Wir beide, Sie und ich, wollen Mademoiselles Sicherheit, nicht wahr? Gut! Und darum muß es heißen: keiner.«

»Dann füge ich mich«, brummte er. »Aber ...« »Pst! Wir wollen kein Wort mehr darüber verlieren, wollen

sogar vergessen, was wir gesprochen haben. Denn jetzt ist äußerste Vorsicht geboten.«

»Ich kann den Mund halten«, versicherte der Seemann ruhig. Er machte auf dem Absatz kehrt und ging zur Tür. »Blumen werden doch nicht mit Beschlag belegt, was?«

Poirot schüttelte lächelnd den Kopf. »Und nun«, sagte er zu mir, als die Tür hinter dem ungestümen

Kapitän ins Schloß fiel, »während Mr. Challenger und Madame und vielleicht auch Jim Lazarus sich alle im Blumenladen treffen werden, wollen wir in Ruhe zum Sanatorium fahren.«

»Und dort die Antwort auf die drei Fragen einholen?« »Ja. Obgleich ich die Antwort kenne«, sagte er verschmitzt. »Wie ...?« »Jawohl, Hastings.« »Aber wann haben Sie sie gefunden?« »Als ich mein Frühstück verzehrte, mon cher. Da starrte sie

mir ins Gesicht.« »Spannen Sie mich doch nicht so auf die Folter«, rief ich. »Nein, ich möchte, daß Sie die Antwort aus Mademoiselles

Mund hören.« Dann - um meine Gedanken abzulenken - reichte er mir einen

geöffneten Brief. Es war das Gutachten über das Bild des alten Nicholas Buckley, das mit höchstens zwanzig Pfund bewertet wurde.

»Mithin ist dieser Punkt geklärt«, meinte Poirot.

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»Keine Maus in jenem Mauseloch!« erwiderte ich mit einem Ausspruch, den Poirot vor Jahren bei einer anderen Gelegenheit geprägt hatte.

»Ha, Sie erinnern sich noch ...?« lachte mein Freund. »Ja, wirklich: keine Maus in jenem Mauseloch. Zwanzig Pfund, und Mr. Lazarus bot fünfzig. Eine gewaltige Fehlschätzung für einen anscheinend so schlauen jungen Herrn!«

Im Sanatorium, das, auf der Spitze eines Hügels gelegen, weithin über die Bucht schaute, empfing uns ein weißgekleideter Pförtner und führte uns in einen kleinen Raum, wo sich gleich darauf eine Schwester zu uns gesellte.

Ein Blick auf Poirot genügte ihr offenbar. Wahrscheinlich hatte Dr. Graham ihr eine genaue Schilderung des kleinen Detektivs gegeben, und die Wirklichkeit stimmte wohl mit dieser Schilderung so sehr überein, daß die ernste Pflegerin nur mühsam ein Lächeln verbarg. »Miss Buckley hat recht gut geschlafen«, sagte sie. »Wollen Sie mit nach oben kommen?«

Wir fanden unseren Schützling in einem netten Zimmer untergebracht, durch dessen breites Fenster die Sonne fröhlich hereinströmte. In dem schmalen Eisenbett sah Nick aus wie ein müdes Kind. Ihre Wangen waren weiß und die Augen verdächtig gerötet.

»Es ist gut, daß Sie da sind!« flüsterte sie. Poirot nahm die kleine Mädchenhand zwischen seine beiden

Hände. »Mut, Mademoiselle. Es bleibt immer noch etwas, für das es sich lohnt zu leben.«

Bei diesen Worten zuckte sie zusammen, und ihre dunkelblauen Augen suchten des Sprechers Gesicht.

»Wollen Sie mir jetzt nicht erzählen, Mademoiselle, was Sie letzthin so bekümmerte? Oder soll ich es erraten? Und darf ich Ihnen dann mein tiefstes Mitgefühl aussprechen, Mademoiselle?«

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Eine dunkle Röte schoß in die blassen Wangen. »So wissen Sie es also. Es ist ja auch so gleichgültig, wer und wie viele es jetzt wissen - jetzt, da alles vorüber ist, jetzt, da ich ihn nie wiedersehen werde.« Ihre Stimme wurde durch Tränen erstickt.

»Mut, Mademoiselle.« »Ich habe in den letzten Wochen allen Mut verausgabt, Mr.

Poirot. Hoffend und hoffend - und ganz zuletzt gegen meine innere Überzeugung hoffend.«

Meine Blicke wanderten ratlos zwischen den beiden hin und her. Ich verstand kein Wort.

»Sehen Sie den armen Hastings an«, bemerkte Poirot. »Er weiß nicht, worüber wir sprechen.«

Ihre unglücklichen Augen wandten sich mir zu. »Michael Seton, der Flieger, war mein Verlobter ... Und nun ist er tot.«

11

Mir war, als habe ich einen Schlag vor den Kopf erhalten. »Meinten ... meinten Sie das, Poirot?« stammelte ich.

»Ja, mon ami. Heute morgen erfuhr ich es.« »Doch woher? Sie sagten, es hätte Ihnen während des

Frühstücks ins Gesicht gestarrt.« »Das stimmt auch, Hastings. Aus der Morgenzeitung. Ich

erinnerte mich der Unterhaltung, die beim gestrigen Dinner geführt wurde - und ich sah alles.« Dann drehte er sich zu Nick um. »Haben Sie die Nachricht gestern abend erhalten?«

»Ja. Durch das Radio. Als ich angeblich zum Telefon lief ... ich ... ich wollte die Nachricht allein hören ... im Falle ...« Sie schluckte und schluckte. »Und dann vernahm ich es ...«

»Ich weiß, mein armes liebes Kind.« »Oh, es war grauenvoll. Und all die Gäste, die ich empfangen

mußte. Ich verstehe nicht, wie ich es fertigbrachte; alles zog an mir vorüber wie ein Traum, und in diesem Traumzustand sah ich

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auch mich selbst, plaudernd und von einem zum anderen gehend, als sei nichts geschehen. Doch als ich Freddies Umhang holte, brach ich für eine Minute zusammen. Und Maggie, die Arme, plagte mich unwissentlich mit ihren fortgesetzten Fragen nach ihrem Mantel, bis sie schließlich meinen Schal nahm und fortging. Ich biß die Zähne aufeinander ... schnell ein bißchen Puder, ein bißchen Rot aufgelegt und dann gleichfalls wieder hinaus in den Garten ... Und da war Maggie inzwischen getötet ...«

»Sie Ärmste, zu all dem Leid noch dieser Schreck.« »Ach, Mr. Poirot, Sie verstehen mich nicht. Ich war böse,

haderte mit dem Schicksal. Ich beneidete Maggie, wünschte tot zu sein - und war vielleicht noch zu jahrelangem Leben verurteilt, während weit weg Michael ertrunken im Stillen Ozean treibt.«

»Pauvre enfant!« »Nein, ich will nicht leben!« schrie sie plötzlich rebellisch.

»Ich will nicht!« »Ich weiß, Mademoiselle. Für jeden von uns kommen

Stunden, da uns der Tod wünschenswerter erscheint als das Leben. Aber auch das geht vorüber - Sorge und Kummer. Im gegenwärtigen Augenblick können Sie mir das nicht glauben, mein Kind, und es ist für einen alten Mann wie mich nutzlos, darüber zu reden. Müßige, nichtige Worte - so denken Sie. Müßige, nichtige Worte.«

»Sie meinen, ich würde vergessen - und jemand anders heiraten? ... Nie! Nie!«

Sie sah unendlich lieblich aus, wie sie da mit heißen Wangen und geballten Fäusten im schmalen Bett saß.

»Nein, nein, Mademoiselle«, widersprach Poirot, »nichts dergleichen denke ich. Sie sind sehr glücklich gewesen. Mademoiselle: Ein kühner Mann, ein Held hat Sie geliebt. - Wann und wo machten Sie seine Bekanntschaft?«

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»Vergangenen September in Le Touquet. Vor fast einem Jahr.«

»Und wann verlobten Sie sich?« »Kurz nach Weihnachten. Doch wir hielten es streng geheim.« »Warum?« »Wegen Michaels Onkel, des alten Sir Matthew Seton, der

Vögel liebt und Frauen haßt.« »Ah, mon dieu!« »Nun ja, er ist ein verschrobener Sonderling gewesen,

behauptete, daß Frauen das Leben eines Mannes zugrunde richten. Und Michael war von ihm vollkommen abhängig. Sir Matthew, ungeheuer stolz auf seinen Neffen, finanzierte auch den Bau des >Albatros< und den Weltflug. Wenn Michael der Flug geglückt wäre, hätte er von seinem Onkel alles verlangen können. Und selbst wenn der alte Sir Matthew bei seiner Marotte verharrt haben würde - brauchten wir uns darum zu kümmern? Michael zu einer Art Weltheros geworden, ruhmumstrahlt, mit Angeboten aller Art überschüttet ... da hätte schließlich auch der Onkel nachgegeben.«

»Jaja.« »Aber Michael sagte, es würde verhängnisvoll sein, wenn

vorher etwas durchsickerte. Niemand dürfte von unserer Verlobung wissen. Niemand - nicht einmal Freddie.«

Poirot stöhnte. »Wenn Sie es doch wenigstens mir erzählt hätten, Mademoiselle.«

»Warum?« Nick starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. »Welchen Unterschied hätte das gemacht? Sie glauben doch nicht etwa, daß diese rätselhaften Attentate mit meiner Verlobung zu tun haben? - Nein, ich hatte es Michael versprochen, und ich hielt mein Wort. Aber leicht war es nicht. Dieses Hangen und Bangen, dieses Lechzen nach Nachrichten, und dazu die Freunde, die mich nervös und launisch schalten und denen man keine Erklärungen geben durfte.«

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»Glauben Sie, Mademoiselle, ich kann es Ihnen sehr gut nachfühlen.«

»Schon einmal, als er auf dem Weg nach Indien die Wüste überflog, war er vermißt. Doch dann stellte sich heraus, daß zwar seine Maschine beschädigt, ihm selbst aber nichts geschehen war. Und so tröstete ich mich, daß es dieses Mal wieder so ausgehen würde. Während alle Welt bereits seinen Tod beklagte, redete ich mir ein: Er ist gesund, er ist gesund ... Und dann, gestern abend ...« Sie biß sich, um nicht aufzuschreien, verzweifelt in die zusammengeballte kleine Faust.

»Bis gestern hatten Sie also noch gehofft?« »Ich weiß nicht... Vielleicht weigerte ich mich nur, das

Schreckliche zu glauben. Und allen Kummer in sich hineinzufressen ... oh, ich meinte manchmal, ersticken zu müssen.«

»Trat denn nie die Versuchung an Sie heran, sich Mrs. Rice anzuvertrauen?«

»Bisweilen sehnte ich mich förmlich danach.« »Meinen Sie nicht, Mademoiselle, daß sie Ihr Geheimnis

erriet?« »Ich glaube nicht.« Nick schien sorgfältig zu überlegen.

»Wenigstens ließ sie nie ein Wort darüber fallen.« »Und als Mr. Setons Onkel starb, haben Sie auch da nicht

erwogen, Mrs. Rice ins Vertrauen zu ziehen? Oder wissen Sie nicht, daß Sir Matthew vor einer Woche starb?«

»Ich weiß es. An den Folgen einer Operation oder dergleichen. Ja, sehen Sie, Mr. Poirot, da hätte ich es am liebsten jedem erzählt. Aber es wäre nicht sehr zartfühlend gewesen, hätte sehr prahlerisch gewirkt. Die Reporter sämtlicher englischer Zeitungen würden sich auf mich, die Braut des berühmten Fliegers, gestürzt und Interviews verlangt haben. Ein wohlfeil erkaufter Glanz, den Michael gehaßt hätte.«

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»Da pflichte ich Ihnen bei, Mademoiselle. Der Öffentlichkeit konnten Sie Ihre Verlobung nicht bekanntgeben. Aber vielleicht privat - einem Freund?«

»Einer Person gegenüber habe ich auch Andeutungen gemacht«, erklärte Nick, »weil es mich nicht mehr als recht und billig dünkte. Doch wieweit er - ich meine die betreffende Person - mich verstand, weiß ich nicht.«

Poirot nickte. »Stehen Sie mit Ihrem Vetter, Mr. Vyse, eigentlich auf gutem Fuß?« wechselte er ohne Überleitung das Thema.

»Charles? Wieso verfallen Sie auf ihn?« »Ein Gedankenblitz, für den man selbst keine Erklärung

findet!« »Charles, der pedantische Geselle, der nie die Nase aus diesem

kleinen Nest herausgestreckt hat, meint es gut«, entgegnete Nick. »Aber ich glaube, er tadelt mich.«

»Oh, Mademoiselle! Mademoiselle! Ich hörte im Gegenteil, daß er Ihnen all seine Ergebenheit zu Füßen legt.«

»Man kann eine Person tadeln und dennoch eine Schwäche für sie haben«, belehrte ihn Nick. »Charles rügt meine Lebensweise, mißbilligt meine Cocktails, die Art, mich zu kleiden, meine Freunde und meine Unterhaltung, und fühlt sich trotzdem von mir angezogen. Er hofft immer, mich eines Tages zu bessern.« Sie schwieg ein Weilchen und fragte dann, während ein Anflug der früheren Schelmerei in ihren Augen geisterte: »Wen haben Sie denn ausgepumpt, um all diesen Lokalklatsch zu erfahren?«

»Sie müssen mir deshalb nicht zürnen, Mademoiselle: Ich hatte eine Unterhaltung mit Madame Croft, der Australierin.«

»Ach, sie ist ein liebes, gutes Geschöpf - wenn man Zeit für sie hat. Furchtbar rührselig. Liebe und Heim und Kinder, na ja, Sie verstehen schon.«

»Ich bin selbst von einer altmodischen Rührseligkeit, Mademoiselle.«

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»Sie? ... Ich hätte geschworen, daß Hauptmann Hastings der Rührseligere von Ihnen beiden wäre.«

Ich fühlte, wie mir die Schamröte in die Wangen stieg. »Er ist wütend«, sagte Poirot, indem er sich vergnügt an

meinem Unbehagen weidete. »Aber Sie haben recht, Mademoiselle, vollkommen recht.«

»Durchaus nicht«, stieß ich erbost hervor. »Hastings ist ein hervorragend reiner Charakter und für mich

zeitweilig das größte Hindernis gewesen.« »Reden Sie nicht so albern, Poirot.« »Vor allem sträubt er sich, irgendwo Böses zu sehen, und

wenn er es schließlich doch sieht, ist seine gerechte Entrüstung derart groß, daß es ihm jede Verstellung und Heuchelei unmöglich macht. Alles in allem also eine seltene und feine Natur. Nein, mon ami, ich erlaube nicht, daß Sie mir widersprechen. Es ist so, wie ich sage.«

»Sie sind beide so freundlich zu mir gewesen«, bemerkte Nick sanft.

»Na, na, Mademoiselle! Nicht der Rede wert - wir haben mehr zu erledigen. Und jetzt hören Sie mich an: Sie werden hübsch hierbleiben, sich fügen und tun, was ich anordne.«

Nick seufzte. »Ich will alles tun, was Sie wollen, Mr. Poirot. Es ist ja gleichgültig, wo ich bin und was ich mache.«

»Sie werden auch keinen von Ihren Freunden zu sehen bekommen, Mademoiselle.«

»Um so besser! Ich möchte gar keinen sehen.« »Für Sie, mein Kind, der passive Teil - für uns der aktive. Und

jetzt, Mademoiselle, werde ich Sie verlassen.« Während seine Hand schon auf der Klinke lag, sagte er über

die Schulter hinweg: »Übrigens erwähnten Sie einmal ein Testament, das Sie aufgesetzt hätten. Wo befindet es sich?«

»Es liegt irgendwo herum.« »Im Endhaus?«

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»Ja.« »In einem Geldschrank? Eingeschlossen in Ihrem

Schreibtisch?« »Ich weiß es wirklich nicht. Irgendwo muß es sein.« Sie

runzelte die Stirn. »Ja, ich bin gräßlich unordentlich. Dokumente und dergleichen Papiere liegen zum größten Teil zusammen mit Bergen von Rechnungen im Schreibtisch in der Bibliothek, und vermutlich steckt auch das Testament darunter. Es kann aber auch in meinem Schlafzimmer sein.«

»Erlauben Sie mir, nach ihm zu suchen?« »Gewiß, sehen Sie sich an, was Sie mögen.« »Merci, Mademoiselle. Ich werde von Ihrer Erlaubnis

Gebrauch machen.«

12

Poirot sagte kein Sterbenswörtchen, bis wir uns draußen unter freiem Himmel befanden. Dort jedoch packte er aufgeregt meinen Arm. »Sehen Sie, Hastings? Sehen Sie? Ah, ich hatte also recht! Dauernd wußte ich, daß da etwas fehlte - ein Stück des Vexierspiels. Und ohne das fehlende Stück war das Ganze sinnlos.«

Sein jubelndes Wortgesprudel bedeutete unverständliches Kauderwelsch für mich, da ich beim besten Willen nicht einsah, inwiefern sich etwas Denkwürdiges ereignet hatte.

»Die ganze Zeit über war es vorhanden!« ereiferte sich mein Freund. »Und ich konnte es nicht sehen. Zu wissen, daß es ein Etwas gibt - das steht auf einem Blatt; aber zu wissen, was dieses Etwas ist - das steht auf einem ganz anderen ... und bereitet viel größere Schwierigkeiten.«

»Mein lieber Poirot, drücken Sie sich doch endlich verständlich aus!« rief ich.

»Mein Gott, sehen Sie denn nicht? Hastings, ist das möglich? - Sehen Sie nicht, daß wir den verborgenen, dunklen Beweggrund

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entdeckt haben? Den Beweggrund!« stieß er wie berauscht hervor.

»Poirot, und wenn Sie mich für beschränkt halten, ich sehe ihn nicht. Meinen Sie Eifersucht irgendwelcher Art?«

»Eifersucht? Nein, nein, mein Freund. Der landläufige, der unvermeidliche Beweggrund. Geld, mein Lieber, Geld!« Er schwieg, um nach einem Weilchen ruhiger fortzufahren: »Vor einer reichlichen Woche starb Sir Matthew Seton, ein englischer Millionär.«

»Ja, aber ...« »Geduld! Immer hübsch Schritt für Schritt... Er hat einen

Neffen, den er vergöttert, und dem er, wie wir mit Fug und Recht annehmen dürfen, sein großes Vermögen vermachte.«

»Aber ...« »Sie sollen schweigen, Hastings! Legate abgerechnet,

desgleichen eine Stiftung zugunsten seiner gefiederten Lieblinge, fällt die ungeheure Hauptmasse an Michael Seton. Vergangenen Dienstag wird nun Michael Seton als vermißt gemeldet - und am Mittwoch beginnen die Attentate auf Mademoiselles Leben. Wie aber, wenn jener Michael, bevor er zu seinem Weltflug aufstieg, eine letztwillige Verfügung getroffen und sein Hab und Gut seiner Verlobten vermacht hätte?«

»Das ist eine reine Vermutung, Poirot.« »Vermutung - zugegeben. Jedoch es muß so sein. Weil sonst

die letzten Ereignisse hier - wie ich bereits sagte - keinen Sinn hätten. Es steht doch keine armselige Erbschaft auf dem Spiel, sondern ein Riesenvermögen.«

»Doch niemand weiß von dem Verlöbnis«, machte ich geltend. »Pah! Irgend jemand wird es wissen, wie stets in solchen

Fällen. Und was man nicht weiß, errät man. Madame Rice zum Beispiel mag argwöhnisch gewesen sein und Mittel und Wege gefunden haben, ihren Argwohn in Gewißheit zu verwandeln.«

»Wie?«

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»Meinen Sie, Michael Seton und Mademoiselle Nick hätten in der Verlobungszeit keine Briefe gewechselt? Und die besten Freunde müssen Nick eine unachtsame junge Dame nennen. Hier und dort und überall hinterläßt und verstreut sie ihre Habseligkeiten. Ich bezweifle sehr, daß sie je in ihrem Leben etwas eingeschlossen hat. O ja, bei der kleinen Nick fällt es nicht schwer, sich Gewißheit zu verschaffen.«

»Und Frederica Rice wäre auch bekannt, daß Nick vor ihrer Operation ein Testament abfaßte?«

»Fraglos. Ja, ja, die Personen A bis K auf meiner Liste verringern sich auf zwei. Ich streiche die Dienstboten. Ich streiche den Kapitän Challenger, obschon er für die Strecke von Plymouth bis hier, eine Entfernung von nur dreißig Meilen, ein und eine halbe Stunde brauchte. Ich streiche auch den jungen Jim Lazarus, der fünfzig Pfund für ein Bild bot, das nur zwanzig wert war. Wenn man darüber nachdenkt und Jims Geschäftstüchtigkeit berücksichtigt, mutet es einen freilich seltsam an! Desgleichen streiche ich den Australier - so herzlich und zuvorkommend - und halte mich an die beiden Personen, die noch auf meiner Liste bleiben.«

»Eine ist Frederica Rice«, sagte ich nachdenklich. Im Geiste sah ich sie vor mir, das goldene Haar, die zarte Blässe ihres Gesichts.

»Ja. Sie ist sogar sehr deutlich gekennzeichnet. Welche nachlässige Fassung Mademoiselle ihrem Testament auch gegeben haben mag, so wird die Blonde darin eindeutig als Universalerbin genannt worden sein. Wenn die Kugeln Mademoiselle Nick anstatt Mademoiselle Maggie niedergestreckt hätten, so wäre Madame Rice heute eine schwerreiche Frau.«

»Mein Gott, ich kann es kaum glauben.« »Sie meinen, Hastings, Sie können kaum glauben, daß eine

schöne Frau eine Mörderin sein kann? Zu diesem Glauben hat sich auch manches Schwurgericht schwer durchgerungen. Aber

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vielleicht ist Ihr Zweifel begründet. Es steht ja noch ein Verdächtiger auf unserer Liste.«

»Charles Vyse.« »Der allerdings nur das Haus erbt«, ergänzte mein Freund.

»Doch möglicherweise weiß er dies nicht. Setzte er Mademoiselles Letzten Willen auf? Meines Erachtens nicht, denn dann würde diese Urkunde nicht >irgendwo herumliegen< - um Nicks eigene Worte zu wiederholen. Infolgedessen ahnt er vielleicht von dem Testament nichts und lebt in dem Wahn, er - als nächster Anverwandter - sei der Erbe.«

»Das klingt viel wahrscheinlicher«, erklärte ich. »Hastings, Sie Unverbesserlicher, da meldet sich wieder Ihre

romantische Seele! Der schurkische Rechtsanwalt - beinahe jeder Schriftsteller läßt ihn in seinem Buch aufmarschieren. Und wenn der Rechtsanwalt gar noch ein verschlossenes Gesicht hat, ist an der Tatsache seiner Schuld nicht zu rütteln und zu deuteln. In gewisser Weise steht unser Charles Vyse mehr im Vordergrund als Madame - das will ich nicht leugnen. Er dürfte eher als sie von der Pistole wissen und sie besser zu handhaben verstehen.«

»Und auch den Felsblock leichter zu Tal befördern!« »Mein Lieber, ich sagte Ihnen schon früher, daß dies nicht

ausschließlich eine Frage der Körperkraft ist. Und die Tatsache, daß der Fels in der falschen Sekunde ins Rollen gebracht wurde und Mademoiselle daher verfehlte, deutet mehr auf eine weibliche Urheberschaft, wohingegen der Einfall, an den Bremsen des Autos Schaden anzurichten, einem männlichen Hirn entsprungen sein könnte, wenngleich heutzutage manche Frauen genauso gute Mechaniker sind wie ihre männlichen Kollegen. Andererseits klaffen in der Anklage gegen Vyse ein oder zwei Lücken.«

»Welche?« »Er hatte weniger Gelegenheit als Madame, von der

Verlobung zu erfahren. Und zweitens war seine Handlung

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ziemlich überstürzt, Hastings. Bis gestern abend herrschte noch nicht vollkommene Gewißheit, daß Seton ertrunken wäre. Hastig und nur auf Grund von Gerüchten zu handeln, verträgt sich aber nicht mit juristischer Denkart.«

»Eine Frau jedoch würde übereilte Schlüsse ziehen«, gab ich zu. »Poirot, es ist ein reines Wunder, daß Nick dem Tode entging!«

»Ja«, sagte mein Freund düster. »Und ich kann mir nicht ein bißchen Verdienst daran zuschreiben!«

»Vorsehung!« murmelte ich. »Mon ami, ich würde die Last menschlicher Missetaten lieber

nicht auf die Schultern des lieben Gottes packen! >Vorsehung< ... Sie sagen das in öliger, feiertagsmäßiger Ergebenheit, ohne zu überlegen, daß Sie in Wirklichkeit nichts anderes sagen, als daß der liebe Gott Miss Buckley getötet hat.«

»Aber, Poirot!« »Tatsächlich, mein Freund. Aber ich will mich nicht bequem

hinsetzen, die Arme verschränken und bekennen: >Der Herrgott hat alles so trefflich geordnet, da werde ich nicht eingreifen.< Weil ich überzeugt bin, daß der Herrgott Hercule Poirot eigens dazu geschaffen hat, einzugreifen. Es ist mein Handwerk.«

Langsam waren wir den Zickzackpfad die Klippen hinaufgeklettert und betraten nunmehr durch das kleine Pförtchen Nick Buckleys Grund und Boden.

»Uff!« schnaufte Poirot. »Eine verteufelte Steigung! Mir ist heiß geworden, und sogar mein Schnurrbart ist schlaff. - Ja, was ich noch sagen wollte: Ich stehe auf Seiten der Unschuld. Auf Seiten Mademoiselle Nicks, weil sie angegriffen, auf seiten Mademoiselle Maggies, weil sie getötet wurde.«

»Und Sie sind gegen Frederica Rice und Charles Vyse.« »Nein, Hastings, nein. Ich bewahre mir den klaren Blick und

behaupte nur, daß gegenwärtig auf einem dieser beiden der Verdacht ruht... Pst!«

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Wir waren bis zu dem Rasenstreifen vor Nicks Haus gekommen, wo ein Mann mit einer Mähmaschine das Gras schnitt. Neben ihm her stapfte ein kleiner, zehnjähriger Bengel, häßlich, aber Pfiffigkeit verratend. Mir fiel ein, daß wir das klappernde Schnurren der Mähmaschine vorher nicht gehört hatten. Wahrscheinlich gönnte sich der faule Gärtner wieder einmal Zeit und hatte seine Maschine erst in Bewegung gesetzt, als unsere Stimmen laut wurden.

»Guten Morgen!« wünschte Poirot. »Guten Morgen, Sir.« »Sie sind, wie ich vermute, der Gärtner.« »Das stimmt, Sir«, grinste der Mann blöde. »Und ich nehme

an, daß ich den ausländischen Herrn vor mir habe, der von Beruf Detektiv ist. Wie steht's mit unserer jungen Herrin?«

»Wir kommen gerade von ihr; es geht ihr leidlich.« »Hier sind Polizisten gewesen«, plapperte der kleine Junge.

»Jawohl, dort, wo das Fräulein tot hinfiel. Ich habe auch einmal gesehen, wie man ein Schwein totmacht, nicht, Vati?«

»Ja«, brummte sein Erzeuger gleichmütig. »Als Vati auf einer Farm arbeitete, mußte er Schweine

totmachen. Nicht, Vati? Und einmal habe ich zugeguckt. Huh, das war fein!«

»Alle Jungen mögen gern zusehen, wenn ein Schwein abgestochen wird«, erläuterte der Gärtner, als ob er eine unveränderliche Naturerscheinung feststellte.

