Technische Dynamik ||
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Werner SchiehlenPeter Eberhard
Technische DynamikRechnergestützte Modellierung mechanischer Systeme im Maschinen- und Fahrzeugbau
4. Auflage
Werner SchiehlenPeter Eberhard
Technische Dynamik
Werner Schiehlen ⋅ Peter Eberhard
Technische Dynamik
Rechnergestützte Modellierungmechanischer Systeme imMaschinen- undFahrzeugbau
4., aktualisierte und erweiterte Auflage
ISBN 978-3-658-06184-5 ISBN 978-3-658-06185-2 (eBook)DOI 10.1007/978-3-658-06185-2
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Lektorat: Thomas Zipsner, Ellen Klabunde
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Werner Schiehlen Institut für Technische und Numerische Mechanik Universität Stuttgart Stuttgart, Deutschland
Peter Eberhard Institut für Technische und Numerische Mechanik Universität Stuttgart Stuttgart, Deutschland
Vorwort zur vierten Auflage
Die Anregung des Springer Vieweg Verlags, die dritte Auflage unseres Buches Technische Dynamik zu über
-arbeiten und zu aktualisieren, haben wir gerne aufgegriffen. Das stetig wachsende
Interesse an einer Verknüpfung von Mehrkörpersystemen und Finite-Elemente-Systemen zu Flexiblen Mehr
-körpersystemen ist in der dritten Auflage nur am Beispiel von Balkensystemen behan
delt. In der neuen Auflage sind einige Grundlagen der Flexiblen Mehrkörpersystem ausführlicherdargestellt.
Unverändert gilt, dass die Technische Dynamik in den letzten Jahren über ihre originären An-wendungen im Maschinenbau und im Fahrzeugbau hinaus Eingang in zahlreiche neue Gebietegefunden hat. Die Modelle der Roboterdynamik werden erfolgreich in der Biomechanik einge-setzt, räumliche Drehgelenke dienen der Entwicklung von Mittelohrprothesen, die Kontaktmo-delle für wenige Körper werden auch bei Partikelsystemen mit sehr vielen Teilchen eingesetzt.Andererseits erfordert der modellgestützte Entwurf von Regelungseinrichtungen niedrigdimen-sionale Systeme wie sie die Mehrkörperdynamik liefert. Große Modelle mit finiten Elementenlassen sich mit neuen Methoden der Modellreduktion bei gegebenen Fehlerschranken abbilden.Darüber hinaus sind effiziente Modelle für die sich rasch entwickelnde Simulationstechnologieunabdingbar.
Alle diesen Herausforderungen und Verfahren erfordern umfangreiche Kenntnisse der Grund-lagen der Technischen Dynamik, die für die akademische Ausbildung unverändert aktuell sind.Die Vorlesungen an den einzelnen Hochschulen und die Seminare von Weiterbildungseinrichtun-gen der Industrie auf diesem Gebiet haben die wesentliche Aufgabe einer axiomatischen, rechner-gestützten Modellbildung mechanischer Systeme, wodurch sich die Entwicklungszeit innovativerProdukte verkürzt und die Kosten sinken. Der Aufbau und die Gliederung des Buches haben sichgut bewährt, so dass sie unverändert beibehalten werden. Die Gelegenheit wurde jedoch genutzt,um Druckfehler zu korrigieren und viele kleinere und größere Änderungen vorzunehmen. Auchdas Literaturverzeichnis wurde aktualisiert.
Es sei erwähnt, dass in diesem Jahr auch eine englische Übersetzung des Buches unter demTitel ’Applied Dynamics’ im Springer Verlag Dordrecht erscheint.
Vielen aufmerksamen Lesern, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Institut für Tech-nische und Numerische Mechanik sowie allen Studierenden danken wir für Hinweise und An-fragen, die in das überarbeitete Manuskript eingeflossen sind ebenso wie bei der Mithilfe zurErstellung der Zeichnungen. Dem Lektor des Vieweg + Teubner Verlages, Herrn Thomas Zips-ner, danken wir für die stets freundliche Zusammenarbeit und die Ermutigung zu dieser neuenAuflage. Wir freuen uns über die Mitteilung von Anmerkungen und eventuellen Fehlern, die sichauch bei sorgfältiger Durchsicht nie vollständig vermeiden lassen und die wir auf der Webseitedes Buches www.itm.uni-stuttgart.de/buch_technische_dynamik fortlaufenddokumentieren wollen. Wir hoffen, dass das Buch auch weiterhin in der Lehre und der prakti-schen Tätigkeit nützlich sein wird und wünschen den interessierten Leserinnen und Lesern vielErfolg und Freude bei der Beschäftigung mit diesem für uns so faszinierenden Stoff.
Stuttgart, im Mai 2014 Werner Schiehlen und Peter Eberhard
-
VI
Vorwort zur ersten Auflage
Das vorliegende Buch entstand auf die dankenswerte Anregung meines verehrten Lehrers, HerrnProf. Dr. Kurt Magnus. Es geht zurück auf Vorlesungen über Technische Dynamik und Ma-schinendynamik an der Technischen Universität München und der Universität Stuttgart, sowieauf Arbeiten über Roboterdynamik während eines Forschungssemesters im Hause M.A.N. NeueTechnologie, München.
Die Technische Dynamik, ein Teilgebiet der Technischen Mechanik, ist heute eine weit ver-zweigte Wissenschaft mit Anwendungen im Maschinen- und Fahrzeugbau, in der Raumfahrtund bis hinein in die Regelungstechnik. In einem einführenden Lehrbuch können deshalb nur dieGrundlagen und einzelne Beispiele dargestellt werden. Es ist aber ein Anliegen dieses in ersterLinie für Ingenieure geschriebenen Buches, die heute gebräuchlichen Berechnungsmethoden aufeiner gemeinsamen Basis darzustellen. Zu diesem Zweck wird die analytische Mechanik heran-gezogen, wobei sich das d’Alembertsche Prinzip in der Lagrangeschen Fassung als besondersfruchtbar erweist. So ist es möglich, die Methode der Mehrkörpersysteme, die Methode der Fini-ten Elemente und die Methode der kontinuierlichen Systeme in einheitlicher Weise zu behandeln.Dadurch ist es dem Studierenden möglich, mit geringerem Aufwand ein tieferes Verständnis zuerreichen. Der Ingenieur in der Praxis wird darüber hinaus in die Lage versetzt, Berechnungser-gebnisse besser beurteilen zu können.
Das Buch gliedert sich in neun Kapitel. In der Einleitung wird das Problem der Modellbildungangesprochen, das zweite Kapitel ist der Kinematik gewidmet. Die kinematischen Grundlagensind sehr ausführlich dargestellt, da sie nicht nur in der Kinetik, sondern auch für die Prinzipiender analytischen Mechanik benötigt werden. Die kinetischen Grundlagen werden für den Massen-punkt, den starren Körper und das Kontinuum im dritten Kapitel zusammengestellt. Dann folgenim Kapitel 4 die Prinzipe der Mechanik, von denen aber nur die für technische Anwendungenwichtigen besprochen werden. Die Kapitel 5, 6 und 7 sind dann der Reihe nach den Mehrkör-persystemen, den Finite-Elemente-Systemen und den kontinuierlichen Systemen gewidmet. DieBewegungsgleichungen werden im achten Kapitel in die für alle mechanischen Systeme ein-heitlichen Zustandsgleichungen übergeführt. Einige Fragen der numerischen Lösungsverfahrenwerden im neunten Kapitel aufgezeigt.
Die umfangreiche Literatur ist nur spärlich zitiert, wie es ein Lehrbuch verlangt. Durch die ein-heitliche Darstellung verschiedener Methoden war es nicht immer möglich, die gebräuchlichenFormelzeichen zu verwenden. Für Zweifelsfälle steht eine Liste der Formelzeichen im Anhangzur Verfügung. In der Schreibweise wird zwischen Vektoren, Matrizen und Tensoren nicht unter-schieden, nach Möglichkeit wurden für Vektoren kleine Buchstaben, für Matrizen und Tensorengroße Buchstaben benutzt. Zur leichteren Unterscheidung sind Vektoren, Matrizen und Tensorenfett gedruckt.
Meinen Mitarbeitern, Herrn Dr.-Ing. Edwin Kreuzer und Herrn Dipl.-Math. Dieter Schrammdanke ich für die sorgfältige Durchsicht des Manuskripts. Die Schreibarbeiten hat Frau BrigitteArnold auf dem von Herrn Dipl.-Ing. Jochen Rauh entwickelten Textsystem zu meiner vollenZufriedenheit erledigt. Dem Verlag B.G. Teubner gebührt mein Dank für die Geduld und diestets freundliche Zusammenarbeit.
Stuttgart, im Herbst 1984 Werner Schiehlen
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung 1
1.1 Aufgaben der Technischen Dynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Beiträge der analytischen Mechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.3 Modellbildung mechanischer Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
1.3.1 Mehrkörpersysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41.3.2 Finite-Elemente-Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51.3.3 Kontinuierliche Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61.3.4 Flexible Mehrkörpersysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61.3.5 Auswahl eines mechanischen Ersatzsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71.3.6 Zahl der Freiheitsgrade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
2 Kinematische Grundlagen 11
2.1 Freie Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112.1.1 Kinematik des Punktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112.1.2 Kinematik des starren Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172.1.3 Kinematik des Kontinuums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
2.2 Holonome Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412.2.1 Punktsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412.2.2 Mehrkörpersysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472.2.3 Kontinuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
2.3 Nichtholonome Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512.4 Relativbewegung des Koordinatensystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
2.4.1 Bewegtes Koordinatensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562.4.2 Freie und holonome Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 582.4.3 Nichtholonome Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
2.5 Linearisierung der Kinematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
3 Kinetische Grundlagen 65
3.1 Kinetik des Punktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653.1.1 Newtonsche Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653.1.2 Kräftearten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
3.2 Kinetik des starren Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693.2.1 Newtonsche und Eulersche Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703.2.2 Massengeometrie des starren Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 753.2.3 Relativbewegung des Koordinatensystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
3.3 Kinetik des Kontinuums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783.3.1 Cauchysche Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783.3.2 Hookesches Materialgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 803.3.3 Reaktionsspannungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
VIII Inhaltsverzeichnis
4 Prinzipe der Mechanik 83
4.1 Prinzip der virtuellen Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 834.2 Prinzipe von d’Alembert, Jourdain und Gauß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 894.3 Prinzip der minimalen potentiellen Energie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 914.4 Hamiltonsches Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 934.5 Lagrangesche Gleichungen erster Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 944.6 Lagrangesche Gleichungen zweiter Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
5 Mehrkörpersysteme 97
5.1 Lokale Bewegungsgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 975.2 Newton-Eulersche Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1015.3 Bewegungsgleichungen idealer Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
5.3.1 Gewöhnliche Mehrkörpersysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1035.3.2 Allgemeine Mehrkörpersysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
5.4 Reaktionsgleichungen idealer Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1185.4.1 Berechnung von Reaktionskräften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1185.4.2 Festigkeitsabschätzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1225.4.3 Massenausgleich in Mehrkörpersystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
5.5 Bewegungs- und Reaktionsgleichungen nichtidealer Systeme . . . . . . . . . . . . 1275.6 Kreiselgleichungen von Satelliten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1295.7 Formalismen für Mehrkörpersysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
5.7.1 Nichtrekursive Formalismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1315.7.2 Rekursive Formalismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
6 Finite-Elemente-Systeme 143
6.1 Lokale Bewegungsgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1436.1.1 Tetraederelement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1446.1.2 Räumliches Balkenelement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
6.2 Globale Bewegungsgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1506.3 Flexible Mehrkörpersysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
6.3.1 Relative Knotenpunktkoordinaten im bewegten Bzugssystem . . . . . . . . . . 1546.3.2 Absolute Knotenpunktskoordinaten im Inertialsystem . . . . . . . . . . . . . . 1566.3.3 Ebene Balkensysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
6.4 Festigkeitsberechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162
7 Kontinuierliche Systeme 165
7.1 Lokale Bewegungsgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1657.2 Eigenfunktionen von Stäben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1677.3 Globale Bewegungsgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
8 Zustandsgleichungen mechanischer Systeme 175
8.1 Nichtlineare Zustandsgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1758.2 Lineare Zustandsgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1768.3 Transformation linearer Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1768.4 Normalformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
Inhaltsverzeichnis IX
9 Numerische Verfahren 183
9.1 Integration nichtlinearer Differentialgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1839.2 Lineare Algebra zeitinvarianter Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1859.3 Vergleich der mechanischen Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
Anhang 193
A Mathematische Hilfsmittel 195
A.1 Darstellung von Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195A.2 Matrizenalgebra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196A.3 Matrizenanalysis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199A.4 Liste wichtiger Formelzeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
Literaturverzeichnis 205
Stichwortverzeichnis 209
1 Einleitung
Die Technische Dynamik beschäftigt sich mit dem Bewegungsverhalten und der Beanspruchungmechanischer Systeme, sie stützt sich dabei auf die Kinematik, die Kinetik und die Prinzipien deranalytischen Mechanik. Die mechanischen Systeme sind in der Regel als technische Konstruktio-nen gegeben. Zu ihrer mathematischen Untersuchung ist die Beschreibung durch Ersatzsystemeoder Modelle erforderlich. Nach der Art der Modellbildung unterscheiden wir in diesem BuchMehrkörpersysteme, Finite-Elemente-Systeme und kontinuierliche Systeme. Alle diese mechani-schen Modelle führen über ihre Bewegungsgleichungen auf Zustandsgleichungen, die sich nacheinheitlichen Gesichtspunkten numerisch lösen lassen.
Die Technische Dynamik hat sich aus der klassischen Maschinendynamik der Kraftmaschinenentwickelt. Sie umfasst heute aber auch die Biomechanik, die Baudynamik, die Fahrzeugdyna-mik, die Roboterdynamik, die Rotordynamik, die Satellitendynamik und große Teile der System-dynamik. Eine gemeinsame Klammer all dieser eigenständigen Disziplinen stellen die mecha-nischen Systeme dar, deren Modellierung immer am Anfang ihrer technisch-wissenschaftlichenUntersuchung steht.
1.1 Aufgaben der Technischen Dynamik
Für die Aufgaben der Technischen Dynamik gilt auch heute noch unverändert, was Biezeno undGrammel [9] im Jahre 1939 im Vorwort ihres gleichnamigen Buches geschrieben haben
‘Bei der Gliederung und Behandlung des Stoffes haben wir uns stets vor Augen gehalten,dass ein Problem für die Technik nur dann lösenswert ist, wenn es eine praktische Anwen-dungsmöglichkeit hat, und dass eine technische Aufgabe erst dann als gelöst betrachtetwerden kann, wenn die Lösung sich auch zahlenmäßig mit erträglichem Rechenaufwandbis in alle Einzelheiten auswerten lässt.’
In diesem Sinne stellt die Technische Dynamik ein wichtiges Teilgebiet der Mechanik dar, dasheute ohne den Einsatz von Computern nicht mehr auskommt und somit auch zum Fachgebiet’Computational Mechanics’ gehört.
Die Aufgaben der Technischen Dynamik ergeben sich unmittelbar aus den ingenieurmäßigenForderungen der Praxis. Ein mechanisches System soll oft Bewegungen ausführen, den Bean-spruchungen standhalten und die Umwelt nicht belasten. Am Beispiel eines Kolbenmotors sindmögliche Aufgaben in Bild 1.1 dargestellt.
Zur Lösung dieser Aufgaben werden zunächst die Bewegungsgleichungen und die Reaktions-gleichungen mechanischer Systeme benötigt, die mit Hilfe der analytischen Mechanik gewonnenwerden können.
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014 W. Schiehlen, P. Eberhard, Technische Dynamik, DOI 10.1007/978-3-658-06185-2_1
2 1 Einleitung
Mechanisches System
Kolbenmotor
Bewegungausführen
Beanspruchungstandhalten
Umweltnicht belasten
Kolben, Pleuel, Welle,Kurbel, Schwungrad
Trägheitskräfte, Gaskräfte,Lagerkräfte, Lastmoment
Fundament, Fahrzeug
Arbeits-bewegung
Struktur-schwing-
ung
Festigkeitder
Bauteile
Belastungder Lager
Massen-ausgleich
Aus-wuchten
Kurbel-getriebe
Pleuel,Welle
Pleuel,Kurbel,Welle
Kurbelzapfen,Kurbelwellen-
lager
Kurbel-getriebe
Schwung-rad
Bild 1.1: Aufgaben der Technischen Dynamik am Beispiel eines Kolbenmotors
1.2 Beiträge der analytischen Mechanik
Die Bewegungsgleichungen freier mechanischer Systeme sind bereits seit den Anfängen der Me-chanik bekannt. Newton (1643-1727) veröffentlichte 1687 seine drei bekannten Grundgesetze:das Trägheitsgesetz, das Bewegungsgesetz und das Gegenwirkungsgesetz. Das Bewegungsge-setz liefert unmittelbar die Bewegungsgleichungen eines Massenpunktes. Euler (1707-1783) hatmit dem Impuls- und Drallsatz 1775 die Bewegungsgleichungen für einen starren Körper zurVerfügung gestellt. D’Alembert (1717-1783) veröffentlichte 1743 sein Prinzip für gebundenePunktsysteme, das Lagrange (1736-1813) im Jahre 1788 unter Verwendung des Prinzips dervirtuellen Arbeit einfacher formulierte. Im Besonderen führte Lagrange die verallgemeinertenKoordinaten ein, die auch seinen 1811 erschienenen Bewegungsgleichungen zweiter Art zugrun-de liegen. Verallgemeinerungen des d’Alembertschen Prinzips stellen das 1829 veröffentlichtePrinzip von Gauß (1777-1855) und das 1908 eingeführte Prinzip von Jourdain dar. Die Lagrange-schen Gleichungen zweiter Art wurden 1879 von Gibbs und 1900 von Appell auf nichtholonomgebundene Systeme erweitert. Neben den bisher genannten Differentialprinzipien sei noch das1834 veröffentlichte Prinzip von Hamilton (1805-1865) als Integralprinzip erwähnt. Einzelhei-ten über die historische Entwicklung können bei Szabo [63] nachgelesen werden. Alle wichtigenPrinzipien der Mechanik hat Päsler [42] zusammengestellt. Ausführliche Darstellungen der ana-lytischen Mechanik gehen auf Budo [13] und Hamel [25] zurück. Eine neuere Betrachtungsweiseder klassischen Mechanik findet man bei Arnold [2] und Papastavridis [41].
1.3 Modellbildung mechanischer Systeme 3
1.3 Modellbildung mechanischer Systeme
Mechanische Systeme sind stets durch Bauteile mit Massenträgheit und Elastizität gekennzeich-net. Dazu kommen in der Regel noch Einflüsse der Dämpfung und die Erregung durch äußereKräfte, Bild 1.2. Die Massenträgheit eines Bauteils wird durch sein Volumen und seine Dichtebestimmt. Die Masse kann durch die Abmessungen und die Dichte des Bauteils beeinflusst wer-den, sie ist stets positiv und wird als zeitlich unveränderlich vorausgesetzt. Die Elastizität einesBauteils hängt von seiner geometrischen Gestalt und den Werkstoffeigenschaften ab. Durch einegeeignete konstruktive Gestaltung kann im Besonderen erreicht werden, dass die Elastizität imVerhältnis zur Masse groß wird. Man spricht dann von Federelementen, wie sie z. B. durch Blatt-,Schrauben- oder Torsionsfedern gegeben sind. Eine schöne Übersicht dazu findet man bei Irretier[28] oder Demeter [15]. Die Dämpfung kann entweder durch die Werkstoffdämpfung in den Bau-teilen, durch Reiberscheinungen zwischen bewegten Bauteilen oder durch konstruktiv gestalteteDämpferelemente hervorgerufen werden. Die äußeren Kräfte entstehen einerseits durch die Wir-kung von Kraftfeldern, beispielsweise der Gravitation, und durch besondere Antriebselemente,beispielsweise durch Stellmotoren, sowie andererseits als Reaktion auf eine durch Lagestellglie-der vorgegebene Bewegung, beispielsweise aufgrund von Lagerungen.
mechanische Systeme
Trägheit Elastizität Viskosität Kraft
starrerKörper
elastischerKörper Feder Dämpfer Lager-
reaktion Antrieb
kontinuierliche Systeme Finite-Elemente-Systeme
Mehrkörpersysteme
Bild 1.2: Eigenschaften mechanischer Systeme
Die Eigenschaften eines realen technischen Systems müssen nun durch idealisierte Modellebeschrieben werden. Dabei unterscheidet man Modelle mit verteilten und konzentrierten Parame-tern. Zu den Modellen mit verteilten Parametern gehört im Besonderen der elastische Körper derKontinuumsmechanik. Modelle mit konzentrierten Parametern findet man in der Stereomecha-nik. Sie umfassen z. B. den starren Körper, die masselose Feder, den masselosen Dämpfer sowieAntriebs- und Reaktionskräfte. Aus diesen Modellen lassen sich nun wiederum die mechanischenErsatzsysteme aufbauen.
4 1 Einleitung
1.3.1 Mehrkörpersysteme
Ein Mehrkörpersystem besteht aus massebehafteten starren Körpern, auf die an diskreten Punk-ten Einzelkräfte und Einzelmomente einwirken. Die Kräfte und Momente gehen auf masseloseFedern, Dämpfer und Stellmotoren sowie auf unnachgiebige Gelenke und beliebige andere La-gerungen zurück. Daneben können eingeprägte Volumenkräfte und -momente auf die starrenKörper wirken. Häufig verwendete Symbole für die Elemente eines Mehrkörpersystems sind inBild 1.3 zusammengestellt.