Doch der Knirps war mit seiner Weisheit noch nicht zu Ende. »Mit einer Pistole wurde die Dame erschossen«, berichtete er wichtig. »Die Kehle hat man ihr nicht durchschnitten!«

Mir grauste vor diesem blutrünstigen Kind, und wahrscheinlich empfand Poirot das nämliche, denn er schritt schneller als zuvor dem Hause zu. Wie schon einmal, benutzten wir die offenstehende Terrassentür, um ins Wohnzimmer zu gelangen, und drückten dort auf die Klingel. Adrett in Schwarz

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gekleidet, erschien die tüchtige Ellen, ohne über unser Hiersein Erstaunen zu bekunden.

Poirot setzte ihr auseinander, daß Miss Buckley uns gestattet hätte, das Haus zu durchsuchen.

»Sehr wohl, Sir.« »Ist die Polizei fort?« »Ja, beim ersten Morgengrauen hat sie im Garten

nachgeforscht. Ob man was Verdächtiges fand, weiß ich nicht.« Die Wirtschafterin stand im Begriff, das Zimmer wieder zu

verlassen, als Poirot sie mit einer Frage zurückhielt: »Waren Sie gestern abend sehr überrascht, als Sie erfuhren, daß Miss Buckley erschossen im Gras lag?«

»Ja, Sir, denn es ist unfaßbar, daß jemand einer solchen netten jungen Dame wie Miss Maggie Böses zufügen sollte.«

»Wäre es irgend jemand anders gewesen, so würde es Sie weniger überrascht haben, he?«

»Ich ... ich verstehe nicht recht, Sir.« »Als ich in die Halle kam«, ergriff ich an meines Freundes

Statt das Wort, »fragten Sie sofort, ob etwas passiert sei. Waren Sie vielleicht auf etwas Derartiges gefaßt?«

Sie blieb stumm, und ihre Finger fältelten den Schürzensaum. »Wollen Sie nicht antworten?« »Die Herren würden mich ja doch nicht verstehen.« »Doch, doch«, beteuerte Poirot. »Wie verwunderlich das auch

sein möge, was Sie sagen, ich würde es verstehen.« Unter den halbgesenkten Lidern warf sie ihm einen

abschätzenden Blick zu, und diese Prüfung schien zu Poirots Gunsten auszufallen. »Sehen Sie, Sir«, sagte sie mit einem Seufzer, »dies ist kein gutes Haus.«

Im Gegensatz zu mir fand mein Freund die Bemerkung offenbar durchaus nicht ungewöhnlich. »Sie meinen, es ist ein altes Haus.«

»Ja, Sir, aber auch kein gutes Haus.«

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»Sind Sie schon lange hier?« »Sechs Jahre, Sir. Doch ich diente bereits früher als Mädchen

einmal bei der Herrschaft. Damals, zu Zeiten des alten Sir Nicholas, war ich Küchenmädchen. Und mit dem Haus verhielt es sich schon damals nicht anders.«

Poirot betrachtete die bescheidene Frau aufmerksam. »In einem alten Haus schwebt oftmals eine Atmosphäre von Bösem«, meinte er gedehnt.

»Ja, Sir, Sie haben das richtige Wort dafür gefunden!« rief Ellen. »Von Bösem. Schlimme Gedanken und schlimme Taten dazu. Wie Schwamm nistet es darin, und man kann es nicht vertreiben. Man atmet es ein mit der Luft ... Oh, ich habe immer gewußt, daß sich eines Tages in diesem Haus Böses ereignen würde.«

»Und Sie haben recht gehabt.« »Ja, Sir.« Sie sagte die beiden Worte mit der Befriedigung

eines Propheten, dessen Weissagungen in Erfüllung gegangen sind.

»Aber Sie dachten nicht an Miss Maggie.« »Nein, gewiß nicht. Sie wurde von niemandem gehaßt, das

weiß ich bestimmt.« Während ich in dieser Erklärung einen verborgenen Sinn

witterte und erwartete, daß Poirot ihm nachgehen würde, steuerte er auf einen ganz fernliegenden Umstand los. »Haben Sie die Schüsse nicht gehört?«

»Bei dem Radau, den das Feuerwerk machte ...?« »Waren Sie draußen, um es sich anzusehen?« »Nein, ich hatte noch nicht das Geschirr vom Dinner

aufgeräumt.« »Und der Lohndiener? Half er Ihnen?« »Nein, er wollte gern vom Garten aus das Feuerwerk sehen.« »Und Sie machen sich nichts draus?«

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»Freilich. Doch erstens wollte ich mit meiner Arbeit fertig werden, und zweitens sollte es übermorgen wiederholt werden. Da dachte ich, mit William dann in die Stadt hinunterzugehen und es mir von dort anzuschauen.«

»Sehr richtig, Madame Ellen. Haben Sie gehört, wie Mademoiselle Maggie nach ihrem Mantel suchte und ihn nicht finden konnte?«

»Ich hörte Miss Nick die Treppe hinaufrennen, Sir, und Miss Maggie unten von der Halle hinaufrufen, daß sie etwas nicht fände. Gleich darauf rief sie: >Schon gut! Ich werde den Schal nehmen.<«

»Pardon«, unterbrach Poirot. »Sie bemühten sich nicht, den Mantel für sie zu suchen oder ihn aus dem Auto zu holen, wo er versehentlich zurückgeblieben war?«

»Ich hatte meine Arbeit zu tun, Sir.« »Und zweifellos hat auch keine der jungen Damen Sie gefragt,

weil sie vermuteten, Sie wären ebenfalls im Garten, nicht wahr?«

»Ja, Sir.« »Ah, dann haben Sie also in den anderen Jahren sich das

Feuerwerk angesehen?« Über das blasse Gesicht huschte eine verdächtige Röte. »Ich

weiß nicht, was Sie meinen, Sir. Es ist uns stets gestattet worden, in den Garten zu gehen, und wenn ich dieses Jahr keine Lust verspürte und lieber schnell meine Arbeit erledigen und mich schlafen legen wollte, so geht das doch wohl nur mich allein an.«

»Mais oui, Madame Ellen. Nichts lag mir ferner, als Sie zu beleidigen. - Nun noch eine andere Kleinigkeit, bei der Sie mir vielleicht helfen können. Da das Endhaus ein altes Gebäude ist, hat es doch sicher ein geheimes Gelaß.«

»Ja, eine verschiebbare Wandtäfelung. Daran habe ich nicht mehr gedacht, Sir; weil Sie jetzt danach fragen, erinnere ich mich, daß die Köchin es mir jungem Ding einmal zeigte. Aber

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wo? War es in der Bibliothek? Im Eßzimmer? ... Das habe ich vergessen.«

»Groß genug, um einer Person als Versteck dienen zu können?«

»Bewahre! Ein kleines Wandschränkchen - eine Nische, etwa einen Fuß im Quadrat groß, nicht mehr.«

»Ach, so ein winziges Ding meinte ich nicht!« Wieder flutete die Blutwelle über ihr Gesicht. »Wenn Sie

glauben, daß ich mich irgendwo versteckt hätte, Sir, so irren Sie sich! Ich hörte Miss Nick wieder treppab rennen ... hörte sie draußen aufschreien und kam in die Halle, um zu sehen, was vorgefallen war. Und das ist die reine Wahrheit, Sir. Die reine Wahrheit!«

13

Nachdem er die grollende Ellen verscheucht hatte, wandte Poirot mir sein ernstes, grübelndes Gesicht zu. »Jetzt möchte ich wirklich wissen, ob sie die Schüsse hörte ... Ich glaube nämlich, ja. Sie wird sie gehört und die Küchentür geöffnet haben und dann in die Halle gelaufen sein. Das alles ist sehr natürlich. Doch weshalb blieb sie dem Feuerwerk fern? Dafür möchte ich gern den wahren Grund wissen.«

»Was hatten Sie vor, als Sie nach dem Geheimerlaß fragten?« »Ein plötzlicher Einfall, vielleicht von dem Wunsch gezeugt,

den >K< unterzubringen, die letzte Person unserer Liste. Den Außenseiter. Doch das ist alles Unsinn ... Kommen Sie, Hastings. Wir wollen das Testament von Mademoiselle Nick aufstöbern.«

Im Wohnzimmer befanden sich überhaupt keine Schriftstücke, so daß wir in die angrenzende Bibliothek hinübergingen, einen ziemlich dunklen Raum, aus dessen Fenstern man den Fahrweg überblickte. Hier stand ein großer, antiker Nußbaumsekretär.

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Es brauchte eine beträchtliche Zeit, bis wir seine Schubkästen und Fächer durchgesehen hatten. Rechnungen und Quittungen bildeten ein wildes Durcheinander. Dazwischen schoben sich Einladungen, Mahnschreiben von Gläubigern, Briefe und Karten von Freunden.

»Wir werden Ordnung und Übersichtlichkeit in diesen Wust bringen«, sagte Poirot streng.

Und er hielt Wort. Nach einer Stunde lehnte er sich befriedigt zurück und betrachtete die gebündelten und verschnürten Häuflein, »C'est bien ça! Ein Gutes hat dieses Tohuwabohu gehabt: daß wir nämlich jedes Papierschnippelchen gründlich betrachten mußten und daher nichts Wichtiges übersahen.«

»Ja, aber die Suche war vergebens.« »Wer weiß! Vielleicht hat sie sich doch gelohnt. Lesen Sie

mal.« Er schob mir einen Brief zu, der in einer großen, gespreizten und dennoch fast unleserlichen Handschrift geschrieben war.

Mein Liebes, die Gesellschaft gestern war herrlich. Doch heute ist für mich ein qualvoller Tag. Du hast sehr klug gehandelt, daß du das Zeug nicht angerührt hast - fang nie damit an, mein Liebes. Es ist so verteufelt schwer, es wieder aufzugeben. Ich muß unserem Freund schreiben, daß er sich mit der Lieferung beeilt. Oh, was ist das Leben für eine Hölle!

Deine Freddie

»Vom Februar dieses Jahres datiert«, sagte Poirot nachdenklich. »Sie frönt natürlich irgendeinem Rauschgiftlaster - das wußte ich, sobald ich sie zu Gesicht bekam.«

»Wirklich, Poirot? Ich habe das nie vermutet.« »Oh, Sie unschuldige Seele! Sie brauchen doch nur ihre Augen

anzusehen. Und außerdem verrät es dies Auf und Ab in ihrer Stimmung. Bisweilen ist sie ganz munter, angeregt, und bisweilen leblos, schlapp, schwerfällig.«

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»Und solche Laster untergraben auch das moralische Empfinden, nicht wahr?«

»Unvermeidlich. Doch ich glaube, daß Madame Rice dem Gift noch nicht rettungslos verfallen ist. Sie befindet sich auf der ersten Stufe, nicht auf der letzten.«

»Und Nick?« »Macht mir nicht den Eindruck. Sie mag wohl hin und wieder

aus Spaß einem derartigen Gelage beigewohnt haben, aber sie gehört nicht zu der Zunft der Jünger.«

»Gott sei Dank!« Ich erinnerte mich plötzlich, daß unser Schützling von

Frederica gesagt hatte, sie sei manchmal nicht sie selbst. Jetzt wußten wir, worauf sich das bezog!

»So, hier haben wir nichts mehr zu suchen. Hinauf in Mademoiselles Schlafzimmer!« befahl mein Freund.

Auch hier stand ein kleiner Schreibtisch, in dessen Fächern aber eine ziemliche Leere herrschte. Keine Spur von einem Testament. Hingegen fanden wir Nicks Führerschein neben einigen unwichtigen Drucksachen.

Poirot seufzte, zwischen Erbitterung und Belustigung schwankend. »Nein, die jungen Mädchen werden nicht mehr angemessen erzogen. Eine schlechte Kinderstube, aus der Ordnung und Genauigkeit verbannt sind! Sie ist reizend, Mademoiselle Nick, aber sie ist ein Flederwisch. Bestimmt ist sie ein Flederwisch!«

Inzwischen hatte er schon angefangen, den Inhalt einer Kommode zu besichtigen.

»Aber Poirot«, wehrte ich, »das ist doch Wäsche.« »Freilich ist das Wäsche.« Er blickte mich erstaunt an. »Und

was ist dabei?« »Meinen Sie nicht ... ich denke ... wir können unmöglich ...« Er brach in ein schallendes Gelächter aus. »Auf Ehrenwort,

mein armer Hastings, Sie gehören der gefühlvollen Zeit des

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Biedermeier an! Wenn Mademoiselle hier wäre, würde sie es bestätigen ... Die jungen Damen heute erröten nicht mehr bei Erwähnung ihrer Unterkleidung. Tagtäglich werden am Strand, wenige Schritte von Ihnen, all diese Höschen und Hemdchen, die nicht länger ein schamvolles Geheimnis bilden, abgelegt. Und warum auch nicht?«

»Ich sehe aber nicht den geringsten Grund für Ihr Herumkramen.«

»Sie Naseweis! Wo würde Mademoiselle, die ihre Schätze nicht einschließt, wohl etwas verbergen, das sie den Blicken anderer nicht preisgeben will? Unter den Seidenstrümpfen und Höschen ... Ah, was haben wir denn hier?«

Er zog ein Päckchen Briefe hervor, die mit einem blaßrosa Band zusammengebunden waren. Ruhig knüpfte er die Schleife auf und fing an, die Bogen zu entfalten.

»Poirot«, rief ich, ehrlich empört, »das dürfen Sie nicht tun. Das heißt unfaire Waffen im Spiel gebrauchen.«

»Spiel?« Schneidend klang das Wort. »Ich wüßte nicht, daß ich spiele, Hastings; ich verfolge einen Mörder.«

»Ja, aber Privatbriefe ...« »Können ebensogut aufschlußreich wie nichtssagend sein. Ich

muß jede Gelegenheit beim Schöpfe ergreifen, mein Freund. Kommen Sie, wir wollen sie gemeinsam lesen, da vier Augen meistens mehr sehen als zwei. Und im übrigen trösten Sie sich mit dem Gedanken, daß die treue Ellen sie wahrscheinlich auswendig kennt.«

Obgleich ich mir vergegenwärtigte, daß Poirots Lage nicht erlaubte, wählerisch zu sein, beschwichtigte ich mein mahnendes Gewissen erst durch die Spitzfindigkeit, daß Nicks letztes Wort gelautet hatte: »Sehen sie sich an, was Sie mögen.«

Die Briefe, die einen mehrmonatigen Zeitraum umfaßten, begannen mit dem vergangenen Winter.

Neujahrstag

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Liebling, das neue Jahr ist da, und ich habe einen guten Entschluß gefaßt. Mir scheint es noch immer ganz unwirklich, daß Du mich liebst. Wie hast Du mein Leben von Grund auf umgestaltet! Ich glaube, wir beide wußten vom ersten Moment an, daß unsere Schicksalsstunde geschlagen hatte. Ein glückliches neues Jahr, mein geliebtes Mädchen. Dein für immer

Michael

8. Februar Du einzig Geliebtes! Wenn ich Dich doch öfters sehen könnte!

Es ist abscheulich, es ist gräßlich, und ich hasse all diese schreckliche Geheimniskrämerei. Aber ich erkläre Dir ja, wie die Dinge liegen. Und darum müssen wir beide, denen Lügen verhaßt sind, gute Miene zum bösen Spiel machen, weil sonst die Karre in den Dreck gerät. Onkel Matthew hat sich nun einmal in die Idee verrannt, daß frühe Heiraten die Laufbahn eines Mannes zum Scheitern bringen. Als ob Du mir Schaden zufügen könntest, Du süßer Engel!

Kopf hoch, Liebling! Alles wird gut werden. Dein Michael

2. März

Ich weiß, daß ich Dir nicht an zwei Tagen hintereinander schreiben sollte, aber ich muß es tun. Als ich gestern aufstieg, dachte ich an Dich. Ich flog über Scarborough. Gesegnetes, gesegnetes, gesegnetes Scarborough - du herrlichster Ort der Welt. Herz, weißt Du denn, wie ich Dich liebe?

Dein Michael

18. April Mein Liebling, jetzt ist alles geregelt und festgesetzt.

Endgültig. Wenn ich dies glücklich durchführe - und ich werde es durchführen -, kann ich Onkel Matthew die Stirn bieten, und sollte er auch dann noch bei seinen verbohrten Ansichten

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beharren, so kümmere ich mich nicht darum. Es ist bewundernswert von Dir, daß Du Dich bei meiner langen technischen Beschreibung des »Albatros« nicht gelangweilt hast. Wie ich mich sehne, Dich mit hinaufzunehmen in die Luft! Einmal wird der Tag kommen, Liebste. Sorge Dich um Gottes willen nicht um mich. Die Sache ist halb so gefährlich, wie sie klingt. Jetzt, da ich weiß, daß Deine Gedanken mich begleiten, kann mich ja gar kein Unheil treffen. Alle Schwierigkeiten werden überwunden werden. Vertraue nur

Deinem Michael

20. April Du Engel, jedes Wort, das Du sagst, ist wahr, und ich werde

diesen Brief wie einen Schatz hüten. Ich bin nicht halbwegs gut genug für Dich. Kein anderer Mensch kann sich mit Dir messen. Ich bete Dich an, ich verehre Dich.

Dein Michael

Der letzte Brief trug kein Datum.

Liebling, also morgen geht es los. Mich beherrscht eine köstliche Erregung, ein ungeheuerer Wagemut und die unumstößliche Gewißheit, daß ich mit den Lorbeeren des Erfolges gekrönt heimkehren werde. Der gute »Albatros« läßt mich bestimmt nicht im Stich.

Sei guten Muts, mein süßes Mädchen, weg mit aller Bangigkeit! Natürlich ist ein gewisses Wagnis dabei, doch was im Leben ist ohne Wagnis? Übrigens riet mir jemand, ein Testament zu machen. Taktvoller Bursche, nicht? Aber er meinte es gut. Jedenfalls bin ich seinem Rat gefolgt und habe das Testament, auf den Bogen eines Abreißblocks geschrieben, an den alten Whitfield geschickt. Mir fehlte die Zeit, es ihm zu geben. Doch da ich früher einmal gehört hatte, daß ein Mann seinen Letzten Willen in die drei Worte zusammenfaßte: »Alles an Mutter« und daß es trotz der Kürze rechtskräftig gewesen sei,

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nahm ich ihn mir als Beispiel, wobei ich als gescheiter Bursche nicht vergaß, daß Du in Wirklichkeit Magdala getauft wurdest. Ein paar Freunde mußten die Zeugen abgeben.

Nicht wahr, Liebling, Du nimmst Dir dies feierliche Gerede über Testamente nicht zu Herzen? Es bedeutet nicht, daß mir etwas zustoßen könnte. Ich werde im Gegenteil so gesund sein wie ein Fisch im Wasser. Von Indien, Australien usw. erhältst Du Telegramme. Und nun Mut, mein Kleines. Es wird alles gut werden. Glaubst Du mir? Gute Nacht, und Gott segne Dich.

Michael

Sorgfältig legte Poirot die Briefe wieder aufeinander. »Nun. sehen Sie ein, Hastings, daß ich sie lesen mußte, um sicherzugehen? Und es verhält sich so, wie ich Ihnen sagte.«

»Sicherlich hätten Sie das auch auf einem anderen Wege herausfinden können!«

»Nein, mon cher, das konnte ich nicht. Wir haben jetzt nämlich sehr wertvolles Beweismaterial in die Hand bekommen.«

»Wieso?« »Weil wir Gewißheit erhielten, daß die Tatsache von Michael

Setons Testament, das die Mademoiselle Nick als Erbin einsetzte, schwarz auf weiß niedergeschrieben wurde. Mithin hat es jeder erfahren, der diese Briefe las. Und so oberflächlich versteckte Briefe wie diese hier konnte ungefähr jeder lesen.«

»Ellen?« »Ellen mit neunzigprozentiger Sicherheit, möchte ich

behaupten. Wir wollen, bevor wir gehen, einen kleinen Versuch mit ihr anstellen ... Wo aber, zum Teufel, steckt Mademoiselles Letzter Wille? Vielleicht verstaubt er auf der Höhe eines Bücherschrankes oder im Bauche einer chinesischen Vase. Es hilft nichts - wir müssen Nicks Gedächtnis aufmuntern.«

Die Wirtschafterin wischte in der Halle Staub, als wir die Treppe hinabgingen, und Poirot führte sie hinterlistig durch ein

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paar freundliche Worte irre, ehe er, als sei es eine Belanglosigkeit, hinwarf: »Sie wissen vermutlich, daß Miss Buckley mit dem Flieger Michael Seton verlobt war?«

Ellen blickte ihn fassungslos an. »Was? ... Mit dem berühmten Flieger, über den alle Zeitungen seitenlang schreiben?«

»Ja.« »Gott bewahre! Keine Ahnung hatte ich. Verlobt mit Miss

Nick!«

»Vollkommene Überraschung einwandfrei festgestellt!« bemerkte ich, als wir uns draußen im Garten befanden.

»Ja, es klang wirklich echt.« »Vielleicht war es echt.« »So? Und jenes Briefpäckchen, das sich seit Monaten an die

Seidenwäsche schmiegt? Nein, mon ami.« Alles schön und gut, dachte ich, hütete mich aber

wohlweislich, meinen Gedanken Worte zu verleihen : wir heißen doch nicht alle Hercule Poirot; wir stecken doch nicht alle unsere Nase in Dinge, die uns nichts angehen.

»Hm ... hm ... diese Ellen ist ein Rätsel«, knurrte neben mir mein Freund. »Irgend etwas gefällt mir da nicht. Nein, noch immer sehe ich nicht ganz klar.«

14

Wir gingen geradewegs zum Sanatorium zurück. Nick blickte ziemlich erstaunt drein, als wir abermals über die Schwelle traten.

»Ja, Mademoiselle«, beantwortete Poirot ihre stumme Frage, »ich bin wie der Kasperle in der Schachtel - immer hopse ich wieder hervor. Darf ich Sie nun zuerst einmal davon in Kenntnis setzen, daß ich bei Ihnen Ordnung geschaffen habe. Alles ist jetzt hübsch aufgeräumt.«

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»Wahrscheinlich war es allerhöchste Zeit«, sagte Nick, unwillkürlich lächelnd. »Sind Sie sehr ordentlich?«

»Fragen Sie meinen Freund Hastings.« Das Mädchen warf mir einen Auskunft heischenden Blick zu,

und ich schilderte einige von Poirots kleinen Eigentümlichkeiten: Toastscheiben, die nur von einem viereckigen Brotlaib stammen durften; Eier, die in der Größe genau zueinander passen mußten; seine Abneigung gegen das Golfspiel als ein so sehr dem Zufall ausgeliefertes Spiel, dessen einzig versöhnender Zug die niedlichen Erdhaufen für die Bälle seien. Und zum Schluß erzählte ich ihr den berühmten Fall, den Poirot durch seine Gewohnheit, die Nippsachen auf dem Kaminsims in schnurgerader Linie aufzubauen, gelöst hatte.

Poirot lächelte mir zu. »Er drechselt eine nette Geschichte daraus«, meinte er, als ich

schwieg. »Aber im großen und ganzen ist sie wahr. Denken Sie, Mademoiselle, daß ich Hastings unaufhörlich zusetze, er soll sein Haar in der Mitte scheiteln und nicht an der Seite. Sehen Sie doch, welch schiefes Aussehen es ihm gibt.«

»Dann entspreche ich Ihrem Geschmack ja auch nicht, Mr. Poirot«, sagte Nick, »während Ihnen Freddie mit ihrem Scheitel in der Mitte sehr gefallen muß.«

»Aha, daher hat er neulich so sehr ihr Loblied gesungen«, warf ich spöttisch ein. »Jetzt weiß ich den Grund.«

»Genug!« entschied Hercule Poirot. »Mich führte eine ernste Angelegenheit hierher. Ich finde Ihr Testament nicht, Mademoiselle.«

»Oh!« Sie runzelte die Stirn. »Aber hängt denn soviel davon ab? Schließlich bin ich nicht tot. Und Testamente erhalten ihren wirklichen Wert erst nach erfolgtem Ableben, nicht wahr?«

»Das ist richtig. Nichtsdestoweniger aber interessiert mich Ihr Letzter Wille. Denken Sie bitte nach. Versuchen Sie sich zu erinnern, wo Sie ihn hinlegten, wo Sie ihn zuletzt sahen.«

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»Vermutlich legte ich ihn überhaupt an keinen besonderen Platz, Mr. Poirot. Bei mir ist es immer eine Sache des Zufalls, wo ein Papier hingerät.«

»Haben Sie ihn vielleicht in das Geheimfach gelegt?« »Geheim ... was?« »Ihre Ellen behauptet, daß im Wohnzimmer oder in der

Bibliothek sich hinter der Täfelung eine geheime Nische befände.«

»Unsinn! Ich habe niemals von derartigem gehört. Ellen hat das gesagt?«

»Mais oui. Es scheint, daß sie als junges Mädchen bei Ihrem Großvater in Stellung war und es damals von der Köchin erfuhr.«

»Mein Gott, wenn es sich tatsächlich so verhielte, hätte Großvater mich doch in das Geheimnis eingeweiht! Mr. Poirot, sind Sie sicher, daß Ellen nicht geflunkert hat?«

»Ich bin durchaus nicht sicher, Mademoiselle. Ihre Ellen kommt mir nicht geheuer vor.«

»O nein, solch ein Urteil verdient sie nicht. William ist ein Einfaltspinsel und der Junge ein kleines Scheusal, doch Ellen ist der Inbegriff der Rechtschaffenheit.«

»Haben Sie ihr gestern abend erlaubt, sich das Feuerwerk anzusehen, Mademoiselle?«

»Natürlich. Sie sehen es sich ja immer an und waschen dann hinterher das Geschirr ab.«

»Und trotzdem ging sie nicht hinaus in den Garten.« »Aber, Mr. Poirot, sie war ja draußen!« »Woher wissen Sie das, Mademoiselle?« »Mein Gott, ich nehme es an, weil sie sich, als ich ihr die

Erlaubnis gab, bedankte. Da wird sie doch wohl auch gegangen sein.«

»Im Gegenteil - sie blieb im Haus.«

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»Aber ... das ist mehr als eigenartig. Und welchen Grund gibt sie für diese plötzliche Marotte an?«

»Den wahren nannte sie mir sicher nicht, Mademoiselle.« Nick blickte fragend zu meinem Freund empor. »Ist es ...

wichtig?« »Das vermag ich vorläufig nicht zu entscheiden. Eigenartig ist

es auf jeden Fall.« »Und ihre Aussage über die geheime Nische nicht minder«,

überlegte Nick. »Ich kann mir nicht helfen, Mr. Poirot: Es klingt höchst verwunderlich und wenig überzeugend. Hat sie Ihnen die Stelle gezeigt?«

»Sie sagt, sie könne sich nicht mehr erinnern.« »Wie? ... Ach, ich glaube, die gute Ellen hat sich damit

wichtig machen wollen!« »Geschichten erzählt sie unbedingt. Sie vertraute uns auch an,

daß in der Luft des Endhauses nicht gut zu leben sei.« Nick Buckley zog fröstelnd die Schultern zusammen. »Darin

hat sie vielleicht nicht unrecht«, meinte sie leise. »Ich habe selbst bisweilen dieses Gefühl gehabt. Die alten Mauern ...« Ihre Augen wurden groß und dunkel und bekamen einen verstörten Blick, so daß Poirot sich beeilte, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. »Wir sind abgeschweift, Mademoiselle. Das Testament! Wo ist das Testament von Magdala Buckley?«

»Magdala Buckley ... so habe ich es auch unterzeichnet«, sagte Nick mit kindlichem Stolz. »Und dann verfügte ich, wie ich mich entsinne, daß alle Schulden und durch mein Ableben entstehenden Ausgaben bezahlt werden sollten. Ganz ähnlich hatte ich es einmal in einem Roman gelesen.«

»Also bedienten Sie sich keines Testamentsformulars?« »Nein. Das ging ja alles Hals über Kopf. Ich verfaßte es, kurz

bevor ich in die Klinik fahren wollte, und Mr. Croft riet mir, meinen Verfügungen eine möglichst einfache Fassung zu geben. Testamentsformulare zu gebrauchen sei für Laien sehr gefährlich.«

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»Mr. Croft? War er denn dabei?« »Gewiß. Von ihm ging die Anregung, einen Letzten Willen

aufzusetzen, ja überhaupt aus; ich selbst hätte daran nie gedacht. Er sagte, wenn ich ohne Testament stürbe, heimste der Staat einen fetten Bissen ein, und das sei schade.«

»Ein sehr trefflicher Herr, dieser vortreffliche Mr. Croft!« »Das ist er wirklich«, bekräftigte Nick mit Wärme. »Er rief

auch Ellen und ihren Mann als Zeugen hinzu. Oh, natürlich! Was für ein Dummkopf bin ich doch gewesen ...!«

Poirot und ich schauten uns verdutzt an. »Ein Riesendummkopf sogar! ... Da lasse ich Sie das Endhaus

von unten bis oben durchstöbern, und dabei hat Charles das kostbare Schriftstück in Verwahrung! Mein Vetter Charles Vyse!«

»Ah, das ist die Erklärung!« »Mr. Croft sagte, ein Rechtsanwalt wäre der geeignete Hüter

für ein Testament.« »Fabelhafte Ratschläge von Seiten des guten Mr. Croft!« »Männer sind bisweilen ganz nützlich«, versicherte unser

Schützling. »Ein Rechtsanwalt oder die Bank - war sein Rat, worauf ich mich für Charles entschied. Deshalb steckten wir es in einen Umschlag und sandten es sofort an ihn ab.« Mit einem tiefen Seufzer legte sich Nick in ihre Kissen zurück. »Es tut mir aufrichtig leid, daß ich mich so dumm angestellt habe, Mr. Poirot. Doch nun ist ja alles in Ordnung. Wenn Sie das Testament mit eigenen Augen ansehen wollen, wird Charles es Ihnen natürlich zeigen.«

»Nicht ohne eine Anweisung von Ihnen, mein Kind«, berichtigte mein Freund lächelnd.