Cstarrer Körper mitSchwerpunkt C undKnotenpunkten
Massenpunkt
Feder
Dämpfer
Kraftstellglied
Lagestellglied
Stab
Gelenk
feste Einspannung
Bild 1.3: Elemente eines Mehrkörpersystems
Das Symbol des starren Körpers kennzeichnet seine Massenträgheit. Charakteristische Punktedes starren Körpers sind der Massenmittelpunkt C und eine endliche Anzahl von Knotenpunkten,in denen Einzelkräfte und Einzelmomente angreifen. Im Sonderfall des Massenpunktes fallenalle Knotenpunkte zusammen und die Massenträgheitsmomente verschwinden. Das Federsym-bol erinnert an eine Schraubenfeder, ein Sonderfall der Feder ist aber auch der masselose Stab,wie er z. B. in Gestängen auftritt. Das Dämpfersymbol ist an einen hydraulischen Dämpfer an-gelehnt, doch es soll gleichbedeutend auch für elektrische und magnetische Dämpfer verwendetwerden. Bei den Stellmotoren unterscheidet man Kraftstellglieder, die Kräfte entwickeln, undLagestellglieder, die eine Bewegung erzwingen. Ein blockiertes Lagestellglied entspricht einemstarren Stab, den man auch im Grenzfall aus einer unendlich steifen Feder erhält. Die Lagerungenwerden als starr vorausgesetzt, d. h. ohne Verformungen in gesperrten Lagerrichtungen, ideale La-gerungen sind darüber hinaus noch reibungsfrei. Die masselosen Elemente kann man nach derArt der Kräfte auch in Koppelelemente (Federn, Dämpfer, Kraftstellglieder) und in Bindungs-elemente (Stäbe, Gelenke, Lagestellglieder) einteilen. Die ersteren rufen eingeprägte Kräfte, dieletzteren Reaktionskräfte hervor.
Die Methode der Mehrkörpersysteme beruht darauf, dass die Eigenschaften Trägheit, Elastizi-tät, Dämpfung und Kraft einzelnen diskreten Elementen zugeordnet werden. Die einzelnen, lokalbeschriebenen Elemente werden dann unter Berücksichtigung der Lagerungen zu einem globalenGesamtsystem zusammengefasst. Durch die Diskretisierung erhält man vergleichsweise einfacheglobale Bewegungsgleichungen, die das mechanische System für die gewählten Idealisierungen
1.3 Modellbildung mechanischer Systeme 5
und Näherungen beschreiben. Viele Details zu Fragestellungen der Mehrkörperdynamik sindauch in Rill und Schaeffer [47], Bauchau [6], Woernle [67] oder auch in Popp und Schiehlen[44] zu finden.
Massenpunktsysteme stellen einen Sonderfall der Mehrkörpersysteme dar. Sie sind in der Me-chanik schon sehr lange bekannt. Eine systematische Untersuchung der Massenpunktsystemeerfolgte durch die klassische analytische Mechanik, so dass darüber viele Erkenntnisse vorlie-gen, siehe z. B. Hiller [26]. Das Interesse an den Mehrkörpersystemen hat erst nach 1965 zuge-nommen, als die Raumfahrt entsprechende Anforderungen stellte. Seit dieser Zeit werden auchrechnergestützte Formalismen entwickelt. Mehrkörpersysteme erlauben im Gegensatz zu Mas-senpunktsystemen auch eine einfache Behandlung der Kreiselerscheinungen.
1.3.2 Finite-Elemente-Systeme
Ein Finite-Elemente-System besteht aus einer Zusammenstellung massebehafteter, verformbarerElemente bzw. Teilkörper, auf die an diskreten Punkten, den so genannten Knotenpunkten, Ein-zelkräfte und Einzelmomente einwirken. Daneben sind eingeprägte Oberflächen- oder Volumen-kräfte zugelassen. Die Lagerung von Finite-Elemente-Systemen erfolgt in den Knotenpunkten.Einige häufig verwendete Elemente sind in Bild 1.4 zu sehen. Der Stab bzw. der Balken sindeindimensionale Elemente, das Dreieck gehört zu den zweidimensionalen Elementen und derQuader ist ein Beispiel für ein dreidimensionales Volumenelement.
Zugstab
Balken
Kugelgelenk undEinspannung
räumlicher Quader
ebenes Dreieck
Bild 1.4: Einige finite Elemente
Der Grundgedanke der Methode der Finiten Elemente besteht nun darin, dass in einem dis-kreten Element mit einfacher Geometrie die Eigenschaften Trägheit, Elastizität und Kraft be-rücksichtigt werden. Deshalb sind zunächst die lokalen Bewegungsgleichungen eines einzelnenfiniten Elements zu ermitteln. Aus den einzelnen finiten Elementen wird dann durch Verknüpfungder Knotenpunkte das Gesamtsystem aufgebaut. Damit erhält man aus den lokalen die globalen
6 1 Einleitung
Bewegungsgleichungen des Gesamtsystems. Infolge der Einführung diskreter Elemente sowieder gewählten Ansatzfunktionen innerhalb eines Elementes stellt die Methode der finiten Ele-mente ebenso wie die Methode der Mehrkörpersysteme i.A. ein Näherungsverfahren dar.
Elastische Fachwerke, ein Sonderfall der Finite-Elemente-Systeme, sind in der Elastostatikin der Vergangenheit ausführlich untersucht worden. Die hohe Ordnung der auftretenden meistlinearen Gleichungssysteme hat aber die technische Anwendung über viele Jahrzehnte hinwegerschwert. Der Durchbruch der Methode der finiten Elemente wurde erst Ende der 1950er Jahreerzielt, als die Entwicklung der Rechentechnik auch die Lösung umfangreicher Gleichungssys-teme erlaubte. Heute stehen zahlreiche erprobte Programmsysteme zur Verfügung, welche dieautomatische Diskretisierung und Lösung von Kontinuumsproblemen der Strukturdynamik er-möglichen.
1.3.3 Kontinuierliche Systeme
Ein kontinuierliches System besteht aus massebehafteten elastischen Körpern, in deren Volumenstetig verteilte eingeprägte Kräfte wirken und an deren Oberfläche stetig verteilte Kräfte (Span-nungen) angreifen. Die Oberflächenspannungen gehen dabei entweder auf eingeprägte Spannun-gen oder Zwangsspannungen infolge einer vorgegebenen Lagerung zurück, Bild 1.5.
Die Modellierung mit kontinuierlichen Systemen beruht auf der stetigen Verteilung von Masseund Elastizität im Körper. Die Bewegungsgleichungen können deshalb nur lokal für ein infinitesi-mal kleines Volumenelement formuliert werden, sie stellen partielle, von Ort und Zeit abhängigeDifferentialgleichungen dar. Die Behandlung der kontinuierlichen Systeme ist im Gegensatz zuden Methoden der Mehrkörpersysteme und der finiten Elemente exakt im Sinne der Kontinuums-mechanik, da keine mechanische Diskretisierung vorgenommen wird. Eine strenge Lösung derlokalen Bewegungsgleichungen gelingt aber nur in einfachen Fällen, z. B. bei Stäben und Bal-ken. Im allgemeinen Fall erfordert die numerische Lösung eine mathematische Diskretisierung,so dass auch die kontinuierlichen Systeme letztlich wieder Näherungsverfahren benötigen. Fürdie technische Praxis ist jedoch die mechanische Diskretisierung oft anschaulicher und einfacher,worauf der große Erfolg diskreter mechanischer Systeme zurückzuführen ist.
element
Oberfläche
eingeprägteSpannung
Lagerung
Bild 1.5: Elastischer Körper mit infinitesimalem Element
1.3.4 Flexible Mehrkörpersysteme
Von flexiblen Mehrkörpersystemen spricht man, wenn starre und elastische Körper gemeinsamzur Modellierung eines mechanischen Systems herangezogen werden. Dabei können an der
1.3 Modellbildung mechanischer Systeme 7
Schnittstelle zwischen einem starren und einem elastischen Körper Modellierungsschwierigkei-ten auftreten, die sich aber durch zusätzliche Voraussetzungen ingenieurmäßig beherrschen las-sen. Anwendungen flexibler Mehrkörpersysteme sind u. a. in der Fahrzeug-, Roboter- und Satel-litendynamik bekannt geworden. Auch die in Abschnitt 6.3 behandelten Balkensysteme gehörenzu den flexiblen Mehrkörpersystemen. Eine ausführliche Beschreibung findet man bei Schwertas-sek und Wallrapp [52], Shabana [57] bzw. [58] oder Gerardin [22].
1.3.5 Auswahl eines mechanischen Ersatzsystems
Die Auswahl eines geeigneten mechanischen Ersatzsystems erfordert viel Erfahrung. AllgemeineAnhaltspunkte für die Modellbildung sind die elastische Steifigkeitsverteilung und die geometri-sche Gestalt des gegebenen technischen Systems, siehe Tabelle 1.1. Für die elastischen Freiheits-grade liefert die Methode der Mehrkörpersysteme im Allgemeinen zu niedrige, die Methode derfiniten Elemente dagegen zu hohe Eigenfrequenzen, siehe auch Abschnitt 9.3.
Tabelle 1.1: Modelle mechanischer Systeme
Mechanisches Ersatzsystem Geometrische Gestalt SteifigkeitsverteilungMehrkörpersystem kompliziert inhomogen
Finite-Elemente-System kompliziert homogenkontinuierliches System einfach homogen
Beispiel 1.1 Einzylindermotor
Für den in Bild 1.6 dargestellten Einzylindermotor sollen z. B. folgende Aufgaben unter-sucht werden:1. Bewegung des Kurbelgetriebes,2. Biegeschwingungen des Pleuels und3. Torsionsschwingungen der Welle.
Kurbel
Welle
Schwungrad
Kolben
Pleuel
Bild 1.6: Einzylindermotor mit Schwungrad
8 1 Einleitung
Zur Lösung der ersten Aufgabe werden Kolben, Pleuel, Kurbel, Welle und Schwungradgemeinsam als Mehrkörpersystem modelliert. Die zweite Aufgabe wird mit einem Finite-Elemente-System gelöst, da das Pleuel eine komplizierte geometrische Gestalt aufweist.Die dritte Aufgabe kann mit einem kontinuierlichen System untersucht werden.
1.3.6 Zahl der Freiheitsgrade
Die Zahl der Freiheitsgrade spielt unabhängig von der Art der Modellbildung bei allen mechani-schen Systemen eine grundlegende Rolle. Mit der Zahl der Freiheitsgrade steigen die Genauig-keit der Modellbildung und die Kosten der Rechnung. Daraus folgt, dass die Festlegung der Zahlder Freiheitsgrade eine echte Ingenieuraufgabe ist, die meist nur durch einen technisch sinnvollenKompromiss gelöst werden kann. Die untere Grenze für die Freiheitsgrade ist durch die Starrkör-perfreiheitsgrade gegeben, die obere Grenze liegt beim elastischen Körper im Unendlichen. Inder Regel wird man die Starrkörperfreiheitsgrade um endlich viele elastische Freiheitsgrade er-gänzen und so den Kompromiss wählen. Einige Disziplinen kommen auch ohne einen solchenKompromiss aus. In der klassischen Maschinendynamik werden hauptsächlich Starrkörperfrei-heitsgrade betrachtet, in der Baudynamik entfallen die Starrkörperfreiheitsgrade und es werdensehr viele elastische Freiheitsgrade verwendet.
Die Zahl e der Freiheitsgrade eines freien mechanischen Systems mit p Elementen erhält manaus der Zahl ei der Freiheitsgrade der einzelnen Elemente nach der Beziehung
e =p
∑i=1
ei. (1.1)
Für ein-, zwei- und dreidimensionale Probleme gelten die in Tabelle 1.2 angegebenen Zahlen fürei. Damit gilt z. B. e = 6p für einen einzelnen freien räumlichen starren Körper ebenso wie fürein einzelnes ebenes Tetraederelement. Die Zahl der Elemente hängt wiederum von der Diskreti-sierung ab.
Beim Aufbau des globalen Gesamtsystems werden die p Elemente durch q unabhängige Bin-dungen oder Lagerungen verknüpft. Die Zahl f der Lagefreiheitsgrade eines gebundenen mecha-nischen Systems beträgt dann nur noch
f = e−q. (1.2)
Die Technische Dynamik bietet auf der Grundlage der analytischen Mechanik die Möglichkeit,f Differentialgleichungen für die Bewegung und q algebraische Gleichungen für die Reaktions-kräfte zu gewinnen. Davon wird in den folgenden Kapiteln ausgiebig Gebrauch gemacht werden.
In dem zu einem Volumenelement gehörenden materiellen Punkt eines nichtpolaren Konti-nuums können nur Verschiebungen auftreten, während bei polaren Kontinua zusätzlich Verdre-hungen zu finden sind. In entsprechender Weise wirken bei nichtpolaren Kontinua nur Kräfteoder Spannungen, während bei polaren Kontinua auch Momentenspannungen zu berücksichti-gen sind.
Tabelle 1.2 zeigt eine methodisch sehr interessante Verwandtschaft. Die Zahl der Freiheits-grade von Massenpunkten eines Punktsystems und den materiellen Punkten eines nichtpolarenKontinuums einerseits und die Zahl der Freiheitsgrade von starren Körpern eines polaren Kon-
1.3 Modellbildung mechanischer Systeme 9
Tabelle 1.2: Freiheitsgrade ei eines freien Elements
Art des Elements linienförmig eben räumlichMassenpunkt 1 2 3starrer Körper 1 3 6finites Balkenelement 2 ·1 2 ·3 2 ·6finites Tetraederelement 2 ·1 3 ·2 4 ·3finites Würfelelement 2 ·1 4 ·2 8 ·3materieller Punkt eines nichtpolaren Kontinuums 1 2 3materieller Punkt eines polaren Kontinuums 1 3 6
tinuums stimmen überein. In Kapitel 4.1 wird dieser Zusammenhang wieder aufgegriffen, derauch von Schäfer [49] in einem ausführlichen Bericht über das Cosserat-Kontinuum dargestelltwird, von dem auch das Buch von Rubin [46] handelt.
2 Kinematische Grundlagen
In der Technischen Dynamik unterscheidet man freie Systeme mit Elementen, die sich uneinge-schränkt bewegen können, und gebundene Systeme, deren Elemente miteinander oder mit ihrerUmgebung durch ideale Lagerungen verbunden sind. Während sich z. B. die Satellitendynamiküberwiegend mit freien Systemen beschäftigt, findet man in der Maschinendynamik fast nur ge-bundene Systeme. Für Punktsysteme, Mehrkörpersysteme und kontinuierliche Systeme werdenin diesem Kapitel die kinematischen Grundlagen zusammengestellt. Finite-Elemente-Systemegehören vom kinematischen Standpunkt aus zu den kontinuierlichen Systemen, sie werden des-halb nicht gesondert betrachtet. Die Kinematik freier und gebundener Systeme wird sowohl ineinem raumfesten Inertialsystem als auch in einem relativbewegten Koordinatensystem darge-stellt. Die gebundenen Systeme werden in holonome und nichtholonome Systeme unterteilt.
2.1 Freie Systeme
Freie mechanische Systeme haben eine besonders einfache Kinematik, da ihre Bewegung keiner-lei Einschränkungen durch Lager unterliegt. Die mathematische Beschreibung erfolgt zunächstgegenüber einem raumfesten Koordinatensystem, wobei neben den kartesischen Koordinatenauch häufig verallgemeinerte Koordinaten zum Einsatz kommen.
2.1.1 Kinematik des Punktes
Der materielle Punkt ist das einfachste Modell der Mechanik. Ein einzelner freier Punkt hatjedoch keine wesentliche technische Bedeutung. Freie Punktsysteme sind dagegen bei den flie-genden elastischen Strukturen, z. B. in der Luft- und Raumfahrttechnik, anzutreffen, oder bei Sys-temen bei denen keine Lager, sondern nur Kraftelemente auftreten. Darüber hinaus kann jedeselastische Kontinuum als freies System unendlich vieler materieller Punkte aufgefasst werden. Infreien Systemen sind alle Punkte kinematisch gleichwertig. Deshalb wird zunächst der einzelnefreie Punkt ausführlich behandelt.
Die aktuelle Lage eines bewegten Punktes P(t) zur Zeit t wird im Raum bezüglich des Ur-sprung O des raumfesten Koordinatensystems durch den Ortsvektor rrr(t) eindeutig beschrieben,Bild 2.1. Im Laufe der Zeit ändert der bewegte Punkt P seine Lage, er durchläuft die durch denOrtsvektor rrr(t) gekennzeichnete Bahnkurve. Seine Bewegung wird Verschiebung oder Translati-on genannt.
Jeder Ortsvektor kann in einem kartesischen Koordinatensystem {O;eeeα},α = 1(1)3, mit demUrsprung O und den Basisvektoren eeeα eindeutig in seine Komponenten zerlegt werden. Damitgilt für den Ortsvektor der aktuellen Lage
rrr(t) = r1(t)eee1 + r2(t)eee2 + r3(t)eee3. (2.1)
In einem gegebenen Koordinatensystem lässt sich nach (2.1) der Ortsvektor rrr(t) also durch den
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014 W. Schiehlen, P. Eberhard, Technische Dynamik, DOI 10.1007/978-3-658-06185-2_2
12 2 Kinematische Grundlagen
P(t0)
e3
P(t)Bahnkurve
v(t)r(t)O
e2e1
Bild 2.1: Freie Bewegung eines materiellen Punktes
3×1-Vektor seiner Koordinaten
rrr(t) =[
r1 r2 r3]
(2.2)
eindeutig darstellen. Dabei werden die Koordinaten im Allgemeinen ohne Argument angeschrie-ben und es wird kein Unterschied zwischen Zeilen- und Spaltenvektoren gemacht, siehe Anhang.
Ein freier Punkt im Raum hat drei Freiheitsgrade, zu deren Beschreibung drei Koordinatenerforderlich sind. Neben den kartesischen Koordinaten rα ,α = 1(1)3, nach (2.2) können dazuauch verallgemeinerte, in der Regel krummlinige Koordinaten xγ , γ = 1(1)3, herangezogen wer-den. Die verallgemeinerten Koordinaten lassen sich dann zu einem 3×1-Lagevektor
xxx(t) =[
x1 x2 x3]
(2.3)
zusammenfassen. Zwischen dem Ortsvektor rrr(t) und dem Lagevektor xxx(t) besteht im Allgemei-nen ein nichtlinearer Zusammenhang,
rrr(t) = rrr(xxx(t)) = rrr(xxx), (2.4)
der gegebenenfalls die Beschreibung einer Punktbewegung erheblich vereinfacht. So lassen sichz. B. kreisförmige Bewegungen durch Zylinderkoordinaten übersichtlicher darstellen als durchkartesische Koordinaten. Als weiteres Beispiel seien die räumlichen Zentralkräfte genannt, diein Kugelkoordinaten nur eine nichtverschwindende Koordinate aufweisen. Einige Hinweise zuder in diesem Buch verwendeten Notation sind im Anhang zu finden.
Die Geschwindigkeit vvv(t) des Punktes P erhält man durch Differentiation von (2.2) nach derZeit, ihre Richtung wird durch die Tangente an die Bahnkurve festgelegt, Bild 2.1. In einemraumfesten Koordinatensystem (Inertialsystem) lautet damit der 3× 1-Vektor der absoluten Ge-schwindigkeit
vvv(t) = rrr(t) =[
r1 r2 r3], (2.5)
wobei rrr die Ableitung von rrr nach der Zeit t bedeutet. Die Geschwindigkeit lässt sich auch in den
2.1 Freie Systeme 13
verallgemeinerten Koordinaten ausdrücken. Aus (2.4) und (2.5) findet man nach der Kettenregel
vvv(t) = vvv(xxx, xxx) =∂rrr∂xxx
· dxxxdt
=HHHT (xxx) · xxx(t), (2.6)
wobei die 3×3-Jacobi-Matrix der Translation
HHHT (xxx) =
⎡⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎣
∂ r1
∂x1
∂ r1
∂x2
∂ r1
∂x3
∂ r2
∂x1
∂ r2
∂x2
∂ r2
∂x3
∂ r3
∂x1
∂ r3
∂x2
∂ r3
∂x3
⎤⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎦
(2.7)
auftritt, die einen Zusammenhang zwischen dem Ortsvektor und den verallgemeinerten Koordi-naten herstellt. Die Geschwindigkeit ist somit eine lineare Funktion der ersten Zeitableitung xxx(t)des gewählten Lagevektors.
Die Funktional- oder Jacobi-Matrizen haben in der Technischen Dynamik eine sehr große Be-deutung. Ihre mathematischen Grundlagen sind in der Differential- und Integralrechnung vonFunktionen mehrerer Variablen zu finden, siehe z. B. Bronstein und Semendjajew [12]. Da dieelementweise Definition der Jacobi-Matrizen durch skalare Differentialquotienten aufwendig ist,soll auf die Matrizenschreibweise zurückgegriffen werden. Die 3×3-Jacobi-Matrix (2.7) in derForm
HHHT (xxx) =∂rrr(xxx)
∂xxx(2.8)
folgt damit aus dem 3× 1-Vektor rrr(xxx) der abhängigen Variablen und dem 3× 1-Vektor xxx derunabhängigen Variablen, siehe (A.36). Allgemein gilt in dieser Schreibweise für einen e× 1-Vektor xxx die Beziehung
∂xxx∂xxx
=EEE, (2.9)
wobei EEE die e× e-Einheitsmatrix ist. Weiterhin findet man für die e× 1-Vektoren rrr und xxx ein(2.9) entsprechendes Ergebnis
∂rrr(xxx(rrr))∂rrr
=∂rrr∂xxx
· ∂xxx∂rrr
=EEE. (2.10)
Darüber hinaus lautet die Kettenregel mit einem zusätzlichen f ×1-Vektor yyy wie folgt,
∂rrr(xxx(yyy))∂yyy
=∂rrr∂xxx
· ∂xxx∂yyy
, (2.11)
wobei man eine e× f -Matrix erhält. Die hier eingeführte rechnergerechte Schreibweise der Diffe-rentialrechnung wird im Folgenden immer wieder verwendet werden. Sie enthält für e = 3 auch
14 2 Kinematische Grundlagen
die Beziehungen der Vektoranalysis.
Die Beschleunigung aaa(t) des Punktes P ist ein Maß für die zeitliche Änderung seiner Ge-schwindigkeit, sie wird durch Differentiation von (2.5) nach der Zeit bestimmt. In einem raum-festen Koordinatensystem lautet somit der 3×1-Vektor der absoluten Beschleunigungskoordina-ten
aaa(t) = vvv(t) = rrr(t) =[
r1 r2 r3]. (2.12)
Die Beschleunigung kann nicht nur durch kartesische Koordinaten nach (2.12), sondern auchdurch verallgemeinerte Koordinaten ausgedrückt werden. Mit der Produktregel folgt aus (2.6)die Beziehung
aaa(t) = aaa(xxx, xxx, xxx) =HHHT (xxx) · xxx(t)+ dHHHT (xxx)dt
· xxx(t)
=HHHT (xxx) · xxx(t)+(
∂HHHT (xxx)∂xxx
· xxx(t))· xxx(t). (2.13)
Die Beschleunigung ist damit eine lineare Funktion der zweiten Ableitung xxx(t) des Lagevektors.Darüber hinaus hängt sie im Allgemeinen noch quadratisch von der ersten Ableitung xxx(t) desLagevektors ab.
Damit sind alle für die Kinematik des Punktes wesentlichen Beziehungen aufgestellt.
Beispiel 2.1: Punktbewegung in Kugelkoordinaten
Für Probleme mit zentralsymmetrischen Kräften empfehlen sich häufig die Kugelkoordina-ten ψ , ϑ ,R, wie sie in Bild 2.2 dargestellt sind. Der 3×1-Lagevektor lautet dann
xxx(t) =[
ψ ϑ R]. (2.14)
O R
P
e1
e2
eR
e
e
e3
Bild 2.2: Kugelkoordinaten
2.1 Freie Systeme 15
Damit hat der 3×1-Ortsvektor die Form
rrr(t) =
⎡⎣ cos ψ sin ϑ
sin ψ sin ϑcos ϑ
⎤⎦R (2.15)
und die 3×3-Jacobi-Matrix der Translation findet man gemäß (2.7) bzw. (2.8) zu
HHHT (xxx) =
⎡⎣ −R sin ψ sin ϑ R cos ψ cos ϑ cos ψ sin ϑ
R cos ψ sin ϑ R sin ψ cos ϑ sin ψ sin ϑ0 −R sin ϑ cos ϑ
⎤⎦ . (2.16)
Damit ist nach (2.6) auch der 3×1-Geschwindigkeitsvektor bestimmt,
vvv(xxx, xxx) =
⎡⎣ −Rψ sin ψ sin ϑ +Rϑ cos ψ cos ϑ + R cos ψ sin ϑ
Rψ cos ψ sin ϑ +Rϑ sin ψ cos ϑ + R sin ψ sin ϑ−Rϑ sin ϑ + R cos ϑ
⎤⎦ (2.17)
und man erhält den Beschleunigungsvektor
aaa(xxx, xxx, xxx) =
⎡⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎣
−Rψ sin ψ sin ϑ +Rϑ cos ψ cos ϑ + R cos ψ sin ϑ −Rψ2 cos ψ sin ϑ−2Rψϑ sin ψ cos ϑ −2Rψ sin ψ sin ϑ −Rϑ 2 cos ψ sin ϑ +2Rϑ cos ψ cos ϑ
Rψ cos ψ sin ϑ +Rϑ sin ψ cos ϑ + R sin ψ sin ϑ −Rψ2 sin ψ sin ϑ+2Rψϑ cos ψ cos ϑ +2Rψ cos ψ sin ϑ −Rϑ2 sin ψ sin ϑ +2Rϑ sin ψ cos ϑ
−Rϑ sin ϑ + R cos ϑ −Rϑ2 cos ϑ −2Rϑ sin ϑ
⎤⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎦ . (2.18)
Der Beschleunigungsvektor hängt linear von den zweiten Ableitungen und quadratisch vonden ersten Ableitungen der verallgemeinerten Koordinaten ab.
Mit der Einführung verallgemeinerter Koordinaten kann die Eindeutigkeit der kinematischenBeschreibung in singulären Punkten durch einen Verlust von Freiheitsgraden verloren gehen.Man muss deshalb stets den vollen Rang der Jacobi-Matrix oder
detHHHT �= 0 (2.19)
fordern. In Beispiel 2.1 entsteht nach (2.16) für R = 0 ein zweifacher Rangabfall der Matrix HHHT ,wodurch (2.19) sicher verletzt ist. Die Erklärung liegt darin, dass sich der Punkt P für R → 0 nurnoch in der Richtung
eeeR =[
cos ψ sin ϑ sin ψ sin ϑ cos ϑ]
(2.20)
bewegen kann, und somit nur noch einen Freiheitsgrad hat. Dieses Problem lässt sich durch diezusätzliche Einführung von komplementären Kugelkoordinaten ψ , ϑ , R lösen, siehe Bild 2.3.Dann gilt in Erweiterung von (2.15)
rrr(t) =
⎡⎣ R cos ψ sin ϑ
R sin ψ sin ϑR cos ϑ
⎤⎦=
⎡⎣ R cos ψ sin ϑ
R sin ψ sin ϑR cos ϑ +b
⎤⎦ , (2.21)
16 2 Kinematische Grundlagen
d. h. es treten zwei verschiedene singuläre Punkte R = 0 bzw. R = 0 auf, wobei b > 0 ein beliebi-ger Abstand ist. Begrenzt man nun z. B. die kritischen verallgemeinerten Koordinaten durch diein Bild 2.3 dargestellten Bereiche
R ≥ b/4, R ≥ b/4, (2.22)
so ist mit den zueinander komplementären Lagevektoren xxx(t) und xxx(t) stets eine eindeutige La-gebeschreibung möglich. Wird eine der Grenzen (2.22) verletzt, so erfolgt der Übergang zu denkomplementären Kugelkoordinaten und umgekehrt. Dafür stehen nach (2.21) z. B. die Beziehung
R = Rsin ϑsin ϑ
, cot ϑ = cot ϑ − bR sin ϑ
(2.23)
zur Verfügung.
OBereichsgrenzen
b
P
R
R
e1
e3
Bild 2.3: Definition komplementärer Kugelkoordinaten
Die singulären Punkte sind bei vielen Bewegungen unkritisch. So bewegen sich z. B. die Pla-neten stets in großer Entfernung vom singulären Punkt im Ursprung. Andererseits findet man beiden Drehbewegungen starrer Körper immer wieder singuläre Punkte, denen in der Kreiseltheorieauch zahlreiche Arbeiten gewidmet sind. Es ist deshalb zweckmäßig, diese Fragestellung bereitsbei der Punktbewegung anzusprechen.
Ein freies System von p materiellen Punkten im Raum hat 3p Freiheitsgrade. Fasst man die 3pverallgemeinerten Koordinaten des Gesamtsystems zu einem 3p×1-Lagevektor xxx(t) zusammen,so gilt entsprechend zu (2.4) für den i-ten Punkt
rrri(t) = rrri(xxx), i = 1(1)p. (2.24)
Ebenso gelten auch die Beziehungen (2.5), (2.6) und (2.12), (2.13) für Punktsysteme. Im Beson-deren geht (2.8) in eine 3×3p-Jacobi-Matrix HHHTi(xxx), i = 1(1)p, über.
2.1 Freie Systeme 17
2.1.2 Kinematik des starren Körpers
Der starre Körper ist ein einfaches Modell der Kontinuumsmechanik. Er besteht, wie alle Konti-nua, aus einer zusammenhängenden kompakten Menge materieller Punkte. Darüber hinaus sindbeim starren Körper aber die Abstände zwischen beliebigen materiellen Punkten konstant. VomStandpunkt der Kontinuumsmechanik aus gesehen ist ein starrer Körper daher verzerrungsfrei. Erist aber auch statisch unbestimmt, d. h. die in seinem Inneren auftretenden Kräfte und Spannun-gen können nicht berechnet werden, siehe Abschnitt 5.4.2. Trotzdem eignet sich der starre Körperhervorragend zur Untersuchung von Bewegungen bei vielen Aufgaben der Dynamik. Dies giltim Besonderen für Systeme starrer Körper, die Mehrkörpersysteme.
Für die kinematische Beschreibung freier Mehrkörpersysteme, wie sie z. B. in der Rotordyna-mik auftreten, genügt wiederum die Betrachtung eines einzelnen starren Körpers. In einem freienSystem sind immer alle starren Körper kinematisch gleichwertig.
O
Bahnkurve
e2
e3
e1
K(t)
P(t)
P(t0)r( ,t;t0)
K(t0)
Bild 2.4: Bewegung eines freien Körpers
Ein beliebiger, auch nichtstarrer Körper K wird mathematisch durch seine Referenzkonfigu-ration, d. h. eine stetige und umkehrbar eindeutige Zuordnung von Ortsvektoren ρρρ zu den ma-teriellen Punkten, beschrieben, siehe Bild 2.4. Dabei wird, wenn nichts anderes vereinbart ist,wieder ein raumfestes kartesisches Koordinatensystem {O,eeeα},α = 1(1)3, und ein nichtpolaresKontinuum zugrunde gelegt. Die aktuelle Konfiguration eines bewegten Körpers K(t) zur Zeit tim Raum,
rrr = rrr(ρρρ, t; t0), (2.25)
bezieht man dabei auf die Referenzkonfiguration des Körpers K(t0) zur Referenzzeit t0,
ρρρ = rrr(ρρρ, t0; t0). (2.26)
Andererseits sind aber die Ortsvektoren ρρρ auch durch die Umkehrfunktion von (2.25) festgelegt,
ρρρ = ρρρ(rrr, t; t0), (2.27)
womit die eindeutige Zuordnung zu den materiellen Punkten erreicht wird. Den Beziehungen
18 2 Kinematische Grundlagen
(2.25) bis (2.27) ist einheitlich die feste Referenzzeit t0 zugrunde gelegt. Es ist aber auch mög-lich, als Referenzzeit die laufende Zeit t0 = t zu wählen. Dann gilt ρρρ(rrr, t; t) = rrr, d. h. der durchρρρ gekennzeichnete materielle Punkt P fällt momentan mit dem durch rrr beschriebenen Raum-punkt zusammen. Die laufende Referenzzeit t wird sich bei der Bestimmung des momentanenDrehgeschwindigkeitsvektors als nützlich erweisen.
Im folgenden werden die Variablen ρρρ , t und t0 nur bei Bedarf angeschrieben. Die expliziteAbhängigkeit der betrachteten Größen von diesen Variablen bleibt davon unberührt. Die Koordi-naten des Vektors ρρρ werden auch materielle Koordinaten genannt, während die Koordinaten desVektors rrr räumliche Koordinaten heißen.
Die allgemeine Bewegung eines nichtstarren Körpers K setzt sich aus Drehungen und Ver-zerrungen zusammen, sie wird Deformation genannt. Da sich die Deformation innerhalb desKörpers jedoch von Punkt zu Punkt ändert, wird sie zweckmäßigerweise durch den Deformati-onsgradienten FFF(ρρρ, t; t0) = ∂rrr/∂ρρρ charakterisiert. Der Deformationsgradient beschreibt z. B. dieBewegung eines Tetraederelements aus der Referenzkonfiguration in die aktuelle Konfiguration,wie Bild 2.5 zeigt. Ein Tetraederelement umfasst vier infinitesimal benachbarte materielle Punk-te P, P1, P2, P3. Die Linienelemente zwischen dem Punkt P und den Punkten P1,P2,P3 werdenalso aus ihrer jeweiligen Referenzkonfiguration dρρρ in die jeweilige aktuelle Konfiguration drrrtransformiert. Diese Transformation vermittelt der Deformationsgradient FFF(ρρρ, t; t0). Es gilt nach(2.25)
rrr(ρρρ +dρρρ, t; t0)−rrr(ρρρ, t; t0) = drrr =∂rrr∂ρρρ
·dρρρ =FFF(ρρρ, t; t0) ·dρρρ. (2.28)
Umgekehrt findet man mit (2.27) und (2.25)
dρρρ =∂ρρρ∂rrr
·drrr =FFF−1(ρρρ, t; t0) ·drrr. (2.29)
O
P3(t0)
P3(t)
P (t)
P (t)
r( ,t;t0)
P(t0) P2(t0)
P1(t0)
P(t)
Bild 2.5: Bewegung eines freien Tetraederelements
Aus Gründen der Eindeutigkeit von (2.25) und (2.27) muss der Deformationsgradient in (2.28)bzw. (2.29) stets regulär sein, detFFF �= 0. Wegen (2.26) folgt aus (2.28) weiterhin FFF(ρρρ, t0; t0) =EEE
2.1 Freie Systeme 19
und damit detFFF(ρρρ, t0; t0) = +1. Dabei ist EEE wieder der 3×3-Einheitstensor.Beachtet man weiterhin die Stetigkeit der Deformation, so bleibt die Bedingung
detFFF > 0. (2.30)
Die aktuelle Konfiguration des betrachteten Tetraederelements wird durch insgesamt zwölf Ko-ordinaten entsprechend den zwölf Freiheitsgraden der vier materiellen Punkte bestimmt. Diesezwölf Koordinaten können auch als die drei Verschiebungskoordinaten des 3× 1-Ortsvektorszum Punkt P und die neun Koordinaten des 3×3-Tensors des Deformationsgradienten interpre-tiert werden.
Bei einem starren Körper K bleiben nun die Abstände aller materiellen Punkte während derDeformation konstant,
drrr ·drrr =FFF ·dρρρ ·FFF ·dρρρ = dρρρ ·FFFT ·FFF ·dρρρ != dρρρ ·dρρρ. (2.31)
Für den Deformationsgradienten des starren Körpers findet man also
FFFT ·FFF =EEE. (2.32)
Der Deformationsgradient FFF ist somit vom Ortsvektor ρρρ der materiellen Punkte des starren Kör-pers unabhängig, er kann deshalb nur noch eine Funktion der Zeit t sein. Der Deformationsgradi-ent entspricht damit dem 3×3-Drehtensor SSS(t; t0) des starren Körpers,
FFF(ρρρ, t; t0) = SSS(t; t0). (2.33)
Wegen (2.30) und (2.32) ist der Drehtensor SSS(t; t0) ein eigentlich orthogonaler Tensor. Der Dreh-tensor wird im Folgenden grundsätzlich auf die Referenzkonfiguration bezogen, auf das An-schreiben der Referenzzeit t0 kann deshalb verzichtet werden.
Zunächst sollen nun die Eigenschaften der Drehung oder Rotation eines starren Körpers imEinzelnen dargestellt werden. Dazu werden die verschiedenen Beschreibungsmöglichkeiten ent-weder durch neun Richtungskosinusse, vier Drehparameter oder über drei Drehwinkel herange-zogen. In jedem Fall müssen drei verallgemeinerte Koordinaten entsprechend den drei Freiheits-graden der Drehung eines starren Körpers verbleiben.
Jede kartesische Koordinate Sαβ (t), α ,β = 1(1)3, des Drehtensors (2.33) kann als Richtungs-kosinus des Winkels σαβ (t) zwischen dem Basisvektor eeeIα des raumfesten Inertialsystems I unddem Basisvektor eeeKβ (t) des entsprechenden körperfesten Koordinatensystems K aufgefasst wer-den, Bild 2.6. Das kartesische körperfeste Koordinatensystem {P(t);eeeKβ (t)}, β = 1(1)3, fälltdabei zum Zeitpunkt t = t0 mit dem Inertialsystem zusammen,
{P(t0);eeeKβ (t0)}= {0;eeeIα}. (2.34)
Die neun Richtungskosinusse Sαβ ,α, β = 1(1)3, unterliegen den sechs Bindungen (2.32) derOrthogonalität, so dass nur drei verallgemeinerte Koordinaten verbleiben.
Der Drehtensor SSS nach (2.33) kann auch durch die vier Drehparameter, d. h. die drei Koor-dinaten des auf Länge Eins normierten Vektors ddd der Drehachse und den skalaren Drehwinkelϕ(t), ausgedrückt werden. Die Darstellung einer endlichen Drehung durch ihre Drehachse und
20 2 Kinematische Grundlagen
einen Drehwinkel geht auf Euler zurück. Deshalb werden die vier Drehparameter auch als Euler-Parameter bezeichnet.
O S21 21(t)
eI2
21
eK1(t)
Bild 2.6: Richtungskosinus
Nach Bild 2.7 gilt einerseits
ρρρ2(t) = SSS(t) ·ρρρ2(t0), (2.35)
während sich andererseits aus dem Vektorpolygon P1MNP2 die Beziehung
ρρρ2(t) = dddddd ·ρρρ2(t0)+(ρρρ2(t0)−dddddd ·ρρρ2(t0)) cos ϕ + ddd ·ρρρ2(t0) sin ϕ (2.36)
errechnet. Durch Vergleich von (2.35) und (2.36) folgt unmittelbar
SSS(t) = dddddd +(EEE −dddddd) cos ϕ + ddd sin ϕ. (2.37)
MN
Drehachsed
P2
P2 0
2 0
0
2
P1 0 1
Bild 2.7: Endliche Drehung eines starren Körpers
In (2.36) ist der schiefsymmetrische 3×3-Tensor ddd zum 3×1-Vektor ddd und sein dyadisches
2.1 Freie Systeme 21
Produkt dddddd eingeführt worden, siehe Anhang,
ddd =
⎡⎣ d1
d2d3
⎤⎦ , ddd =−ddd
T=
⎡⎣ 0 −d3 d2
d3 0 −d1−d2 d1 0
⎤⎦ , dddddd =
⎡⎣ d1d1 d1d2 d1d3
d2d1 d2d2 d2d3d3d1 d3d2 d3d3
⎤⎦ .
(2.38)
Der schiefsymmetrische Tensor eines Vektors wird durch das Symbol (˜) gekennzeichnet. Ervermittelt das Kreuz- oder Vektorprodukt
aaa ·bbb = aaa×bbb. (2.39)
Zwischen dem dyadischen Produkt aaabbb, dem skalaren Produkt aaa ·bbb = bbb ·aaa und dem erweitertenVektorprodukt aaa · bbb besteht darüber hinaus nach (A.30) die nützliche Beziehung
aaabbb = (bbb ·aaa)EEE + bbb · aaa. (2.40)
Beachtet man nun, dass der Vektor ddd der Drehachse ein Einsvektor ist,
ddd ·ddd = 1, (2.41)
was genau einer Bindung zwischen den vier Drehparametern dα ,α = 1(1)3, und ϕ entspricht,so folgt aus (2.40) die Beziehung
dddddd =EEE + ddd · ddd. (2.42)
Damit lässt sich (2.37) umformen in
SSS(t) =EEE + ddd sin ϕ + ddd · ddd(1− cos ϕ). (2.43)
Man erkennt, dass für t = t0 der Drehtensor wegen ϕ(t0) = 0 in den Einheitstensor EEE übergeht.Eng verwandt mit den vier Drehparametern sind die vier Quaternionen qn(t), n = 0(1)3, die
man nach Übergang zum halben Drehwinkel erhält
q0 = cosϕ2, qqq =
⎡⎣ q1
q2q3
⎤⎦= ddd sin
ϕ2. (2.44)
Damit nimmt (2.43) die Form
SSS(t) =EEE +2q0qqq+2qqq · qqq (2.45)
an und die Bindung (2.41) geht in
q20 +qqq ·qqq = 1 (2.46)
über.Die drei Rodrigues-Parameter pα(t),α = 1(1)3, erhält man durch Normierung der Quaternio-
22 2 Kinematische Grundlagen
nen. Sie lassen sich als 3×1-Vektor ppp darstellen
ppp = ddd tanϕ2=
1q0
qqq. (2.47)
Der Drehtensor hat dann die Form
SSS(t) =EEE +2ppp+ ppp · ppp1+ ppp · ppp
(2.48)
und damit eine schöne und kompakte Darstellung.Die vier Drehparameter können umgekehrt auch aus dem Drehtensor bestimmt werden. Da-
zu kann man z. B. die Tatsache ausnutzen, dass ein eigentlich orthogonaler 3 × 3-Tensor dieEigenwerte λ1 = 1, λ2,3 = e±iϕ aufweist. Der zum reellen Eigenwert gehörende Eigenvektorbeschreibt die Drehachse, das Argument ϕ der imaginären Eigenwerte gibt den Drehwinkel an.Allerdings kann die Drehrichtung nicht durch Lösen der Eigenwertaufgabe gefunden werden. Da-zu ist zusätzlich ein Vergleich mit dem Drehtensor (2.43) notwendig. Für ϕ = 0,2π,4π, . . . hatder Drehtensor den dreifachen Eigenwert λ1,2,3 = 1. Dann ist jeder Einsvektor auch Eigenvektorund damit auch Drehachse.
Beispiel 2.2: Drehachse und Drehwinkel eines starren Körpers
Ein Drehtensor SSS(t) sei gegeben durch
SSS(t) =
⎡⎣ cos ϑ 0 − sin ϑ
0 1 0sin ϑ 0 cos ϑ
⎤⎦ . (2.49)
Die Eigenwertaufgabe
(λEEE −SSS) ·ddd = 000 (2.50)
liefert die charakteristische Gleichung
(λ −1)(λ 2 −2λ cos ϑ +1) = 0 (2.51)
mit den Eigenwerten
λ1 = 1, λ2,3 = e±iϑ . (2.52)
Der erste normierte Eigenvektor lautet
ddd =[
0 −1 0], (2.53)
wobei das Vorzeichen durch Einsetzen in (2.43) und Vergleich mit (2.49) bestimmt wurde.Für die Quaternionen findet man
q20(t) =
12(1+ cos ϑ) = cos2 ϑ
2, q2
1(t) = 0,
2.1 Freie Systeme 23
q22(t) =
12(1− cos ϑ) = sin2 ϑ
2, q2
3(t) = 0. (2.54)
Infolge der quadratischen Größen muss die Drehrichtung auch hier durch Vergleich mit(2.49) bestimmt werden.
Die vier Drehparameter dα(t),α = 1(1)3, und ϕ(t) sowie die vier Quaternionen qn(t), n= 0(1)3,unterliegen genau einer Bindung, so dass auch hier nur drei verallgemeinerte Koordinaten ver-bleiben. Die drei Rodrigues-Parameter pα(t) nach (2.47) können dagegen unmittelbar als ver-allgemeinerte Koordinaten verwendet werden. Ihrer technischen Anwendung stehen jedoch dieunendlichen Werte der Tangensfunktion für ϕ = π/2,3π/2,5π/2, . . . entgegen.