»Wie albern!« »Nein, Mademoiselle, nur vorsichtig.«

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»Nun, ich finde es albern.« Sie nahm ein Stück Papier von einem kleinen Stoß, der auf ihrem Nachttisch lag. »Was soll ich schreiben?«

Poirot diktierte einige Sätze, die Nick gehorsam nachschrieb. »Haben Sie besten Dank, Mademoiselle«, sagte er, als er das

Papier in Empfang nahm. »Nicht wahr, Sie sind nicht böse, weil ich Ihnen so viel Mühe

mache? Aber ich hatte es wirklich vergessen.« »Mit Ordnung und System im Gehirn vergißt man nichts.« »Dann werde ich mal irgendwo in die Lehre gehen müssen«,

sagte Nick ganz zerknirscht. »Ich kriege einen richtigen Minderwertigkeitskomplex, Mr. Poirot.«

»Das ist unmöglich, Mademoiselle. Au revoir!« Er ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen. »Schöne Blumen hat man Ihnen gesandt.«

»Nicht wahr? Die Nelken sind von Freddie, die Rosen von George, die Lilien von Jim Lazarus. Und sehen Sie hier ...« Mit raschem Griff entfernte sie die Hülle von einem großen Korb Trauben, die im Gewächshaus gereift waren.

Ich gewahrte, wie sich Poirots Gesicht jäh veränderte. Hastig trat er wieder ans Bett heran. »Mademoiselle, Sie haben doch noch nicht von ihnen gekostet?«

»Nein, noch nicht.« »Gott sei Dank! Sie dürfen nichts essen, was von draußen

kommt, Mademoiselle. Nichts! Verstehen Sie?« »Oh!« Langsam wich die Farbe aus ihren Wangen. »Meinen

Sie ... es ist... noch nicht vorüber? Meinen Sie, man versucht es noch immer?« wisperte sie.

Beruhigend strich er über ihre Hand. »Denken Sie nicht daran. Hier sind Sie sicher. Aber beachten Sie das eine: nichts, was von draußen hereinkommt!«

Noch unten auf der Straße sah ich das weiße, erschreckte Gesicht mit dem dunklen Lockengewirr vor mir ...

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Poirot blickte auf die Uhr. »Bon. Wir können gerade noch Mr. Vyse in seinem Büro abfangen, ehe er zum Lunch geht.«

Der junge Rechtsanwalt empfing uns sofort, genauso förmlich, genauso steif und unnahbar wie früher. »Guten Morgen, Mr. Poirot. Womit kann ich Ihnen dienen?«

Ohne weitere Einleitung gab ihm mein Freund Nicks Zeilen. Mr. Vyse las sie und starrte uns dann über den Rand des Blattes hinweg fassungslos an.

»Verzeihung, meine Herren. Ich muß gestehen, daß mir der Sinn dieses Schreibens unverständlich ist.«

»Wieso, Mr. Vyse? Hat Mademoiselle Buckley ihren Wunsch nicht klar ausgedrückt?«

»In diesem Brief«, erwiderte Charles Vyse, indem er mit dem Fingernagel auf das Papier tippte, »fordert sie mich auf, Ihnen ein Testament auszuhändigen, das sie im vergangenen Februar gemacht und mir anvertraut hätte.«

»Ja, Monsieur.« »Aber, mein lieber Mr. Poirot, mir ist kein Testament

anvertraut worden!« »Wie bitte?« »Soweit mir bekannt ist, hat meine Kusine nie ein Testament

gemacht; bestimmt habe ich keins für sie aufgesetzt.« »Das letztere ist richtig, Mr. Vyse - Mademoiselle Buckley

schrieb es mit eigener Hand und schickte es Ihnen zu.« »Dann kann ich nur sagen, daß ich es nie erhalten habe«,

erklärte der junge Rechtsanwalt kopfschüttelnd. Es trat eine Pause ein. Poirot sah nachdenklich zu Boden, und

ich glaubte, nie unbehaglichere Minuten durchlebt zu haben. Endlich erhob sich mein Freund. »In diesem Fall erübrigt sich eine weitere Unterhaltung, Mr. Vyse. Es muß irgendein Irrtum vorliegen.«

»Unbedingt.« Auch der Anwalt stand auf. »Guten Tag, Mr. Vyse.«

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»Guten Tag, Mr. Poirot.«

Wie meistens war ich der erste, der unten auf der Straße das Schweigen brach. »Lügt er, Poirot?«

»Das weiß ich ebensowenig wie Sie, mein Bester. Doch auf das eine dürfen Sie sich verlassen: daß er auf dem einmal eingenommenen Standpunkt verharren wird, er habe niemals ein Testament erhalten!«

»Sicherlich wird Nick eine schriftliche Empfangsbestätigung haben.«

»Der kleine Sausewind? ... Nein, mit so langweiligen Dingen beschwert sie sich nicht! Nick schickte das Testament ab - und damit basta! Überdies stand ihr die Blinddarmoperation bevor, die sie fraglos mehr beschäftigte als eine Quittung.«

»Und was werden wir jetzt beginnen?« »Parbleu! Wir suchen Mr. Croft auf, um zu erfahren, wieweit

er sich noch an die Angelegenheit erinnert, die er eigentlich eingebrockt hat.«

»Ohne daß er irgendwelchen Nutzen daraus zog«, ergänzte ich. »Das ist wahr. Er ist offenbar so ein Allerweltshelfer - der

Mann, dem es innerliche Genugtuung bereitet, wenn er die Angelegenheiten seiner Nachbarn regeln kann. Und obgleich sie es herzlich gut meinen, bringen diese Alleswisser viel Ärger in unsere schöne Welt.«

Wir fanden den Biederen, wie er in Hemdsärmeln mit einem dampfenden Topf in der Küche hantierte. Ein leckerer Duft erfüllte die kleine Wohnung, aber Mr. Croft ließ seine Kocherei anscheinend gern im Stich, da es ihn gelüstete, mit uns über den Mord zu reden.

»Im Nu stehe ich Ihnen zur Verfügung«, sagte er. »Gehen Sie voran nach oben, denn Mutter würde es uns nie verzeihen, wenn wir hier unten blieben. - Milly! Zwei Freunde kommen 'rauf!«

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Mrs. Croft begrüßte uns mit gewohnter Herzlichkeit und erkundigte sich sofort besorgt nach Nicks Befinden. Mir gefiel die warmherzige Kranke viel besser als ihr Gatte.

»Das arme junge Ding!« rief sie mitleidig. »In einem Sanatorium? Ein Nervenzusammenbruch, sagen Sie? Mein Gott, das ist ja kein Wunder nach diesem grauenvollen Mord. Man mag gar nicht daran denken, daß ein unschuldiges Mädchen sein Leben lassen mußte! Und nicht etwa in einem gesetzlosen, wilden Land, sondern mitten im Herzen unseres gesitteten Englands. Furchtbar, furchtbar! Die ganze Nacht schloß ich kein Auge.«

»Mich packt jetzt noch das Grauen, wenn ich mir vorstelle, wie du gestern abend hier mutterseelenallein gelegen hast, Millychen«, ließ sich Mr. Croft vernehmen, der seine Jacke angezogen hatte und gleichfalls nach oben gekommen war.

»Ha, du wirst mich nicht wieder allein lassen, wenigstens nicht nach Einbruch der Dämmerung. Überhaupt möchte ich gern so schnell wie möglich aus dieser Gegend fort. Ich kann auch nicht glauben, daß die arme Nick Buckley sich dazu überwindet, je wieder in diesem Unglückshaus zu schlafen.«

Es war nicht so leicht, den Zweck unseres Besuches zu erreichen. Mr. und Mrs. Croft redeten beide so viel, hatten Frage auf Frage zu stellen. Wann würde das Begräbnis stattfinden? Wo würde die Leichenschau sein? Welche Ansicht hatte sich die Polizei über das Verbrechen gebildet? War man schon jemandem auf der Spur? Beruhte das Gerücht auf Wahrheit, daß ein verdächtiger Mann in Plymouth verhaftet worden war?

Und als wir ihnen diese Fragen nach Kräften beantwortet hatten, bestanden sie darauf, daß wir zum Lunch ihre Gäste sein müßten. Nur Poirots lügenhafte Behauptung, daß wir bereits mit dem Polizeiinspektor verabredet wären, rettete uns.

Endlich gab eine kurze Pause Poirot Gelegenheit, die Frage zu stellen, die ihm schon lange auf der Zunge brannte.

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»Freilich, freilich«, entgegnete Mr. Croft, während er zerstreut einen Knoten in die Schnur des Sonnenrollos knüpfte und wieder löste, »ich erinnere mich noch gut. Es muß kurz nach unserer Ankunft gewesen sein. Blinddarmentzündung lautete die Diagnose ...«

»... und wahrscheinlich wird es gar keine Blinddarmentzündung gewesen sein«, unterbrach ihn Mrs. Croft. »Diese Doktoren sind gleich mit dem Schneiden bei der Hand, auch wenn es nicht nötig ist. Das arme kleine Ding hatte eine Verdauungsstörung, und schon wurde eine Röntgenaufnahme gemacht - und am nächsten Tage - hopps! auf den Operationstisch.«

»Mehr aus Scherz, um sie von trüben Gedanken abzubringen, fragte ich, ob sie ein Testament aufgesetzt habe«, ergänzte Mr. Croft. »Na ja, und da entschloß sie sich, schnell noch einige Verfügungen zu treffen - möglichst einfach und ohne juristisches Beiwerk, wie ich ihr riet. Miss Buckleys Vetter ist ja Rechtsanwalt, und er konnte ihr ja hinterher, wenn sie aus der Klinik zurückkehrte - was ich nicht eine Sekunde bezweifelte -, bei der Abfassung eines neuen Testaments zur Seite stehen. Dies andere war nur eine Vorbeugungsmaßregel.«

»Und wer waren die Zeugen?« »Ellen, die Wirtschafterin, und ihr Mann.« »Und nachher? Was geschah dann mit dem Dokument?« »Wir schickten es an Mr. Vyse.« »Wissen Sie, daß es abgeschickt wurde, Mr. Croft?« »Mein verehrter Mr. Poirot, ich habe den Brief eigenhändig in

den Kasten neben dem Tor gesteckt.« »Wenn also Mr. Vyse erklärt, es nie erhalten zu haben ...« Jäh ließ Mr. Croft die Rolloschnur fallen. »Wollen Sie

andeuten, daß es auf der Post verlorenging? Das ist doch einfach unmöglich.«

»Sind Sie sicher, daß Sie den Brief einwarfen?«

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»Vollkommen sicher!« beteuerte Mr. Croft, ohne zu zögern. »Das will ich jeden Tag mit meinem Eid erhärten.«

»Nun, glücklicherweise ist es nicht so wichtig, da Mademoiselles Befinden zu ernstlichen Besorgnissen keinen Anlaß gibt«, meinte Poirot.

Als wir außer Hörweite waren und zum Hotel hinabschritten, rief er: »Wer ist der Lügner? Mr. Croft? Oder Mr. Charles Vyse? Ich gestehe, daß ich keinen Grund sehe, weshalb Mr. Croft lügen sollte. Das Testament zu unterschlagen, das auf seine Anregung hin erst gemacht wurde, brachte ihm keinerlei Vorteil. Nein, seine Aussage, die sich zudem mit Nicks Erzählung deckt, ist glaubwürdig. Aber desungeachtet ...«

»Nun?« »Desungeachtet bin ich froh, daß sich Mr. Croft bei unserer

Ankunft der Kochkunst widmete und einen vortrefflichen Abdruck seines fettigen Daumens und Zeigefingers auf dem Zeitungspapier, das den Küchentisch bedeckte, hinterließ. Es glückte mir, die Ecke unbemerkt abzureißen. Und nun werden wir sie unserem guten Freund Inspektor Japp von Scotland Yard senden. Denn sehen Sie, Hastings, ich werde das Gefühl nicht los, daß unser freundlicher Mr. Croft ein bißchen zu gut ist, um echt zu sein. - Doch jetzt auf zum Déjeuner! Ich falle beinahe in Ohnmacht vor Hunger.«

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Poirots Schwindelei hinsichtlich der Verabredung mit dem Polizeiinspektor erwies sich als weniger lügenhaft, als wir ursprünglich ahnten, da uns kurz nach dem Lunch der Chef selbst, Oberst Weston, einen Besuch abstattete. Er war ein großer, stattlicher Mann mit militärischer Haltung und brachte Poirots Leistungen, die ihm wohlbekannt zu sein schienen, den gebührenden Respekt entgegen. »Ein großes Glück, daß wir Sie hier haben, Mr. Poirot!« versicherte er immer wieder.

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Offensichtlich fürchtete er nichts so sehr, als daß er gezwungen sein könnte, die Mitwirkung Scotland Yards zu beantragen. Ohne Londoner Hilfe wünschte er das Geheimnis von Maggie Buckleys Ermordung zu lösen und den Verbrecher zu fangen, und daher pries er die gütige Vorsehung, die Hercule Poirot nach St. Loo geschickt hatte. Poirot zog ihn, soweit ich zu urteilen vermochte, vollständig ins Vertrauen.

»Eine verteufelte Angelegenheit!« fluchte der Oberst. »Gewiß, das Mädel befindet sich im Sanatorium in Sicherheit, aber man kann es doch nicht zeitlebens zwischen Kranken einsperren.«

»Das ist eben der heikle Umstand, verehrter Herr Oberst, dessen wir nur dadurch Herr werden, daß wir den Schuldigen hinter Schloß und Riegel setzen.«

»Wenn Ihre Vermutungen auf Wahrheit beruhen, dürfte das nicht so leicht sein.«

»Ah, je la sais bien.« »Beweismaterial! Wo, zum Teufel, bekommen wir

Beweismaterial her? ... Ah, diese Fälle, die nicht schablonenmäßige Arbeit sind, machen immer am meisten zu schaffen! Wenn wir der Pistole habhaft würden ...«

»Die liegt voraussichtlich tief auf dem Grund des Meeres - wenigstens, wenn der Mörder seine gesunden fünf Sinne beieinander hat.«

»Ja, aber oft haben diese Burschen das nicht!« sagte Oberst Weston. »Ich bin manchmal wirklich erstaunt, welche Torheiten sie begehen. Von Mördern spreche ich allerdings nicht - solche Verbrechen gehören hier bei uns gottlob zu den Seltenheiten -, sondern von den anderen Übeltätern. Was man bei diesen aber an läppischen Dummheiten erlebt, ist überraschend.«

»Man darf sie jedoch nicht alle gleich bewerten.« »Wohl richtig. Wenn Mr. Vyse der Schurke ist, werden wir

einen schweren Stand haben. Er ist ein vorsichtiger Mensch und ein gewitzter Anwalt, der sich nicht selbst verrät. Bei der Frau bestände mehr Hoffnung - zehn zu eins kann man da wetten, daß

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sie es wieder versucht, denn Frauen fehlt die Geduld.« Er erhob sich. »Die amtliche Leichenschau ist für morgen früh anberaumt, und ich werde dafür Sorge tragen, daß man dabei möglichst kurz verfährt. Es ist für unsere Zwecke besser, wenn die Dinge vorläufig noch in Dunkel gehüllt bleiben ... Donnerwetter, jetzt hätte ich beinahe vergessen, weshalb ich überhaupt zu Ihnen kam!«

Von neuem nahm er Platz, zog aus seiner Tasche einen zerknitterten Papierfetzen und gab ihn meinem Freund. »Als meine Leute heute bei Morgengrauen den Garten absuchten, ist ihnen dies in die Hände gefallen. Es hat unweit der Stelle gelegen, von wo Sie das Feuerwerk beobachteten, und ist leider die Gesamtausbeute. Was halten Sie davon, Mr. Poirot?«

Mein pedantischer Freund versuchte, das Papier durch Streichen zu glätten, ehe er die Worte, die mit großen, fahrigen Buchstaben darauf geschrieben waren, las.

»... muß umgehend Geld haben. Wenn Du nicht ... was geschehen wird. Ich warne Dich.« Poirot zog die Brauen zusammen. Ein zweites und ein drittes Mal las er die wenigen Sätze. »Das ist interessant«, sagte er dann. »Darf ich es behalten?«

»Selbstverständlich. Fingerabdrücke sind übrigens nicht darauf. Wenn es Ihnen sonst irgendwie von Nutzen sein könnte, würde ich mich freuen.« Jetzt erhob sich Oberst Weston endgültig. »Wie gesagt: morgen Leichenschau. Sie, Mr. Poirot, werden nicht als Zeuge aufgerufen werden - nur Hauptmann Hastings. Warum soll man den neuigkeitslüsternen Reportern auf die Nase binden, daß Sie Ihre Hand mit im Spiel haben?«

»Ich verstehe. Und die Angehörigen der armen Miss Maggie Buckley?«

»Der Vater und die Mutter werden heute aus Yorkshire erwartet, gegen halb sechs. Bedauernswerte Eltern! Wie ich hörte, wollen sie am folgenden Tag den Leichnam ihres Kindes mit in die Heimat zurücknehmen.« Er schüttelte den Kopf. »Eine

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verteufelt unangenehme Sache. Ich würde gern darauf verzichten, Mr. Poirot.«

»Wer möchte das nicht, Herr Oberst? ...« Als Weston gegangen war, widmete sich Poirot von neuem

dem Papierfetzen. »Ein wichtiger Fingerzeig?« erkundigte ich mich. »Bin ich allwissend, mon ami? Es klingt ein bißchen nach

Erpressung. Von irgendeinem der Gäste fordert man in ziemlich unliebenswürdiger Form Geld, aber es ist möglich, daß der Empfänger des Briefes nicht zu Mademoiselle Nicks engem Freundeskreis gehört.«

Jetzt betrachtete er die Schriftzüge durch ein Vergrößerungsglas. »Kommt Ihnen die Schrift vertraut vor, Hastings?«

»Ein wenig erinnert sie mich an ... an ... Ja, an was? Ah, an den Brief Frederica Rices.«

»Ähnlichkeit ist zweifellos vorhanden«, meinte Poirot langsam. »Und dennoch glaube ich nicht, daß dieses hier die Schrift der blonden Madonna ist - herein!« rief er, da es klopfte.

Es war Kapitän Challenger. »Nur einen Augenblick will ich Sie stören!« entschuldigte er sich. »Möchte gern wissen, ob Sie vorwärtsgekommen sind.«

»Parbleu!« sagte Poirot verärgert. »Gegenwärtig habe ich das Gefühl, daß ich bedeutend weiter zurück bin. Ich scheine durch Zurückweichen Fortschritte zu machen.«

»Das ist freilich böse. Aber ich glaube es Ihnen nicht, Mr. Poirot. Nach dem, was ich inzwischen gehört habe, hatten Sie noch nie einen Fehlschlag zu verzeichnen.«

»Das ist nicht wahr«, widersprach mein Freund. »Vor vielen Jahren erlitt ich in Belgien eine arge Schlappe. Erinnern Sie sich, Hastings? Ich erzählte es Ihnen - die Affäre mit der Schokoladenschachtel.«

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»Ich erinnere mich.« Und ich lächelte, denn zu der Zeit, als mir Poirot jene Geschichte erzählte, hatte er mir die Anweisung erteilt, >Schokoladenschachtel< zu ihm zu sagen, sobald er nach meiner Meinung eitel und eingebildet würde! Und er war dann bitter beleidigt, wenn ich das Zauberwort nur anderthalb Minuten später gebrauchte.

»Oh«, wehrte Challenger ab, »das liegt so viele Jahre zurück, daß es nicht mehr zählt. Aber dieser Sache hier werden Sie auf den Grund gehen, nicht wahr?«

»Ja, das schwöre ich. Beim Worte Hercule Poirots. Ich bin der Jagdhund, der von der Fährte nicht abirrt.«

»Famos! Haben Sie sich schon eine Meinung gebildet?« »Mein Argwohn richtet sich auf zwei Personen.« »Ich vermute, daß ich nicht fragen darf, wer sie sind?« »Ich würde es Ihnen jedenfalls nicht sagen, da ich mich

möglicherweise irre.« »Mein Alibi ist hoffentlich zufriedenstellend«, meinte

Challenger mit einem kleinen Blinzeln. Poirot lächelte den sonnengebräunten Seeoffizier nachsichtig

an. »Kapitän, Sie verließen Devonport wenige Minuten vor halb neun, kamen hier fünf Minuten nach zehn an - zwanzig Minuten nach Ausführung des Verbrechens. Da aber die Entfernung von Devonport wenig mehr als dreißig Meilen beträgt und Sie diese infolge der ausgezeichneten Wegbeschaffenheit oft in einer Stunde zurückgelegt haben, ist Ihr Alibi durchaus nicht gut!«

»Ja ... ich ...« »Sie verstehen, Kapitän, ich untersuche alles und jedes. Und

Ihr Alibi ist, wie gesagt, nicht gut. Aber es gibt noch andere Dinge außer Alibis. Ich glaube, Sie würden sehr gern Mademoiselle Nick heiraten, nicht?«

Die sonnengebräunten Wangen färbten sich dunkler. »Es war von jeher mein Wunsch, sie zu heiraten.«

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»Eh bien - Mademoiselle Nick war mit einem anderen Mann verlobt. Ein Grund vielleicht, den anderen zu töten. Jedoch hätte sich dies erübrigt, denn er starb als ein weltberühmter Held.«

»So ist es wahr, daß Nick sich mit Michael Seton verlobt hatte? Seit heute morgen macht dieses Gerücht die Runde.«

»Ja, nichts verbreitet sich so rasch wie eine Neuigkeit. Haben Sie es nie vorher vermutet?«

»Ich wußte, daß Nick jemandem ihr Jawort gegeben hatte, da sie es mir vor zwei Tagen persönlich sagte. Aber sie erwähnte nicht, wer der Glückliche sei.«

»Es war Michael Seton, der - unter uns gesagt - ihr ein sehr hübsches Sümmchen Geld hinterlassen hat. Ah, gewiß ist jetzt nicht der richtige Augenblick, um Mademoiselle Nick zu töten. Sie weint zwar um den toten Liebsten, aber das Herz tröstet sich. Sie ist jung. Und ich denke, Monsieur, daß sie viel von Ihnen hält ...«

Challenger atmete tief auf. »Wenn das wahr wäre ...« murmelte er.

Wieder pochte es an die Tür, und Mrs. Rice trat ein. »Ich bin auf der Suche nach Ihnen, George«, wandte sie sich an den Kapitän, »und die Kellner sagten mir, daß Sie Mr. Poirot aufgesucht hätten. Wie steht es mit meiner Armbanduhr? Ist sie fertig?«

»Ja, ich habe sie heute morgen abgeholt.« Er kramte eine Uhr von ungewöhnlicher Form aus seiner

Tasche hervor - rund wie eine Kugel und an einem schlichten, schwarzen Moireband befestigt. Ich entsann mich, daß ich eine ganz ähnliche an Nicks Handgelenk gesehen hatte.

»Ich hoffe, sie wird jetzt genau gehen!« »Ach, man hat schon seinen Ärger mit ihr! Irgend etwas fehlt

ihr immer.« »Vermutlich ist sie mehr für die Schönheit und weniger für die

Zweckmäßigkeit berechnet«, warf Poirot ein.

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»Kann man nicht beides vereint haben?« Frederica blickte von einem zum anderen. »Bin ich etwa als Störenfried in eine Konferenz eingedrungen?«

»Durchaus nicht, Madame. Wir sprachen über Gerüchte - nicht über das Verbrechen. Wir sagten, wie unglaubhaft schnell sich Nachrichten verbreiten - wie jetzt schon jedermann weiß, daß Nick die Braut des tapferen Fliegers war, den die Wogen des Ozeans decken.«

»Nick mit Michael Seton verlobt?« »Überrascht Sie das so sehr, Madame?« »Ein wenig jedenfalls. Und dabei weiß ich eigentlich nicht,

warum, denn vergangenen Herbst machte er ihr bestimmt den Hof. Doch nach Weihnachten schien mir bei beiden eine Abkühlung eingetreten zu sein. Soviel ich weiß, sahen sie sich kaum noch.«

»Ja, sie verstanden ihr Geheimnis gut zu hüten.« »Vermutlich mit Rücksicht auf den alten Sir Matthew, diesen

verrückten Kauz.« »Und auch Sie ahnten nichts, Madame? Obwohl Sie Miss

Nicks beste Freundin sind?« »Nick kann, wenn es ihr in den Kram paßt, ein verschlossener

kleiner Teufel sein«, murmelte Frederica. »Doch jetzt begreife ich, weshalb bei ihr in letzter Zeit solch eine unnatürliche Nervosität zutage trat. Und außerdem hätten mir einige Worte, die sie erst gestern fallen ließ, die Augen öffnen müssen!«

»Ihre kleine Freundin ist sehr anziehend, Madame.« »Ja, das schien vor einer gewissen Zeit der gute Jim Lazarus

auch zu finden«, bemerkte Challenger mit lautem, ziemlich taktlosem Lachen.

»Oh, Jim ...« Mrs. Rice zuckte die Achseln, doch mir machte es den Eindruck, als sei sie verärgert.

Jetzt drehte sie ihren blonden Kopf Poirot zu. »Mr. Poirot, haben Sie ...« Mitten im Satz brach sie ab. Die schlanke Gestalt

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schwankte, das Gesicht wurde noch weißer. Und die Augen hingen wie festgebannt an der Mitte des Tisches.

»Fühlen Sie sich nicht wohl, Madame?« Ich schob ihr rasch einen Stuhl hin und half ihr beim

Niedersetzen. »Danke, mir geht's schon wieder gut«, flüsterte sie, obwohl sie

das Gesicht in den Händen barg. Wir drei Männer beobachteten sie besorgt.

»Wie dumm!« fuhr sie nach einem Weilchen auf. »George, mein Bester, gucken Sie nicht so betrübt. Sprechen wir über Mörder und ihre Taten, über irgend etwas Aufregendes! Ich bin neugierig, ob Mr. Poirot schon eine bestimmte Fährte verfolgt.«

»Es ist zu früh, um sich hierüber zu äußern«, fertigte Poirot sie kühl ab.

»Aber Sie haben bereits eine bestimmte Vorstellung, wie?« »Vielleicht. Indessen benötige ich viel mehr Beweise.« »Oh!« Es klang unsicher. Und mit einem Ruck erhob sie sich.

»Ich habe Kopfschmerzen bekommen und will mich lieber niederlegen. Möglicherweise wird man mir morgen gestatten, Nick zu sehen.«

Challenger blickte ihr mürrisch nach. »Nie weiß man, wie man mit dieser Frau dran ist!« knurrte er,

als die zerbrechliche Gestalt verschwunden war. »Nick mag ihr sehr zugetan sein, doch bezweifle ich, ob sie Nick zugetan ist. Aber auch darin kann man bei Frauen nie klarsehen. >Liebling, Liebling<, heißt es immerfort, während ein >Hol dich der Teufel< den wahren Gefühlen viel besser Rechnung trüge ... Gehen Sie aus, Mr. Poirot?«

Mein Freund hatte sich nämlich erhoben und bürstete sorgfältig ein Fleckchen von seinem Hut.

»Ja, ich gehe in die Stadt.« »Ich habe nichts Besonderes vor. Darf ich Sie begleiten?« »Es wird mir ein Vergnügen sein.«

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Zu dritt verließen wir das Zimmer. Doch gleich darauf machte Poirot mit einer unverständlichen Entschuldigung kehrt.

»Mein Stock«, erklärte er, als er uns wieder einholte. Challenger zuckte ein wenig zusammen. Und in der Tat war dieser Stock mit der goldgehämmerten Krücke für englische Begriffe überreich verziert.

Poirots erster Besuch galt einem Blumenladen. »Ich muß Mademoiselle Nick ein paar Blumen senden«, erklärte er.

Seine Wünsche zu befriedigen wurde der Verkäuferin nicht leicht. Schließlich einigten sie sich auf einen goldenen, mit orangefarbenen Nelken gefüllten Korb - das Ganze mit einer großen, blauen Schleife umwunden. >Mit den besten Wünschen von Hercule Poirot<, schrieb er in seiner verschnörkelten Schrift auf die Karte, die ihm die Verkäuferin gab.

»Ich habe Nick heute früh Blumen geschickt«, sagte der Seemann, »und möchte ihr nun Obst kaufen.«

»Nutzlos!« schnarrte mein Freund. »Wie?« »Ich bemerkte, es sei nutzlos. Eßbares - verboten!« »Wer sagt das?« »Wer? Ich sage es ... ich habe diese Anordnung getroffen und

sie Mademoiselle eingeschärft, die mich übrigens versteht.« »Gerechter Gott!« entsetzte sich Challenger und blieb mitten

auf dem Bürgersteig stehen. »Also das ist es? Mr. Poirot, Sie fürchten immer noch? ...«

16

Die Leichenschau war ein nüchternes Verfahren - nichts als eine wortgetreue Befolgung des Gesetzes. Nachdem die Persönlichkeit der Ermordeten noch einmal offiziell festgestellt worden war, mußte ich Zeugnis ablegen in bezug auf das Auffinden der Leiche. Hierauf gab der ärztliche Sachverständige sein Gutachten ab, und dann vertagte der Vorsitzende die

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Verhandlung für eine Woche. Inzwischen hatte der Mord in St. Loo die gesamte Tagespresse in Aufruhr gebracht und tatsächlich die Sensation über Michael Setons Tod in den Schatten gerückt. Vielleicht mochte mancher Reporter dem Schicksal insgeheim danken, daß es ihm in dem gewöhnlich toten Monat August solch einen Stoff bescherte.

Merkwürdigerweise gelang es mir nach der Leichenschau, unbelästigt von der Journalistenmeute, Poirot zu treffen und gemeinsam mit ihm dem ehrwürdigen Pfarrer Giles Buckley und seiner Gattin unser Beileid auszusprechen.

Maggies Eltern waren reizende Leute, völlig weltfremd. Mrs. Buckley, auffallend groß und blond, verriet deutlich ihre nordische Abstammung und schien ihrem kleinen, ergrauten schüchternen Mann an Willensstärke überlegen zu sein. Sie waren wie betäubt von dem Unheil, das über sie hereingebrochen war.

»Ich kann es noch immer nicht glauben«, sagte Mr. Buckley. »Ein solch liebes Kind, Mr. Poirot. So ruhig und selbstlos - stets an andere denkend. Wer sollte ihr wohl feindlich gesinnt sein ...?

Und seine Frau setzte hinzu: »Es hat lange gebraucht, bis ich das Telegramm verstand. Wir hatten sie doch erst tags zuvor heil und gesund zur Bahn begleitet.«

»Rasch tritt der Tod den Menschen an«, murmelte der Pfarrer. »Oberst Weston, der uns mit Freundlichkeiten überhäufte, hat

versichert, daß man alles getan hat, um den Schuldigen zu finden. Es muß sich um einen Wahnsinnigen handeln - eine andere Erklärung ist nicht möglich.«

»Madame, ich kann Ihnen nicht sagen, wie tief mich Ihr Verlust schmerzt - und wie ich Ihre Tapferkeit bewundere.«

»Wenn wir zusammenbrächen - davon würde unsere Maggie auch nicht wieder zum Leben erweckt«, erwiderte Mrs. Buckley traurig.

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»Meine Frau ist bewunderungswürdig; sie übertrifft mich bei weitem an Glauben und Mut. Es ist alles so ... so verwirrend, Mr. Poirot.«

»Ich weiß, ich weiß, Monsieur.« »Sie sind ein großer Detektiv, nicht wahr?« fragte Maggies

Mutter. »So behauptet man, Madame.« »Bis in unser entferntes Landstädtchen ist Ihr Ruhm

gedrungen. Wer wäre wohl berufener als Sie, die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen?«

»Ich werde nicht rasten, bis es mir gelungen ist.« »Sie wird Ihnen offenbart werden, Mr. Poirot«, sagte der

Geistliche mit zitternder Stimme. »Denn das Böse kann nicht ungestraft hingehen.«

»Das Böse findet stets seine Strafe, Monsieur; nur bleibt sie unseren Augen oft verborgen.«

»Wie soll ich das verstehen?« Doch mein Freund schüttelte wortlos den Kopf. »Und um die kleine Nick mache ich mir auch ernstlich Sorge«,

ließ sich Mrs. Buckley vernehmen. »Sie schrieb mir einen rührenden Brief, klagt sich an, daß sie durch ihre Einladung Maggies Tod verschuldet habe.«

»Das ist krankhaft«, warf ihr Gatte ein. »Freilich, doch ich verstehe ihre Gefühle. Ach, wenn man

mich doch zu ihr ließe. Mir erscheint es ungeheuerlich, daß man den leiblichen Verwandten den Zutritt verwehrt.«

»Ärzte und Krankenschwestern sind sehr streng«, wich Poirot aus, »und gestatten um nichts in der Welt Ausnahmen von einer einmal erlassenen Vorschrift. Fraglos fürchten sie auch die seelische Erschütterung, der Mademoiselle durch ein Wiedersehen mit Ihnen, Madame, ausgesetzt sein würde.«

»Vielleicht«, entgegnete Mrs. Buckley, keineswegs überzeugt. »Ich halte überhaupt nicht viel von Sanatorien. Unter meiner

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Obhut vergäße Nick in Yorkshire viel eher das furchtbare Ereignis. Das glaube ich ganz sicher.«

»Das ist möglich - nur, fürchte ich, werden Sie tauben Ohren predigen. Wie lange haben Sie Mademoiselle Buckley nicht gesehen, Madame?«

Sie überlegte kurz. »Seit vergangenem Herbst. Sie war damals in Scarborough,

wo Maggie sie besuchte. Und dann kam Nick zu uns. Sie ist ein nettes, gutherziges Geschöpf, obwohl ich den Freundeskreis, in dem sie sich bewegt, nicht mag. Und auch ihre Lebensweise nicht. Aber man darf das arme vater- und mutterlose Ding, das nie eine richtige Erziehung genossen hat, deshalb nicht tadeln.«

»Das Endhaus ist ein seltsames Haus«, meinte Poirot nachdrücklich.

»Ich mag das alte Gemäuer nicht, habe es nie gemocht. Es haftet ihm etwas Heimtückisches, Unrechtes an. Und vor Nicks Großvater, Sir Nicholas, hatte ich ein richtiges Grauen.«

»Er war - so schien es mir oft - kein guter Mensch«, erläuterte ihr Gatte. »Desungeachtet ging von ihm ein merkwürdiger Zauber aus.«

»Den ich nie gefühlt habe«, fügte Mrs. Buckley hinzu. »So unheimlich Sir Nicholas war, so unheimlich ist auch die Luft, die das Endhaus durchzieht. Bei Gott, ich wünschte, wir hätten unsere Maggie nicht dorthin reisen lassen.«

»Wünschen ... wünschen!« sprach der Pfarrer ihr nach und wiegte das graue Haupt.

»Ich möchte Sie jetzt nicht länger belästigen.« Mit diesen Worten erhob sich Poirot. »Es trieb mich nur, Ihnen persönlich mein tiefstes Mitgefühl auszudrücken.«

»Sehr gütig, Mr. Poirot. Wir können Ihnen den Eifer, mit dem Sie sich der traurigen Angelegenheit widmen, nie vergelten.«

»Wann kehren Sie nach Yorkshire zurück?«

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»Morgen. Eine traurige Reise. Auf Wiedersehen, Mr. Poirot. Und nochmals unseren innigsten Dank.«

Mein Freund und ich schritten eine geraume Zeit stumm nebeneinander her, und daß er dasselbe dachte wie ich, bewies mir der Satz, mit dem er endlich dieses Schweigen brach.

»Es tut weh, wenn man sieht, wie grausam blind das Schicksal waltet, nicht wahr, mein Freund? Eine so nutzlose, so zwecklose Tragödie! Dies liebenswürdige, bescheidene junge Mädchen und diese prächtigen Eltern ... Wenn Sie wüßten, Hastings, welche Vorwürfe ich mir mache! Ich, Hercule Poirot, befand mich in Rufweite und verhinderte das Verbrechen nicht!«

»Niemand hätte es verhindern können.« »Sie sprechen ohne Überlegung, mon ami. Kein

Durchschnittsmensch hätte es verhindern können - aber zu welchem anderen Zweck lebt Hercule Poirot, als fertigzubringen, was der Durchschnittsmensch nicht vermag?«

»Natürlich, wenn Sie es so auslegen ...« »Ja, ich bin niedergeschlagen - vollkommen gedemütigt.« Mir schoß es durch den Sinn, daß Poirots Demütigung

merkwürdig dem glich, was man sonst als Dünkel zu bezeichnen pflegt. Doch ich hütete mich, ihm dies zu sagen.

»Und nun: en avant! Auf nach London!« rief er und wirbelte den goldverzierten Stock durch die Luft.

»Nach London?« »Jawohl. Wir erreichen den Zweiuhrzug sehr bequem. Und da

hier alles friedlich ist und Mademoiselle sich im Sanatorium befindet, wo nichts sie gefährden kann, dürfen die beiden Wachhunde sich einen Urlaub gönnen. Ich gedenke nämlich, ein oder zwei kleine Auskünfte einzuholen.«

Unser erster Gang in London führte uns zu den Anwälten des verstorbenen Fliegerhauptmanns Seton, Whitfield, Pargiter & Whitfield, mit denen Poirot bereits telefonisch eine Verabredung

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getroffen hatte, so daß wir, obgleich es nach sechs war, sofort zu dem Seniorchef, Mr. Whitfield, geleitet wurden.

Er hatte einen Brief von Oberst Weston und einen zweiten von einem hohen Beamten Scotland Yards vor sich liegen und sagte nach einigen höflichen Begrüßungsworten: »Das ist alles sehr regelwidrig und ungewöhnlich, Mr. Poirot.« Dann begann er mit Ausdauer seine Brillengläser zu putzen.

»Sehr richtig bemerkt, Mr. Whitfield«, erwiderte mein Freund. »Aber ein Mord ist auch regelwidrig und - wie ich mit Vergnügen feststelle - hinreichend ungewöhnlich.«

»Gewiß, gewiß. Doch erscheint es mir sehr weit hergeholt, wenn man eine Verbindung zwischen diesem Mord und dem Testament meines verstorbenen Klienten herstellt.«

»Ich bin anderer Ansicht, Mr. Whitfield.« »Nun, unter diesen Umständen - und vor allem, weil Sir Henry

hier in seinem Brief es mir dringend ans Herz legt - bin ich bereit, Ihnen zu helfen.«

»Sie waren der juristische Berater Hauptmann Setons?« »Der gesamten Familie Seton, verehrter Herr. Seit hundert

Jahren genossen wir - das heißt die Firma - dieses Vertrauen.« »Très bien! Wenn ich nicht irre, setzte Sir Matthew Seton

einen Letzten Willen auf, nicht wahr?« »Wir setzten ihn für ihn auf.« »Und wem vermachte er sein Vermögen?« »Verschiedene Personen und Institute - darunter das

Naturgeschichtliche Museum - wurden mit Legaten bedacht, indes fiel die Hauptmasse, ein sehr bedeutendes Vermögen, an seinen Neffen und einzigen nahen Verwandten Michael Seton. - Der verstorbene Sir Matthew war der zweitreichste Mann von ganz England«, fügte Mr. Whitfield würdevoll hinzu.

»Hatte er nicht etwas absonderliche Ansichten?«

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Der Rechtsanwalt maß meinen Freund mit einem strengen Blick. »Einem Millionär ist es erlaubt, exzentrisch zu sein, Mr. Poirot. Man erwartet es beinahe von ihm.«

Poirot steckte diesen Verweis sanftmütig ein und stellte eine neue Frage. »Sein Tod erfolgte, wie ich hörte, unerwartet?«

»Völlig unerwartet. Sir Matthew erfreute sich scheinbar einer ausgezeichneten Gesundheit, während er seit Jahren unwissentlich einen Tumor hatte, der schließlich lebensgefährlich wurde und eine sofortige Operation erforderlich machte. Sie glückte auch, aber nach etlichen Tagen versagte das wohl durch die Narkose geschwächte Herz.«

»Und sein Vermögen ging an Hauptmann Seton über.« »Allerdings.« »Auch Hauptmann Seton hat, bevor er England verließ, sein

Testament gemacht, nicht wahr?« »Wenn Sie das ein Testament nennen können - ja«, sagte Mr.

Whitfield mit unverhohlener Mißbilligung. »Ist es nicht legal?« »Durchaus legal. Die Absicht des Erblassers ist klar ersichtlich

und durch die gebührenden Zeugen erhärtet. O ja, es ist legal.« »Doch offenbar billigen Sie es nicht, Mr. Whitfield?« »Verehrter Herr, wofür sind denn wir da?« Darüber hatte ich mir auch schon öfters den Kopf zerbrochen,

nachdem ich einmal genötigt war, eine ganz einfache testamentarische Verfügung selbst zu Papier zu bringen, und hinterdrein durch die Weitschweifigkeit und den Wortschwall der Fassung erschreckt wurde, die mein Anwalt richtig und angemessen fand.

»In Wirklichkeit besaß Hauptmann Seton damals nicht zehn Pfund Sterling eigenes Vermögen«, fuhr Mr. Whitfield fort, »sondern war von seinem Onkel abhängig. Er meinte wahrscheinlich, daß angesichts dieser Vermögenslage auch ein derartiges Testament genügen würde.«

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»Wie lauten Hauptmann Setons Verfügungen?« »Er hinterläßt alles, was er am Tage seines Ablebens besitzt,

seiner künftigen Ehefrau, Miss Magdala Buckley, und bestellt mich als Testamentsvollstrecker.«

»Dann beerbt ihn also Miss Buckley?« »Selbstverständlich erbt sie.« »Und wenn Miss Buckley nun zufällig vergangenen Montag

gestorben wäre?« »So wäre nach Michael Setons Bestimmungen das Vermögen

jener Person zugefallen, die Miss Buckley in ihrem etwaiger. Testament als Universalerbin eingesetzt hätte - oder bei Fehlen eines Testaments an ihren nächsten Verwandten ... Ich möchte mir die Bemerkung erlauben«, schaltete Mr. Whitfield ein, »daß die Steuern und Abgaben enorm gewesen sein würden. - Enorm!« wiederholte er mit gespitztem Mund. »Drei Todesfälle in schneller Folge! Enorm! ...«

»Nach Abzug dieser Lasten wäre aber immerhin noch etwas übrig geblieben?« erkundigte sich Poirot mit ungewohnter Milde.

»Mein Herr, wie ich Ihnen schon sagte, war Sir Matthew der zweitreichste Mann Englands!«

Poirot nickte und stand auf, um sich zu verabschieden. »Ich bin Ihnen für die Auskunft sehr zu Dank verpflichtet, Mr. Whitfield.«

»Nicht der Rede wert, nicht der Rede wert! Im übrigen ist der Brief, in dem ich Miss Buckley von der Erbschaft in Kenntnis setzte, bereits abgeschickt worden, und ich würde mich glücklich schätzen, wenn ich ihr behilflich sein könnte.«

»Mademoiselle Buckley ist eine junge Dame, die eines vernünftigen Ratgebers bedarf.«

»Wahrscheinlich, denn die Mitgiftjäger werden jetzt in Scharen auftauchen.«

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»Das ist sicher«, stimmte mein Freund ihm bei. »Guten Tag, Monsieur.«

»Auf Wiedersehen, Mr. Poirot. Freut mich, wenn ich Ihnen von Nutzen war. »Ihr Name ist mir ... eh! ... nicht unbekannt.«

Er sagte es, als habe er damit ein kostbares Zugeständnis gemacht.

»Weiß Gott, es verhält sich alles so, wie Sie dachten!« rief ich, als wir beide allein waren.

»Mon ami, es mußte so sein, es bestand gar keine andere Möglichkeit. - Und jetzt gehen wir zum Restaurant Cheshire, wo Japp uns zu einem etwas frühen Dinner erwartet.«

Der bewährte Scotland-Yard-Beamte saß tatsächlich bereits dort und begrüßte meinen Freund mit überströmender Wärme. »Welche Freude, Monsieur Poirot! Jahre sind vergangen seit unserem letzten Wiedersehen. Und ich dachte, daß Sie in irgendeinem friedlichen Winkel Ihres Vaterlandes Kürbis und Kohl anbauten!«

»Ich hab's versucht, Japp, ich hab's versucht. Doch selbst wenn man Kürbisse züchtet, ist man vor einem Mord nicht sicher.«

Er stieß einen tiefen Seufzer aus, und ich wußte, woran er dachte - an jene merkwürdige Affäre von Fernley Park, die sich leider zugetragen hatte, als ich für einige Zeit in der Neuen Welt weilte.

»Und Hauptmann Hastings ist auch wieder da!« meinte Inspektor Japp. »Wie geht's denn, Sir?«

»Nicht übel, danke«, erwiderte ich. »Und jetzt gibt's wiederum Morde?« scherzte Japp. »Ja - wiederum Morde.« »Sie müssen es nicht tragisch nehmen, alter Kampfhahn, selbst

wenn Sie Ihren Weg nicht klar sehen. Meinen Sie, Sie könnten zeitlebens den Erfolg buchen, der Ihnen bisher stets beschieden war? Wir werden alle einmal alt und müssen dem Nachwuchs den Platz räumen.«

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»Und dennoch ist es der alte Hund, der alle Schliche kennt«, murmelte Poirot vor sich hin. »Er ist gewitzt; er verliert die Witterung nicht.«

»Gut - wir reden aber doch von menschlichen Wesen und nicht von Hunden.«

»Besteht da solch ein großer Unterschied?« »Es hängt davon ab, wie Sie die Dinge ansehen. Aber Sie sind

ein gefährlicher Bursche, sind es immer gewesen. Stimmt's, Hauptmann Hastings? Er sieht auch noch genau wie früher aus; vielleicht ist das Haar auf dem Kopf ein bißchen dünner geworden, aber das Gestrüpp im Gesicht ist voller denn je.«

»Eh?« sagte Poirot. »Was ist das?« »Er beglückwünscht Sie zu Ihrem Schnurrbart«, bemerkte ich

schmunzelnd. »Ja, der ist üppig«, bestätigte Poirot und streichelte seine

Männerzierde wohlgefällig. Inspektor Japp schüttelte sich vor Lachen. - »Also«, begann er

dann, »ich habe die kleinen Aufträge gewissenhaft erledigt. Die Fingerabdrücke, die Sie mir sandten ...«

»Nun?« fragte Poirot eifrig. »... waren nichts wert. Wer dieser australische Herr auch

immer ist - mit uns hatte er noch nichts zu schaffen. Andererseits erhielt ich auf meine telegraphische Anfrage aus Melbourne den Bescheid, daß man dort keine Person, auf die Name und Beschreibung passen, kennt.«

»Ha...!« »... so daß der sogenannte Mr. Croft doch etwas anrüchig sein

mag. Aber, wie gesagt, zu unseren Burschen gehört er nicht. Was aber die andere Sache anbelangt, so erfreuen sich Lazarus und Sohn eines guten Rufes. Keine dunklen Machenschaften in ihren Geschäften. Scharf, natürlich - doch das geht uns ja nichts an. Leider haben auch sie die Ungunst der Zeiten geschäftlich zu spüren bekommen.«

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»Oh, wirklich?« »Ja. Der Preissturz auf dem Bildermarkt ist ihnen

verhängnisvoll geworden. Überdies sind auch antike Möbel nicht mehr so begehrt, seit die moderne Richtung bei uns immer mehr Liebhaber findet. Kurz, man tuschelt, daß die Firma bald mit dem Gerichtsvollzieher Bekanntschaft machen wird.«

»Mein lieber Japp, was hätte ich wohl ohne Sie angefangen! Ich als Ausländer könnte das alles gar nicht auskundschaften. Sie haben mich zu großem Dank verpflichtet.«

»Schon gut! Bin einem alten Freund immer gern gefällig. Ich schusterte Ihnen in den guten alten Tagen manch hübschen Fall zu.«

Dies - so dachte ich bei mir, war Inspektor Japps Art, eine Verpflichtung Poirot gegenüber anzuerkennen, der mehr als einen Fall gelöst hatte, bei dem der Inspektor versagt hatte.

»Ja, das waren gute Tage«, sagte Poirot voll Wehmut. »Es würde mich freuen, wenn wir auch heute noch hin und

wieder ein Schwätzchen abhalten könnten. Ihre Methoden mögen altmodisch sein, aber wer hat den Kopf von Hercule Poirot?«

»Und wie steht's mit meiner anderen Frage, Japp? Was treibt dieser Doktor MacAllister?«

»Er ist Frauenarzt, nicht Gynäkologe oder Geburtshelfer, sondern einer jener Doktoren für nervöse Störungen, die Ihnen weismachen, Sie müßten in einem Zimmer mit purpurroten Wänden und gelber Decke schlafen; die des langen und breiten von Ihren Trieben und geheimen Wünschen faseln, von Unterbewußtsein und ähnlichem Kram. Wenn Sie mich um meine persönliche Meinung fragen, so nenne ich ihn ein Gemisch von Arzt und Quacksalber, aber die Frauen schwören auf ihn, rennen hin zu ihm wie die Fliegen auf den Leim. Auch in Paris scheint er noch irgendeine Praxis auszuüben, denn er fährt häufig zum Festland hinüber.«

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»MacAllister?« fragte ich verwirrt. »Ich höre den Namen zum erstenmal. Wie kommen Sie auf ihn, Poirot?«

»Er ist der Onkel von Kapitän Challenger«, erklärte mein Freund. »Erinnern Sie sich, daß er gelegentlich einen Onkel, der Arzt sei, erwähnte?«

»Welche Gründlichkeit! - Meinen Sie, er hätte Sir Matthew operiert?«

»Doktor MacAllister ist doch kein Chirurg«, sagte Japp. »Mon ami, ergänzte Poirot, »ich liebe es, alles in meine

Nachforschungen einzubeziehen. Hercule Poirot ist ein tüchtiger Hund. Der tüchtige Hund aber folgt der Fährte, und wenn bedauerlicherweise die Fährte fehlt, hebt er die Nase, schnuppert und sucht. So macht es auch Hercule Poirot. Und oft findet er etwas.«

»Unser Beruf ist nicht fein«, meinte der Inspektor. »Nein, durchaus nicht. Und Ihrer, Mr. Poirot, ist noch schlimmer als der meinige - weil er nicht amtlich ist, verstehen Sie? Weil Sie sich daher viel häufiger auf hinterlistige Art einschleichen müssen.«

»Ich habe mich noch nie einer Verkleidung bedient, Japp.« »Das können Sie auch gar nicht. Sie sind einzigartig. Wer Sie

einmal sah, wird Sie nie vergessen.« Und als Poirot ihn ziemlich mißtrauisch anblickte, fuhr Inspektor Japp lachend fort: »Nichts für ungut, alter Freund. Ich scherze natürlich ... Eine Flasche Portwein jetzt?«

Der Abend verlief sehr harmonisch. Bald steckten wir mittendrin in den Erinnerungen. Bald dieser Fall, bald jener, und dann noch ein anderer. Und ich gestehe, daß auch ich gern in der Vergangenheit schwelge. Ach ja, das waren wirklich schöne Tage gewesen! ... Wie gereift und erfahren ich mir vorkam!

Armer alter Poirot! Ich sah, wie ihn dieser Mord von St. Loo verblüffte. Fraglos hatten Poirots Fähigkeiten nachgelassen, fraglos hatte das Alter diesen scharfen Verstand besiegt. Armer Freund! Wie er leiden würde, wenn er seinen Fehlschlag

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erkannte und Maggie Buckleys Mörder sich gerissener zeigte als sein Verfolger!

»Mut, mon ami!« sagte er da und klopfte mir auf die Schulter. »Es ist nicht alles verloren. Setzen Sie bitte nicht diese Trauermiene auf.«

»Ich bin ganz wohlgemut, Poirot«, versicherte ich. »Und ich ebenfalls. Und Japp auch.« »Also sind wir's alle drei!« rief der Inspektor. »Prosit, meine

Freunde.« Und tatsächlich trennten wir uns nach Stunden in fröhlichster

Stimmung.

Am folgenden Morgen fuhren wir nach St. Loo zurück, und sofort nach unserer Ankunft im Hotel ließ sich Poirot mit dem Sanatorium verbinden und verlangte Nick zu sprechen.