Schließlich kann der Drehtensor (2.33) auch durch drei Drehwinkel mit Hilfe von Elementar-drehungen ausgedrückt werden. Elementardrehungen liegen dann vor, wenn die Drehachse miteiner der Koordinatenachsen zusammenfällt. Sie sind durch den Namen des Drehwinkels und dieAngabe der Drehachse definiert. Entsprechend den drei Basisvektoren eines kartesischen Koor-dinatensystems kennt man drei Elementardrehmatrizen.
Zum Aufbau eines eindeutigen Drehtensors macht man nun von der Eigenschaft Gebrauch,dass die Orthogonalität bei der Multiplikation orthogonaler Tensoren erhalten bleibt und manbeschränkt sich zusätzlich auf drei unabhängige Winkel als verallgemeinerte Koordinaten
ααα1(t) =
⎡⎣ 1 0 0
0 cos α − sin α0 sin α cos α
⎤⎦ , (2.55)
βββ 2(t) =
⎡⎣ cos β 0 sin β
0 1 0− sin β 0 cos β
⎤⎦ , (2.56)
γγγ3(t) =
⎡⎣ cos γ − sin γ 0
sin γ cos γ 00 0 1
⎤⎦ . (2.57)
Von den zahlreichen Möglichkeiten zur Beschreibung endlicher Drehungen durch drei verallge-meinerte Koordinaten sollen hier die Euler-Winkel
SSS(t) =ψψψ3(t) ·ϑϑϑ 1(t) ·ϕϕϕ3(t) (2.58)
und die Kardan-Winkel
SSS(t) =ααα1(t) ·βββ 2(t) ·γγγ3(t) (2.59)
erwähnt werden. Beim Aufbau von Drehtensoren aus Elementardrehungen ist noch zu beach-ten, dass das Tensorprodukt nicht kommutativ ist. Neben dem Winkelnamen und der Drehachsegehört deshalb auch noch die Reihenfolge der Elementardrehungen zur vollständigen Definition.
24 2 Kinematische Grundlagen
Wertet man nun (2.59) mit (2.55) bis (2.57) aus, so ergibt sich der Drehtensor der Kardan-Winkel
SSS(t) =
⎡⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎣
cos β cos γ − cos β sin γ sin β
cos α sin γ cos α cos γ − sin α cos β+ sin α sin β cos γ − sin α sin β sin γ
sin α sin γ sin α cos γ cos α cos β− cos α sin β cos γ + cos α sin β sin γ
⎤⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎦. (2.60)
Die Kardan-Winkel können nun umgekehrt auch aus dem Drehtensor gefunden werden. Dazuverwendet man zweckmäßigerweise die schwach besetzten Koordinaten, also z. B.
sin β = S13, cos α =S33
cos β, cos γ =
S11
cos β. (2.61)
Hier treten für cos β = 0 singuläre Drehwinkel β = π/2, 3π/2, 5π/2, . . . auf. Sie entstehen da-durch, dass zwei Elementardrehachsen zusammenfallen und damit ein Freiheitsgrad der Drehungverloren geht. Man erkennt dies besonders deutlich, wenn man z. B. den Drehtensor (2.60) in derUmgebung einer Singularität betrachtet, α = Δα , β = π/2+Δβ , γ = Δγ mit Δα,Δβ ,Δγ � 1
SSS(t) =
⎡⎣ −Δβ 0 1
(Δα +Δγ) 1 0−1 (Δα +Δγ) −Δβ
⎤⎦ . (2.62)
Es verbleiben dann nur die Winkelsumme (Δα +Δγ) und der Einzelwinkel Δβ als verallgemei-nerte Koordinaten.
Die Singularitäten der Drehwinkel lassen sich durch die Begrenzung des Winkels der zweitenElementardrehung und die Einführung von komplementären Drehwinkeln vermeiden. Begrenztman z. B. den zweiten Kardan-Winkel
−π/3 < β < π/3, (2.63)
und ergänzt man (2.59) durch die komplementären Kardan-Winkel
SSS(t) =ααα1(t) ·βββ 2(t) ·γγγ3(t), |β |> π/6, (2.64)
so tritt keine Singularität mehr auf. Für α = Δα , β = π2 +Δβ , γ = Δγ mit Δα , Δβ , Δγ � 1
erhält man aus (2.64) den Drehtensor
SSS(t) =
⎡⎣ −Δβ Δγ 1
Δα 1 Δγ−1 Δα −Δβ
⎤⎦ . (2.65)
Damit sind drei unabhängige Koordinaten Δα,Δβ ,Δγ gegeben. An den Bereichsgrenzen (2.63)und (2.64) erfolgt die Transformation der Winkel über die schwach besetzten Koordinaten derbeiden Drehtensoren. Die sich überschneidenden Bereichsgrenzen gewährleisten aber eine ge-
2.1 Freie Systeme 25
ringe Zahl von Umschaltungen zwischen (2.59) und (2.64). Im Einzelnen gelten die folgendenBeziehungen
β = arcsin(sin β cos γ), (2.66)
sin α =1
cos β(cos α sin γ + sin α cos β cos γ), (2.67)
cos α =1
cos β(− sin α sin γ + cos α cos β cos γ), (2.68)
sin γ =− 1cos β
(sin β sin γ), (2.69)
cos γ =1
cos βcos β (2.70)
und die komplementären Beziehungen
β = arccos(cos β cos γ), (2.71)
sin α =1
sin β(cos α sin γ + sin α sin β cos γ), (2.72)
cos α =1
sin β(− sin α sin γ + cos α sin β cos γ), (2.73)
sin γ =− 1
sin β(cos β sin γ), (2.74)
cos γ =1
sin βsin β . (2.75)
Die Elementardrehungen erlauben es, durch die vielfältigen Kombinationsmöglichkeiten für jedetechnische Aufgabe einen geeigneten Drehtensor aufzubauen. Davon wird im Besonderen in derFlugmechanik und der Kreiseltheorie umfangreicher Gebrauch gemacht, siehe z. B. Magnus [36].
Die Möglichkeiten zur Beschreibung der Drehung eines starren Körpers sind in Tabelle 2.1noch einmal zusammengestellt. Fasst man die verbleibenden verallgemeinerten Koordinaten derDrehung wieder in einem 3×1-Lagevektor
xxx(t) =[
x1 x2 x3]
(2.76)
zusammen, so gilt ganz allgemein
SSS(t) = SSS(xxx(t)) = SSS(xxx), (2.77)
unabhängig von der speziellen Wahl der verallgemeinerten Koordinaten.
Die allgemeine Bewegung eines starren Körpers erhält man, wenn die Drehung durch dieVerschiebung ergänzt wird. Nach Bild 2.8 lautet die aktuelle Konfiguration des starren KörpersK dann
rrr(ρρρ, t) = rrr1(t)+rrrP(ρρρ, t) = rrr1(t)+SSS(t) ·ρρρ. (2.78)
26 2 Kinematische Grundlagen
Tabelle 2.1: Beschreibungsmöglichkeiten der Drehung eines starren Körpers
Koordinaten Bindungen verallgemeinertedes Drehtensors der Koordinaten Koordinaten9 Richtungskosinusse 6 Bindungen z. B.SSS(t) SSS ·SSST =EEE S11(t), S12(t), S23(t)4 Drehparameter 1 Bindung z. B.ddd(t),ϕ(t) ddd ·ddd = 1 d1(t), d2(t),ϕ(t)4 Quaternionen 1 Bindung z. B.q0(t) qqq(t) q2
0 +qqq ·qqq = 1 q0(t), q1(t), q2(t)3 Euler-Winkelψ(t),ϑ(t),ϕ(t) - ψ(t),ϑ(t),ϕ(t)3 Kardan-Winkelα(t), β (t), γ(t) - α(t), β (t), γ(t)
Bild 2.8: Bewegung eines freien starren Körpers
Diese zunächst anschaulich eingeführte Gleichung kann auch formal durch Integration von (2.28)bei fester Referenzzeit t0 gefunden werden. Beim starren Körper ist diese Integration geschlos-sen möglich, da der Deformationsgradient gemäß (2.33) nicht von den materiellen Koordinatenabhängt.
In (2.78) ist rrr1(t) der 3× 1-Ortsvektor des Punktes P1(t). Er beschreibt die Translation desstarren Körpers. Der 3× 3-Drehtensor SSS(t) kennzeichnet die Rotation des starren Körpers. DieTranslation leistet im Gegensatz zur Rotation keinen Beitrag zum Deformationsgradienten, wieaus (2.78), (2.28) folgt. Weiterhin gilt nach (2.29), (2.32) und (2.33) für die inverse Deformation
ρρρ = SSST (t) ·rrrP(ρρρ, t). (2.79)
2.1 Freie Systeme 27
Eingesetzt in (2.78) bleibt das Ergebnis
rrr(ρρρ, t) = rrr1(t)+SSS(t; t0) ·SSST (t; t0) ·rrrP(ρρρ, t)= rrr1(t)+SSS(t; t0) ·SSS(t0; t) ·rrrP(ρρρ, t)= rrr1(t)+SSS(t; t) ·rrrP(ρρρ, t)= rrr1(t)+rrrP(ρρρ, t). (2.80)
Der momentane Drehtensor SSS(t, t) = EEE ist von der Referenzzeit t0 unabhängig. Er hat damit dieFeldeigenschaft im Sinne der Kontinuumsmechanik.
Ein freier starrer Körper verfügt über sechs Freiheitsgrade. Für die drei Freiheitsgrade derTranslation gelten alle Beziehungen der Punktkinematik, siehe Abschnitt 2.1.1. Die drei Frei-heitsgrade der Rotation erfordern nach Tabelle 2.1 ebenfalls drei verallgemeinerte Koordinaten,so dass insgesamt der 6×1-Lagevektor
xxx(t) =[
x1 x2 x3 x4 x5 x6]
(2.81)
die allgemeine Bewegung des starren Körpers beschreibt. Damit lauten Ortsvektor und Drehten-sor des starren Körpers
rrr(t) = rrr(xxx), SSS(t) = SSS(xxx). (2.82)
In den Sonderfällen der reinen Translation bzw. Rotation geht (2.82) in (2.4) bzw. (2.77) über,wobei sich gleichzeitig die Zahl der Freiheitsgrade auf jeweils drei verringert.
Die aktuelle Geschwindigkeit eines Punktes des starren Körpers K erhält man durch die mate-rielle Ableitung von (2.78) in der Form
vvv(ρρρ, t) =ddt
rrr(ρρρ, t) = rrr1(t)+ SSS(t) ·ρρρ (2.83)
da ρρρ nicht von der Zeit abhängt. Berücksichtigt man noch (2.79), so kann man auch schreiben
vvv(ρρρ, t) = rrr1(t)+ SSS(t) ·SSST (t) ·rrrP(ρρρ, t). (2.84)
Der erste Term auf der rechten Seite entspricht der Translationsgeschwindigkeit des Bezugspunk-tes P1 nach (2.5). Der zweite Term geht offensichtlich auf die Rotation zurück und soll hier näheruntersucht werden. Aus (2.84) folgt mit einer Taylorschen Reihenentwicklung nach dt unter Be-rücksichtigung der Orthogonalität von SSS nach(2.80) als Ergebnis
SSS(t) ·SSST (t) =SSS(t +dt; t0)−SSS(t; t0)
dt·SSST (t; t0)
=SSS(t +dt; t)−EEE
dt= ddd(t; t)
dϕ(t; t)dt
=dsss(t)
dt= ω(t).
(2.85)
Dabei kennzeichnet ddd(t; t) die Drehachse und ϕ(t; t) die Geschwindigkeit der momentanen Dre-hung. Weiterhin wird dsss(t) = ddd(t; t)dϕ(t; t) als 3× 3-Tensor der infinitesimalen momentanenDrehung und ωωω(t) als 3× 3-Tensor der Drehgeschwindigkeit bezeichnet. Gemäß (2.38) ist die-
28 2 Kinematische Grundlagen
sem Tensor der 3×1-Vektor ωωω(t) der Drehgeschwindigkeit zugeordnet.Die infinitesimale Drehung dsss(t) hat also im Gegensatz zur endlichen Drehung die Vektorei-genschaft. Sie hängt darüber hinaus auch nicht mehr von der Referenzzeit ab und hat daher dieFeldeigenschaft im Sinne der Kontinuumsmechanik. Damit lässt sich (2.84) auch schreiben als
vvv(ρρρ, t) = vvv1(t)+ωωω(t) ·rrrP(ρρρ, t) = vvv1(t)+ωωω(t)×rrrP(ρρρ, t), (2.86)
was der bekannten Formel für das Geschwindigkeitsfeld des starren Körpers entspricht. Die 3×1Vektoren vvv1(t) und ωωω(t) beschreiben eindeutig den Geschwindigkeitszustand des starren Kör-pers. Sie lassen sich auch zum 6 × 1 Bewegungswinder (vvv1(t),ωωω(t)) zusammenfassen, sieheAbschnitt 5.7.2.
Zur Berechnung des Drehgeschwindigkeitsvektors ωωω(t) steht also zunächst Beziehung (2.85)zur Verfügung, was auf die formale zeitliche Differentiation des Drehtensors hinausläuft.
Beispiel 2.3: Drehgeschwindigkeit eines starren Körpers
Mit dem Drehtensor (2.49) aus Beispiel 2.2 findet man den Drehgeschwindigkeitstensor
ωωω(t) = ϑ
⎡⎣ − sin ϑ 0 − cos ϑ
0 0 0cos ϑ 0 − sin ϑ
⎤⎦ ·⎡⎣ cos ϑ 0 sin ϑ
0 1 0− sin ϑ 0 cos ϑ
⎤⎦
= ϑ
⎡⎣ 0 0 −1
0 0 01 0 0
⎤⎦ (2.87)
und damit den Drehgeschwindigkeitsvektor
ωωω(t) =[
0 −ϑ 0]. (2.88)
Der starre Körper führt damit im Beispiel eine ebene Drehung um die 2-Achse mit negati-vem Drehsinn aus, siehe auch (2.53).
Wendet man weiterhin (2.85) auf (2.43) an, so erhält man nach längerer Rechnung den 3× 1-Drehgeschwindigkeitsvektor in Abhängigkeit von den Drehparametern
ωωω(t) = dddϕ + ddd sin ϕ + ddd · ddd(1− cos ϕ). (2.89)
Es ist offensichtlich, dass die Drehgeschwindigkeit nicht nur von der zeitlichen Änderung ϕ(t)des Drehwinkels, sondern auch von der zeitlichen Änderung ddd(t) der Richtung der Drehachseabhängt. Damit wird besonders deutlich, dass die endliche Drehung und die momentane Drehungverschiedene Eigenschaften aufweisen.
Führt man in (2.89) den halben Drehwinkel ein, so ergibt sich mit den Quaternionen (2.44)die vereinfachte Beziehung
ωωω(t) = 2(q0qqq− q0qqq+ qqq · qqq). (2.90)
2.1 Freie Systeme 29
Ergänzt man (2.90) durch die zeitliche Ableitung von (2.46)
q0q0 +qqq · qqq = 0, (2.91)
so kann man beide Gleichungen zu einer 4×1-Vektordifferentialgleichung zusammenfassen⎡⎣ 0
−−−−ωωω(t)
⎤⎦= 2QQQ(q0,qqq) ·
⎡⎣ q0
−−qqq
⎤⎦= 2
⎡⎣ q0 | qqq
−− | −−−−−−−qqq | q0EEE + qqq
⎤⎦ ·⎡⎣ q0
−−qqq
⎤⎦ , (2.92)
die einen Zusammenhang zwischen der Drehgeschwindigkeit und den Quaternionen darstellt.Es sei im Besonderen darauf hingewiesen, dass die 4×4-Koeffizientenmatrix QQQ orthogonal unddamit nichtsingulär ist, so dass die Umkehraufgabe leicht zu lösen ist, siehe Tabelle 2.2.
Eine weitere, anschauliche Berechnungsmöglichkeit für den Drehgeschwindigkeitsvektor bie-ten die Elementardrehungen. Zu jeder Elementardrehung gehört eine Elementardrehgeschwin-digkeit. Gemäß (2.57) findet man
ωωωα1(t) = ααα1(t) = [α 0 0], (2.93)
ωωωβ2(t) = βββ 2(t) = [0 β 0], (2.94)
ωωωγ3(t) = γγγ3(t) = [0 0 γ]. (2.95)
Diese Elementardrehgeschwindigkeiten können vektoriell addiert werden, wobei die Reihenfol-ge der Drehungen und die Transformationen der Koordinatenachsen durch die vorhergehendenDrehungen zu beachten sind. So erhält man für die Euler-Winkel
ωωω(t) = ψψψ3(t)+ψψψ3(t) ·ϑϑϑ 1(t)+ψψψ3(t) ·ϑϑϑ 1(t) · φφφ 3(t) (2.96)
und für die Kardan-Winkel
ωωω(t) = ααα1(t)+ααα1(t) · βββ 2(t)+ααα1(t) ·βββ 2(t) · γγγ3(t). (2.97)
Ebenso kann man auch die Drehgeschwindigkeitsvektoren im körperfesten Koordinatensystemdarstellen, z. B. mit den Kardan-Winkeln als
ωωω(t) = γγγT3 (t) ·βββ T
2 (t) ·ααα1(t)+γγγT3 (t) · βββ 2(t)+ γγγ3(t). (2.98)
Wertet man nun (2.97) aus, so findet man mit den Kardan-Winkeln als verallgemeinerten Koordi-naten
xxx(t) =[
α β γ]
(2.99)
die Beziehung
ωωω(t) =HHHR(xxx) · xxx(t) =⎡⎣ 1 0 sin β
0 cos α − sin α cos β0 sin α cos α cos β
⎤⎦ ·⎡⎣ α
βγ
⎤⎦ , (2.100)
30 2 Kinematische Grundlagen
Tabelle 2.2: Kinematische Differentialgleichungen
gesuchte Koordinaten Drehgeschwindigkeit im raumfesten System
9 Richtungskosinusse SSS SSS = ωωω ·SSS
4 Quaternionen[q0 qqq]
[q0qqq
]= 1
2QQQT (q0,qqq) · [0 | ωωω][q0qqq
]= 1
2
⎡⎣ 0 | −ωωω
−− − −−−ωωω | ωωω
⎤⎦ ·[ q0
qqq
]
3 Kardan-Winkelα(t), β (t), γ(t)
xxx =HHH−1R (xxx) ·ωωω
HHH−1R =
⎡⎢⎢⎣
1 sin α tan β − cos α tan β0 cos α sin α
0 − sin αcos β
cos αcos β
⎤⎥⎥⎦
Drehgeschwindigkeit im körperfesten System 1
9 Richtungskosinusse SSS SSS = SSS ·1ωωω
4 Quaternionen[q0 qqq]
[q0qqq
]= 1
21QQQT (q0,qqq) · [0 |1ωωω][q0qqq
]= 1
2
⎡⎣ 0 | −1ωωω
−− − −−−1ωωω | −1ωωω
⎤⎦ ·[ q0
qqq
]
3 Kardan-Winkelα(t), β (t), γ(t)
xxx =1HHH−1R (xxx) ·1ωωω
1HHH−1R =
⎡⎢⎢⎣
cos γcos β
− sin γcos β
0
sin γ cos γ 0− cos γ tan β sin γ tan β 1
⎤⎥⎥⎦
wobei die 3×3 Jacobi-Matrix HHHR(xxx) der Rotation eingeführt wurde.In der Dynamik kommt der Berechnung der Lage bzw. der Konfiguration aus der Drehge-
schwindigkeit eine große Bedeutung zu. Dies kann durch Integration der entsprechenden Diffe-rentialgleichungen erfolgen. Dabei ist die Drehgeschwindigkeit entweder im körperfesten oderim raumfesten Koordinatensystem gegeben, siehe Tabelle 2.2. Die kinematischen Differential-gleichungen der Richtungskosinusse und der Quaternionen sind überbestimmt. Die in Tabelle 2.1angegebenen Bindungen sind in differenzierter Form in den Differentialgleichungen enthalten,obwohl ein erstes Integral bekannt ist, nämlich die Bindungen selbst. Dies kann zu numerischenSchwierigkeiten führen, d. h. die Bindungen können bei längerer Integration verletzt werden. Esempfiehlt sich deshalb, ein Korrekturverfahren vorzusehen, das nach jedem Integrationsschritt
2.1 Freie Systeme 31
gemäß (2.32) bzw. (2.46) eine Normierung vornimmt. Diese Normierung erfolgt bei der Diffe-rentialgleichung der Kardan-Winkel, ebenso wie bei sämtlichen anderen Elementardrehungen,automatisch. Dafür ist aber die Funktionalmatrix HHHR in den singulären Konfigurationen nichtmehr regulär. Diese Singularitäten lassen sich jedoch durch den Einsatz komplementärer Dreh-winkel vermeiden, es muss dann ein höherer Programmieraufwand für das Umschalten getriebenwerden.
Beispiel 2.4: Integration der Richtungskosinusse
Es sei der Drehgeschwindigkeitsvektor (2.88) der Drehung um die negative 2-Achse gege-ben und die Anfangsbedingung sei SSS(t = t0) = SSS0. Dann lauten die Differentialgleichungender Richtungskosinusse nach Tabelle 2.2 SSS = ωωω ·SSS oder
S11 = ω2S31, S12 = ω2S32, S13 = ω2S33,
S21 = 0, S22 = 0, S23 = 0,
S31 =−ω2S11, S32 =−ω2S12, S33 =−ω2S13.
(2.101)
Beachtet man nun, dass lineare zeitvariante Differentialgleichungssysteme der Form[x1(t)x2(t)
]=
[0 ω(t)
−ω(t) 0
]·[
x1(t)x2(t)
], (2.102)[
x1(t = t0)x2(t = t0)
]=
[x10x20
](2.103)
die allgemeine Lösung
[x1(t)x2(t)
]=
⎡⎣ cos
(∫ tt0 ωdt
)sin(∫ t
t0 ωdt)
− sin(∫ t
t0 ωdt)
cos(∫ t
t0 ωdt)⎤⎦ ·[ x10
x20
](2.104)
aufweisen, so folgt mit ω2 =−ϑ aus (2.101)
SSS(t) =
⎡⎣ cos ϑ 0 − sin ϑ
0 1 0sin ϑ 0 cos ϑ
⎤⎦ ·⎡⎣ S110 S120 S130
S210 S220 S230S310 S320 S330
⎤⎦ . (2.105)
Ist im Besonderen SSS0 =EEE, so erhält man wiederum den Drehtensor (2.49).