Plötzlich ging eine ungeheure Veränderung mit ihm vor; der Hörer entfiel beinahe seiner Hand. »Comment? Comment? Was ist geschehen? Bitte, sagen Sie es noch einmal.«

Einige Minuten stand er lauschend am Apparat. Dann hörte ich ihn antworten: »Ja, ja. Ich komme sofort.«

Als er sich umwandte, sah ich in ein aschfahles Gesicht. »Warum ging ich auch fort, Hastings? Mon dieu! Warum ging

ich fort!« »Was gibt es denn, Poirot?« »Mademoiselle ist schwer krank. Kokainvergiftung. Also

haben sie es doch erreicht. Mon dieu! Mon dieu! Warum ging ich fort?«

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Auf dem ganzen Weg murmelte und flüsterte Poirot vor sich hin. Und ich vermochte ihn nicht aufzurichten und zu trösten.

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»Ich hätte es wissen müssen«, stöhnte er. »Ja, ich hätte es wissen müssen. Doch andererseits, was konnte ich tun? Hatte ich nicht alle Vorsichtsmaßregeln getroffen? Es ist unmöglich - unmöglich. Keiner konnte zu ihr gelangen. Wer hat sich da über meine Befehle hinweggesetzt?«

Im Sanatorium wurden wir in das kleine Zimmer im Erdgeschoß geführt, in dem wir schon einmal gewartet hatten, und etliche Minuten später erschien Dr. Graham, erschöpft und bleich.

»Ich glaube, ich bringe sie durch«, sagte er ohne jede Einleitung. »Die Schwierigkeit bestand darin, daß wir nicht wußten, wieviel sie von dem verdammten Zeug geschluckt hat.«

»Was war es?« »Kokain.« »Aber wie geschah es? Wie konnte man es ihr eingeben? Wem

hat man den Zutritt gestattet?« Poirot bebte an allen Gliedern vor ohnmächtiger Entrüstung.

»Keinem hat man den Zutritt gestattet.« »Unmöglich.« »Es ist wahr.« »Aber dann ...« »Man benutzte eine Schachtel mit Konfekt.« »Ah, Sacré! Habe ich ihr nicht ausdrücklich gesagt, nichts,

nichts zu essen, was von draußen käme?« »Ich weiß darüber nichts Näheres, doch scheint es mir eine

schwierige Aufgabe zu sein, einem jungen Mädchen das Naschen zu verwehren. Gottlob aß sie nur ein einziges Stück.«

»Enthielten sämtliche Pralinen Kokain?« »Nein, nur drei der obersten Schicht, von denen sie eine aß.

Der übrige Inhalt war tadellos.« »Und wie hat man es gemacht?« »Sehr plump. Das Konfektstück durchgeschnitten, das Kokain

mit der Füllung gemischt und hierauf die Schokolade wieder

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zusammengeklebt. Dilettantische Pfuscharbeit würden Sie es nennen, Mr. Poirot.«

Mein Freund stöhnte abermals. »Ah, wenn ich wüßte ... Darf ich Mademoiselle sehen?«

»Wenn Sie in einer Stunde wiederkommen, glaube ich, daß ich es Ihnen erlauben kann«, erwiderte der Arzt. »Beruhigen Sie sich doch, mein Lieber. Sie wird nicht sterben.«

Eine geschlagene Stunde wanderten wir durch die Straßen und Gäßchen von St. Loo. Ich tat mein Bestes, um Poirots Gedanken abzulenken, wies ihn darauf hin, daß alles ja glimpflich abgelaufen und kein Unglück geschehen sei. Aber er schüttelte unentwegt den Kopf und wiederholte in gewissen Zwischenräumen: »Ich habe Angst, Hastings, ich habe Angst...«

Einmal riß er mich am Arm und zwang mich stehenzubleiben. »Hören Sie, mein Freund. Ich bin fehlgegangen. Von Anfang an.«

»Meinen Sie, es sei nicht das Geld?« »Nein, nein, darüber besteht kein Zweifel. Aber diese zwei ...

es ist zu einfach, zu leicht. Dahinter steckt noch etwas viel Verwickelteres.«

Und dann brach sich seine Entrüstung Bahn. »Ah, cette petite! Untersagte ich es ihr nicht ausdrücklich? Habe ich nicht klar und deutlich befohlen, nichts anzurühren, was von draußen hereinkommt? Und sie verweigert mir den Gehorsam? Mir, Hercule Poirot? Genügt es ihr nicht, viermal mit knapper Not dem Tod zu entgehen? Muß sie sich noch ein fünftes Mal in Gefahr begeben? Ah, das ist unerhört!«

Schließlich standen wir wiederum im kleinen Wartezimmer des Sanatoriums und wurden gleich darauf von einer Schwester nach oben geführt.

Nick saß aufrecht im Bett, mit ungeheuer geweiteten Pupillen. Sie machte den Eindruck einer Fiebernden, und ihre kleinen Hände flogen und bebten.

»Wieder ...« murmelte sie.

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Poirot war bei diesem Anblick bis ins tiefste erschüttert. Er räusperte sich und nahm dann eine dieser zuckenden Hände. »Ah, Mademoiselle! Mademoiselle!«

»Wenn es ihnen doch gelungen wäre!« sagte sie trotzig. »Ich habe alles so satt... so satt!«

»Pauvre petite!« »Ihr Sanatorium bot also auch keine Sicherheit!« »Wenn Sie meine Anweisungen befolgt hätten, Mademoiselle

...« Sie blickte erstaunt zu ihm empor. »Ich habe sie doch ganz

genau befolgt.« »Schärfte ich Ihnen nicht ein, nichts zu essen, was von

draußen käme?« »Ich habe auch nichts Derartiges gegessen.« »Und das Konfekt?« »Das war doch ungefährlich, weil es von Ihnen kam.« »Was? Mademoiselle, was haben Sie gesagt?« »Sie, Mr. Poirot, haben es mir doch geschickt.« »Ich? ... Niemals. Niemals!« »Aber ja. Ihre Karte lag doch obenauf in der Schachtel.« »Wie?« Nick machte einige zuckende, krampfhafte Bewegungen in der

Richtung des Tischchens, das neben ihrem Bett stand, so daß die Schwester hilfreich hinzusprang. »Wollen Sie die Karte haben, die in der Schachtel lag?«

»Bitte, Schwester.« Es entstand Schweigen, bis die Pflegerin mit der Karte in der

Hand wieder ins Zimmer trat. »Hier ist sie.« Ich keuchte vor Erregung und Poirot nicht minder. Denn auf

der Karte stand in verschnörkelter Handschrift derselbe Satz, den

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mein Freund dem Blumenkorb als Geleitwort mitgegeben hatte: »Mit den besten Wünschen von Hercule Poirot.«

»Sacré tonnerre!« »Nun sehen Sie wohl«, sagte Nick anklagend. »Ich habe das nicht geschrieben.« »Wie?« »Und dennoch ... dennoch ist es meine Handschrift.« »Ich weiß. Es ist genau die gleiche wie auf der Karte, die mit

den orangefarbenen Nelken kam. Und daher zweifelte ich auch keine Sekunde, daß Sie mir die Schokolade schickten.«

»Weshalb hätten Sie auch zweifeln sollen, mein Kind? ... Oh, dieser Satan! Dieser durchtriebene, grausame Satan! Solch einen Einfall zu haben ... Ja, er ist ein Satan, doch gleichzeitig ein Genie. >Mit den besten Wünschen von Hercule Poirot< - denkbar einfach. Ja, man hätte daran denken müssen. Und ich habe nicht daran gedacht, versäumte, diesen Schachzug vorauszusehen.«

Nick bewegte sich unruhig in ihren Kissen hin und her. »Nicht aufregen, Mademoiselle. Sie trifft kein Tadel. Nur

mich, den elenden Dummkopf. Wie gesagt, ich hätte es voraussehen müssen.« Das Kinn sank ihm auf die Brust, und mein Freund Poirot, den ich oft so eingebildet gescholten hatte, bot ein Bild der Zerknirschung.

»Ich glaube wirklich ...« flüsterte die Schwester, die sich genähert hatte, deutliche Mißbilligung auf dem Gesicht.

»Eh? Ja, ja, ich werde gehen. Mut, Mademoiselle. Das ist der letzte Fehler, den ich mache. Ich bin untröstlich, denn man hat mich übertölpelt, als sei ich ein kleiner Schuljunge. Aber das wird sich nicht wieder ereignen. Nein. Ich verspreche es. Kommen Sie, Hastings.«

Dann ließ sich Poirot bei der Oberin melden, die natürlich durch das Vorkommnis ungemein erregt war. »Es ist unfaßbar,

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Mr. Poirot, völlig unfaßbar, wie so etwas in einer von mir geleiteten Anstalt geschehen kann.«

Poirot versuchte sie mit taktvollen, teilnehmenden Worten zu beruhigen, und als ihm dies hinreichend gelungen war, begann er sie über die Ankunft des verhängnisvollen Pakets auszufragen, worauf die Oberin erklärte, daß hierüber am besten der zu jener Stunde den Dienst versehende Pförtner Bescheid geben könnte.

Der betreffende Mann war ein einfältig, doch ehrlich aussehender Bursche von zweiundzwanzig Jahren.

»Sie haben sich nichts vorzuwerfen«, sagte Poirot zu dem Verstörten und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Aber ich möchte von Ihnen wissen, wann und wie das Paket ankam.«

»Schwer zu sagen, Sir, da im Laufe des Tages eine Menge Leute kommen und nachfragen und Blumen und Päckchen für die verschiedenen Patienten abliefern.«

»Nach Aussage der Schwester ist dies Paket gestern abend ungefähr gegen sechs abgegeben worden.«

Die verdüsterten Züge des Burschen erhellten sich. »Ja, jetzt erinnere ich mich. Ein Herr brachte es, ungefähr um halb sechs, kurz nach Eintreffen der Post.«

»Ein Herr mit schmalem Gesicht und blondem Haar?« »Blond war er - doch ob er ein schmales Gesicht hatte, weiß

ich nicht.« »Sollte Charles Vyse es persönlich gebracht haben?« raunte

ich Poirot zu, ohne zu bedenken, daß dem Burschen ein einheimischer Name bekannt sein mußte.

»Nein, Mr. Vyse war es nicht«, versicherte er. »Der Herr war kräftiger gebaut, gut aussehend, und fuhr in einem großen Wagen vor.«

»Lazarus!« rief ich aus. Poirot warf mir einen warnenden Blick zu, und ich bedauerte

meine Übereilung.

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»Also er fuhr in einem großen Wagen vor und lieferte Ihnen das Paket ab«, setzte mein Freund sein Verhör fort. »War es an Miss Buckley adressiert?«

»Ja, Sir. Und ich legte es dann wie üblich auf den Tisch.« »Auf welchen Tisch? Zeigen Sie ihn mir.« Der Pförtner führte uns in die Halle, deren Vordertür

offenstand. In ihrer unmittelbaren Nähe stand ein langer Tisch mit Marmorplatte, auf dem Päckchen und Briefschaften lagen.

»Alles, was ankommt, wird hierhergelegt, von wo es dann die Schwestern den einzelnen Patienten aushändigen.«

»Dann möchte ich gern die Schwester sprechen, die das Paket fortnahm. Besten Dank, mein Lieber.«

Nach wenigen Minuten erschien eine der Schwestern, ein molliges, kleines Persönchen, ganz aufgeplustert vor Erregung. Sie behauptete, sich genau zu entsinnen, daß sie das Paket um sechs Uhr, als ihr Dienst begann, fortgenommen habe.

»Sechs Uhr ...« brummte Poirot in seinen dicken Schnauzbart. »Dann hat es also ungefähr zwanzig Minuten auf dem Tisch gelegen.«

»Wie bitte, Sir?« »Nichts, Mademoiselle. Fahren Sie in Ihrem Bericht fort.« »Ich trug das Paket nach oben, zusammen mit verschiedenen

anderen Gaben, die man für Miss Buckley abgegeben hatte. Zum Beispiel ein großer Strauß Wicken von Mr. und Mrs. Croft, ferner etliche Briefe und noch ein Paket, das mit der Post gekommen war und seltsamerweise ebenfalls eine Schachtel mit Cailler-Konfekt enthielt.«

»Wie? Eine zweite Schachtel?« »Ja. Ein sonderbares Zusammentreffen. Miss Buckley riß von

beiden die Hülle ab und sagte: >Schade, daß ich nicht davon essen darf!< Dann öffnete sie die Deckel, um zu sehen, ob auch der Inhalt gleich sei, und fand hierbei Ihre Karte. >Oh, Schwester, nehmen Sie rasch die andere Konfektschachtel weg,

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damit keine Verwechslung vorkommt<, bat sie mich. Ach Gott, wer konnte etwas Derartiges ahnen! Es klingt, als stamme es aus einem Roman von Edgar Wallace, nicht wahr?«

Mein Freund schnitt ihr unbarmherzig das Wort ab. »Zwei Schachteln? Wer schickte die andere?«

»Es war kein Absender genannt.« »Und welche der beiden stammte angeblich von mir? Jene mit

der Post gekommene oder die andere?« »Das weiß ich nicht mehr genau. Soll ich nach oben laufen

und Miss Buckley fragen?« »Wenn Sie so liebenswürdig sein wollen.« Sie war schon draußen und raste die Treppe hinauf. »Zwei Schachteln«, knurrte Poirot. »Das wird eine nette

Konfusion geben!« Atemlos kehrte die Pflegerin zurück. »Miss Buckley kann es

auch nicht mit unbedingter Sicherheit sagen, da sie beide auswickelte, bevor sie hineinschaute. Sie meint freilich, daß die Schachtel von Ihnen, Sir, nicht mit der Post kam; aber es wäre auch möglich, daß es sich anders verhielte.«

»Diable!« fluchte Poirot, als wir fortgingen. »Gibt es überhaupt jemanden, der einer Sache unbedingt sicher ist? In Detektivschmökern - ja. Aber im Leben herrscht immer ein großer Kuddelmuddel. Bin ich mir etwa selbst über alles sicher? Nein, nein!«

»Lazarus?« sagte ich lakonisch. »Ja, das nenne ich eine Überraschung, nicht wahr?« »Werden Sie mit ihm darüber reden?« »Selbstverständlich. Bin höchst gespannt, wie er es aufnimmt.

Übrigens wäre es zweckmäßig, wenn wir die Schwere von Mademoiselles Kokainvergiftung übertrieben, wenn wir durch geschickt eingestreute Worte den Glauben erweckten, als ob sie mit einem Fuß bereits im Grab stände. Verstehen Sie, Hastings?

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Das feierliche Gesicht... ha, ha, prächtig! Mein Lieber, Sie ähneln täuschend einem Leichenbitter!«

Wir hatten das Glück, vor dem Hotelportal auf Mr. Lazarus zu stoßen, der irgend etwas an seiner Kühlerhaube in Ordnung brachte, und Poirot ging direkt auf ihn zu. »Gestern abend gaben Sie im Sanatorium eine Schachtel Konfekt für Mademoiselle Nick ab, Monsieur Lazarus«, überfiel ihn mein Freund.

Erstaunt hielt Jim Lazarus in seiner Beschäftigung inne und erwiderte: »Ja, das stimmt.«

»Das war sehr freundlich von Ihnen.« »Um nicht ein unverdientes Lob einzustecken, muß ich

gestehen, daß Freddie, ich meine Mrs. Rice, Nick die Schokolade sandte. Ich übernahm nur die Besorgung.«

»Ah, ich verstehe.« Jim Lazarus beugte sich bereits wieder über seinen Kühler, als

ihn Poirot nochmals durch eine Frage störte: »Wo ist Mrs. Rice?«

»Ich glaube, in der Halle.« Tatsächlich saß sie dort bei einer Tasse Tee. Sobald sie unser

ansichtig wurde, winkte sie uns heran und erkundigte sich besorgt: »Ist etwas Wahres an dem Gerücht, daß Nick ernstlich erkrankt ist?«

»Madame, Sie berühren da eine sehr rätselhafte Sache. Sagen Sie mir zuerst, ob Sie gestern eine Schachtel Konfekt schickten.«

»Ja, denn sie bat mich, sie ihr zu besorgen.« »Mademoiselle Nick bat Sie? Aber es wurde ihr doch

verboten, irgendeinen Besuch zu empfangen.« »Ich habe sie auch nicht besucht. Nick telefonierte mit mir.« »Und was sagte sie?« »Daß ich ihr eine Schachtel Cailler-Konfekt besorgen

möchte.« »Wie klang denn Mademoiselles Stimme? Schwach?«

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»Nein, keineswegs schwach. Doch irgendwie verändert, so daß ich sie gar nicht erkannte, bis sie ihren Namen nannte.«

»Sind Sie sicher, Madame, daß es Ihre Freundin war?« Frederica blickte erschreckt erst Poirot und dann mich an. »Ich ... ich ... aber natürlich war es Nick! Wer hätte es sonst

sein sollen?« »Das ist eine ungemein wichtige und interessante Frage,

Madame.« »Um Gottes willen ...« »Können Sie beschwören, Madame, daß es die Stimme Ihrer

Freundin war, wenn Sie nur den Klang, nicht den Inhalt des Gesprächs, berücksichtigen?«

»Nein«, gab Frederica Rice zu, »das könnte ich nicht. Ihre Stimme klang fremdartig, doch ich schob es auf das Telefon oder auf die Krankheit.«

»Hätte Mademoiselle ihren Namen nicht genannt, so würden Sie sie vielleicht nicht erkannt haben, Madame.«

»Ich glaube nicht, obgleich sich so etwas hinterher schwer beurteilen läßt. Aber sagen Sie, Mr. Poirot, hat Nick nicht selbst gesprochen? Wer war es dann?«

»Das möchte ich gar zu gern wissen, Madame.« Der Ernst, der auf dem Gesicht des kleinen Belgiers lag,

schien sie stutzig zu machen. »Ist Nick ... etwas zugestoßen?« flüsterte sie entsetzt. Poirot nickte. »Sie ist krank - gefährlich krank. Das Konfekt,

Madame, war vergiftet!« »Das Konfekt, das ich ihr besorgte? Ausgeschlossen, Mr.

Poirot. Ausgeschlossen!« »Nicht ausgeschlossen, Madame, da Mademoiselle Nick mit

dem Tode ringt.« »Barmherziger Gott!« Sie barg ihr Gesicht in den Händen, und

als sie es wieder hob, zuckten die Mundwinkel von verhaltenem Weinen. »Ich verstehe es nicht. Das andere, ja, aber dies nicht.

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Die Schokolade kann nicht vergiftet gewesen sein, denn außer Jim und mir hat niemand sie berührt. Sie begehen irgendeinen schrecklichen Irrtum, Mr. Poirot.«

»Nicht ich begehe einen Irrtum - obwohl eine Karte mit meinem Namen in der Schachtel lag.«

Die blasse, blonde Frau starrte ihn an, fassungslos, ratlos. »Wenn Mademoiselle stirbt ...« sagte er und machte eine

drohende Bewegung mit der Hand. Und während sie einen leisen Schrei ausstieß, wandte er sich

brüsk ab, nahm mich beim Arm, und dann gingen wir hinauf in unser gemeinsames Wohnzimmer.

»Nichts begreife ich - absolut nichts!« rief er, indem er, der Ordnungsfanatiker, seinen Hut auf den Tisch warf. »Ich tappe in rabenschwarzer Finsternis umher. Wer hat etwas durch Mademoiselles Tod zu gewinnen? Madame Rice. Wer kauft Schokolade und gibt es offen zu und erzählt eine Geschichte von einem Telefonanruf, die nicht eine Minute Stich hält? Madame Rice. Es ist zu einfach - zu dumm. Und Madame ist nicht dumm.«

»Folglich ...« »Aber sie nimmt - was ich mir von niemandem ausreden lasse

- Kokain, Hastings. Und Kokain enthielt auch das Konfekt. Was meinte sie außerdem mit der Bemerkung: >Das andere, ja, aber dies nicht?< Ah, da muß Madame sich schon zu einer Erklärung bequemen! ... Und der geschmeidige Mr. Lazarus - wieweit hat er seine Finger im Spiel? Und was weiß Madame Rice? Denn irgend etwas weiß sie. Nur kann ich sie leider nicht zum Sprechen zwingen, da Einschüchtern und dergleichen bei ihr nichts fruchten würde. Hastings, Hastings, die blonde Madonna weiß etwas! Was meinen Sie, ist das Telefongespräch erfunden oder wahr? ... Überall, überall rabenschwarze Finsternis!«

»Kurz vor der Dämmerung ist es immer am finstersten«, beruhigte ich ihn.

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Doch mein Freund schüttelte abweisend den Kopf. »Ferner die andere Schachtel - jene, die mit der Post kam. Dürfen wir sie als harmlos ausscheiden? Nein! Weil Mademoiselle ihrer Sache nicht sicher ist. Oh, was ist man doch für ein geplagter Mensch!«

Ich wollte ihm antworten, als er heftig abwinkte. »Nein, nein. Kommen Sie mir nur nicht mit einem neuen schönen Sprichwort. Ich kann es nicht ertragen! Wenn Sie sich als guter Freund erweisen wollen, als guter, hilfreicher Freund, dann, Hastings, gehen Sie ins Städtchen und kaufen mir ein Spiel Karten.«

»Gern«, sagte ich kühl, und ich bezweifelte nicht einen Augenblick, daß diese Karten ein nichtiger Vorwand waren, um mich loszuwerden.

Hierin jedoch beurteilte ich ihn falsch. Denn als ich an jenem Abend gegen zehn Uhr ins Wohnzimmer trat, fand ich Poirot damit beschäftigt, mit unglaublicher Sorgfalt Kartenhäuser zu bauen ... und ich erinnerte mich! Es war ein beliebtes Mittel, um die Nerven zu beruhigen.

»Entsinnen Sie sich, mon cher?« lächelte er mich an. »Man braucht die Genauigkeit. Eine Karte auf die andere ... so ... haarscharf am richtigen Platz ... und das trägt dann das Gewicht des darüberliegenden Stockwerks ... so ... und dann so ... und dann so ... und immer weiter. Gehen Sie zu Bett, Hastings. Lassen Sie mich hier bei meinen Kartenhäusern. Nichts klärt den Geist besser.«

Es mochte gegen fünf morgens sein, als ich durch ein heftiges Schütteln geweckt wurde. Neben meinem Bett stand Poirot, vergnügt und glücklich.

»Wie recht Sie mit Ihren Worten hatten, mon ami! Nein, nicht nur recht - es war geistreich, was Sie gesagt haben.«

Ich blinzelte ihn an, die Lider schwer von Schlaf. »Kurz vor der Dämmerung ist es immer am finstersten.

Lauteten so nicht Ihre Worte? Es ist sehr finster gewesen, Hastings, und jetzt ist die Dämmerung da!«

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Schlaftrunken blickte ich zum Fenster und sah, daß es sich so verhielt.

»Nein, nein, Hastings!« lachte er übermütig. »Nicht dort draußen. Im Kopf! Im Gehirn! Die kleinen grauen Zellen!« Er machte eine Pause, um dann ruhig hinzuzufügen: »Verstehen Sie, Hastings, Mademoiselle ist tot.«

»Was?« schrie ich, jäh munter geworden. »Sachte, sachte. Es ist so, wie ich sage. Wohl verstanden, nicht

wirklich, aber man kann es so drehen. Für vierundzwanzig Stunden kann man es so drehen. Ich werde mit dem Doktor und den Schwestern ein Komplott schmieden. Begreifen Sie den Zweck, Sie verschlafener Wicht? Der Mordanschlag ist geglückt. Viermal hat der Mörder es versucht und immer Pech gehabt. Beim fünftenmal hat er sein Ziel erreicht ...

Und nun wollen wir sehen, was sich dann weiter ereignet. Oh, Hastings, das wird ungeheuer spannend werden!«

18

Ich hatte das Pech, mit einem jener schweren Fieberanfälle zu erwachen, die mich, seit ich in Südamerika ein Opfer der Malaria wurde, mit böswilliger Beharrlichkeit und meist zu den ungelegensten Zeitpunkten heimzusuchen pflegen, und daher haben sich die Ereignisse des nächsten Tages meiner Erinnerung wie ein nebelhafter Spuk eingeprägt, wie eine Art Nachtmahr, in der Poirot als phantastischer Clown kommt und geht.

Mit Recht glaube ich behaupten zu dürfen, daß dieses Spiel für ihn einen köstlichen Genuß bedeutete. Seine Maske ohnmächtiger Verzweiflung war bewunderungswürdig. Wie es ihm gelang, den Plan, den er mir in der grauen Morgendämmerung enthüllte, zur Ausführung zu bringen, vermag ich nicht zu sagen. Genug: Er führte ihn aus.

Leicht kann es nicht gewesen sein, und die Summe der aufgewendeten List, Tücke und Überredungskunst war fraglos enorm. Dem englischen Charakter widerstrebt das Lügen, und

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dennoch verlangte Poirot gerade dies. Zuerst hieß es, Dr. Graham zu seinem Plan zu bekehren. Mit dem Arzt als Bundesgenossen galt es dann, den Widerstand der Oberin und der Schwestern zu überrennen, was sicher große Zähigkeit kostete und vielleicht nur dank Dr. Grahams Einfluß glückte.

Die nächsten Gegner waren Oberst Weston und die Polizei, und hier prallte Poirot auf die Bürokratie. Er rang dem Oberst endlich eine widerwillige Zustimmung ab, wobei dieser aber ausdrücklich jede Verantwortung für die Verbreitung der lügnerischen Nachrichten ablehnte und sie dem kleinen Poirot aufbürdete. Und Poirot sträubte sich nicht. Er würde, solange man ihm gestattete, seinen Plan durchzuführen, zu allem ja und amen gesagt haben.

Ich selbst verdöste den Tag in einem Liegestuhl, eine Reisedecke über die Knie gebreitet. Alle zwei oder drei Stunden platzte mein Freund zu mir herein, um von seinen Fortschritten zu berichten.

»Wie geht's, mon ami? Armer Kerl, wenn Sie wüßten, wie leid Sie mir tun! Aber vielleicht stellte sich Ihr Fieber gerade zur rechten Zeit ein, denn Theater spielen fällt Ihnen viel schwerer als mir, mein Lieber. Wissen Sie, was ich vor zwei Minuten bestellt habe? Einen Trauerkranz - einen riesigen, fabelhaften Trauerkranz! Weiße Lilien, mein Freund, schneeweiße Lilien. Wollen Sie etwas anderes für ein zartes Mägdelein? Dazu eine Karte: >Mit tiefempfundenem Beileid. Hercule Poirot.< Ah, was für eine herrliche Komödie!« Von neuem verschwand er.

»Ich komme von einer sehr schwerwiegenden Unterredung mit Mrs. Rice«, begann er seine nächste Berichterstattung. »In tiefes Schwarz gehüllt, die schmerzgebeugte Blondine. Ach, ihre arme Freundin ... welch ein Jammer ... Was bleibt mir anders übrig, Hastings, als mitfühlend zu stöhnen? Nick - fährt sie fort - war so fröhlich, so lebenslustig; unmöglich zu denken, daß sie jetzt tot daliegt. Ich pflichte ihr diesmal um so leichter bei, als ich weiß, daß Mademoiselle sich außer Gefahr befindet. >Ist es nicht eine Ironie, daß der Tod solche lebensprühenden Geschöpfe

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niedermäht und die alten, verbrauchten verschont?< flüstert die Madonna, worauf ich wieder stöhne.«

»Wie ergötzlich das alles für Sie ist!« murmelte ich, von Fieber geschüttelt, schwach.