Wenn die Differentialgleichungen (2.101) nicht analytisch, sondern numerisch gelöst wer-den, so können Integrationsfehler die Orthogonalität zerstören. Lässt man z. B. in einerLösung der Differentialgleichungen (2.101) einen Integrationsfehler ε zu,
S11 = cos ϑ + ε, (2.106)
so ist die entsprechende Orthogonalitätsbedingung nicht mehr erfüllt. Für SSS0 = EEE erhält
32 2 Kinematische Grundlagen
man zum Beispiel
S211 +S2
21 +S231 = 1+2ε cos ϑ �= 1. (2.107)
Ein nichtorthogonaler Drehtensor entspricht aber dem Deformationsgradienten eines nicht-starren Körpers. Deshalb muss die Orthogonalität stets überprüft werden.
Beispiel 2.5: Integration der Kardan-Winkel
Die in Beispiel 2.4 gegebene Drehung soll nun mit Kardan-Winkeln beschrieben werden.Nach Tabelle 2.2 findet man
α = ω2 sin α tan β , β = ω2 cos α, γ =−ω2sin αcos β
. (2.108)
Dieses nichtlineare Differentialgleichungssystem lässt sich nun mit der Anfangsbedingungα0 = 0, β0 = 0, γ0 = 0 geschlossen lösen
α(t) = 0, β (t) =∫
ω2dt =−ϑ , γ(t) = 0. (2.109)
Damit ist wieder der Drehtensor (2.49) bestimmt, wobei die Orthogonalität definitionsge-mäß immer gegeben ist.
Andererseits liegt für α0 = −γ0 = 0 und β0 = π/2 eine Singularität vor. Diese kann durchden Einsatz der komplementären Kardan-Winkel (2.64) behoben werden. Nach (2.71), (2.72)und (2.74) lauten die entsprechenden Anfangsbedingungen α0 = 0, β 0 = π/2 und γ0 = 0und das nichtlineare zeitvariante Differentialgleichungssystem hat die Form
α =−ω2 sin α cot β , β = ω2 cos α, γ = ω2sin αsin β
(2.110)
mit der Lösung
α(t) = 0, β (t) =π2+∫
ω2dt, γ(t) = 0. (2.111)
Man erkennt, dass der Übergang von den Kardan-Winkeln zu den komplementären Kardan-Winkeln sogar in einer singulären Lage möglich ist. Doch sollte dies aus numerischen Grün-den vermieden werden.
Damit ist die Behandlung der Drehgeschwindigkeit abgeschlossen. Die Geschwindigkeit des star-ren Körpers ist nach (2.86) durch die Translationsgeschwindigkeit vvv(t) eines materiellen PunktesP(t) und durch die überall gleiche Dreh- oder Rotationsgeschwindigkeit ωωω(t) des Körpers voll-ständig gegeben. Diese Geschwindigkeiten lassen sich aber gemäß (2.6) und (2.100) auch durchdie verallgemeinerten Koordinaten des 6×1-Lagevektors ausdrücken. Dann gilt
vvv(t) = vvv(xxx, xxx) = [HHHT (xxx) 000] · xxx(t) =HHHT (xxx) · xxx(t),ωωω(t) =ωωω(xxx, xxx) = [000 HHHR(xxx)] · xxx(t) =HHHR(xxx) · xxx(t), (2.112)
2.1 Freie Systeme 33
wobei die nun auftretenden 3× 6-Funktionalmatrizen aus (2.6) und (2.100) durch Hinzufügenvon Nullmatrizen gewonnen werden können. Formal gelten entsprechend zu (2.7) die Beziehun-gen
HHHT (xxx) =∂rrr(xxx)
∂xxx, HHHR(xxx) =
∂sss(xxx)∂xxx
. (2.113)
Dabei ist zu beachten, dass in der zweiten Formel von (2.113) die infinitesimale momentaneDrehung gemäß (2.85) verwendet werden muss. Der Übergang von (2.82) nach (2.113) ist alsoetwas umständlich und muss über den schiefsymmetrischen Tensor des infinitesimalen momen-tanen Drehvektors erfolgen
∂ sαβ
∂xδ=
∂Sαγ
∂xδSβγ , α, β , γ = 1(1)3, δ = 1(1)6. (2.114)
Die Gleichung (2.114) wertet man analytisch am besten mit einem Formelmanipulationspro-gramm aus. Die Jacobi-Matrix HHHR(xxx) in (2.113) kann aber auch anschaulich mit Hilfe der Ele-mentardrehungen nach (2.100) gewonnen werden.
Die aktuelle Beschleunigung des starren Körpers ist durch eine weitere materielle Ableitungvon (2.83) gegeben
aaa(ρρρ, t) =ddt
vvv(ρρρ, t) = rrr1(t)+ SSS(t) ·ρρρ. (2.115)
Berücksichtigt man wiederum (2.79), so bleibt
aaa(ρρρ, t) = rrr1(t)+ SSS(t) ·SSST (t) ·rrrP(ρρρ, t). (2.116)
Dabei erkennt man als ersten Term die Translationsbeschleunigung (2.12) wieder, während derzweite Term die Rotationsbeschleunigung kennzeichnet. Es gilt nun
SSS ·SSST = SSS ·SSST + SSS · SSST − SSS · SSST= SSS ·SSST + SSS · SSST − SSS ·SSST ·SSS · SSST
= ˙ωωω(t)+ωωω(t) ·ωωω(t), (2.117)
wobei die Definition (2.85) der Winkelgeschwindigkeit und deren Ableitungen ˙ωωω = SSS ·SSST +SSS ·SSST
verwendet werden. Führt man jetzt den 3×1-Drehbeschleunigungsvektor
ααα(t) = ωωω(t) (2.118)
ein, so bleibt
aaa(ρρρ, t) = rrr1(t)+[
ααα(t)+ωωω(t) ·ωωω(t)] ·rrrp(ρρρ, t). (2.119)
Die Beschleunigung des starren Körpers ist also durch die Translationsbeschleunigung aaa1(t) desmateriellen Punktes P1, seine Dreh- oder Rotationsbeschleunigung ααα(t) und das Quadrat seinerRotationsgeschwindigkeit ωωω(t) gegeben.
Die Beschleunigungen können ebenso wie in (2.13) durch verallgemeinerte Koordinaten aus-
34 2 Kinematische Grundlagen
gedrückt werden
aaa(t) = aaa(xxx, xxx, xxx) =HHHT (xxx) · xxx(t)+(
∂HHHT (xxx)∂xxx
· xxx(t))· xxx(t), (2.120)
ααα(t) =ααα(xxx, xxx, xxx) =HHHR(xxx) · xxx(t)+(
∂HHHR(xxx)∂xxx
· xxx(t))· xxx(t). (2.121)
Dabei treten entsprechend (2.112) die 3× 6-Funktionalmatrizen HHHT und HHHR sowie deren Ablei-tungen auf. Die Gleichung (2.121) zeigt deutlich, dass aufgrund der Vektoreigenschaft der Dreh-geschwindigkeit keine formalen Unterschiede mehr zwischen der Translation und der Rotationbestehen.
Ein freies System von p starren Körpern verfügt über 6p Freiheitsgrade, die durch den 6p×1-Lagevektor xxx(t) der verallgemeinerten Koordinaten des Gesamtsystems beschrieben werden.Entsprechend (2.82) gilt dann für den i-ten Körper
rrri(t) = rrri(xxx), SSSi(t) = SSSi(xxx). (2.122)
Ebenso kann man (2.112) bis (2.114) und (2.121) auf den i-ten Körper übertragen.
2.1.3 Kinematik des Kontinuums
Das Kontinuum ist ebenso wie der starre Körper ein Modell der Mechanik. Die Abstände zwi-schen den materiellen Punkten des Kontinuums sind aber im Gegensatz zum starren Körper nichtkonstant. Das Kontinuum unterliegt deshalb bei einer Deformation nicht nur einer Translationund einer Rotation, sondern zusätzlich auch einer Verzerrung. Bei elastischen Materialien istjedoch die Verzerrung im Allgemeinen klein, so dass meist mit linearen Beziehungen gearbei-tet werden kann. Flüssigkeiten, die große Verzerrungen aufweisen, oder plastische Materialienwerden in diesem Buch nicht betrachtet. Die im Kontinuum auftretenden Verzerrungen erlaubenauch die Berechnung der inneren Kräfte und Spannungen , die für die Festigkeitsuntersuchun-gen von ausschlaggebender Bedeutung sind. Trotzdem ist der Einsatz des Kontinuummodells inder Dynamik nicht immer erforderlich. Häufig werden die Bewegungen mit dem Starrkörpermo-dell berechnet und die Festigkeitsuntersuchungen - unter Berücksichtigung der Trägheitskräfte- nach statischen Methoden durchgeführt. Für die kinematische Beschreibung freier Kontinuagenügt wiederum die Betrachtung eines einzelnen Körpers, wie dies auch in den vorhergehendenAbschnitten der Fall war.
Zur mathematischen Beschreibung der Konfiguration eines Kontinuums K können Bild 2.4und die Gleichungen (2.25) bis (2.30) unverändert übernommen werden. Der Deformationsgra-dient FFF(ρρρ, t) ist jetzt jedoch nicht mehr orthogonal. Er kann aber, wie jeder Tensor zweiter Stufe,polar zerlegt werden
FFF(ρρρ, t) = SSS(ρρρ, t) ·UUU(ρρρ, t), (2.123)
wobei neben dem nun ortsabhängigen eigentlich orthogonalen 3×3-Drehtensor
SSST(ρρρ, t) = SSS
−1(ρρρ, t) (2.124)
2.1 Freie Systeme 35
auch der ebenfalls ortsabhängige, symmetrische und positiv definite 3×3-Rechts-Streck-Tensor
UUUT (ρρρ, t) =UUU(ρρρ, t) (2.125)
auftritt, der ein Maß für die Verzerrung darstellt. Der Beweis der genannten Eigenschaften ist z. B.bei Becker und Bürger [8] oder Lai, Rubin, Krempl [32] zu finden und soll hier nicht wiederholtwerden. Einige Hinweise sind auch im Anhang zu finden. Aus dem 3×3-Rechts-Streck-Tensorerhält man den Greenschen Verzerrungstensor
GGG =12(UUU ·UUU −EEE) =
12(FFFT ·FFF −EEE), (2.126)
der ebenfalls symmetrisch ist. Mit (2.123) und (2.125) lässt sich der Deformationsgradient auchdarstellen als
FFF = SSS · (EEE +2GGG)12 . (2.127)
Nähere Informationen zur Berechnung der Wurzel einer Matrix findet man in Zurmühl und Falk[70]. Beim starren Körper verschwindet der Greensche Verzerrungstensor, ausUUU =EEE folgt GGG=000,womit (2.127) wieder in (2.33) übergeht.
Beispiel 2.6: Verzerrung eines verdrehten Rundstabes
Die aktuelle Konfiguration eines tordierten Rundstabes, Bild 2.9, wird durch den Punkt P
Referenzkonfigurationaktuelle Konfiguration
2
2
DreieckR
L
Drehung Verzerrung
e1
e3
e1
P P P
Bild 2.9: Deformation eines Rundstabes
36 2 Kinematische Grundlagen
mit dem 3×1-Ortsvektor
rrr(ρρρ, t) =
⎡⎣ ρ1
ρ2 −αρ3ρ3 +αρ2
⎤⎦ , α(ρ1, t)� 1 (2.128)
beschrieben, wobei der 3 × 1-Ortsvektor ρρρ die materiellen Punkte in der Referenzkonfi-guration kennzeichnet. Der kleine Winkel α ist eine Funktion des Orts und der Zeit, dieOrtsabhängigkeit ist auf die Stablängsrichtung beschränkt.
Nach (2.28) lautet der Deformationsgradient
FFF =
⎡⎣ 1 0 0
−α ′ρ3 1 −αα ′ρ2 α 1
⎤⎦ , α ′ =
∂α∂ρ1
� 1 (2.129)
und das Quadrat des Recht-Streck-Tensors folgt unter Vernachlässigung quadratisch kleinerGrößen zu
UUU ·UUU =FFFT ·FFF =
⎡⎣ 1 −α ′ρ3 α ′ρ2
−α ′ρ3 1 0α ′ρ2 0 1
⎤⎦ . (2.130)
Wenn α � 1 ist, kann UUU aus (2.130) geschlossen angeschrieben werden
UUU =
⎡⎣ 1 − 1
2 α ′ρ312 α ′ρ2
− 12 α ′ρ3 1 0
12 α ′ρ2 0 1
⎤⎦ . (2.131)
Mit (2.123) findet man nun den Drehtensor
SSS =
⎡⎣ 1 1
2 α ′ρ3 − 12 α ′ρ2
− 12 α ′ρ3 1 −α
12 α ′ρ2 α 1
⎤⎦ (2.132)
und mit (2.126) bleibt für den linearisierten Greenschen Verzerrungstensor
GGGlin =α ′
2
⎡⎣ 0 −ρ3 ρ2
−ρ3 0 0ρ2 0 0
⎤⎦ . (2.133)
Bei einer statischen Belastung gilt Rα(ρ1) = γρ1, Bild 2.9. Betrachtet man die Deformationeines infinitesimalen Dreiecks im materiellen Punkt ρρρ = [0 R 0], so stellt man mit Bild 2.9fest, dass neben einer Verzerrung, gekennzeichnet durch eine reine Winkeländerung, eineDrehung des infinitesimalen Dreiecks erfolgt. Dies bestätigt die Aussage von (2.127) übergleichzeitig mögliche Rotationen und Verzerrungen in nichtstarren Körpern.
Beachtet man nun, dass in elastischen Werkstoffen die elastischen Verzerrungen im Verhältnis zurStarrkörperbewegung meist klein sind, so können die obigen Beziehungen allgemein linearisiert
2.1 Freie Systeme 37
werden, Bild 2.10.
P(t)
,t)K(t0)
e3
P(t0)
P1(t0)
P1(t) K(t)
r1(t)
e1e2
r( ,t)
Bild 2.10: Freie Bewegung eines linearelastischen Körpers
Für die aktuelle Konfiguration gilt dann
rrr(ρρρ, t) = rrr1(t)+SSS(t) · [ ρρρ +www(ρρρ, t)], (2.134)
wobei der relative 3× 1-Verschiebungsvektor www(ρρρ, t) im Verhältnis zu einer charakteristischenLänge des Kontinuums klein ist. Im Übrigen gilt in (2.134) die Beziehung
www(000, t) = 000, (2.135)
wodurch der Ortsvektor rrr1(t) des Bezugspunktes P1 festgelegt wird. Mit dem dazugehörenden3×3-Verschiebungsgradienten
FFFw(ρρρ, t) =∂www∂ρρρ
(2.136)
lautet der linearisierte Deformationsgradient
FFFlin = SSS · (EEE +GGGlin), (2.137)
wobei die Beziehungen
GGGlin =12(FFFw +FFFT
w), (2.138)
SSS = SSSr(t) ·SSSw(ρρρ, t), SSSw =EEE +12(FFFw −FFFT
w), SSSw(000, t) =EEE, (2.139)
zu berücksichtigen sind. Im linearen Fall erhält man also den linearen Greenschen 3×3-Verzerr-ungstensor GGGlin und den 3× 3-Tensor SSSw der relativen Drehung durch eine einfache Zerlegungdes Verschiebungsgradienten FFFw in seinen symmetrischen und schiefsymmetrischen Anteil, sie-he (2.138) und (2.139). Im Besonderen sei erwähnt, dass der Tensor SSSw(ρρρ, t) der relativen Dre-hung im Gegensatz zum Drehtensor SSSr(t) orts- und zeitabhängig ist. Nach (2.139) setzt sichdie Gesamtdrehung SSS(ρρρ, t) aus der Starrkörperdrehung SSSr(t) und der relativen Drehung SSSw(ρρρ, t)zusammen.
38 2 Kinematische Grundlagen
Der linearisierte Greensche Verzerrungstensor hat aus Symmetriegründen nur sechs wesentli-che Elemente
GGGlin =
⎡⎣ ε11 ε12 ε31
ε12 ε22 ε23ε31 ε23 ε33
⎤⎦ , (2.140)
die auch zu einem 6×1-Verzerrungsvektor
eee =[
ε11 ε22 ε33 γ12 γ23 γ31]
(2.141)
zusammengefasst werden können. Man nennt dabei εαα , α = 1(1)3, die Normalverzerrungenoder Dehnungen. Die Nebendiagonalelemente ε12, ε23, ε31 heißen Schubverzerrungen. Im Ver-zerrungsvektor treten γ12 = 2ε12, γ23 = 2ε23, γ31 = 2ε31 auf, die Gleitungen genannt werden unddie Änderungen eines in der Referenzkonfiguration rechten Winkels beschreiben. Die Dehnun-gen und Gleitungen sind jedoch nicht unabhängig voneinander, da sie aus den drei Koordinatendes Verschiebungsvektors www berechnet werden. Die Verträglichkeits- oder Kompatibilitätsbedin-gungen sind jetzt aber nicht mehr durch algebraische Gleichungen, sondern durch Differenti-algleichungen gekennzeichnet. Führt man nun noch die 6× 3-Differentialoperatorenmatrix derVerzerrung ein,
V =
⎡⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎣
∂/∂ρ1 0 00 ∂/∂ρ2 00 0 ∂/∂ρ3
∂/∂ρ2 ∂/∂ρ1 00 ∂/∂ρ3 ∂/∂ρ2
∂/∂ρ3 0 ∂/∂ρ1
⎤⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎦ , (2.142)
so kann man den Verzerrungsvektor auch unmittelbar aus dem Verschiebungsvektor berechnen,
eee = V ·www. (2.143)
Für die Differentialoperatorenmatrix V gelten die Rechenregeln der Matrizenmultiplikation, wieim Anhang gezeigt wird.
Der Drehtensor (2.139) hat infolge der Linearisierung nur drei wesentliche Elemente,
SSSw =
⎡⎣ 1 −γ β
γ 1 −α−β α 1
⎤⎦ , (2.144)
die den kleinen Kardan-Winkeln α , β , γ entsprechen. Die wesentlichen Elemente von (2.144)lassen sich im 3×1-Drehvektor
sss =[
α β γ]
(2.145)
2.1 Freie Systeme 39
zusammenfassen und mit der 3×3-Differentialoperatorenmatrix der elastischen Drehung,
D =12
⎡⎢⎣ 0 −∂/∂ρ3 ∂/∂ρ2
∂/∂ρ3 0 −∂/∂ρ1
−∂/∂ρ2 ∂/∂ρ1 0
⎤⎥⎦ , (2.146)
aus dem Verschiebungsvektor bestimmen,
sss = D ·www. (2.147)
Der Drehvektor (2.145) spielt in der Mechanik der polaren Kontinua, zu denen man auch denBernoulli-Balken rechnen kann, eine wichtige Rolle. Ein polares Kontinuum ist aus materiellenPunkten aufgebaut, die neben Verschiebungen auch Drehungen ausführen können und ist auchunter dem Namen Cosserat-Kontinuum bekannt.
Ein nichtstarres Kontinuum verfügt über unendlich viele Freiheitsgrade, da es aus unendlichvielen freien materiellen Punkten aufgebaut ist. Dies kommt auch dadurch zum Ausdruck, dassder Deformationsgradient nicht nur von der Zeit, sondern auch von den materiellen Koordinatenabhängt. Ein häufig verwendeter Lösungsansatz der linearen Kontinuumsmechanik nutzt dieseBetrachtungsweise in Verbindung mit dem Separations- und Superpositionsprinzip. Dann gilt
www(ρρρ, t) =AAA(ρρρ) ·xxx(t), (2.148)
wobei die 3× f -Matrix AAA(ρρρ) der relativen Ansatzfunktionen und der f × 1-Lagevektor xxx(t) derverallgemeinerten Koordinaten mit f → ∞ auftreten. Der Lösungsansatz (2.148), der allerdingsnicht in jedem Fall zum Ziel führt, kennzeichnet also im Besonderen die unendlich vielen Frei-heitsgrade des Kontinuums. Ebenso findet man mit (2.143) für den Verzerrungsvektor
eee(ρρρ, t) =BBB(ρρρ) ·xxx(t) (2.149)
mit der 6× f -Matrix BBB(ρρρ) der Verzerrungsfunktionen,
BBB(ρρρ) = V ·AAA(ρρρ). (2.150)
Für kleine Elemente eines Kontinuums genügt näherungsweise auch eine endliche Anzahl vonverallgemeinerten Koordinaten, wie die Methode der finiten Elemente zeigt, siehe Kapitel 6.Setzt man weiterhin eine lineare Kinematik der Starrkörperbewegung bezüglich des Punktes P1voraus, so folgt aus (2.134) und (2.148) für den Verschiebungsvektor
rrr(ρρρ, t) = ρρρ +CCC(ρρρ) ·xxx(t), (2.151)
wobei die 3 × f -Matrix CCC(ρρρ) der absoluten Ansatzfunktionen und ein entsprechender f × 1-Lagevektor xxx(t) auftreten. Nach der Methode der finiten Elemente wird der f ×1-Lagevektor xxx(t)durch die kartesischen Koordinaten einzelner materieller Punkte Pj, j = 1,2,3, . . . , bestimmt,
xxx(t) =[
rrr(ρρρ1, t) rrr(ρρρ2, t) rrr(ρρρ3, t) . . .]. (2.152)
Bei kontinuierlichen Systemen werden dagegen häufig die zu den Eigenformen gehörenden ver-
40 2 Kinematische Grundlagen
allgemeinerten Koordinaten im Lagevektor zusammengefasst, siehe Kapitel 7.
Die aktuelle Geschwindigkeit eines Punktes des Kontinuums wird durch die materielle Ablei-tung von (2.25) bestimmt
vvv(ρρρ, t) =ddt
rrr(ρρρ, t). (2.153)
Zusätzliche Informationen erhält man, wenn die Deformation gemäß (2.28), (2.29) beachtet wird.Dann gilt
vvv(ρρρ +dρρρ) = vvv(ρρρ)+ FFF(ρρρ) ·FFF−1(ρρρ) ·drrr(ρρρ). (2.154)
Damit ist der 3×3-Tensor des räumlichen Geschwindigkeitsgradienten gefunden,
LLL = FFF ·FFF−1 =∂vvv(rrr)
∂rrr, (2.155)
der in seinen symmetrischen und schiefsymmetrischen Anteil zerlegt werden kann
LLL =DDD+WWW , DDD =12(LLL+LLLT ), WWW =
12(LLL−LLLT ). (2.156)
Dabei kennzeichnet DDD den symmetrischen 3× 3-Verzerrungsgeschwindigkeitstensor, währendWWW den schiefsymmetrischen 3×3-Drehgeschwindigkeitstensor beschreibt. Durch Vergleich von(2.84) und (2.154) erkennt man wegen (2.33) unmittelbar, dass der Verzerrungsgeschwindigkeits-tensor beim starren Körper erwartungsgemäß verschwindet. Im linearen Fall folgt aus (2.137)-(2.139) mit (2.155) und (2.156) bei Vernachlässigung der quadratisch kleinen Glieder
DDD = SSS ·GGGw ·SSST, WWW = SSS ·SSST
. (2.157)
Legt man schließlich den Ansatz (2.151) der Untersuchung zugrunde, so erhält man
vvv(ρρρ, t) =CCC(ρρρ) · xxx(t) (2.158)
für die aktuelle Geschwindigkeit.
Die aktuelle Beschleunigung eines Punktes des Kontinuums folgt aus (2.153) durch materielleAbleitung der Geschwindigkeit zu
aaa(ρρρ, t) =ddt
vvv(ρρρ, t) =∂∂ t
vvv(rrr, t) =∂vvv(rrr, t)
∂rrr·vvv+ ∂vvv(rrr, t)
∂ t. (2.159)
Dabei wurde zunächst die Umkehrfunktion (2.27) benützt, und dann die Aufspaltung der Be-schleunigung in einen konvektiven Anteil (räumlicher Geschwindigkeitsgradient) und in einenlokalen Anteil vorgenommen. Weiterhin erhält man aus (2.158) für die lineare Kinematik
aaa(ρρρ, t) =CCC(ρρρ) · xxx(t). (2.160)
Damit ist auch die Kinematik des freien Kontinuums abgeschlossen.
2.2 Holonome Systeme 41
Beispiel 2.7: Geschwindigkeit und Beschleunigung eines Rundstabes
Aus der aktuellen Konfiguration (2.128) findet man durch die materielle Ableitung, die imfolgenden durch einen Punkt (.) gekennzeichnet wird, die Vektoren
vvv(ρρρ, t) =
⎡⎣ 0
αρ3−αρ2
⎤⎦ , α =
dα(ρ1, t)dt
, (2.161)
aaa(ρρρ, t) =
⎡⎣ 0
αρ3−αρ2
⎤⎦ , α =
d2α(ρ1, t)dt2 . (2.162)
Beachtet man nun die Umkehrfunktion von (2.128) oder die materiellen Koordinaten
ρρρ(rrr, t) =
⎡⎣ r1
r2 −αr3r3 +αr2
⎤⎦ , (2.163)
so erkennt man, dass (2.161) und (2.162) auch in räumlichen Koordinaten gelten. Dies isteine Folge der linearen Betrachtung. Im Übrigen lässt sich ganz allgemein zeigen, dass inder linearen Kinematik keine Unterschiede zwischen der Darstellung in materiellen undräumlichen Koordinaten bestehen.
2.2 Holonome Systeme
Gebundene Systeme unterscheiden sich von freien Systemen dadurch, dass die Bewegungsfrei-heit einer oder mehrerer Lagegrößen durch mechanische Bindungen eingeschränkt ist. In derTechnik werden holonome Bindungen durch ideale, d. h. unnachgiebige Führungen, Gelenke,Hebel, Lagerungen, Stäbe und sonstige Verbindungen verwirklicht. Die Bindungen zwischeneinzelnen Maschinenelementen erlauben dem Ingenieur eine bestimmte Gesamtbewegung zurLösung einer technischen Aufgabe zu erzwingen. Andererseits dienen Bindungen auch dazu,eine komplizierte Gesamtbewegung in einfache Teilbewegungen zu zerlegen, die dann z. B. un-abhängig voneinander gesteuert werden können. Bei einem Industrieroboter, Bild 2.11, wird inder Regel jedem Freiheitsgrad ein starrer Körper und ein Antriebsmotor zugeordnet.
Bei der Definition holonomer Systeme ist es sinnvoll, die freien Systeme als Sonderfall zuzu-lassen. Dadurch werden für die mathematische Beschreibung freier Systeme zusätzliche Möglich-keiten geschaffen. Die Darstellung eines freien Systems in der Form eines holonomen Systemsbedeutet nichts anderes als eine zusätzliche Koordinatentransformation. Die Zahl der Freiheits-grade bleibt davon unberührt, ebenso wie der mechanische Sachverhalt fehlender Bindungen.
2.2.1 Punktsysteme
Die Bindungen, oft auch Zwangsbedingungen genannt, werden zunächst wieder am Beispiel ei-nes einzelnen Punktes erläutert. Die Bewegung eines materiellen Punktes P(t) kann durch dieFesselung an eine Fläche oder an eine Kurve eingeschränkt werden. Die Verschiebung auf einer
42 2 Kinematische Grundlagen
2
3
4
1
Bild 2.11: Knickarm-Industrieroboter mit 4 Freiheitsgraden
im Laufe der Zeit veränderlichen Fläche, Bild 2.12, lässt sich entsprechend den zwei Freiheits-graden durch zwei verallgemeinerte Koordinaten y1(t), y2(t) eindeutig darstellen,
rrr(t) = rrr(xxx) = rrr(y1, y2, t). (2.164)
O
Fläche
e3
e2
y 2 = co
nst
ry1 = const
e1
P(t)
Bild 2.12: Bewegung eines Punktes auf einer Fläche
Eine Fläche im Raum wird durch eine skalare, algebraische und im Allgemeinen nichtlineareGleichung beschrieben,
φ(xxx, t) = 0, (2.165)
wobei xxx(t) den 3×1-Lagevektor des freien Punktes darstellt. Damit ist eine Bindung an eine Flä-che in impliziter Form gegeben. Mit (2.164) kann die Bindung auch in expliziter Form dargestelltwerden,
xxx = xxx(y1, y2, t). (2.166)
Beide Formen der Darstellung sind gleichwertig. Durch (2.166) wird im Besonderen die Ver-ringerung der Ordnung des Lagevektors infolge der Bindung verdeutlicht. Die Translation ent-lang einer zeitveränderlichen Kurve, Bild 2.13, hat nur einen Freiheitsgrad mit einer verallgemei-
2.2 Holonome Systeme 43
nerten Koordinate y(t). Es gilt also
rrr(t) = rrr(xxx) = rrr(y, t). (2.167)
Eine Kurve im Raum ist durch zwei skalare Gleichungen gegeben,
φ1(xxx, t) = 0, φ2(xxx, t) = 0. (2.168)
Diese beiden Bindungen lauten in expliziter Darstellung
xxx = xxx(y, t). (2.169)
ORaumkurve
e1
r
e2
y = conste3 P(t)
Bild 2.13: Bewegung eines Punktes entlang einer Raumkurve
Die Zahl der Freiheitsgrade eines gebundenen einzelnen Punktes wird durch die Zahl derBindungen eindeutig festgelegt. Für den an die Raumkurve gefesselten Punkt findet man f =3−2 = 1 Freiheitsgrad.
Beispiel 2.8: Raumpendel
Ein Raumpendel mit der zeitveränderlichen Länge L(t) kann sich auf einer Kugelfläche mitveränderlichem Radius bewegen. Damit ist eine Zwangsbedingung gegeben, die in kartesi-schen Koordinaten als
φ = r21 + r2
2 + r23 −L2(t) = 0 (2.170)
oder nach (2.14), (2.15) und Bild 2.2 in Kugelkoordinaten als
φ = |rrr|−L(t) = 0 (2.171)
angeschrieben werden kann. Die Zwangsbedingung mit den kartesischen Koordinaten r1,r2 als verallgemeinerten Koordinaten lauten in expliziter Darstellung
rrr(r1, r2, t) =
⎡⎢⎣ r1
r2
±√
L2(t)− r21 − r2
2
⎤⎥⎦ (2.172)
44 2 Kinematische Grundlagen
oder mit den Kugelkoordinaten ψ , ϑ als verallgemeinerten Koordinaten
rrr(ψ,ϑ , t) =
⎡⎣ cos ψ sin ϑ
sin ψ sin ϑcos ϑ
⎤⎦ L(t). (2.173)
Oft eignen sich krummlinige Koordinaten besser zur Einführung von Bindungen als karte-sische Koordinaten.
Die Bindungen beschränken nicht nur die Bewegung einzelner Punkte im Raum, sondern imBesonderen auch die Bewegungsfreiheit zwischen mehreren materiellen Punkten eines Punktsys-tems. Die Zahl der Freiheitsgrade beträgt bei einem System von p Punkten mit q Bindungen
f = 3p−q. (2.174)
Die q Bindungen können implizit durch eine algebraische, im Allgemeinen nichtlineare, q× 1-Vektorgleichung
φφφ(xxx, t) = 000 (2.175)
oder explizit durch die 3p×1-Vektorgleichung
xxx = xxx(yyy, t) (2.176)
beschrieben werden, wobei der f ×1-Lagevektor des gebundenen Punktsystems
yyy(t) =[
y1 y2 . . . y f]
(2.177)
herangezogen wird.Bindungen der Form (2.175) bzw. (2.176), welche gleichzeitig die Lage und Geschwindigkeit
des Systems beschränken, nennt man geometrische Bindungen. Daneben kennt man die integrier-baren kinematischen Bindungen der Form
φφφ(xxx, xxx, t) = 000, (2.178)
die zwar formal von den Geschwindigkeitsgrößen abhängen, aber durch Integration auf die Form(2.175) gebracht werden können. Die holonomen Bindungen umfassen die geometrischen unddie integrierbaren kinematischen Bindungen und können stets in der Form (2.175) angeschriebenwerden.
Zeitinvariante Bindungen heißen skleronome Bindungen, während zeitvariante Bindungen alsrheonome Bindungen bezeichnet werden. Neben den durch die Gleichung (2.175) gekennzeich-neten zweiseitigen Bindungen gibt es auch einseitige Bindungen, die auf Ungleichungen führen.In der Form (2.176) führen einseitige Bindungen auf eine veränderliche Zahl von Freiheitsgra-den, wie sie z. B. bei Kontaktproblemen auftritt. Eine ausführliche Darstellung findet man beiPfeiffer und Glocker [43].
Beispiel 2.9: Ebenes Doppelpendel
Das Doppelpendel, Bild 2.14, ist ein Zweipunktsystem mit vier Bindungen (beide Punkte in
2.2 Holonome Systeme 45
m
m
L
L
e2
2
e3
e1
1
Bild 2.14: Ebenes Doppelpendel
der Ebene, beide Stangenlängen sind konstant) und daher zwei Freiheitsgraden, p = 2, q =4, f = 3p−q = 3 ·2−4 = 2. Für die kartesischen Koordinaten
xxx(t) =[
r11 r12 r13 r21 r22 r23]
(2.179)
und die Winkelkoordinaten
yyy(t) =[
α1 α2]
(2.180)
lauten die skleronomen Bindungen in impliziter Form
φφφ =
⎡⎢⎢⎣
r11r2
12 + r213 −L2
r21(r22 − r12)
2 +(r23 − r13)2 −L2
⎤⎥⎥⎦= 000 (2.181)
und in expliziter Form
xxx =
⎡⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎣
0L sin α1−L cos α1
0L sin α1 +L sin α2
−L cos α1 −L cos α2
⎤⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎦ . (2.182)
Man kann durch Einsetzen von (2.182) in (2.181) die Gleichwertigkeit beider Darstellungenbestätigen.
Die Translation eines holonomen Punktsystems folgt aus (2.24) und (2.176) zu
rrri(t) = rrri(yyy, t), i = 1(1)p. (2.183)
46 2 Kinematische Grundlagen
Für die Geschwindigkeit erhält man
vvvi(t) =∂rrri
∂yyy· yyy(t)+ ∂rrri
∂ t= JJJTi(yyy, t) · yyy(t)+vvvi(yyy, t), i = 1(1)p, (2.184)
wobei neben der 3× f Jacobi-Matrix JJJTi der Translation bei rheonomen Bindungen der lokale3×1-Geschwindigkeitsvektor vvvi auftreten kann. Für die Beschleunigung findet man ebenso
aaai(t) = JJJTi(yyy, t) · yyy(t)+ JJJTi(yyy, t) · yyy(t)+ dvvvi
dt= JJJTi(yyy, t) · yyy(t)+aaai(yyy, yyy, t), i = 1(1)p. (2.185)
Im skleronomen Fall ist der 3×1-Beschleunigungsvektor aaai quadratisch von der ersten Ableitungdes Lagevektors abhängig. Bei rheonomen Bindungen können dagegen auch Terme auftreten,die in rein mechanischen Systemen linear oder überhaupt nicht von der ersten Ableitung yyy(t) desLagevektors abhängen. Die Berechnung dieser Terme erfolgt nach (2.185).
Neben den realen Bewegungen eines Systems sind in der Dynamik die virtuellen Bewegun-gen von Bedeutung. Eine virtuelle Bewegung ist eine willkürliche, infinitesimale Bewegung desSystems, die mit den skleronomen und den rheonomen (aber zum gegebenen Zeitpunkt ‘erstarr-ten’) Bindungen verträglich ist. Das Symbol δ der virtuellen Größen hat die Eigenschaften vonVariationen in der Mathematik. Für holonome Bindungen gilt
δrrr �= 000 für bewegliche Lagerungen,δrrr = 000 für feste Einspannungen, (2.186)δ t = 0.
Die virtuelle Bewegung eines Punktes wird also durch die virtuelle Verschiebung δrrr bestimmt,während die Zeit nicht variiert wird. Man rechnet mit den virtuellen Bewegungen wie mit Diffe-rentialen
δ (crrr) = cδrrr, δ (rrr1 +rrr2) = δrrr1 +δrrr2, δrrr(yyy) =∂rrr∂yyy
·δyyy. (2.187)
Im Besonderen gilt für die virtuelle Bewegung des i-ten Punktes
δrrri = JJJTi ·δyyy, i = 1(1)p. (2.188)
Die virtuelle Lageänderung δyyy bestimmt über die Jacobi-Matrizen JJJTi die gesamte virtuelle Be-wegung des Systems.
Nach der Kettenregel (2.11) besteht ein enger Zusammenhang zwischen den Jacobi-MatrizenHHHTi des freien Systems und JJJTi des gebunden Systems. Im Einzelnen gilt mit (2.8), (2.176) und(2.183) die Beziehung
JJJTi =∂rrri
∂yyy=
∂rrri
∂xxx· ∂xxx
∂yyy=HHHTi(yyy, t) ·III(yyy, t) (2.189)
mit der 3p× f -Matrix III(yyy, t). Dadurch lässt sich die praktische Berechnung der Jacobi-Matrizen
2.2 Holonome Systeme 47
oft erheblich vereinfachen.
Beispiel 2.10: Schwerependel
m
Le1
e2
e3
Bild 2.15: Schwerependel
Das Schwerependel ist ein ebenes Pendel mit einem Freiheitsgrad, Bild 2.15. Mit den Kugel-koordinaten als verallgemeinerten Koordinaten, siehe (2.14), lautet die Bindungsgleichung
xxx =[ π
2(π −α) L
]. (2.190)
Damit findet man
∂xxx∂α
=[
0 −1 0]. (2.191)
Aus (2.189) folgt unter Berücksichtigung von (2.16) somit die 3×1-Jacobi-Matrix
JJJT =∂rrr∂xxx
· ∂xxx∂α
=
⎡⎣ 0
L cos αL sin α
⎤⎦ . (2.192)
Dieses Ergebnis kann durch direkte partielle Differentiation des Ortsvektors
rrr(α) =
⎡⎣ 0
L sin α−L cos α
⎤⎦ (2.193)
leicht überprüft werden.
2.2.2 Mehrkörpersysteme
Ebenso wie die Translation eines Punktes kann auch die Rotation eines starren Körpers einge-schränkt werden. Die Drehung eines starren Körpers K in einem Kardan-Gelenk, Bild 2.16, wirddurch zwei Freiheitsgrade mit den Kardan-Winkeln α(t), β (t) als verallgemeinerten Koordinateneindeutig beschrieben,
SSS(t) = SSS(α, β ). (2.194)
48 2 Kinematische Grundlagen
Die entsprechende Bindung lautet mit (2.99) implizit
φ(xxx) = γ − γ 0 = 0 (2.195)
und explizit
xxx = xxx(α, β ) =[
α β γ 0]. (2.196)
Man erkennt, dass die für die Translation eines Punktes gefundenen Beziehungen (2.165) und(2.166) unmittelbar auf die Rotation eines Körpers übertragen werden können.
O
K
e1
e2
Bild 2.16: Drehung eines starren Körper im Kardan-Gelenk
Die Zahl der Freiheitsgrade beträgt in einem System von p starren Körpern mit q Bindungen
f = 6p−q. (2.197)
Für die q Bindungen gelten wiederum (2.175) bis (2.177), wobei (2.176) bei einem Mehrkörper-system eine 6p×1-Vektorgleichung darstellt.
Die Lage und Orientierung eines holonomen Mehrkörpersystems wird durch
rrri(t) = rrri(yyy, t), SSSi(t) = SSSi(yyy, t), i = 1(1)p. (2.198)
nach (2.122) und (2.176) beschrieben. Für die Rotation gilt in Ergänzung von (2.184) und (2.185)
ωωω i(t) =∂sssi
∂yyy· yyy(t)+ ∂sssi
∂ t= JJJRi(yyy, t) · yyy(t)+ωωω i(yyy, t), i = 1(1)p, (2.199)
ααα i(t) = JJJRi(yyy, t) · yyy(t)+ JJJRi(yyy, t) · yyy+ωωω i(yyy, t)
= JJJRi(yyy, t) · yyy(t)+ααα i(yyy, yyy, t), i = 1(1)p. (2.200)
Dabei ist wieder der momentane infinitesimale 3×1-Drehvektor sssi gemäß (2.85) verwendet wor-den, und für die Berechnung der 3× f -Jacobi-Matrix JJJRi der Rotation gelten nach wie vor die Be-merkungen zu (2.113) und (2.114). Weiterhin ist ωωω i der lokale 3×1-Drehgeschwindigkeitsvektorund ααα i ist ein gemäß (2.185) definierter 3×1 lokaler Drehbeschleunigungsvektor.
Für die virtuelle Bewegung des Mehrkörpersystems findet man
δrrri = JJJTi ·δyyy, δsssi = JJJRi ·δyyy, i = 1(1)p, (2.201)
2.2 Holonome Systeme 49
in Ergänzung zu (2.188). Weiterhin gilt entsprechend (2.189)
JJJRi =HHHRi(yyy, t) ·III(yyy, t), (2.202)
eine Beziehung, die für die Berechnung der Jacobi-Matrix der Rotation sehr wertvoll ist.
Beispiel 2.11: Kardan-Lagerung
Die Kardan-Lagerung, Bild 2.16, ist ein Zweikörpersystem mit zehn Bindungen und zweiFreiheitsgraden, p = 2, q = 10, f = 6p−q = 6 ·2−10 = 2. Für den 12×1-Lagevektor desfreien Systems
xxx(t) = [r11 r12 r13 r21 r22 r23 α1 β1 γ1 α2 β2 γ2] (2.203)
und den 2×1-Lagevektor
yyy(t) =[
α β]
(2.204)
lauten die expliziten Zwangsbedingungen
xxx =[
0 0 0 0 0 0 α β 0 α 0 0]. (2.205)
Dabei wurde beachtet, dass der Ursprung O des Koordinatensystems ein Fixpunkt beiderKörper ist. Für die Jacobi-Matrizen findet man unter Berücksichtigung von (2.100) und(2.202)
JJJT 1 = JJJT 2 = 000, JJJR1 =
⎡⎣ 1 0
0 cos α0 sin α
⎤⎦ , JJJR2 =
⎡⎣ 1 0
0 00 0
⎤⎦ (2.206)
und die Beschleunigungen lauten
aaa1(t) = aaa2(t) = 000, (2.207)
ααα1(t) =
⎡⎣ α
β cos α − αβ sin αβ sin α + αβ cos α
⎤⎦ , ααα2(t) =
⎡⎣ α
00
⎤⎦ . (2.208)
In der Praxis verzichtet man bei großen Mehrkörpersystemen auf das Anschreiben des6p × 1-Lagevektors xxx(t) des freien Systems, da dies, wie (2.203) zeigt, zu langen Aus-drücken führt. Mit dem f ×1-Lagevektor yyy(t) werden dann die Beziehungen (2.198) direktausgewertet.
Die holonomen Systeme schließen definitionsgemäß als Sonderfall auch die freien Systeme mitein. Im Einzelnen gilt dann q = 0, f = 6p, xxx = yyy, HHHTi = JJJTi, HHHRi = JJJRi, III = EEE, d. h. die Funktio-nalmatrix III geht in die 6p×6p-Einheitsmatrix über.
50 2 Kinematische Grundlagen
2.2.3 Kontinuum
Die Bindungen in einem Kontinuum haben mehr theoretischen Charakter, da sie konstruktivnicht beeinflusst werden können. Trotzdem kann man auch stark unterschiedliche Steifigkeitsei-genschaften mit guter Näherung durch Bindungen bequem modellieren. Damit ist es dann mög-lich, vom allgemeinen dreidimensionalen Problem auf eine einfachere zwei- oder eindimensiona-le Aufgabenstellung überzugehen. Ein typisches Beispiel für eine holonome Bindung in einemKontinuum ist die Bernoullische Hypothese der Balkenbiegung, die ebene Querschnittsflächen- auch bei Belastung - fordert.