»Durchaus nicht, mon cher. Es gehört zu meinem Plan - voilà! Und um die Rolle erfolgreich zu spielen, muß man sein ganzes Herz hineinlegen. - Hören Sie weiter. Nachdem wir die landläufigen Beileidsworte gewechselt haben, traut sich Madame etwas näher an den heißen Brei heran. Die ganze Nacht habe sie wach gelegen und über dieses Konfekt gegrübelt; es sei unmöglich, rundweg unmöglich. >Madame, es ist nicht unmöglich. Wenn Sie wollen, lasse ich Sie gern Einsicht nehmen in das Gutachten des Chemikers, der das Konfekt untersuchte<, erwidere ich ihr. Dann haucht sie, denn der Stimme scheint die Kraft zu fehlen: >Es war Kokain?< und ich bestätige es. Hierauf wehklagt Madame: >Mein Gott, ich verstehe es nicht.<«

»Vielleicht ist das wahr, Poirot.« »Sie versteht jedenfalls so viel, daß sie sich in Gefahr befindet,

denn wie Sie sich erinnern werden, habe ich immer hervorgehoben, welch kluger Mensch sie ist. Jawohl, sie kennt die Gefahr, die über ihrem Haupt schwebt.«

»Und dennoch habe ich zum erstenmal das Gefühl, daß Sie sie nicht für schuldig halten.«

Poirot runzelte die Stirn, und die Erregung, in die ihn sein Theaterspiel versetzt hatte, flaute ab. »Was Sie da sagen, stimmt, Hastings. Irgendwie scheint es mir, als ob die Tatsachen nicht mehr zueinander passen wollen. Welches war das hervorstechendste Merkmal der bisherigen Verbrechen? Ihre Schlauheit und Feinheit. Und hier fehlen beide vollkommen. Hier tritt uns krasse, unverfälschte Roheit entgegen.« Er setzte sich nieder.

»Kommen Sie, Hastings, wir wollen einmal gemeinsam die Tatsachen prüfen. Da sind drei Möglichkeiten. Wenn das Konfekt vergiftet war, das Madame kaufte und Mr. Lazarus

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weiterbeförderte, so ist einer dieser beiden der Schuldige oder auch alle beide. Und dann ist der Telefonanruf nichts als ein Lügengebilde von Madame. So lautet, lieber Hastings, die einfachste und offenkundigste Lösung.

Jetzt Lösung Nummer zwei: Die andere Schachtel mit Cailler-Schokolade, die mit der Post kam. Irgendeine beliebige Person unserer Liste, A bis K, kann sie gesandt haben. Aber wenn dies die verhängnisvolle Schachtel war, was bedeutet dann der Telefonanruf? Warum die Sache dadurch noch verwickelter machen?«

Ich bewegte müde den Kopf. Mit einem Fieber von fast vierzig Grad, erschien mir jede Verwicklung unnötig und abgeschmackt.

»Lösung Nummer drei: Vergiftetes Konfekt wurde an Stelle des harmlosen, das Madame gekauft hatte, eingeschmuggelt. In diesem Fall wäre der Telefonanruf findig und verständlich. Madame soll sich die Finger verbrennen, soll für andere die Kastanien aus dem Feuer holen. Mithin möchte ich die Lösung Nummer drei als die folgerichtigste bezeichnen; doch gleichzeitig ist sie auch die allerschwierigste. Welche Gewähr hat der Attentäter, daß das Auswechseln der Schachtel glückt? Hätte der Pförtner sie nicht - um nur eine Möglichkeit von hundert anderen herauszugreifen - sofort nach oben bringen können, ohne sie erst auf den Tisch zu legen? Nein, nein, der Unsinn springt einem ja in die Augen.«

»Wenn es nicht Lazarus war«, sagte ich. Poirot betrachtete mich forschend. »Sie haben schlimmes

Fieber, mon ami, nicht wahr? Und es steigt noch?« Ich nickte. »Seltsam, wie etliche Wärmegrade mehr den Verstand

schärfen! Mein Lieber, Sie haben da eine Schlußfolgerung von abgründiger Einfachheit geäußert. So einfach, daß ich es unterließe, sie in Betracht zu ziehen. Mr. Jim Lazarus, der ergebenste Freund von Madame, der sein Bestes tut, um sie an den Galgen zu bringen? Oh, oh, welche Möglichkeiten von

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höchst sonderbarer Beschaffenheit eröffnen sich da? Aber sie sind verworren!«

Ich schloß die Augen. Obwohl es mich auch in meinem Fieber noch freute, daß ich einen glänzenden Einfall gehabt haben sollte, gelüstete es mich nicht im mindesten nach irgend etwas, was an Verworrenheit gemahnte. Schlafen wollte ich ... schlafen ...

Poirot redete weiter, doch ich hörte nicht zu. Seine Stimme wirkte so einschläfernd, so wohltuend.

Es war spät nachmittags geworden, als ich ihn das nächste Mal sah.

»Mein kleiner Plan hat den Umsatz der Blumengeschäfte gefördert«, verkündete er. »All und jeder bestellt Trauerkränze. Mr. Croft, Mr. Vyse, Kapitän Challenger ...«

Bei Erwähnung des letzten Namens begann in meinem Innern eine Saite des Mitleids zu tönen. »Hören Sie zu, Poirot« unterbrach ich. »Sie müssen den armen Menschen, dessen Herz vor Kummer sicher zu Stein geworden sein wird, ins Vertrauen ziehen. Der Anstand verlangt es.«

»Sie haben immer eine Schwäche für den Herrn Kapitän gehabt, Hastings.«

»Ja, ich mag ihn gern, weil er ein Gentleman ist, vornehm in Denkart und Gesinnung. Poirot, weihen Sie ihn bitte ein.«

Aber mein Freund schüttelte energisch den Kopf. »Nein, Hastings, nein. Ich mache keine Ausnahmen.«

»Warum nicht bei ihm, an dem kein Stäubchen von Verdacht haftet?«

»Ich mache keine Ausnahmen.« »Bedenken Sie doch, wie er leiden muß!« »Im Gegenteil. Ich ziehe vor, daran zu denken, welche

köstliche Überraschung ich für ihn vorbereite. Man meint, die Geliebte sei tot, und sieht sie nachher blühend und gesund wieder! Ist das nicht ein überwältigendes Geschenk?«

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»Poirot, Sie sind störrisch wie ein altes Maultier! Als ob Kapitän Challenger nicht unbedingt Stillschweigen bewahren würde!«

»Nun, ich bin nicht ganz davon überzeugt.« »Er, der Ehrenmann? ... Ah, seiner bin ich sicher!« »Ein Geheimnis zu hüten, mon cher, ist eine Kunst, die

manche treuherzig erzählte Lüge erfordert und eine große Tauglichkeit, mit Begeisterung Theater zu spielen. Kann Kapitän Challenger sich verstellen? Wenn er der Mensch ist, den Sie schildern, könnte er es bestimmt nicht.«

»Dann wollen Sie ihm also nicht die Wahrheit erzählen?« »Mein Lieber, ich weigere mich rundweg, meinen kleinen Plan

aus Gefühlsgründen zu gefährden. Es geht um Leben und Tod, Hastings. Überdies wird der Mensch durch Leiden geläutert, wie zahlreiche Ihrer berühmten Kirchenväter gesagt haben.«

Da ich die Zwecklosigkeit erkannte, machte ich keinen weiteren Versuch, ihn zu überreden.

»Zum Dinner werde ich mich nicht umkleiden«, seufzte er. »Ich bin ein viel zu gebrochener, alter Mann ... in meiner Rolle nämlich. All mein Selbstvertrauen ist dahin. Niedergeschmettert bin ich, gramgebeugt; bei Tisch werde ich die Gerichte kaum anrühren, nur auf dem Teller herumstochern. Doch damit meine Gesundheit darunter nicht Schaden leidet, habe ich mir vorsorglicherweise Keks und Katzenzungen gekauft, die ich nachher in meinen eigenen vier Wänden verzehren will. Und Sie, mon ami?«

»Noch etwas Chinin«, erwiderte ich schwermütig. »Mein armer Hastings! Aber nicht den Kopf hängen lassen -

morgen wird alles gut sein.« »Höchstwahrscheinlich. Denn diese Anfälle dauern oft nur

vierundzwanzig Stunden.« Wann er dann wieder ins Zimmer kam, weiß ich nicht, da ich

geschlafen haben muß. Als ich erwachte, saß er am Schreibtisch und starrte auf einige zerknitterte und wieder geglättete Bogen

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Papier: die Liste A bis K, die er als überflüssig fortgeworfen hatte!

Er nickte, als könne er meine Gedanken lesen. »Ja, mein Freund. Ich habe sie wiederauferstehen lassen und bearbeite sie nun von einem anderen Gesichtspunkt aus. Jeder Person werden etliche Fragen angehängt, die mit dem Verbrechen möglicherweise nichts zu tun haben, jedoch noch nicht geklärt sind, und auf die mir mein eigenes Hirn die Antwort geben soll.«

»Wie weit sind Sie gekommen?« »Ich bin am Ende. Möchten Sie es hören? Sind Sie kräftig

genug?« »Ja. Ich fühle mich viel besser.« »Gott sei Dank! ... Also ich werde Ihnen mein Werk vorlesen,

obwohl Sie sicher manches für kindisch halten.« Er räusperte sich und las:

»A. Ellen. - Warum blieb sie im Haus und sah sich nicht das Feuerwerk an? (Ungewöhnlich, wie durch Mademoiselles Zeugnis und Erstaunen erhellt wird.) Was dachte oder argwöhnte sie, das sich ereignen würde? Ließ sie heimlich jemanden ins Haus (zum Beispiel K)? Spricht sie die Wahrheit in bezug auf das Geheimfach? Wenn es vorhanden ist, warum kann sie sich nicht an den Ort erinnern? (Mademoiselle scheint ziemlich überzeugt zu sein, daß es nicht vorhanden ist - und sie müßte es wissen.) Wenn Ellen schwindelt, warum? Hat sie Michael Setons Liebesbriefe gelesen, oder war ihre Überraschung, als sie von Nicks Verlobung erfuhr, echt?

B. Ihr Mann. - Ist er so dumm, wie er scheint? Hat ihn Ellen zum Mitwisser dessen gemacht, was ihr bekannt ist, oder nicht? Ist er in irgendeiner Hinsicht geistig anomal?

C. Das Kind. - Ist seine Freude an Blut ein natürlicher Instinkt, den es mit anderen Altersgenossen teilt, oder ist sie krankhaft? Vielleicht erbliche Belastung? Hat es jemals mit einer Spielzeugpistole geschossen?

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D. Wer ist Mr. Croft? Woher kommt er in Wirklichkeit? Steckte er den Brief mit dem Testament tatsächlich in den Briefkasten, wie er versicherte? Welche Gründe könnten ihn bewogen haben, ihn nicht abzuschicken?

E. Mrs. Croft. - Wie oben. Halten sich Mr. und Mrs. Croft hier in St. Loo aus irgendeinem Grund versteckt? Haben sie irgendeine Beziehung zu der Familie Buckley?

F. Mrs. Rice. - Wußte sie von dem Verlöbnis Nicks mit Michael Seton? Hatte sie die Briefe gelesen? (In diesem Fall hätte sie erfahren, daß Mademoiselle ihn beerbte.) Wußte sie ferner, daß sie selbst von Mademoiselle Nick zur Erbin eingesetzt worden war? (Dies dürfte man meines Erachtens bejahen. Mademoiselle wird es ihr erzählt haben, mit dem Zusatz, daß die Erbschaft sich kaum lohne.) Beruht Kapitän Challengers Andeutung, daß Jim Lazarus zeitweilig zu Mademoiselles Verehrern gehört habe, auf Wahrheit? (Diese würde den Mangel an Herzlichkeit, der in den letzten Monaten zwischen den beiden Freundinnen zutage getreten zu sein scheint, erklären.) Wer ist der in dem Brief erwähnte Freund, der das Rauschgift besorgte? (Vielleicht K?) Warum wurde sie neulich in unserem Wohnzimmer beinahe ohnmächtig? War irgend etwas in unserem Gespräch die Ursache, oder sah sie etwas? Ist ihre Aussage betreffs des telefonischen Anrufs wahrheitsgetreu? Was meinte sie mit den Worten: >Das andere kann ich verstehen, aber dies nicht?< Welcher Umstand ist dann zu ihrer Kenntnis gelangt, den sie verschweigt?«

»Sie sehen, mein Freund«, erläuterte Poirot, »daß die Fragen

um Mrs. Rice beinahe zahllos sind. Vom Anfang bis zum Ende ist sie ein Rätsel. Und das drängt mich zu einer Schlußfolgerung. Entweder ist Madame Rice schuldig, oder sie weiß - oder sagen wir glaubt zu wissen -, wer schuldig ist. Aber hat sie recht? Weiß sie, oder argwöhnt sie nur? Und wie können wir die Verschlossene zum Sprechen bringen?« Er seufzte schwer.

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»Nun, ich will vorläufig mit meinem Fragebogen fortfahren:

G. Mr. Lazarus. - Merkwürdig, es tauchen hinsichtlich seiner Person gar keine Fragen auf, außer der einen: Schmuggelte er die vergiftete Schokolade ein? Sonst fand ich nur die gänzlich nebensächliche Frage, die ich aber trotzdem niederschrieb: Warum bot" Mr. Lazarus für ein Gemälde, das nur zwanzig Pfund wert ist, fünfzig?«

»Er wollte Nick gefällig sein«, meinte ich. »Dafür hätte er einen anderen Weg gewählt. Er ist ein

Kunsthändler und kauft nicht, um mit Verlust weiterzuverkaufen. Wenn er ihr behilflich sein wollte, hätte er ihr als privater Bekannter Geld geliehen.«

»Jedenfalls kann seine Handlung nichts mit dem Verbrechen zu tun haben.«

»Das ist richtig. Trotzdem aber möchte ich auch in diesem Punkt klarsehen, denn es reizt mich, den psychologischen Verästelungen nachzuspüren, Hastings. Und jetzt sind wir beim Buchstaben H angelangt.

H. Kapitän Challenger. - Warum erzählte ihm Mademoiselle Nick, daß sie mit einem anderen Mann verlobt sei? Wodurch wurde sie genötigt, es ihm als einzigen aus dem Freundeskreis zu erzählen? Hatte er ihr einen Heiratsantrag gemacht? Welcher Art sind die Beziehungen zu seinem Onkel?«

»Sein Onkel, Poirot?« »Ja, der Arzt. Jener ziemlich fragwürdige Mitbürger. Sickerte

vielleicht auf dem Umweg über das Marineamt die Nachricht von Michael Setons Tod schon durch, ehe sie öffentlich bekannt wurde?«

»Ich sehe nicht recht, wohin Sie steuern, mein bester Poirot. Was liegt schon daran, selbst wenn Challenger früher als andere Setons Tod erfahren hätte? Das wäre doch für ihn kein Grund, das Mädchen, das er liebt, zu töten?«

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»Alles schön und gut. Und dennoch wittere ich da irgend etwas. Nicht umsonst ist Poirot der Hund, der nach Dingen schnuppert, die nicht sauber sind.

I. Mr. Vyse. - Warum sagte er, daß seine Kusine mit fanatischer Liebe an dem Heim ihrer Vorfahren hinge, was doch offensichtlich nicht den Tatsachen entspricht? Hat er das Testament erhalten oder nicht? Ist er ein ehrlicher Mensch oder nicht?

Und jetzt K. - K ist in jeder Hinsicht ein riesengroßes Fragezeichen. Ist eine Person K überhaupt vorhanden, oder ... Mon dieu, Hastings, was ist Ihnen?«

Mit einem Schrei war ich von meinem Lager emporgefahren und wies nun zitternd zum Fenster. »Ein Gesicht, Poirot, das sich gegen die Scheibe preßte«, rief ich erschreckt. »Ein furchtbares Gesicht. Jetzt ist es verschwunden - doch ich habe es ganz deutlich gesehen.«

Mein Freund ging ruhig zum Fenster, öffnete es und beugte sich hinaus. »Niemand weit und breit!« erklärte er nachdenklich. »Sind Sie sicher, daß Sie kein Fiebertraum narrte?«

»Ganz sicher. Und wie gesagt, es war ein grausiges Gesicht.« »Hm ... Natürlich brauchte jemand, der uns belauschen wollte,

nur auf den Balkon zu klettern ... Doch weshalb nennen Sie das Gesicht grausig?«

»Es war ein weißes, starres, kaum menschliches Antlitz.« »O la la, jetzt spricht das Fieber. Ein Gesicht, meinetwegen.

Auch ein unangenehmes Gesicht, wenn Sie wollen. Doch kaum menschlich? Nein! Es mag verunstaltet gewesen sein durch den harten Druck gegen die Scheibe - auch das will ich noch gelten lassen. Mehr aber nicht.« Grübelnd faltete er seine Papiere zusammen. »Eines wenigstens ist gut: Als der Bursche, auf dessen Schultern dies unsympathische Gesicht sitzt, horchte, erwähnten wir nicht, daß Mademoiselle lebendig und wohlauf ist. Was er sonst auch erlauscht haben mag, ist minder wichtig.«

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»Aber sicherlich sind die Erfolge Ihres ... brillanten Schachzuges ein wenig entmutigend«, warf ich ein, »denn obwohl Nick angeblich tot ist, kann man kaum von einer überraschenden Entwicklung der Dinge sprechen.«

»So schnell erwartete ich sie nicht. Vierundzwanzig Stunden habe ich gesagt. Wenn ich mich nicht sehr täusche, werden wir morgen schon Neues erleben, mon ami. Sonst aber ... Ach was, keine Schwarzseherei! Ich setze meine Hoffnungen auf die morgige Post.«

Am nächsten Morgen erwachte ich zwar sehr geschwächt, aber fieberfrei. Auch der sich meldende Hunger zeigte die wiederkehrende Gesundheit an, und bald darauf saßen Poirot und ich beim gemeinsamen Frühstück in unserem Wohnzimmer und unterhielten uns.

»Nun?« meinte ich boshaft, als er seine Briefe sichtete. »Hat die Post Ihre Erwartungen erfüllt?«

Poirot, der gerade zwei Briefumschläge geöffnet hatte, aus denen Rechnungen zum Vorschein kamen, würdigte mich keiner Antwort, und mir wollte es scheinen, als sei dem kleinen Kampfhahn der Kamm weniger geschwollen als sonst.

Inzwischen sah ich meine eigene Post durch, und als erstes fiel mein Blick auf die Ankündigung einer Spiritistenversammlung. »Wenn alle Stricke reißen, müssen wir bei den Spiritisten Hilfe suchen. Ich habe mich schon oft gewundert, daß nicht mehr Versuche solcher Art gemacht werden. Der Geist des Opfers kehrt zurück und nennt den Mörder. Das würde ein Beweis sein.«

»Uns würde es schwerlich helfen«, sagte Poirot zerstreut. »Ich bezweifle, daß es Maggie Buckley noch zum Bewußtsein kam, durch wessen Hand sie starb. Selbst wenn sie eine Verbindung mit uns herstellen könnte, würde sie uns nichts Wertvolles mitzuteilen haben. Halt, das ist sonderbar!«

»Was denn?«

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»Sie Hastings, reden von der Botschaft der Toten, und im selben Augenblick öffne ich diesen Brief.«

Er reichte mir den Brief, der von Mrs. Buckley kam und folgendermaßen lautete:

Langley, Pfarrhaus Sehr geehrter Monsieur Poirot! Bei meiner Rückkehr fand ich einen Brief vor, den mein armes

Kind kurz nach seinem Eintreffen in St. Loo geschrieben hat. Obgleich er, wie ich fürchte, nichts Wesentliches enthält, denke ich, es könnte Ihnen lieb sein, ihn zu lesen.

Indem ich Ihnen nochmals für alle Ihre Freundlichkeiten danke, bin ich

Ihre aufrichtig ergebene Joan Buckley

Als ich jetzt die Anlage durchflog, fühlte ich einen dicken

Klumpen in meiner Kehle. Wie alltäglich der armen Maggie letzte Zeilen waren, wie völlig nichtsahnend!

Liebe Mutter Soeben gut angekommen. Die Fahrt war recht erträglich, da

ich das Abteil nur noch mit zwei Personen teilte. Das Wetter ist herrlich. Nick heiter und gesund - allerdings ein

bißchen ruhelos. Aber ich sehe beim besten Willen den Grund für ihr Telegramm nicht ein. Dienstag würde auch früh genug gewesen sein.

Für heute nicht mehr. Wir sind zum Tee bei einem australischen Ehepaar eingeladen, an das Nick das Pförtnerhäuschen vermietet hat. Nick behauptet, sie seien ungemein freundlich, sonst aber entsetzlich. Heute abend kommen Mrs. Rice und Mr. Lazarus - der Sohn des bekannten Kunsthändlers - zu Besuch. Ich will schnell den Brief in den Kasten am Tor stecken. Morgen schreibt ausführlich

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Eure Maggie PS. Nick sagte, es gäbe doch einen triftigen Grund für ihr

Telegramm; sie will ihn mir nach dem Tee erzählen. Sie ist sehr sprunghaft und wunderlich.

»Die Stimme der Toten«, bemerkte Poirot ruhig, »und sie verrät uns nichts.«

»In jenen Postkasten am Tor steckte auch Mr. Croft das fehlende Testament«, sagte ich und ärgerte mich gleich darauf selbst über die überflüssige Äußerung.

»Wenigstens behauptete er es. Ich möchte wissen ... Ach, wie gern möchte ich wissen ...«

In derselben Sekunde schrillte das Telefon, und Poirot nahm den Hörer ab. Im Nu ging eine völlige Veränderung mit ihm vor. Zwar blieb er beherrscht und ruhig, aber meine wachsamen Augen gewahrten doch die Erregung, die in ihm schwelte. Da von seiner Seite nur wenig zu dem Gespräch beigesteuert wurde, war ich nicht imstande, zu erraten, um was es sich handelte. Jetzt aber sagte er: »Merci, Monsieur«, und legte den Hörer zufrieden auf.

»He, mein Freund, wer hat recht behalten?« frohlockte er, als er zum Tisch zurückkehrte. »Die Dinge kommen ins Rollen! ... Rechtsanwalt Charles Vyse war am Apparat, um mich zu benachrichtigen, daß er mit der heutigen Morgenpost eine letztwillige Verfügung erhielt, die seine Kusine am 25. Februar dieses Jahres verfaßt und unterzeichnet hat.«

»Was? Das Testament?« »Nicht wahr, es taucht zur richtigen Stunde auf? Nein, war der

alte Poirot so dumm, als er versicherte, daß sich allerhand ereignen würde, sobald Mademoiselle für die Welt tot sei? Ist nicht schon jetzt der Beweis für die Richtigkeit meiner Ansicht erbracht?«

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»Poirot, Sie sind klüger als wir alle zusammen!« rief ich in ehrlicher Begeisterung. »Glauben Sie, es ist das Testament, das Frederica Rice zur Universalerbin einsetzt?«

»Darüber sagte Mr. Vyse nichts, weil es ihm als Vertrauensbruch erscheinen würde. Aber allem Anschein nach haben wir es mit jenem Letzten Willen zu tun, da Ellen Wilson und ihr Ehemann ihre Unterschrift als Zeugen darunter setzten.«

»Mithin sind wir mal wieder bei dem alten Problem angelangt: Frederica Rice.«

»Das Rätsel!« »Frederica Rice - eigentlich ein hübscher Name«, meinte ich,

obwohl es nicht recht in unsere Unterhaltung paßte. »Hübscher jedenfalls als diese scheußliche Abkürzung, die

ihre Freunde zu gebrauchen pflegen: Freddie! Ist das ein geziemender Name für eine schöne, junge Frau?«

»Von Frederica gibt es nicht viele Abkürzungen, Poirot. Es ist nicht so wie zum Beispiel bei Margaret; von diesem Namen gibt es ein halbes Dutzend Abkürzungen: Maggie, Margot, Mägde, Peggie ...«

»Sehr wahr. Nun, Hastings, sind Sie zufriedener, nachdem wieder etwas vor sich geht?«

»Freilich. Doch sagen Sie mir: Erwarteten Sie dies?« »Nein - nicht ganz. Das heißt, eigentlich hatte ich mir nicht

genau ausgeklügelt, was kommen würde. Ich beschränkte mich darauf, mir zu sagen, daß - ein gewisses Ergebnis vorausgesetzt - die Ursachen jenes Ergebnisses ans Tageslicht treten müßten ... Doch was wollte ich gerade erwähnen, als das Telefon läutete? Ah ... ich weiß. Den Brief Mademoiselle Maggies. Ja, ich will ihn noch einmal lesen, denn irgendwie habe ich das Gefühl, daß etwas in ihm mich stutzen ließ.«

Er nahm ihn vom Tisch auf, las ihn und las ihn wieder, während ich langsam im Zimmer umherging und schließlich am Fenster stehenblieb, um die Jachten draußen in der Bucht zu beobachten.

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Plötzlich hörte ich einen Ausruf hinter mir. Mein Freund schlug sich mit beiden Händen an die Stirn. »Bin

ich Unseliger denn blind gewesen?« ächzte er. »Mein Gott, Poirot, was gibt es denn?« »Verwickelt, habe ich Tor gesagt; verwickelt? Nein, aber

äußerste Einfachheit! Und ich Elender sah nichts ... nichts.« »Poirot, klären Sie mich doch auf.« »Warten Sie, warten Sie - jetzt nur nicht viel sprechen. Ich

muß meine Gedanken ordnen, muß sie wieder ordnen im Licht dieser erstaunlichen Entdeckung.«

Und seine Liste mit den Fragen zur Hand, studierte er sie stumm, wobei seine Lippen sich eifrig bewegten. Ein- oder zweimal nickte er nachdrücklich mit dem Kopf. Dann legte er die Bogen nieder, lehnte sich in den Sessel zurück und schloß die Augen, so daß ich schließlich annahm, er sei eingeschlafen.

Nach einem Weilchen aber schlug er mit einem tiefen Seufzer die Lider auf. »Jawohl, nun fügt sich jede Kleinigkeit in das Gesamtbild ein. Auch alle die Dinge, die mich bislang verwirrten und mir ein wenig unnatürlich erschienen.«

»Meinen Sie, daß Sie alles wissen?« »Nahezu alles, Hastings. In mancher Hinsicht haben meine

Schlußfolgerungen genau ins Schwarze getroffen; in anderer wieder war ich trostlos weit von der Wahrheit entfernt. Ich werde heute ein Telegramm mit zwei Fragen nach London senden, doch die Antwort darauf habe ich schon jetzt. Hier nämlich!« Er tippte an seine Stirn.

»Und wenn Sie die Antwort erhalten werden?« drängte ich, von Neugier gepeinigt.

Mit einem Ruck stand er auf den Füßen. »Mein Freund, erinnern Sie sich, daß Mademoiselle Nick sagte, sie hätte sich immer gewünscht, ein Stück im Endhaus zu inszenieren? Heute nacht wird ihr Wunsch in Erfüllung gehen, mit dem einzigen Unterschied, daß Hercule Poirot das Stück aufführen, Mademoiselle Nick aber eine Rolle darin spielen wird.«

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Plötzlich grinste er teuflisch. »Und auch ein Geist wird mitwirken, Hastings. Ein richtiger Geist. Im Endhaus, wo es vordem nie gespukt hat! ... Nein, nein«, wehrte er ab, als ich eine Frage versuchte, »mehr sage ich nicht. Heute nacht werden wir eine Komödie aufführen und dabei die Wahrheit enthüllen. Bis dahin ist noch viel zu erledigen, viel, sehr viel.«

Und in Windeseile sauste er aus dem Zimmer.

19

Es war eine merkwürdige Versammlung, die sich in jener Nacht im Endhaus einfand.

Poirot hatte ich den ganzen Tag über kaum zu Gesicht bekommen. Sogar das Dinner nahm er auswärts ein, ließ mir jedoch eine Botschaft zugehen, daß ich um neun Uhr im Endhaus sein möge. Gesellschaftsanzug sei nicht erforderlich. Das Ganze mutete mich wie ein ziemlich lächerlicher Traum an.

Bei meiner Ankunft wurde ich ins Eßzimmer geführt, wo ich, als ich mich umsah, feststellte, daß von den Personen A bis K der Liste meines Freundes nicht eine einzige fehlte, mit Ausnahme des schemenhaften K, der gut und gern ein Gebilde unserer Phantasie sein mochte.

Sogar Mrs. Croft hatte man in einem Krankenstuhl herübergeschafft, und sie nickte mir freundlich zu. »Nicht wahr, das ist eine Überraschung?« meinte sie, als ich ihr die Hand reichte. »Und für mich eine Abwechslung. Vielleicht müßte ich öfter versuchen, aus unserem Häuschen herauszukommen. Setzen Sie sich zu mir, Hauptmann Hastings. Ich fühle, das wird eine ziemlich grausige Angelegenheit, doch Mr. Vyse bestand darauf.«

»Mr. Vyse?« Ich glaubte nicht recht gehört zu haben, aber sie wiederholte den Namen.

Im Augenblick lehnte der Rechtsanwalt am Kaminsims und unterhielt sich in leisem Ton ernst mit meinem kleinen belgischen Freund. Ellen, Nicks Wirtschafterin, hatte auf einem

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Stuhl unweit der Tür Platz genommen; dicht daneben saß stocksteif und schnaufend ihr widerwärtiger Gatte, während der Sprößling Alfred sich unbehaglich zwischen Vater und Mutter hin- und herwand. Die übrige Gesellschaft saß rund um den Mitteltisch. Frederica in ihrem schwarzen Kleid, Lazarus neben ihr, George Challenger und Croft an der anderen Seite des Tisches und ich, wie gesagt, neben Mrs. Croft. Nach einem abschließenden Nicken nahm Charles Vyse seinen Platz am Kopfende des Tisches ein, und Poirot glitt bescheiden in einen Sessel neben Lazarus. Offenbar beabsichtigte der eigentliche Urheber dieser Zusammenkunft keine führende Rolle zu spielen, sondern hatte Nicks Vetter mit der Leitung beauftragt.

Nun erhob sich der junge Anwalt, der genauso förmlich, leidenschaftslos und kühl aussah wie immer. »Es ist eine recht ungewöhnliche Versammlung, die wir heute hierher berufen haben«, sagte er. »Doch die Umstände sind sehr eigenartig, das heißt, die Umstände, unter denen der Tod meiner Kusine Miss Buckley erfolgte. Klarheit wird erst eine Autopsie schaffen, doch besteht bereits jetzt kaum ein Zweifel, daß ihr Ableben auf Gift zurückzuführen ist, das man ihr mit der Absicht verabfolgte, sie zu töten. Jedoch will ich, da dies eine Angelegenheit der Polizei ist, hierbei nicht länger verweilen.

Im allgemeinen wird das Testament einer verstorbenen Person erst nach dem Begräbnis eröffnet, doch mit Rücksicht auf Mr. Poirots besonderen Wunsch habe ich eingewilligt, es vor der Beisetzung zu verlesen, und zwar am heutigen Abend. Aus diesem Grund sind Sie, meine Herrschaften, hierhergebeten worden. Wie ich schon erwähnte, sind die Umstände so ungewöhnlich, daß sie ein Abweichen von der üblichen Sitte rechtfertigen.

Das Testament kam, obwohl es im vergangenen Februar verfaßt wurde, erst heute morgen in meine Hände.

Die Handschrift ist zweifelsohne jene meiner verstorbenen Kusine; es fehlt auch nicht die vom Gesetz verlangte Beglaubigung durch zwei Zeugen.«

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Er schaltete eine Pause ein und räusperte sich lange und vernehmlich. Aller Augen hingen an ihm, während er nun gemessen aus einem länglichen Umschlag einen der gewöhnlichen Bogen, wie sie Nick auf ihrem Schreibtisch liegen hatte, hervorzog.

»Es ist nicht lang«, erklärte Mr. Vyse und begann dann nach einer abermaligen Pause:

»So lautet der Letzte Wille und das Testament von Magdala Buckley: Ich bestimme, daß alle mit meinem Ableben verbundenen Ausgaben bezahlt werden, und ernenne meinen Vetter Charles Vyse zum Vollstrecker meiner letztwilligen Verfügung. Ich vermache alles, was ich im Augenblick meines Todes besitze, Mildred Croft in dankbarer Anerkennung der Dienste, die sie meinem Vater Philip Buckley leistete, und die durch alle Reichtümer dieser Welt nicht vergolten werden könnten.

Magdala Buckley Zeugen: Ellen Wilson, William Wilson.«

Jeder Versuch, meine Verblüffung zu schildern, müßte scheitern, und ich glaube, daß die übrigen Anwesenden nicht minder erstaunt waren als ich. Einzig und allein Mrs. Croft saß da und nickte verständnisvoll mit dem Kopf.

»Es ist wahr«, sagte sie schlicht, »obgleich ich nie ein Sterbenswörtchen habe darüber verlauten lassen. Philip Buckley war eines Tages bei uns in Australien aufgetaucht, und wenn ich nicht für ihn eingesprungen ... doch lassen wir die Vergangenheit ruhen. Ein Geheimnis ist es gewesen, und ein Geheimnis soll es lieber auch weiterhin bleiben. Nick jedoch scheint davon gewußt zu haben, wahrscheinlich hat ihr Vater es ihr einmal anvertraut. Mein Mann und ich, wir sind hierhergekommen, weil wir das Endhaus, von dem Philip Buckley uns so oft erzählte, persönlich kennenlernen wollten. Und das gute Kind, das uns dem Namen nach kannte, empfing uns mit offenen Armen, bestand darauf, daß wir fortan mit ihr zusammenleben müßten, und als wir dies

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abschlugen, drängte sie, daß wir dann wenigstens im Pförtnerhäuschen wohnen sollten. Liebe, kleine Nick! Nicht einen Penny Miete wollte sie von uns nehmen, und wenn wir sie ihr trotzdem hinüberschickten, brachte sie das Geld am anderen Tag erbost zurück. Und jetzt - dies! Oh, wenn mir jetzt noch einmal jemand behauptete, es gäbe keine Dankbarkeit mehr in dieser Welt, dem werde ich die Meinung sagen! Gutes, liebes Kind!«

Poirot blickte fragend den jungen Rechtsanwalt an. »Hatten Sie eine Ahnung davon?«

»Ich wußte wohl, daß Philip Buckley in Australien gewesen war, doch niemals kam mir ein Gerücht von irgendeinem Skandal, der sich um seine Person drehte, zu Ohren. Wollen Sie nicht vielleicht...« Er wandte sich an Mrs. Croft, doch diese wehrte entschieden ab.

»Nein, auch nicht ein einziges Wort werden Sie von mir erfahren. Das Geheimnis wird mit mir zu Grabe getragen.«

Vyse sagte nichts, sondern drehte spielend seinen Bleistift zwischen den Fingern.

»Ich vermute, Mr. Vyse, daß Sie als nächster Verwandter den Letzten Willen anfechten können«, mischte sich Poirot ein, indem er sich nach vorn beugte, um den Anwalt besser zu sehen. »Wenn ich recht unterrichtet bin, steht jetzt ein Riesenvermögen auf dem Spiel, das nicht vorhanden war, als das Testament abgefaßt wurde.«

Charles Vyse maß ihn mit einem kühlen Blick. »Das Testament ist durchaus rechtsgültig, und es würde mir nicht einfallen, die Anordnungen, die meine Kusine hinsichtlich ihres Eigentums traf, anzufechten.«

»Sie sind ein Mann von ehrenwerter Gesinnung!« lobte Mrs. Croft. »Und Sie werden sehen, daß es Ihnen nicht zum Schaden gereicht.«

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Charles zuckte bei dieser wohlgemeinten, jedoch etwas peinlichen Bemerkung zusammen. Und nun ergriff zum erstenmal auch Mr. Croft das Wort.

»Ja, Mutter, das ist wirklich eine Überraschung«, sagte er, und man hörte den Stolz in seiner Stimme. »Nicht mal mich hat Nick über den Inhalt des Testaments aufgeklärt.«

»Das liebe, das herzige Mädchen!« murmelte seine Gattin und tupfte sich mit ihrem Taschentuch die tränenfeuchten Augen. »Ich wollte, sie könnte aus dem Jenseits die Freude sehen, die sie uns bereitete. Aber vielleicht sieht sie uns - wer weiß?«

»Vielleicht«, stimmte ihr Poirot zu. Und plötzlich schien ein Gedanke in seinem Hirn aufgeblitzt

zu sein. Er blickte sich rings im Kreise um. »Ich habe eine Idee, meine Herrschaften! Wir sitzen hier alle um einen Tisch - lassen Sie uns eine Séance veranstalten.«

»Eine Séance?« sagte Mrs. Croft etwas erschrocken. »Aber sicherlich ...« »Ja, ja, es wird sehr interessant werden. Mein Freund Hastings

hat sich schon öfter als ausgezeichnetes Medium bewährt.« (Warum entschließt er sich gerade für mich, fluchte ich innerlich.) »Um eine Botschaft aus der anderen Welt zu erhalten, ist die Gelegenheit einzig! Ich fühle, daß die Vorbedingungen günstig sind. Und Sie, Hastings, haben sicher dasselbe Gefühl.«

»Ja«, sagte ich und nahm den mir zugeworfenen Faden auf. »Gut. Ich wußte es. Schnell, die Lichter aus.« In der nächsten Minute hatte er sämtliche Lampen

ausgeschaltet, noch ehe die Anwesenden die nötige Energie aufgebracht hatten, sich seinem Vorschlag zu widersetzen. Aber wahrscheinlich waren sie alle noch wie betäubt von diesem erstaunlichen Testament und auch deshalb nicht zum Widerstand aufgelegt. Der Raum lag nicht in völliger Finsternis. Infolge der sehr heißen Nacht hatte man das Fenster geöffnet und die Vorhänge zurückgezogen, so daß ein schwacher Abglanz der Sterne ins Zimmer fiel. Nachdem wir einige Minuten in

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verhaltenem Schweigen gesessen hatten, vermochte ich schwach die Umrisse der Möbel zu erkennen. Im übrigen aber sann ich darüber nach, wie ich mich wohl zu verhalten habe, und verwünschte Poirot von ganzem Herzen, weil er versäumt hatte, mir vorher entsprechende Richtlinien zu geben. Indessen schloß ich brav die Augen und atmete in einer ziemlich schnarchenden Weise. Nun erhob sich Poirot und kam auf Zehenspitzen zu meinem Stuhl geschlichen, und als er nach etlichen Sekunden auf seinen eigenen Platz zurückkehrte, murmelte er: »Ja, er befindet sich schon in Trance. Lange werden wir nicht mehr zu warten haben.«

Harrend in der Dunkelheit sitzen erfüllt einen mit unerträglicher Spannung. Ich weiß, daß ich selbst eine Beute meiner Nerven wurde, und war überzeugt, daß die anderen sich in einer ähnlichen, wenn nicht schlimmeren Verfassung befanden. Denn ich hatte wenigstens eine Ahnung hinsichtlich dessen, was sich ereigenen würde; mir war die eine wesentliche Tatsache bekannt, die niemand sonst kannte.

Und nichtsdestoweniger setzte mein Herz einen Augenblick aus, als ich bemerkte, wie die Tür des Eßzimmers sich langsam öffnete.

Vollkommen geräuschlos öffnete sie sich - vermutlich hatte Poirot, der schlaue Fuchs, sie zuvor geölt! -, und die Wirkung war ungeheuer gruselig. Dann geschah während etlicher Minuten weiter nichts. Aber ein kalter Luftzug schien durch das Zimmer zu fegen. Vermutlich war es ganz gewöhnliche Zugluft, die durch das offene Fenster verursacht wurde, doch ich empfand den eisigen Hauch, von dem alle Gespenster- und Geistergeschichten zu berichten wissen.

Und dann sahen wir es alle! - Eingerahmt von der Türöffnung stand dort eine schemenhafte Gestalt. Nick Buckley ...

Unhörbar und mit einem fließenden, ätherischen Schweben, das unbedingt den Eindruck des Unirdischen erweckte, kam sie weiter ins Zimmer herein ...

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Ah, welch unvergleichliche Schauspielerin war der Welt in ihr verlorengegangen! Nick hatte ein Stück im Endhaus aufführen wollen - jetzt spielte sie es; und ich fühlte, daß sie bis ins Mark davon gepackt wurde. Ah, welch vollendete Kunst!

Noch näher wogte und floß sie an unseren Tisch heran - und das Stillschweigen wurde gebrochen.

Ein japsender Laut kam aus dem Krankenstuhl neben mir, eine Art Gurgeln kam von Mr. Croft. Ein bestürzter Fluch von Kapitän Challenger. Charles Vyse schmiegte sich ganz eng an die Rückenlehne seines Stuhls, glaube ich. Lazarus beugte sich nach vorn, und nur Frederica gab weder einen Laut noch eine Bewegung von sich.

Und dann schrillte ein Schrei durch das Zimmer, und wie eine Wahnsinnige sprang Ellen von ihrem Platz auf. »Sie ist es!« kreischte sie. »Sie kommt zurück ... sie geht um. Und alle, die ermordet wurden, gehen um ... Sie ist es, oh, sie ist es!«

Ein Klick! Und grelle Lichtflut strömte auf uns hernieder. Ich sah Poirot neben dem Schalter stehen, sah das strahlende Lächeln eines Zirkusdirektors auf seinem Gesicht. Und ganz in der Mitte des Zimmers stand Nick in ihren weißen, fließenden Gewändern.

Frederica Rice war die erste, die Worte fand. Sie streckte ungläubig eine Hand aus - berührte die Freundin. »Nick!« wisperte sie. »Du bist es ... du bist es wirklich!«

Und Nick lachte. »Ja«, entgegnete sie, »ich, ganz leibhaftig und nicht mein Geist. Ich danke Ihnen, Mrs. Croft, herzlich für alles, was Sie meinem Vater Gutes taten, doch fürchte ich, daß Sie sich leider der Nutznießung jenes Testaments nicht werden erfreuen können.«

»Oh, mein Gott«, ächzte die kranke Frau. »Oh, mein Gott! Bring mich fort, Bert. Bring mich fort. Alles war ein Scherz, mein Kind. Wirklich, ein Scherz.«

»Ein höchst merkwürdiger Scherz!« meinte Nick.

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Und während dieses Wortwechsels war, ohne daß ich es bemerkt hatte, ein Mann eingetreten. Inspektor Japp. Er wechselte mit meinem Freund einen raschen Blick und nickte, als gälte es, ihm etwas zu bestätigen. Plötzlich aber glitt ein Schmunzeln über seine Züge, und mit einem raschen Schritt stand er neben der zusammengekauerten Gestalt im Krankenstuhl.

»Hallo, hallo! Wen haben wir denn da? Eine alte Bekannte - Milly Merton. Versuchen Sie es immer noch mit dem alten Trick, meine Teure?« Ohne Mrs. Crofts schrille Proteste zu beachten, wandte er sich der übrigen Gesellschaft zu. »Ein geschickterer Fälscher als Milly Merton lebt auf Gottes weiter Erde nicht. Wir wußten, daß sie, als sie sich nach ihrem letzten Fischzug aus dem Staub machte, einen Autounfall gehabt hatte. Aber bewahre, selbst mit einer Rückgratverletzung läßt Milly nicht von ihrem alten Handwerk. Sie ist eine Künstlerin, diese Frau!«

»War jenes Testament eine Fälschung?« staunte Charles Vyse. »Natürlich war es eine Fälschung«, sagte Nick höhnend.

»Meinst du, ich hätte eine solche verrückte Verfügung getroffen? Das Endhaus vermachte ich dir, Charles, und alles übrige Frederica.«

Sie trat ganz dicht an ihre Freundin heran, und beinahe in der nämlichen Sekunde geschah das, was sicherlich nicht zu Poirots Programm gehörte.

Eine Stichflamme zuckte draußen vor dem Fenster auf; dann das Zischen einer Kugel. Hierauf abermals ein Schuß, und draußen ein Stöhnen und ein schwerer Fall ... Und leichenblaß schwankte Frederica auf ihren Füßen, während ein dünner Blutfaden an ihrem Arm herunterrieselte ...

20

Das alles spielte sich in rasender Eile ab, so daß für einen Augenblick niemand wußte, was geschehen war. Doch nun

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rannte Poirot, gefolgt von Kapitän Challenger, in den Garten hinaus. Gleich darauf erschienen sie wieder und trugen den Körper eines Mannes, und als sie ihn vorsichtig in einen großen Ledersessel setzten und sein Antlitz sichtbar wurde, stieß ich unwillkürlich einen Schrei aus.

»Das Gesicht am Fenster ...« Ich erkannte ihn sofort, doch gleichzeitig mußte ich zugeben,

daß meine Behauptung, es sei kaum menschlich, eine Übertreibung gewesen war. Und trotzdem war etwas in diesem Gesicht, das meinen Eindruck rechtfertigte. Es war das Gesicht eines verlorenen, von der menschlichen Gesellschaft abgesonderten Wesens.

Weiß, schwächlich, verderbt, maskengleich, als ob das Seelische schon längst aus ihm entflohen sei. Und aus der Schläfe quoll unaufhörlich ein Blutstrom hervor.

Frederica kam langsam herbei, bis sie neben dem Ledersessel stand.

»Sind Sie verletzt, Madame?« fragte Poirot. »Die Kugel ritzte nur meine Schulter - das ist alles.« Und sanft

schob sie ihn beiseite und beugte sich über den fremden Mann, dessen Bewußtsein zurückkehrte.

»Diesmal habe ich dir hoffentlich gründlich eins auf den Pelz gebrannt«, zischte er bösartig die blasse Frau an. Und gleich darauf schlug seine Stimme um, wurde bettelnd wie die eines Kindes. »Oh, Freddie, ich wollte dir nicht weh tun, nein, das wollte ich nicht. Du hast dich mir gegenüber ja immer so anständig gezeigt ...«

»Laß nur - es ist schon alles gut.« Sie kniete neben dem Schwerverletzten nieder.

»Ich wollte ...« Sein Kopf sank herab, und der angefangene Satz blieb bis in alle Ewigkeit unvollendet.

Frederica blickte fragend zu Poirot empor. »Ja, Madame, er ist tot«, sagte er gütig.

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Langsam erhob sie sich und schaute auf den Fremden herab, strich dann mit einer Hand über seine Stirn - mitleidig, wie mir schien. Und mit einem tiefen Seufzer wandte sie sich um.

»Ich war mit ihm verheiratet«, erklärte sie ruhig. »K«, murmelte ich. Poirot, dessen scharfe Ohren meine Bemerkung gehört hatten,

nickte. »Ja, Hastings. Fortwährend fühlte ich, daß im Hintergrund ein K steckte, und habe es Ihnen ja auch mehr als einmal gesagt.«

»Ich war mit ihm verheiratet«, wiederholte Frederica mechanisch, und ihre Stimme klang unendlich müde. Jim Lazarus führte sie behutsam zu einem Stuhl. »Und jetzt, da er tot ist, möchte ich Ihnen alles erzählen:

Er war vollkommen auf die schiefe Bahn geraten, außerdem rettungslos den Rauschgiften verfallen, zu denen er auch mich verführte. Seit ich ihn verließ, kämpfe ich verzweifelt gegen diese Gewohnheit, und ich glaube, daß ich fast geheilt bin. Aber welche Anstrengung hat es mich gekostet! Welch entsetzlichen Kampf! Nur jemand, der es durchgemacht hat, kann es verstehen. Vor meinem Mann aber befand ich mich ständig auf der Flucht. Er pflegte nicht zu ruhen, bis er mich wieder aufgespürt hatte, um mir dann mit Geldforderungen zuzusetzen, mit Drohungen. Ein unbarmherziger Erpresser. Wenn ich ihm kein Geld gäbe, würde er sich erschießen. Und als er merkte, daß diese Drohung nicht mehr fruchtete, drohte er, mich zu erschießen. Doch man darf ihn für sein Tun nicht verantwortlich machen ... er war verrückt, unzurechnungsfähig ...

Ich vermute, daß Maggie Buckley von seiner Hand erschossen wurde, irrtümlicherweise, denn die Kugel sollte wohl mir gelten. Sie, Mr. Poirot, werden mir nun gewiß vorwerfen, daß ich es verschwieg. Aber war ich denn schließlich meiner Sache unbedingt sicher? Und jene seltsamen Unfälle Nicks gaben meinen Zweifeln neue Nahrung, schienen geradezu das Gegenteil zu beweisen. So wurde ich von inneren Kämpfen zerrissen, bis der Tag kam, an dem ich einen Papierfetzen mit

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seiner Unterschrift auf Mr. Poirots Tisch liegen sah - ein Teil von einem Brief, den er mir gesandt hatte.

Seit jenem Nachmittag wußte ich, daß Mr. Poirot ihm auf der Spur und seine Verhaftung nur eine Frage der Zeit war.

Doch unbegreiflich ist mir die Sache mit dem Konfekt. Welchen Grund könnte er gehabt haben, Nick zu vergiften? Ich habe gegrübelt und gegrübelt und bin immer zu dem Resultat gelangt, daß er nichts damit zu schaffen hat.«

Plötzlich schlug sie beide Hände vors Gesicht, und als sie sie wieder sinken ließ, sagte sie mit einer ergreifenden Feierlichkeit: »Das ist alles ...«

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Jim Lazarus legte zärtlich einen Arm um ihre Schulter. »Mein Liebling!« sagte er, »mein armer Liebling.«

Mein Freund aber ging hinüber zu der Kredenz, schenkte ein Glas Wein ein und brachte es ihr. Und während sie trank, stand er neben ihr wie ein sorgender Vater neben seinem leidenden Kind.

Jetzt reichte sie ihm das Glas zurück und lächelte. »Danke - nun fühle ich mich wieder stark. Was... was müssen wir also zunächst tun?«

Fragend richtete sie ihre Augen auf Japp, der jedoch den Kopf schüttelte. »Ich bin auf Urlaub, Mrs. Rice. Nur um einem alten Freund gefällig zu sein, kam ich hierher. Den Mordfall aber bearbeitet die Polizei von St. Loo.«

Nun blickte sie Poirot an. »Und Mr. Poirot arbeitet für diese?« »Quelle idé!« wehrte der kleine Belgier ab. »Ich bin bloß ein

ganz bescheidener Ratgeber.« »Mr. Poirot«, mischte sich Nick ein, »können wir es nicht

vertuschen?« »Möchten Sie das, Mademoiselle?«

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»Ja. Denn mich geht es doch am meisten an. Und fortan werden keine Attentate mehr auf mich verübt werden.«

»Das ist richtig: Fortan werden keine Attentate mehr auf Sie verübt werden«, wiederholte Poirot eindringlich.

»Sie denken an Maggie, Mr. Poirot. Aber auch wenn Sie die Sache weiter verfolgen, wird meine arme Kusine nicht wieder lebendig. Hingegen erwächst daraus für Frederica ein Übermaß an Aufregung - und sie hat es nicht verdient.«

»Mademoiselle, Sie sagen, sie hätte es nicht verdient?« »Gewiß nicht. Habe ich Ihnen nicht schon am ersten Tag

unserer Bekanntschaft erzählt, daß sie mit einem Unmenschen verheiratet sei? Heute nacht konnten Sie sich selbst davon überzeugen, was er ist. Doch weshalb sollen wir einen Toten an den Pranger stellen? Lassen Sie die Sache ruhen, lassen Sie die Polizei weiter nach dem Mann suchen, der Maggie erschoß. Sie wird ihn nicht finden, und alles verläuft im Sande.«

»Also wirklich, Mademoiselle? Vertuschen?« »Ja, bitte. Oh, bitte, lieber Mr. Poirot!« Mein Freund musterte sämtliche Anwesenden. »Was meinen

Sie dazu?« »Ich bin dafür«, erwiderte ich, da Poirots Blick gerade auf mir

ruhte. »Ich auch«, sagte Lazarus. »Das Beste, was mir machen können«, brummte Challenger. »Wollen wir doch alles vergessen, was sich heute nacht in

diesem Zimmer zutrug.« Dies meinte sehr entschieden Mr. Croft.

»Ihnen würde das natürlich passen!« warf Inspektor Japp dazwischen.

»Üben Sie Großmut auch an mir«, schluchzte die sogenannte Mrs. Croft, zu Nick gewandt, die ihr einen spöttischen Blick schenkte, aber keine Antwort gab.

»Ellen?«

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»Ich und William würden kein Wort dagegen einzuwenden haben, Sir.«

»Und Sie, Mr. Vyse?« »Eine solche Sache darf man nicht vertuschen«, erklärte der

Rechtsanwalt. »Die Tatsachen müssen der zuständigen Stelle bekanntgegeben werden.«

»Charles!« schrie Nick. »Es tut mir leid, meine Liebe. Ich betrachte es vom

gesetzlichen Standpunkt aus.« Poirot lachte laut auf. »Also sieben Stimmen gegen eine, da

der gute Japp strenge Neutralität wahrt.« »Jawohl, ich bin auf Urlaub!« versicherte Japp mit einem

teuflischen Grinsen. »Ich zähle nicht.« »Sieben zu eins. Nur Mr. Vyse steht unverbrüchlich auf Seiten

des Gesetzes und der Ordnung. Meine Hochachtung - Sie sind ein Mann von Charakter!«

Der Anwalt zuckte die Achseln. »Mein Gott, die Lage ist eindeutig. Wie kann man da überhaupt überlegen?«

»Ja, Monsieur, Sie sind ein rechtschaffener Mann. Eh bien - auch ich schlage mich auf die Seite der Minderheit. Auch ich stimme für die Wahrhaftigkeit!«

»Mr. Poirot!« rief Nick verzweifelt. »Mademoiselle, Sie selbst haben mich in den Fall

hineingezogen; auf Ihren Wunsch befaßte ich mich damit. Jetzt können Sie mir nicht Schweigen gebieten.« Er hob drohend seinen Zeigefinger. »Nehmen Sie bitte Platz - alle. Und dann will ich Ihnen die Wahrheit berichten.«

Wie folgsame Schüler setzten wir uns und wandten ihm wißbegierig das Gesicht zu.

»Hören Sie! Ich habe hier eine Liste der Personen, die mit dem Verbrechen irgendwie in Berührung stehen und die ich mit den Buchstaben A bis K kennzeichnete. K stand an Stelle einer unbekannten Person, die durch einen der übrigen in das

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Verbrechen hineingezogen wurde. Bis heute nacht wußte ich nicht, wer K war, obwohl ich, wie Ihnen mein Freund Hastings bestätigen kann, immer mit ihm rechnete. Und die Ereignisse, deren Zeugen Sie waren, haben mir recht gegeben.