Die Deformation eines Kontinuums ist im Allgemeinen ortsabhängig, so dass auch die Bin-dungen lokal formuliert werden müssen. Die Bindungen werden dann als Funktionen des Defor-mationsgradienten angegeben
φφφ(FFF(ρρρ, t)) = 000. (2.209)
Eine für ein Kontinuum typische Bindung stellt die Starrheit dar. Mit (2.32) kann man schreiben
φφφ =FFFT ·FFF −EEE = 000, (2.210)
wodurch die neun Koordinaten des Deformationsgradienten sechs Bindungen unterworfen wer-den, so dass die drei Freiheitsgrade der Drehung verbleiben. Neben den durch (2.209) gegebeneninneren Bindungen kann ein Kontinuum auch mit seiner Umgebung verbunden sein. Dann tretenzusätzliche äußere Bindungen auf,
φφφ(rrr(ρρρ, t)) = 000 auf Ar, (2.211)
die den Randbedingungen an der Oberfläche Ar entsprechen. Die Randbedingungen beschrän-ken die Deformation auf einem Flächen- oder Linienstück oder an diskreten Einzelpunkten derOberfläche.
Beispiel 2.12: Torsion eines Rundstabes
Ein tordierter Rundstab mit der aktuellen Konfiguration (2.128) stellt ein Kontinuum dar,das durch sechs Freiheitsgrade der Starrkörperbewegung und unendlich viele Freiheitsgradeder Torsion gekennzeichnet ist. Im Einzelnen findet man aus (2.130) die Beziehungen
φ1 =U211 −1 = 0, (2.212)
φ2 =U222 −1 = 0, (2.213)
φ3 =U233 −1 = 0, (2.214)
φ4 =U223 = 0, (2.215)
φ5 = ρ2U212 +ρ3U2
13 = 0. (2.216)
Durch diese Zwangsbedingungen wird ausgedrückt, dass die Querschnittsflächen bei Belas-tung eben und unverzerrt bleiben. Weiterhin kann der Rundstab an drei Punkten an seinem
2.3 Nichtholonome Systeme 51
linken Ende gelagert werden. Dann lauten die äußeren Bindungen
r1 −ρ1 = 0, r2 −ρ2 = 0, r3 −ρ3 = 0, für ρρρ = [0 0R2],
r1 −ρ1 = 0, r2 −ρ2 = 0, für ρρρ = [0 0 − R2],
r1 −ρ1 = 0, für ρρρ = [0R2
0]. (2.217)
Die Zahl der Freiheitsgrade beträgt f → ∞ für das eindimensionale Problem der Torsion.
2.3 Nichtholonome Systeme
Während durch holonome Bindungen gleichzeitig die Bewegungsfreiheit von Lagegrößen unddamit auch der Geschwindigkeitsgrößen eingeschränkt wird, führen nichtholonome Bindungennur zu einer Einschränkung der Geschwindigkeitsgrößen, nicht aber zu einer Einschränkung derLagegrößen. Nichtholonome Bindungen findet man in der Technik vergleichsweise selten. Dielinearen nichtholonomen Bindungen können rein mechanisch verwirklicht werden, z. B. durchrollende starre Räder, während nichtlineare nichtholonome Bindungen den Einsatz regelungs-technischer Mittel erfordern. Allerdings können mit nichtholonomen Bindungen verknüpfte ver-allgemeinerte Geschwindigkeiten auch für eine vereinfachte Beschreibung holonomer Systemeherangezogen werden.
Die Zahl f der Freiheitsgrade der Lage eines holonomen Systems wird durch r nichtholonomeBindungen auf die Zahl g der Freiheitsgrade der Geschwindigkeit reduziert. Für ein System vonp starren Körpern gilt also
g = f − r = 6p−q− r, (2.218)
wobei (2.197) berücksichtigt wurde. Die r nichtholonomen Bindungen lassen sich implizit durchdie nicht integrierbare r×1-Vektorgleichung
ψψψ(yyy, yyy, t) = 000 (2.219)
oder explizit durch die f ×1-Vektordifferentialgleichung
yyy = yyy(yyy, zzz, t) (2.220)
darstellen, wobei der g×1-Vektor der verallgemeinerten Geschwindigkeitskoordinaten
zzz(t) =[
z1 z2 . . . zg]
(2.221)
auftritt. Die nichtholonomen Bindungen gehören zu den kinematischen Bindungen, sie könnenskleronom oder rheonom sein. Wesentliche Voraussetzung ist jedoch, dass (2.219) nicht integriertwerden kann. Sonst sind holonome Bindungen gegeben, siehe (2.175).
52 2 Kinematische Grundlagen
Beispiel 2.13: Rollende Kugel
O
Kugel
Rollebene
e3
e2
r
e1B
R
Bild 2.17: Rollende Kugel
Eine auf der Ebene rollende Kugel (Radius R), Bild 2.17, ist ein starrer Körper mit einerholonomen (Bewegung in der Ebene) und zwei nichtholonomen Bindungen (Rollen ohneGleiten), p= 1, q= 1, r = 2, f = 5, g= 3. Mit den verallgemeinerten Koordinaten der freienKugel
xxx(t) =[
r1 r2 r3 α β γ], (2.222)
den verallgemeinerten Koordinaten der an die Ebene gebundenen Kugel
yyy(t) =[
r1 r2 α β γ]
(2.223)
und den verallgemeinerten Geschwindigkeiten
zzz(t) =[
ω1 ω2 ω3]
(2.224)
lautet die holonome, skleronome Bindung
φ = r3 −R = 0 oder xxx =[
r1 r2 R α β γ]. (2.225)
Die nichtholonomen, skleronomen Bindungen folgen aus der Rollbedingung implizit zu
ψψψ =
[r1 −R(β cos α − γ sin α cos β )
r2 +R(α + γ sin β )
]= 000 (2.226)
und explizit zu
yyy =
⎡⎢⎢⎢⎢⎣
ω2R−ω1R
ω1 +ω2 sin α tan β −ω3 cos α tan βω2 cos α +ω3 sin α−ω2
sin αcos β +ω3
cos αcos β
⎤⎥⎥⎥⎥⎦ . (2.227)
Dabei wurde beachtet, dass die absolute Geschwindigkeit des Berührpunktes B verschwin-det, und es wurden (2.100) und Tabelle 2.2 berücksichtigt.
2.3 Nichtholonome Systeme 53
Die Konfiguration eines nichtholonomen Mehrkörpersystems ist unverändert durch (2.198) gege-ben. Der Geschwindigkeitszustand folgt dagegen aus (2.184), (2.199) und (2.220) zu
vvvi = vvvi(yyy, zzz, t), ωωω i =ωωω i(yyy, zzz, t), i = 1(1)p. (2.228)
Damit erhält man für den Beschleunigungszustand
aaai(t) =∂vvvi
∂zzz· zzz(t)+ ∂vvvi
∂yyy· yyy(t)+ ∂vvvi
∂ t= LLLTi(yyy, zzz, t) · zzz(t)+aaai(yyy, zzz, t) (2.229)
und ebenso
ααα i(t) =∂ωωω i
∂zzz· zzz(t)+ ∂ωωω i
∂yyy· yyy(t)+ ∂ωωω i
∂ t= LLLRi(yyy, zzz, t) · zzz(t)+ααα i(yyy, zzz, t). (2.230)
Zur Abkürzung wurden hier analog zum holonomen Fall die 3×g-Jacobi-Matrizen LLLTi und LLLRiund die lokalen 3×1-Beschleunigungsvektoren aaai und ααα i eingeführt.
Entsprechend der virtuellen Bewegung holonomer Systeme kann man auch die virtuelle Ge-schwindigkeit nichtholonomer Systeme einführen. Eine virtuelle Geschwindigkeit ist eine will-kürliche, infinitesimale Geschwindigkeitsänderung, die stets mit den Bindungen verträglich ist.Das Symbol δ ′ der virtuellen Geschwindigkeit hat die Eigenschaften
δ ′rrri = δ ′sssi = 000, δ ′vvvi �= 000, δ ′ωωω i �= 000, δ ′t = 0. (2.231)
Bei der Bestimmung der virtuellen Geschwindigkeit werden also die Lage und die Zeit nichtvariiert. Im Besonderen gilt für die virtuelle Geschwindigkeit eines Mehrkörpersystems
δ ′vvvi = LLLTi ·δ ′zzz, δ ′ωωω i = LLLRi ·δ ′zzz, i = 1(1)p. (2.232)
Die virtuelle Geschwindigkeitsänderung δ ′zzz bestimmt über die Funktionalmatrizen LLLTi, LLLRi diegesamte virtuelle Geschwindigkeit des Systems.
Weiterhin besteht ein enger Zusammenhang zwischen den verschiedenen Jacobi-Matrizen,wie bereits durch (2.202) verdeutlicht wurde. Es gilt
LLLTi(yyy, zzz, t) = JJJTi(yyy, t) ·KKK(yyy, zzz, t) (2.233)LLLRi(yyy, zzz, t) = JJJRi(yyy, t) ·KKK(yyy, zzz, t) (2.234)
mit der f ×g-Matrix
KKK(yyy, zzz, t) =∂ yyy(yyy, zzz, t)
∂zzz. (2.235)
Damit lässt sich die Berechnung der Jacobi-Matrizen häufig vereinfachen.
Beispiel 2.14: Transportkarren
Ein Transportkarren mit zwei masselosen Rädern, Bild 2.18, ist dadurch gekennzeichnet,dass sich der materielle Punkt P infolge der Haftreibungskräfte der Räder nicht in der kör-perfesten 2-Richtung bewegen kann. Unter der Voraussetzung einer ebenen Bewegung ist
54 2 Kinematische Grundlagen
ein Körper mit drei holonomen und einer nichtholonomen Bindung gegeben, p = 1, q =3, r = 1, f = 3, g = 2. Mit dem 6×1-Lagevektor des freien Körpers
xxx(t) =[
r1 r2 r3 α β γ], (2.236)
dem 3×1-Lagevektor
yyy(t) =[
r1 r2 γ]
(2.237)
und dem 2×1-Geschwindigkeitsvektor
zzz(t) =[
v γ]
(2.238)
lautet die nichtholonome Bindung in expliziter Form
yyy =
⎡⎣ v cos γ
v sin γγ
⎤⎦ . (2.239)
O
Karren
e12
e1
e2r
e3
P
e11
v
Bild 2.18: Bewegung eines Karrens mit starren Rädern
Für die 3×3-Jacobi-Matrizen findet man
JJJT =
⎡⎣ 1 0 0
0 1 00 0 0
⎤⎦ , JJJR =
⎡⎣ 0 0 0
0 0 00 0 1
⎤⎦ , (2.240)
die 3×2-Funktionalmatrix lautet
KKK(yyy) =
⎡⎣ cos γ 0
sin γ 00 1
⎤⎦ , (2.241)
2.3 Nichtholonome Systeme 55
womit nach (2.233), (2.234) auch die 3×2-Funktionalmatrizen LLLT , LLLR bestimmt sind
LLLT =
⎡⎣ cos γ 0
sin γ 00 0
⎤⎦ , LLLR =
⎡⎣ 0 0
0 00 1
⎤⎦ . (2.242)
Weiterhin findet man
aaa =
⎡⎣ −vγ sin γ
vγ cos γ0
⎤⎦ , ααα = 000. (2.243)
Damit ist nach (2.229), (2.230) auch der Beschleunigungszustand bekannt.
Die nichtholonomen Bindungen (2.219) bzw. (2.220) werden manchmal auch als nichtholonomeBindungen erster Klasse bezeichnet, um sie von den nichtholonomen Bindungen zweiter Klasseunterscheiden zu können, siehe z. B. Hamel [25]. Die nichtholonomen Bindungen zweiter Klassebeschränken die Beschleunigungen, was jedoch nur von theoretischem Interesse ist.
Die nichtholonomen Systeme umfassen als Sonderfall auch alle holonomen Systeme. Da derBegriff der verallgemeinerten Geschwindigkeiten bei den holonomen Systemen fehlt, ist dieserSonderfall nicht trivial. Es gilt dann nämlich r = 0, g = f , yyy = yyy(yyy, zzz), KKK = KKK(yyy, zzz). Es sei nocherwähnt, dass im vorliegenden Fall (2.220) stets skleronom und die f × f -Matrix KKK regulär unddamit invertierbar ist. Die verallgemeinerten Geschwindigkeiten bieten gerade bei großen holo-nomen Mehrkörpersystemen entscheidende Vorteile, die auf der damit verbundenen Trennungvon Kinematik und Kinetik beruhen.
Beispiel 2.15: Punktbewegung in Kugelkoordinaten
Bereits bei der Untersuchung einer einfachen Punktbewegung bietet die Berücksichtigungverallgemeinerter Geschwindigkeiten Vorteile. Die Jacobi-Matrix HHHT kann durch eine ge-eignete Wahl von verallgemeinerten Geschwindigkeiten auf eine einfachere Funktionalma-trix LLLT zurückgeführt werden. Mit den verallgemeinerten Geschwindigkeiten
zzz(t) =[
rψ rϑ r]
(2.244)
findet man
yyy(yyy, zzz) =[ 1
r (rψ) 1r (rϑ) r
](2.245)
und die 3×3-Matrix
KKK(yyy) =
⎡⎣ 1
r 0 00 1
r 00 0 1
⎤⎦ , (2.246)
die zusammen mit (2.16) und (2.233) auf eine dimensionslose reguläre 3× 3-Matrix LLLTführt. Die Singularität ist dabei auf (2.246) übergegangen, sie kann auch durch verallgemei-nerte Geschwindigkeiten nicht vermieden werden.
56 2 Kinematische Grundlagen
2.4 Relativbewegung des Koordinatensystems
Den bisherigen Betrachtungen wurde stets ein raumfestes, nicht bewegtes Koordinatensystem zu-grunde gelegt. Diese Voraussetzung war im Besonderen bei der Berechnung der Geschwindigkeitund der Beschleunigung wesentlich, siehe z. B. (2.5) und (2.12). Bei vielen technischen Proble-men ist es jedoch zweckmäßig, neben dem raumfesten Koordinatensystem noch ein bewegtesKoordinatensystem zu verwenden. Die Bewegung des Koordinatensystems kann entweder alsSoll-Bewegung vorgegeben sein, oder sie wird als eine partikuläre Lösung aus den Bewegungs-gleichungen direkt gewonnen. In der Umgebung der Soll-Bewegung bzw. einer partikulären, pe-riodischen Lösung kann dann häufig eine Linearisierung der Bewegung durchgeführt werden.
2.4.1 Bewegtes Koordinatensystem
Neben dem raumfesten Inertialsystem {0I ;eeeIα} wird nun ein bewegtes Referenzsystem {0R;eeeRα},α = 1(1)3, eingeführt. Die Bewegung des Koordinatensystems R wird bezüglich des Koordina-tensystems I durch den 3× 1-Vektor rrrR(t) und den 3× 3-Drehtensor SSSR(t) beschrieben. Dabeigilt für die Basisvektoren das Transformationsgesetz
eeeIα = SSSR(t) ·eeeRα(t), α = 1(1)3, (2.247)
das in entsprechender Weise auch für die Koordinaten von Vektoren und Tensoren gilt. Für dieKoordinaten eines Vektors aaa bzw. eines Tensors AAA erhält man den Zusammenhang
Iaaa = SSSR · Raaa, IAAA = SSSR · RAAA ·SSSTR . (2.248)
Falls erforderlich, wird das Koordinatensystem durch den linken unteren Index angezeigt.
e1
e3
OI e2
r( ,t) K(t)
P(t)
SRK
eR2(t)
rRK(t)
OR(t)
eR3(t)
rR(t)
P(t0)
P1(t0)
eR1(t0)
eR2(t0)
eR3(t0) K(t0)eR1(t)
P1(t)
Bild 2.19: Relativbewegung eines starren Körpers
Für die aktuelle Konfiguration eines starren Körpers K erhält man somit nach Bild 2.19
Irrr(ρρρ, t) = IrrrR(t)+SSSR(t) · [RrrrR1(t)+SSSRK(t) ·ρρρ], (2.249)
2.4 Relativbewegung des Koordinatensystems 57
oder vollständig im Inertialsystem I angeschrieben,
rrr(ρ, t) = rrrR(t)+rrrR1(t)+SSSR(t) ·SSSRK(t) ·ρρρ. (2.250)
Durch Vergleich mit (2.78) folgt also für die absolute Lage des starren Körpers, ausgedrückt inden Größen der Relativbewegung,
rrr1(t) = rrrR(t)+rrrR1(t), (2.251)SSS(t) = SSSR(t) ·SSSRK(t). (2.252)
Beachtet man nun weiterhin die inverse Deformation
ρρρ = SSSTRK(t) ·SSST
R(t) ·rrrRP(ρρρ, t), (2.253)
so erhält man durch die materielle Ableitung von (2.249) die absolute Geschwindigkeit
Ivvv(ρρρ, t) =ddt IrrrR +
ddt
SSSR · [RrrrR1 +SSSRK ·ρρρ]+SSSR · [ ddt RrrrR1 +
ddt
SSSRK ·ρρρ]= Irrr∗R + IωωωR · IrrrR1 + IrrrR1 +(IωωωR + IωωωRK) · IrrrRP, (2.254)
wobei (∗) die Ableitung im Inertialsystem und (...) die Ableitung im Referenzsystem bedeutet.
Damit findet man durch Vergleich mit (2.86) für die Gesetze der Relativbewegung, siehe z. B.auch Magnus und Müller-Slany [37],
vvv1(t) = rrr∗R(t)+ωωωR(t) ·rrrR1(t)+ rrrRK(t), (2.255)
ωωω(t) =ωωωR(t)+ωωωRK(t). (2.256)
Durch eine entsprechende Rechnung erhält man schließlich für die absolute Beschleunigung derRelativbewegung
aaa1(t) = rrr∗∗R +( ˙ωωωR +ωωωR ·ωωωR) ·rrrR1 +2ωωωR · rrrR1 + rrrR1, (2.257)ααα(t) = ωωωR +ωωωR ·ωωωRK +ωωωRK . (2.258)
In (2.257) kennzeichnen die ersten beiden Terme die Führungsbeschleunigung, der dritte Termdie Coriolis-Beschleunigung und der vierte Term die Relativbeschleunigung.
Das Referenzsystem R kann auch fest mit dem starren Körper K verbunden werden. Dannspricht man von einem körperfesten Koordinatensystem {O1,eee11}. In diesem Sonderfall gilt
rrrR1(t) = 000, SSSRK(t) =EEE (2.259)
und (2.250) geht unmittelbar in (2.78) über. Dies bedeutet, dass die Bewegung eines starren Kör-pers auch als die Bewegung eines kartesischen Koordinatensystems aufgefasst werden kann, dasfest mit dem starren Körper verbunden ist. Beschränkt man sich von vornherein auf die Starrkör-permechanik, so ist dies ein bequemer Zugang zur Kinematik. Die Beschreibung der Starrkörper-bewegung durch körperfeste Koordinatensysteme erschwert aber die kontinuumsmechanischeBetrachtungsweise, die in diesem Buch gewählt ist.
58 2 Kinematische Grundlagen
Ist ein Mehrkörpersystem gegeben, so kann für jeden Teilkörper Ki, i = 1(1)p, ein anderesReferenzsystem {O jR;eee jRα}, α = 1(1)3, j = 1(1)n, gewählt werden. Dann gilt
rrri(t) = rrr jR(t)+rrr jRi(t), (2.260)SSSi(t) = SSS jR(t) ·SSS jRi(t) (2.261)
und die Beziehungen (2.255) bis (2.258) sind ebenfalls entsprechend zu verallgemeinern.
2.4.2 Freie und holonome Systeme
Die holonomen Systeme schließen als Sonderfall die freien Systeme mit ein, q = 0, f = 6p,xxx = yyy, III =EEE. Die Punktsysteme stellen eine Untergruppe der Mehrkörpersysteme dar mit f = 3p.Deshalb genügt es an dieser Stelle, nur die holonomen Mehrkörpersysteme zu betrachten.
Die Zahl der Freiheitsgrade eines Systems wird durch die Einführung eines oder mehrererReferenzsysteme nicht verändert. Die Freiheitsgrade können aber in unterschiedlicher Weise aufdie Referenz- und Relativbewegung verteilt sein. Ist die Referenzbewegung durch reine Zeitfunk-tionen vorgegeben, so umfasst die Relativbewegung alle Freiheitsgrade. Wählt man dagegen aus-schließlich körperfeste Referenzsysteme, so treten alle Freiheitsgrade in der Referenzbewegungauf. Im allgemeinen Fall einer gemischten Verteilung von Freiheitsgraden gilt daher
rrrR = rrrR(yyy, t), SSSR = SSSR(yyy, t). (2.262)
Unter der Voraussetzung, dass alle Vektoren und Tensoren im Referenzsystem dargestellt sind,findet man für die Führungsgeschwindigkeiten der Referenzbewegung gemäß (2.184), (2.199)
rrr∗R = SSSTR · (∂SSSr ·rrrR
∂yyy· yyy+ ∂SSSr ·rrrR
∂ t) = JJJT R(yyy, t) · yyy(t)+vvvR(yyy, t), (2.263)
ωωωR =∂sssR
∂yyy· yyy+ ∂sssR
∂ t= JJJRR(yyy, t) · yyy(t)+ωωωR(yyy, t) (2.264)
mit den 3× f -Jacobi-Matrizen JJJT R und JJJRR der Führungsbewegung. Die Relativbewegung lautetandererseits
rrrRi = rrrRi(yyy, t), SSSRi = SSSRi(yyy, t) (2.265)
und für die Relativgeschwindigkeiten erhält man ebenso
rrrRi =∂rrrRi
∂yyy· yyy+ ∂rrrRi
∂ t= JJJT Ri(yyy, t) · yyy(t)+vvvRi(yyy, t), (2.266)
ωωωRi =∂sssRi
∂yyy· yyy+ ∂sssRi
∂ t= JJJRRi(yyy, t) · yyy(t)+ωωωRi(y, t). (2.267)
Hier sind JJJT Ri und JJJRRi die 3× f -Jacobi-Matrizen der Relativbewegung. Die Beschleunigungenerhält man für die Führungs- und Relativbewegung dann in Anlehnung an (2.185) und (2.200).