Jedoch vergegenwärtigte ich mir gestern plötzlich, daß ich einen schweren Irrtum begangen hatte, indem ich meine Liste mit dem Buchstaben K abschloß. Und so fügte ich ihr noch ein L hinzu.«

»Wie? Noch eine unbekannte Person?« schnarrte Mr. Vyse. »Das trifft nicht ganz zu. Denn während mir K als Symbol für

eine unbekannte Person galt, deckt L eine Person, die von Rechts wegen schon von Anfang an auf die Liste gehört hätte, indes übersehen worden war.«

Er beugte sich freundlich über die blasse Frederica. »Beruhigen Sie sich, Madame. Ihr Gatte hat sich nicht des Mordes schuldig gemacht. Mademoiselle Maggy Buckley wurde durch die Person L erschossen ...«

»Aber ... aber wer ist L?« Poirot gab Inspektor Japp einen Wink, der vortrat und in der

sachlichen, knappen Art, die ich von früher her an ihm kannte, folgendes bekundete: »Gemäß der erhaltenen Anweisungen legte ich mich, von Mr. Poirot heimlich eingeschmuggelt, am frühen Abend in den Hinterhalt, das heißt, ich verbarg mich hinter den Vorhängen von Miss Buckleys Wohnzimmer. Als späterhin sämtliche Geladenen hier in diesem Zimmer versammelt waren, betrat eine junge Dame das Wohnzimmer und drehte das Licht an. Hierauf ging sie zum Kamin und öffnete eine hinter der Täfelung verborgene Nische, die offensichtlich einem geheimen Federdruck gehorchte. Aus der Nische nahm sie eine Pistole und verließ mit ihr den Raum. Sofort kam ich aus meinem Versteck hervor, um ihr zu folgen, und war imstande, durch den Türspalt ihr weiteres Tun zu beobachten. Bei der Ankunft hatten die Gäste draußen in der Halle ihre Überkleidung abgelegt, und die junge Dame steckte die Pistole, nachdem sie diese sorgfältig mit

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einem Taschentuch abgewischt hatte, in die Tasche eines grauen Mantels, der Mrs. Rice gehört.«

Ein wütender Schrei brach von Nicks Lippen. »Das ist gelogen!«

Mein Freund wies mit der Hand auf die Empörte. »Voilà!« sagte er. »Die Person L! Es war Mademoiselle Nick, die ihre Kusine Maggie Buckley erschoß.«

»Sind Sie verrückt?« schrie Nick. »Warum sollte ich Maggie töten?«

»Um das Geld zu erben, das Michael Seton seiner Braut hinterlassen hatte. Auch Ihre Kusine hieß Magdala Buckley, und Ihre Kusine war mit ihm verlobt - nicht Sie.«

»Sie ... Sie ...« Zitternd stand sie dort, unfähig, zusammenhängend zu sprechen.

Poirot drehte sich um zu Inspektor Japp. »Haben Sie mit der Polizei telefoniert?«

»Jawohl. Sie wartet bereits mit dem Haftbefehl in der Halle.« »Sie sind allesamt verrückt!« sagte Nick verächtlich und

schritt schnell zu Fredericas Platz hinüber. »Freddie, gib mir deine Armbanduhr als ... Erinnerung, ja?«

Langsam löste Mrs. Rice die juwelenbesetzte Uhr von ihrem Handgelenk und gab sie ihrer Freundin.

»Ich danke dir. Und nun - müssen wir wohl diese vollkommen lächerliche Komödie zu Ende führen.«

»Die Komödie, die Sie, Mademoiselle, planten und im Heim Ihrer Vorfahren in Szene setzten. Ja, doch Sie taten unklug daran, die Starrolle Hercule Poirot anzuvertrauen. Das war Ihr Fehler, Mademoiselle - ein verhängnisvoller Fehler.«

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»Wünschen Sie eine genaue Aufklärung?« Mit einem befriedigten Lächeln und der Miene scheinbarer Demut stellte Poirot die Frage.

Wir waren ins Wohnzimmer hinübergegangen - ein kleinerer Kreis als zuvor. Die Dienstboten hatten sich taktvoll zurückgezogen, und die freundliche Familie Croft war von der Polizei abgeführt worden. Übrig blieben Frederica, Lazarus, Challenger, Vyse und ich.

»Eh bien - ich will es offen gestehen, daß ich mich habe narren lassen. Wie ein Gimpel ging ich der kleinen Nick auf den Leim. Ah, Madame, wie recht haben Sie gehabt, als Sie sagten, daß Ihre Freundin eine geschickte kleine Lügnerin sei! Wie recht!«

»Nick erzählte stets Lügengeschichten«, sagte Frederica Rice schlicht. »Und deshalb traute ich ihren wunderbaren Rettungen aus Todesgefahr nicht.«

»Und ich alter Dummkopf traute ihr!« »Haben sie sich denn in Wahrheit nicht zugetragen?« forschte

ich, noch hoffnungslos verwirrt. »Sie waren so geschickt erfunden, daß man den Eindruck

gewinnen mußte, sie hätten sich zugetragen. Aber ich will Ihnen die Geschichte lieber als einheitliches Ganzes mitteilen, nicht als Stückwerk.

Da steht ganz am Anfang diese Nick Buckley, jung und schön, gewissenlos, leidenschaftlich und mit fanatischer Liebe an ihrem Heim hängend.«

»Das habe ich Ihnen ja gesagt, Mr. Poirot«, warf Charles Vyse ein.

»Ja, aber ich glaubte, daß Sie sie falsch beurteilten. Tatsächlich jedoch liebte Nick ihr Endhaus, auf dem eine beträchtliche Schuldenlast ruhte. Und Nick hatte kein Geld und brauchte Geld und sehnte sich nach Geld. Da lernte sie in le Touquet den jungen Seton kennen und verstand, ihm den Kopf zu verdrehen. Vermutlich ist ihr bekannt gewesen, daß er der Erbe der Millionen seines närrischen Onkels war. Ha! wird sie gejubelt

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haben, mein Glücksstern steigt! ... Aber leider vermochte sie Seton nicht ernstlich zu fesseln - sie war für ihn ein amüsanter Flirt. In Scarborough sehen sie sich wieder; er nimmt sie in seiner Maschine mit hinauf in die Lüfte und dann ... tritt die Katastrophe ein. Er lernt Maggie kennen und verliert im ersten Augenblick sein Herz an sie.

Mademoiselle ist wie betäubt! Ihre Kusine Maggie, die sie keineswegs hübsch findet! Aber der junge Seton urteilt anders. Für ihn ist Maggie das einzige Mädchen in der Welt. Bald verloben sie sich heimlich, nur eine Person weiß davon: Nick. Wie selig ist die arme Maggie, daß sie wenigstens zu einem Menschen von dem Geliebten reden kann! Fraglos hat sie der Kusine auch stellenweise aus den Briefen des kühnen Fliegers vorgelesen, und auf diese Weise erfährt Mademoiselle Nick von dem Testament, dem sie zwar vorläufig keine Beachtung schenkt, das aber doch irgendwie in ihrem Gedächtnis haften bleibt.

Es kommt der plötzliche und unerwartete Tod Sir Matthew Setons, und kurz darauf tauchen Gerüchte von einem Unfall des Neffen auf. Nun keimt ein Plan in dem schwarzen Koboldskopf der jungen Herrin des Endhauses. Michael Seton weiß nicht, daß auch ihr Taufname Magdala lautet; er kennt sie nur als Nick. Sein Testament - eine sehr oberflächliche Fassung - hat nur einen Namen erwähnt. Doch in den Augen der Welt ist sie Setons Freundin; mit ihr hat der gesellschaftliche Klatsch ihn zusammengekuppelt. Und wenn sie behauptete, daß sie verlobt seien, würde sich niemand verwundern. Aber um dies mit Erfolg durchführen zu können, dazu muß Maggie aus dem Weg geräumt werden!

Die Zeit ist kurz. Sie schickt Maggie eine Einladung, nach St. Loo zu kommen, und in der Zwischenzeit hat sie ihre Unfälle. Das Bild, dessen Draht sie durchfeilt. Die Autobremsen, an denen sie manipuliert. Der Felsblock, der sich vielleicht wirklich gelöst hat, aber nicht, als Nick sich auf dem Pfad unterhalb der Bruchstelle befand.

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Und dann - sieht sie meinen Namen in der Zeitung - ich habe Ihnen gesagt, Hastings, daß der Name Hercule Poirot jedem geläufig ist! - Und sie hat die unglaubliche Verwegenheit, mich zu ihrem Komplicen zu machen. Die Kugel, die angeblich im Hotelgarten ihren Hut durchbohrt und zu meinen Füßen niederschlägt. Oh, welch gerissenes Spiel! Und ich falle darauf herein! Ich glaube an die Gefahr, die sie bedroht! Bon! Jetzt hat sie einen wertvollen Zeugen auf ihrer Seite, der ihr unwissentlich noch den Dienst leistet, darauf zu drängen, daß sie eine Freundin zum Schutz ins Endhaus nimmt.

Ungesäumt macht sie sich diesen Glücksfall zunutze und telegraphiert Maggie, sie möge einen Tag früher kommen. Wie leicht ist jetzt die Ausführung des Verbrechens! Sie verläßt uns, während das Dessert gereicht wird, um am Radio die Nachricht von Setons Tod zu hören, worauf sie umgehend die letzten Vorbereitungen trifft. Es steht ihr genügend Zeit zur Verfügung, sich Setons Briefe an Maggie anzueignen, sie zu durchfliegen und die wenigen auszuwählen, die ihrem Zweck entsprechen. Diese steckt sie unter ihre Wäsche. Später verlassen sie und ihre Kusine gleichzeitig das Feuerwerk. Nick rät ihrer Kusine, den Schal zu nehmen, schleicht ihr dann heimlich nach und erschießt sie. Rasch ins Haus zurück, rasch die Pistole in das Geheimfach, von dessen Vorhandensein sie natürlich wußte. Nun hinauf in das Schlafzimmer, wo sie wartet, bis Stimmen laut werden. Man hat den Leichnam entdeckt - das ist ihr Stichwort. Sie saust die Treppe hinab und durch die Terrassentür ins Freie.

Wie prachtvoll sie ihre Rolle spielte! Herrlich! Ja, ja, sie führte ein großes Drama auf. Die Wirtschafterin Ellen erklärte meinem Freund Hastings und mir, das Endhaus sei kein gutes Haus, und ich bin geneigt, ihr beizupflichten. Aus der Luft des Hauses sog Mademoiselle Nick ihre Eingebungen.«

»Aber das vergiftete Konfekt«, meinte Frederica. »Das ist mir so unverständlich wie zuvor.«

»Auch das war ein wohlüberlegter Schachzug, Madame. Sehen Sie nicht ein, daß durch ein weiteres Attentat gegen Nick

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unfehlbar der Eindruck erweckt werden mußte, daß Maggie nur einer Verwechslung zum Opfer gefallen war? Als sie die Stunde gekommen glaubte, telefonierte sie Madame Rice an und bat, ihr eine Schachtel Cailler-Schokolade zu besorgen.«

»Dann war es Nicks Stimme?« »Gewiß, Madame. Wie oft ist doch im Leben die einfachste

Erklärung die richtige! Mademoiselle veränderte den Tonfall ein wenig, damit Ihnen - wenn man Sie verhören würde - Zweifel aufsteigen sollten. Und als die Pflegerin die Schachtel ins Zimmer gebracht hatte, da - ach, wieder furchtbar einfach! - füllt Nick drei Stück mit Kokain, das sie geschickt verborgen bei sich hat, ißt eins und wird krank - jedoch nicht zu krank, denn sie weiß nicht nur die Dosis genau abzuschätzen, sondern auch, welche Symptome sie hinterher übertreiben muß ...

Und die Karte - meine Karte! Ah, sapristi - sie hat eine staunenswerte Unverfrorenheit. Es war tatsächlich meine Karte: die eine, die ich ihr mit dem Blumenkorb sandte. Einfach, nicht wahr? Ja, aber nicht jedem wäre dieser Gedanke gekommen ...«

Er machte eine Pause, die nach einem Weilchen Frederica Rice beendigte: »Weshalb hat sie die Pistole in meinen Mantel gesteckt?«

»Madame«, lächelte mein Freund, »auf diese Frage war ich gefaßt. Sagen Sie mir, ob Sie niemals mit der Möglichkeit rechneten, daß Mademoiselle Sie nicht mehr gern haben könnte? Daß Sie vielleicht sogar von ihr gehaßt würden?«

»Das ist schwer zu sagen, Mr. Poirot«, meinte Frederica gedehnt. »Wir lebten ein Leben der Unaufrichtigkeit. Früher hat sie mich unbedingt gern gehabt.«

»Mr. Lazarus, es ist jetzt nicht der Augenblick für falsche Bescheidenheit. Gestehen Sie daher einmal ganz offen: War jemals etwas zwischen Ihnen und ihr?«

»Nein«, erklärte der junge Kunsthändler ohne Besinnen. »Kurze Zeit fesselte mich ihr Wesen. Und dann - ich weiß nicht warum - ließ ich sie links liegen.«

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»Ja«, sagte Poirot mit weisem Nicken, »das war Mademoiselle Nicks tragisches Schicksal: Sie zog die Menschen an - und dann ließ man sie links liegen. Anstatt sie liebzugewinnen, verliebten Sie sich in ihre Freundin, Mr. Lazarus. Und Nick begann Madame zu hassen - Madame, hinter der ein reicher Freund stand. Letzten Winter aber, als sie ihr Testament aufsetzte, war sie Madame noch aufrichtig zugetan.

Und rechtzeitig erinnerte sie sich dieses Testaments, von dessen Unterschlagung durch Croft sie nichts wußte. Madame - so würde die Welt urteilen - hätte triftige Gründe, ihren Tod zu wünschen, und daher wurde Madame mit der Besorgung der Schokolade betraut. Und wenn hinterher noch in dem Mantel der ehemaligen Freundin die Pistole zum Vorschein kam, die Miss Maggie getötet hatte ... Oh, welch raffiniert ausgeklügelter Plan!«

»Mein Gott, wie muß sie mich gehaßt haben!« murmelte Mrs. Rice erschüttert.

»Ja, Madame, denn Ihnen war gegeben, was ihr mangelte: die Kunst, Liebe zu gewinnen und sie sich zu erhalten.«

»Bin ich denn so beschränkt, daß ich die Testamentsfälschung noch immer nicht gänzlich durchschaue?« ließ sich jetzt Challenger vernehmen.

»Nein? Nun, das ist ein Geschäftchen, das ganz getrennt nebenher läuft. Nachdem die Crofts sich in diesen Winkel zurückgezogen haben, soll Mademoiselle Nick operiert werden. Die Crofts sehen darin eine günstige Gelegenheit, überzeugen sie von der Notwendigkeit, eine letztwillige Verfügung zu treffen, und übernehmen die Besorgung des Briefes, um ihn schleunigst durch eine geschickte Fälschung zu ersetzen, mit deren Absendung naturgemäß gewartet wird.

Doch Mademoiselle übersteht ihre Blinddarmoperation glänzend. Schade, werden die Mieter des Pförtnerhäuschens gedacht haben. Als jedoch die Anschläge auf Nicks Leben beginnen, steigt das Barometer von Crofts Hoffnung wieder. Schließlich verbreite ich die Nachricht, daß Mademoiselle der

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Vergiftung erlegen sei. Darf man eine solch herrliche Gelegenheit ungenützt vorübergehen lassen? Nein. Und rasch wird das gefälschte Dokument an Mr. Vyse abgeschickt. Natürlich hatte das Fälscherpaar sein Opfer anfänglich für viel reicher gehalten, als es war - sie wußten nichts von der Hypothekenlast, die auf dem Endhaus ruht.«

»Ist es indiskret, zu fragen, wann sich Ihnen dies alles enthüllte«, ergriff Jim Lazarus das Wort. »Wann sich der erste Argwohn meldete?«

»Ach, Monsieur, da muß ich Ihnen das beschämende Eingeständnis machen, daß es sehr lange dauerte. Gewiß, es gab mancherlei, was mich plagte, weil ich Unstimmigkeiten entdeckte. Widersprüche zwischen dem, was Mademoiselle Nick mir erzählte, und dem, was andere Leute über den gleichen Punkt aussagten. Und unglücklicherweise schenkte ich stets Mademoiselle Glauben.

Bis plötzlich der Schleier zerriß. Als ich nämlich Nick drängte, sie möge eine Freundin zu sich nehmen, versprach sie, meinen Wunsch zu erfüllen, und verheimlichte die Tatsache, daß sie bereits Miss Maggie eingeladen hatte. Es dünkte sie wohl unverfänglicher - aber es erwies sich als ein grober Schnitzer.

Denn Maggie schrieb unmittelbar nach ihrer Ankunft einige Zeilen an die Mutter, darunter auch den unschuldigen Satz, über den ich stolperte: >Aber ich sehe beim besten Willen den Grund für ihr Telegramm nicht ein. Dienstag würde auch früh genug gewesen sein.< Was bedeutete jene Erwähnung des Dienstags? Es konnte nur eins bedeuten: Dienstag wäre Maggie ohnehin gekommen. Doch in diesem Fall hatte Mademoiselle gelogen - oder gelinde gesagt, die Wahrheit unterdrückt.

Und zum erstenmal erschien sie mir in einem anderen Licht. Ich nahm ihre Aussagen unter die Lupe der Kritik. Statt ihr wie bisher zu glauben, sagte ich mir: Vorausgesetzt, dies und jenes wäre nun nicht wahr? Ich erinnerte mich der Widersprüche. Was würde sich ergeben, wenn nun jedesmal Nick gelogen hätte und nicht die anderen?

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Ich ermahnte mich: Geh einfacher vor. Was hat sich wirklich ereignet? Und ich sah als einziges unverrückbares Ereignis, daß Maggie Buckley getötet worden war. Nichts als das! Wem aber konnte an Maggies Tod gelegen sein?

Ferner fielen mir ein paar Bemerkungen ein, die Hastings gemacht hatte. Er meinte, daß es von Margaret eine Menge Abkürzungen gäbe - Maggie, Margot usw. Und plötzlich ließ ich es mir einfallen, zu überlegen, welches wohl Miss Maggies wirklicher Name gewesen sein mochte.

Wie ein Blitz kam mir die Erleuchtung! Angenommen, der Name lautete Magdala? Es war ein, wie ich von Nick wußte, in der Familie Buckley häufig wiederkehrender Name. Zwei Magdala Buckleys ... Wenn nun ... Im Geiste sah ich die Briefe Michael Setons, die ich gelesen hatte. Ja - es war nichts dann enthalten, was solche Möglichkeit ausschaltete. Scarborough wurde in ihnen erwähnt, doch dort waren beide Kusinen gemeinsam gewesen.

Und es erklärte noch etwas, was mich stutzig gemacht hatte. Warum nur so wenig Briefe? Wenn ein Mädchen ihre Liebesbriefe überhaupt aufbewahrt, so bewahrt sie sie alle auf. Warum nur diese kleine Auswahl? Zeichneten sie sich durch irgendeine Eigentümlichkeit aus?

Ja! Nirgends wurde die Verlobte mit ihrem Namen angeredet. Die Briefe fingen alle verschieden an, doch sie begannen sämtlich mit einem Kosewort. Keiner von ihnen enthielt den Namen ... Nick. Und außerdem? Mein Gott, das schrie ja die Wahrheit förmlich in die Welt!«

»Was? Was denn?« »Hören Sie. Am 27. Februar dieses Jahres unterzog sich

Mademoiselle Nick einer Blinddarmoperation. Und in dem Brief, den Michael Seton am 2. März schrieb, fragte er nicht mit einer Silbe nach ihrem Befinden. Keine Besorgnis, keine Erwähnung einer Krankheit oder von etwas Ungewöhnlichem. Und das hätte mir von vornherein zeigen müssen, daß die Briefe an eine ganz andere Person gerichtet waren.

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Nach dieser Entdeckung ging ich meinen Fragebogen durch. Die Antworten, die ich nunmehr erhielt, waren fast durchweg einfach und überzeugend. Und jetzt fand ich auch eine passende Antwort auf eine Frage, die mich viel Kopfzerbrechen gekostet hatte. Warum kaufte Mademoiselle Nick ein schwarzes Abendkleid? Warum? Weil sie und ihre Kusine gleich gekleidet sein mußten, mit dem roten chinesischen Schal als ergänzendem Beiwerk. Das war die Wahrheit - und nicht das andere. Kein Mädchen pflegt ein Trauerkleid zu kaufen, ehe es nicht die untrügliche Gewißheit von dem Tode des Geliebten hat. Das wäre unnatürlich.

Und so begann ich mein kleines Drama zu inszenieren, bei dem das Erhoffte Wirklichkeit wurde. Nick Buckley hatte nämlich das Vorhandensein einer geheimen Nische heftig abgestritten, von der sie - wenn es eine gab - wissen mußte. Eine Erfindung Ellens? Kaum anzunehmen. Weshalb leugnete Nick also so beharrlich? Hatte sie dort die Waffe verborgen? Mit der Absicht, sie noch einmal zu benutzen, um den Argwohn auf einen Unschuldigen zu lenken?

Ich ließ ihr gegenüber durchblicken, daß die Verdachtsmomente gegen Madame sich häuften, was Nicks Rachsucht eine ungemeine Befriedigung gewährt haben muß. Und wie ich vorhersah, vermochte sie der Versuchung nicht zu widerstehen, den letzten schlagenden Beweis hinzuzufügen. Außerdem war es sicherer für sie selbst. Jenes Geheimfach konnte von Ellen gefunden werden und mit ihm die Pistole!

Wir alle saßen im Eßzimmer, während sie draußen auf ihr Stichwort wartete. Also bedeutete es nach ihrer Meinung keinerlei Wagnis, die Waffe aus dem Versteck zu nehmen und sie in Madames Mantel zu stecken. Und hierbei wurde sie ertappt; dies schlug ihr endlich fehl ...«

Frederica schauderte zusammen. »Trotz alledem bin ich froh, daß ich ihr meine Armbanduhr gab.«

»Ich verstehe Sie, Madame.« Sie warf ihm einen raschen Blick zu. »Auch das wissen Sie?«

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»Und Ellen?« erkundigte ich mich. »Hatte sie Verdacht geschöpft? Oder ist sie Augenzeugin der Tat geworden?«

»Nein. Ich habe sie gefragt, und sie gab bereitwilligst Auskunft. Dem Feuerwerk ist sie ferngeblieben, weil sie - um ihre eigene Ausdrucksweise zu gebrauchen - das Gefühl nicht los wurde, daß etwas nicht stimmte. Ihr war Nicks Abneigung gegen Madame nicht entgangen, und da sie das maßlose Temperament ihrer jungen Herrin hinlänglich kannte, sorgte sie sich um Madame. Denn Miss Nick sei - so sagte Madame - von jeher ein unberechenbares, wunderliches kleines Ding gewesen.«

»Ja«, flüsterte Frederica Rice, »so wollen wir sie auch in Erinnerung behalten. Ein wunderliches kleines Ding ... Ein wunderliches kleines Ding, das sich nicht zu helfen wußte. Nicht anders will ich an sie denken.«

Poirot nahm ihre Hand und küßte sie ehrerbietig. Derweil bewegte sich Charles Vyse unbehaglich hin und her.

»Es ist eine höchst unliebsame Angelegenheit«, meinte er. »Ich muß mich selbstverständlich um einen tüchtigen Verteidiger für sie bemühen.«

»Ich glaube, das erübrigt sich«, erwiderte Poirot, »sofern meine Annahmen richtig sind.« Und jäh drehte er sich zu Kapitän Challenger um. »In jenen Armbanduhren beliebten Sie das Rauschgift zu liefern, wie?«

»Ich ... ich ...« stammelte der Seemann verlegen. »Versuchen Sie nur nicht, hier noch länger den famosen,

netten Kerl zu spielen. Hastings konnten Sie damit Sand in die Augen streuen, mir jedoch nicht. Der Rauschgifthandel bringt Ihnen und Ihrem sauberen Onkel in der Harley Street wohl einen tüchtigen Batzen Geld ein, wie?«

»Mr. Poirot!« Kapitän Challenger war aufgesprungen, und mein kleiner

Freund blickte ihn gelassen an.

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»Leugnen Sie nur ruhig weiter, wenn es Ihnen Spaß macht. Aber ich rate Ihnen, wenn Sie nicht wollen, daß die Polizei die Sache in die Hand bekommt, schleunigst - zu gehen.«

Und zu meiner unbeschreiblichen Verwunderung ging Challenger. Nein, wie ein Pfeil schoß er aus dem Zimmer!

Poirot lachte. »He, mon ami, was sagte ich? Ihre Instinkte sind immer falsch. C'est épatant!«

»Kokain befand sich in der Armbanduhr?« fragte ich. »Freilich, freilich. Auf diese bequeme Art nahm es

Mademoiselle mit ins Sanatorium. Und nachdem sie ihre Ration für das Konfekt verbraucht hatte, erbat sie sich vorhin Madames Uhr, die voll war. Heute nacht wird sie wohl eine genügende Dosis anwenden.«

»Sie meinen ...« ächzte ich. »Nun, ist es nicht das Beste? Besser als der hänfene Strick des

Henkers? Aber so etwas dürfen wir nicht vor Mr. Vyse sagen, der für das Gesetz eintritt. Offiziell weiß ich auch nichts.«

»Leider muß ich gehen«, erklärte Charles Vyse. Und Mißbilligung lag in seiner Haltung, als er das Zimmer verließ.

Poirot blickte von Frederica zu Jim Lazarus. »Sie werden heiraten, nicht wahr?«

»So bald wie möglich.« »Und wirklich, Mr. Poirot«, ergänzte Mrs. Rice, »ich bin nicht

die schlimme Kokainistin, für die Sie mich halten. Schon jetzt habe ich mich zu einer ganz winzigen Dosis herabgezwungen, und fortan, da eine glückliche Zukunft vor mir liegt, werde ich keine Armbanduhr mehr benötigen.«

»Sie verdienen es, glücklich zu werden, Madame, denn Sie haben unendlich viel gelitten. Und trotz aller Leiden ist in Ihrem Herzen die Tugend der Barmherzigkeit nicht erstorben.«

»Ich werde sie auf Händen tragen«, versicherte Lazarus. »Geschäftlich geht es mir zur Zeit nicht gut, aber ich denke die

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Schwierigkeiten zu überwinden. Und wenn es nicht gelingt - nun, mit mir fürchtet Frederica auch die Armut nicht.«

Lächelnd schüttelte die blonde, blasse Frau den Kopf. »Es ist spät geworden«, meinte mein Freund, indem er nach

der Uhr sah. »Wir haben eine seltsame Nacht in einem seltsamen Haus verlebt - in einem bösen Haus, wie Ellen sagt.« Dann streifte sein Blick zufällig das Bild des alten Sir Nicholas, und er zog Lazarus beiseite. »Verzeihen Sie, Mr. Lazarus, jedoch von allen meinen Fragen ist eine einzige auch jetzt noch unbeantwortet. Warum boten Sie für jenes Bild fünfzig Pfund?«

Jim Lazarus blickte einige Sekunden auf den Belgier herab. Dann schmunzelte er: »Mr. Poirot, ich bin ein Geschäftsmann.«

»Sehr wohl.« »Jenes Bild ist nicht einen Penny mehr wert als zwanzig

Pfund. Ich wußte, daß Nick bei einem Angebot von fünfzig sofort einen höheren Wert vermuten und einen Sachverständigen zu Rate ziehen würde. Dann hätte sie eingesehen, daß mein Angebot glänzend war. Und wenn ich ihr das nächste Mal einen Kaufpreis für ein Gemälde genannt hätte, würde sie kein Gutachten eingeholt, sondern ohne weiteres zugegriffen haben.«

»Ja, doch ...« »Das Gemälde dort hinten an der Wand hat einen Mindestwert

von fünftausend Pfund«, sagte Jim Lazarus trocken. »Ah!« Hercule Poirot atmete tief auf. »Jetzt weiß ich alles.«