Die absoluten Geschwindigkeiten und Beschleunigungen ergeben sich dann mit (2.262) bis
2.4 Relativbewegung des Koordinatensystems 59
(2.267) aus (2.255) bis (2.258). Dabei findet man für die Jacobi-Matrizen den Zusammenhang
JJJTi = JJJT R +JJJT Ri − rrrRi ·JJJRR, (2.268)
JJJRi = JJJRR +JJJRRi. (2.269)
Man erkennt, dass eine rein zeitabhängige Führungsbewegung die Jacobi-Matrizen des betrach-teten Mehrkörpersystems überhaupt nicht beeinflusst, JJJT R = JJJRR = 000.
Beispiel 2.16: Überschlagendes Doppelpendel
m
mL
L
eR2
eR3eI3
eI2
2
t
1eI1 = eR1
Bild 2.20: Überschlagendes Doppelpendel
Beide Körper des Doppelpendels in Bild 2.20 haben eine hohe Anfangsgeschwindigkeit.Die Anfangsbedingungen lauten α10 = α20 = 0, α10 = α20 = Ω �√g/L . Für die Untersu-chung der Bewegung bietet sich ein mit der Drehgeschwindigkeit Ω rotierendes Referenz-system an
rrrR(t) = 000, SSSR(t) =
⎡⎣ 1 0 0
0 cos Ω t − sin Ω t0 sin Ω t cos Ω t
⎤⎦ , (2.270)
rrr∗R(t) = 000, ωωωR =ωωωR =[
Ω 0 0], JJJT R = JJJRR = 000. (2.271)
Weiterhin gilt für die Relativbewegung im Referenzsystem
rrrR1 =
⎡⎣ 0
sin α1− cos α1
⎤⎦ L, rrrR2 =
⎡⎣ 0
sin α1 + sin α2− cos α1 − cos α2
⎤⎦ L (2.272)
mit den Jacobi-Matrizen
JJJT R1 =
⎡⎣ 0 0
cos α1 0sin α1 0
⎤⎦ L, JJJT R2 =
⎡⎣ 0 0
cos α1 cos α2sin α1 sin α2
⎤⎦ L. (2.273)
60 2 Kinematische Grundlagen
Nach (2.255) lauten also die absoluten Geschwindigkeiten im Referenzsystem
vvv1 =
⎡⎣ 0
(α1 +Ω) cos α1(α1 +Ω) sin α1
⎤⎦ L, (2.274)
vvv2 =
⎡⎣ 0
(α1 +Ω) cos α1 +(α2 +Ω) cos α2(α2 +Ω) sin α1 +(α2 +Ω) sin α2
⎤⎦ L. (2.275)
Durch das bewegte Referenzsystem R bleiben, auch bei der Verwendung von relativen Ko-ordinaten, die Jacobi-Matrizen in der einfachen Form (2.273) erhalten. Weitere Vorteilewerden sich bei der Linearisierung der Bewegung zeigen.
2.4.3 Nichtholonome Systeme
Die nichtholonomen Bindungen in der expliziten Form (2.220) können in die Ausdrücke (2.263)bis (2.267) der Führungs- und der Relativgeschwindigkeit eingesetzt werden, so dass diese dannauch vom g×1-Vektor der verallgemeinerten Geschwindigkeiten abhängen. Die entsprechendenBeschleunigungen erhält man wiederum in Anlehnung an (2.229) und (2.230). Die absolutenGeschwindigkeiten und Beschleunigungen folgen schließlich mit (2.255) bis (2.258). Die Aus-drücke werden hier jedoch im Einzelnen nicht dargestellt. Für die Jacobi-Matrizen findet manden Zusammenhang
LLLTi = LLLT R +LLLT Ri − rrrRi ·LLLRR, (2.276)LLLRi = LLLRR +LLLRRi. (2.277)
Auch hier gilt, dass eine rein zeitabhängige Führungsbewegung die Jacobi-Matrizen des betrach-teten Mehrkörpersystems nicht beeinflusst, LLLT R = LLLRR = 000.
2.5 Linearisierung der Kinematik
Bei der Betrachtung des Kontinuums in Abschnitt 2.1.3 wurde bereits einmal die Linearisierungkinematischer Beziehungen angesprochen. In diesem Abschnitt soll die Linearisierung der Bewe-gung von Punkt- und Mehrkörpersystemen bezüglich einer beliebigen Soll-Bewegung betrachtetwerden. Dabei wird wiederum auf die Unterscheidung zwischen freien und holonomen Systemenverzichtet.
In der Technik ist eine Soll-Bewegung yyyS(t) häufig durch die Aufgabe einer Maschine oderVorrichtung gegeben, wobei die tatsächliche Ist-Bewegung yyy(t) nur wenig davon abweicht. Istes zutreffend, dass auch die Geschwindigkeiten yyy(t) und die Beschleunigungen yyy(t) im Wesentli-chen der Soll-Bewegung entsprechen, dann gilt für holonome Systeme
yyy(t) = yyyS(t)+ηηη(t), |ηηη(t)| � a, (2.278)yyy(t) = yyyS(t)+ ηηη(t), |ηηη(t)| � b, (2.279)yyy(t) = yyyS(t)+ ηηη(t), |ηηη(t)| � c, (2.280)
2.5 Linearisierung der Kinematik 61
wobei ηηη(t) der f ×1-Lagevektor der kleinen Abweichungen ist und a, b, c geeignete Bezugsgrö-ßen darstellen. Mit (2.278) erhält man aus (2.198) nach einer Taylorschen Reihenentwicklung
rrri(ηηη , t) = rrriS(t)+JJJTiS(t) ·ηηη +rrri2(ηηη ·ηηη , t)+ . . . , (2.281)SSSi(ηηη , t) = SSSiS(t)+SSSi1(ηηη , t)+SSSi2(ηηη ·ηηη , t)+ . . . , (2.282)
wobei rrriS(t) und SSSiS(t) den 3×1-Ortsvektor und den 3×3-Drehtensor der Soll-Bewegung kenn-zeichnen. Weiterhin folgt nach (2.184) für die linearisierte 3× f -Jacobi-Matrix der Translation
JJJTi(ηηη , t) = JJJTiS(t)+JJJTi1(ηηη , t)+ . . . . (2.283)
Dabei gilt für das lineare Glied der Reihenentwicklung der Jacobi-Matrix
JJJTi1(ηηη , t) =∂rrri2(ηηη ·ηηη , t)
∂ηηη. (2.284)
Vernachlässigt man nun die quadratischen und höheren Glieder, so bleibt für die Geschwindigkeitund Beschleunigung holonomer Systeme
vvvi(t) = JJJTiS(t) · ηηη(t)+ JJJTiS(t) ·ηηη(t)+vvviS(t), (2.285)
aaai(t) = JJJTiS(t) · ηηη(t)+2JJJTiS(t) · ηηη(t)++JJJTiS(t) ·ηηη(t)+aaaiS(t), (2.286)
während für die virtuelle translatorische Bewegung
δrrri =[
JJJTiS(t)+JJJTi1(ηηη , t)] ·δηηη (2.287)
gilt.Für die linearisierte 3× f -Jacobi-Matrix der Rotation gilt (2.283) entsprechend. Die Berech-
nung der Jacobi-Matrizen JJJRiS(t) und JJJRi1(t) ist jedoch viel aufwendiger. Unter Berücksichtigungder Definition in (2.113), (2.114) findet man
∂ siSαβ
∂ηδ=
∂Si1αγ
∂ηδSiSβγ , (2.288)
∂ si1αβ
∂ηδ=
∂Si2αγ
∂ηδSiSβγ +
∂Si1αγ
∂ηδSi1βγ , α, β , γ = 1(1)3, δ = 1(1) f . (2.289)
Die Drehgeschwindigkeit und Drehbeschleunigung lauten somit
ωωω i(t) =JJJRiS(t) · ηηη(t)+JJJ′RiS(t) ·ηηη(t)+ωωω iS(t),
JJJ′RiS(t)ηηη(t) =∂SSSiS
∂ t·SSST
i1 +∂SSSi1
∂ t·SSST
iS, (2.290)
ααα i(t) =JJJRiS(t) · ηηη(t)+(JJJRiS(t)+JJJ′RiS(t)) · ηηη(t)+ JJJ′RiS(t) ·ηηη(t)+ααα iS(t), (2.291)
während die virtuelle Rotation der Beziehung (2.287) entspricht.Man erkennt, dass die Rotation infolge ihrer Nichtlinearität erheblich mehr Aufwand bei
der Linearisierung verursacht als die Translation. Auch hier wird man die Beziehungen (2.288)
62 2 Kinematische Grundlagen
und (2.289) nur im Rahmen eines Computerprogramms anwenden. Für kleinere Probleme emp-fiehlt es sich, von den Elementardrehungen auszugehen und die in (2.290) auftretenden Jacobi-Matrizen JJJRiS(t) und JJJ′RiS(t) anschaulich auf geometrischem Weg zu gewinnen.
Bei der Linearisierung ist im Besonderen zu beachten, dass ηηη · δηηη kein quadratisches Gliedim Sinne der Taylorschen Reihenentwicklung ist. Dies bedeutet, dass zur Bestimmung der virtu-ellen Bewegung die Reihenentwicklung in (2.281) bis zum zweiten Glied erforderlich ist. Wirddie Reihenentwicklung in (2.281) bereits nach dem ersten Glied abgebrochen, so können späterbei der Bestimmung der verallgemeinerten Kräfte völlig falsche Ergebnisse entstehen. Dieser Zu-sammenhang wird in der Literatur und bei der Entwicklung von Programmsystemen zur Untersu-chung linearer Mehrkörpersysteme immer wieder übersehen. Gewinnt man die linearisierten Be-schleunigungen (2.286), (2.291) nicht durch totale Ableitung der linearisierten Geschwindigkei-ten (2.285), (2.290), sondern über die allgemeinen, nichtlinearen Beziehungen (2.185), (2.200),so ist für yyyS(t) = 000 sogar noch das dritte Glied in (2.281) zu berücksichtigen. Dieser Weg emp-fiehlt sich deshalb für Aufstellung linearer Beziehungen nicht.
Auch nichtholonome Systeme lassen sich ohne Schwierigkeiten linearisieren. Neben (2.281)muss dann auch (2.220) einer Reihenentwicklung unterworfen werden, d. h. die Soll-Bewegungwird durch yyyS(t) und zzzS(t) festgelegt.
Weiterhin ist es oft auch nützlich, eine Teillinearisierung durchzuführen. Dabei werden auf-grund der Physik oder der tatsächlichen Bewegung einige Lagekoordinaten und/oder einige Ge-schwindigkeitskoordinaten als klein angesehen, während die restlichen groß sein sollen. Manerhält dann natürlich auch keine vollständig linearen Bewegungsgleichungen, trotzdem kann dieLösung erheblich vereinfacht werden.
Beispiel 2.17: Überschlagendes Pendel
Die Soll-Bewegung des Doppelpendels, Bild 2.20, sei durch die Bewegung des Referenz-systems gegeben. Dann gilt bezüglich des Inertialsystems
yyyS(t) =[
Ω tΩ t
], ηηη(t) =
[α1α2
](2.292)
und es soll hier angenommen werden, dass trotz der großen Führungsbewegung yyyS(t) nurkleine Abweichungen davon auftreten, d. h. α1 � 1, α2 � 1. Die Reihenentwicklung fürden ersten Ortsvektor lautet bis zum zweiten Glied
Irrr1 =
⎡⎣ 0
sin Ω t− cos Ω t
⎤⎦ L+
⎡⎣ 0
α1 cos Ω tα1 sin Ω t
⎤⎦ L+
⎡⎣ 0
− 12 α2
1 sin Ω t12 α2
1 cos Ω t
⎤⎦ L (2.293)
und die Jacobi-Matrizen findet man für den ersten Massenpunkt als
IJJJT 1S =
⎡⎣ 0 0
cos Ω t 0sin Ω t 0
⎤⎦ L, (2.294)
2.5 Linearisierung der Kinematik 63
IJJJT 1s =
⎡⎣ 0 0
− sin Ω t 0cos Ω t 0
⎤⎦ L, (2.295)
Ivvvis =
⎡⎣ 0
Ω cos Ω tΩ sin Ω t
⎤⎦ . (2.296)
Damit sind nach (2.285), (2.286) auch die Geschwindigkeit und die Beschleunigung desersten Massenpunktes bestimmt. So erhält man zum Beispiel
Ivvv1 =
⎡⎣ 0
α1 cos Ω t −α1Ω sin Ω t +Ω cos Ω tα1 sin Ω t +α1Ω cos Ω t +Ω sin Ω t
⎤⎦ L. (2.297)
Beobachtet man die Pendelbewegung im Referenzsystem, so vereinfachen sich alle Aus-drücke. Aus (2.293) bis (2.297) folgt mit (2.270) für den ersten Massenpunkt
Rrrr1 =
⎡⎣ 0
α1−1+ 1
2 α21
⎤⎦ L, RJJJT 1S =
⎡⎣ 0 0
1 00 0
⎤⎦ L (2.298)
und
Rvvv1 =
⎡⎣ 0
α1 +Ωα1Ω
⎤⎦ L. (2.299)
Die Kinematik ist ein sehr umfangreiches Teilgebiet der Technischen Dynamik. Viele wichtigeBegriffe und Definitionen sind in diesem Kapitel eingeführt worden wie die Modelle Punkt, Starr-körper und Kontinuum, die Bewegungsformen Translation, Rotation und Verzerrung, die verall-gemeinerten Koordinaten und Geschwindigkeiten, die holonomen und nichtholonomen Bindun-gen, die Relativbewegung gegenüber Referenzsystemen und die kleinen, linearisierbaren Abwei-chungen von einer Soll-Bewegung. Alle diese grundlegenden Begriffe werden in den folgendenKapiteln immer wieder Verwendung finden.
3 Kinetische Grundlagen
Die Bewegung mechanischer Systeme wird durch Kräfte und Momente hervorgerufen und beein-flusst. Die Kinetik beschreibt die Wirkung der Kräfte und Momente auf freie Systeme. Gebunde-ne Systeme werden deshalb nach dem Schnittprinzip in freie Systeme übergeführt. Ausgehendvon der Kinetik des Punktes werden die Kinetik des starren Körpers und die Kinetik des Kon-tinuums betrachtet. Die Grundgleichungen der Kinetik, die Newtonschen und die EulerschenGleichungen, bilden zusammen mit dem Satz über die Erhaltung der Masse die mechanischenBilanzgleichungen. Man bezeichnet die Newtonschen Gleichungen auch als Impulssatz oder Im-pulsbilanz und die Eulerschen Gleichungen als Drallsatz, Drallbilanz oder Drehimpulsbilanz.Impuls- und Drallbilanz sind für ein Kontinuum unabhängige Grundgleichungen, während beifreien Punktsystemen beide Gleichungen ineinander übergeführt werden können. Die Impuls-und Drallbilanz kann noch durch die Energiebilanz ergänzt werden, die bei isothermen Vorgän-gen in einem Kontinuum aber von den Erstgenannten abhängig ist. Trotzdem ermöglicht in man-chen Fällen die Verwendung der Energiebilanz einfachere Lösungen.
3.1 Kinetik des Punktes
Die Bewegung eines materiellen Punktes wird durch die auf ihn einwirkenden Kräfte verändert.Dies wird im Besonderen durch das zweite Newtonschen Gesetz ausgedrückt. Darüber hinausruft jede Kraft zwischen zwei materiellen Punkten eine entsprechende Gegenkraft hervor, wasdas dritte Newtonsche Gesetz besagt.
3.1.1 Newtonsche Gleichungen
Das zweite Newtonsche Gesetz ist die Grundlage der Punktkinetik. Newton [40] hat dieses Be-wegungsgesetz im Jahre 1678 wie folgt formuliert: ‘Mutationem motus proportionalem esse vimotrici impressae, et fieri secundum lineam rectam qua vis illa imprimitur’, oder übersetzt ‘DieÄnderung der Bewegungsgröße ist der Einwirkung der bewegenden Kraft proportional und er-folgt in der Richtung, in der diese Kraft wirkt’. Man erkennt sofort, dass die Newtonsche For-mulierung weitreichende Interpretationen zulässt, die auch in der Literatur zahlreich zu findensind, siehe z. B. Szabo [63]. Macht man von der Differentialrechnung Gebrauch, so lässt sich daszweite Newtonsche Gesetz in der Form
maaa = mdvvvdt
= fff (3.1)
schreiben. Dabei ist m die Masse eines materiellen Punktes, aaa der 3× 1-Vektor der absolutenBeschleunigung in einem Inertialsystem und fff der 3×1-Vektor aller auf den materiellen Punkteinwirkenden Kräfte. Das erste Newtonsche Gesetz folgt als Sonderfall aus (3.1). Mit fff = 000ergibt sich mvvv = const, was man auch als Beharrungs- oder Trägheitsgesetz bezeichnet.
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014 W. Schiehlen, P. Eberhard, Technische Dynamik, DOI 10.1007/978-3-658-06185-2_3
66 3 Kinetische Grundlagen
Das dritte Newtonsche Gesetz, das Gegenwirkungsgesetz, beschäftigt sich bereits mit einemPunktsystem, Bild 3.1. Wirkt eine Kraft zwischen zwei materiellen Punkten P1 und P2, so ist ihreWirkung auf die beiden Punkte gleich groß aber entgegengesetzt. Es gilt also
fff 12 =− fff 21. (3.2)
O
m1
P1 m2
P2
r1
f12f21
r2
Bild 3.1: System von zwei materiellen Punkten
Wendet man nun (3.1) auf die beiden in Bild 3.1 dargestellten materiellen Punkte an, so erhältman mit (3.2) nach Addition beider Gleichungen
m1aaa1 +m2aaa2 = 000. (3.3)
Dies bedeutet, dass die Kraftwirkung auf das Gesamtsystem verschwindet. Damit ist der Zu-sammenhang zwischen der Systemabgrenzung und der Art der einwirkenden Kräfte aufgezeigtworden. Man nennt das Gegenwirkungsgesetz auch Schnittprinzip, da innere Kräfte eines Sys-tems durch Freischneiden zu äußeren Kräften gemacht werden. Für ein System von p materiellenPunkten lauten die Newtonschen Gleichungen
miaaai(t) = fff i(t), i = 1(1)p, (3.4)
wobei die zu (3.1) gegebenen Erläuterungen sinngemäß gelten.
3.1.2 Kräftearten
Das dritte Newtonsche Gesetz hat deutlich gemacht, dass die Kräfte in einem System einer ge-naueren Einteilung bedürfen. In Bild 3.2 ist ein gebundenes Punktsystem mit f = 3 · 3− 3 = 6Freiheitsgraden dargestellt. Die drei materiellen Punkte sind durch zwei starre Stäbe und eineFeder miteinander verbunden, der Punkt P1 gleitet auf einer reibungsfreien Ebene, der Punkt P3ist an einem Dämpfer aufgehängt. In diesem System treten die äußeren Kräfte fff 1 und fff 3, so-wie die inneren Kräfte fff 12, fff 13, fff 21, fff 23, fff 31, fff 32 auf. Die eingeprägten Kräfte fff 13, fff 31 und fff 3stammen aus Kraftgesetzen und gehorchen dem Feder- und Dämpfergesetz, die Zwangskräftefff 1, fff 12, fff 21, fff 23, fff 32 stammen aus Lagerungen und stellen Reaktionen auf die Bewegungsein-schränkung durch die Bindungen dar. Die äußeren Kräfte treten immer einfach, die inneren Kräf-te stets paarweise auf. Für den einzelnen Punkt stellen jedoch alle Kräfte äußere Kräfte dar.
In einem Punktsystem unterscheidet man also nach der gewählten Systemgrenze äußere Kräf-te fff a
i und innere Kräfte fff ii, bzw. nach der Herkunft der Kräfte eingeprägte Kräfte fff e
i und Re-aktionskräfte fff r
i , i = 1(1)p. Nach dem Schnittprinzip werden zur Anwendung der Newtonschen
3.1 Kinetik des Punktes 67
P2
P1 P3 f31
f23
f1
f12
f21f32
f13
f3
Bild 3.2: Innere und äußere Kräfte an einem Punktsystem
Gleichungen (3.4) alle Kräfte zu äußeren Kräften des betrachteten Punktes gemacht,
fff i = fff ai + fff i
i = fff ei + fff r
i , i = 1(1)p. (3.5)
Die äußeren Kräfte fff ai haben ihre Ursache außerhalb der gewählten Systemgrenze. Die inneren
Kräfte eines Systems
fff ii =
p
∑j=1
fff i j, i = 1(1)p, (3.6)
gehorchen dem Gegenwirkungsgesetz
fff i j + fff ji = 000, i, j = 1(1)p. (3.7)
Die eingeprägten Kräfte stammen aus Kraftelementen wie z. B. Federn und Dämpfern und sindbekannte Funktionen der Zeit und der zunächst unbekannten Bewegungen und Reaktionen desSystems. Die Reaktionskräfte werden durch die Bindungen bestimmt. Sie gehören ebenso wiedie Bewegungsgrößen zu den Unbekannten des Systems.
Die Reaktions- oder Zwangskräfte lassen sich durch Verteilungsmatrizen auf die verallgemei-nerten Zwangskräfte zurückführen. Die Zahl der verallgemeinerten Zwangskräfte ist gleich derZahl q der holonomen Bindungen in einem System. Damit kann der q× 1-Vektor der verallge-meinerten Zwangskräfte eingeführt werden
ggg =[
g1 g2 ... gq]. (3.8)
Für diese verallgemeinerten Zwangskräfte lassen sich dann die 3×q-Verteilungsmatrizen FFFi(yyy, t)bestimmen und es gilt für die Reaktionskräfte in holonomen Systemen
fff ri =FFFi(yyy, t) ·ggg(t), i = 1(1)p. (3.9)
Die 3p unbekannten Zwangskräfte fff ri sind also im Gegensatz zu den q < 3p verallgemeinerten
Zwangskräften ggg linear voneinander abhängig. Die Verteilungsmatrizen FFFi können entweder an-schaulich durch geometrische Betrachtungen oder analytisch aus den Bindungen des Systemsgewonnen werden. Die erste Möglichkeit beruht auf einer Kräftezerlegung in einem kartesischenKoordinatensystem. Sie gibt den verallgemeinerten Zwangskräften eine unmittelbare mechani-
68 3 Kinetische Grundlagen
sche Bedeutung. Die zweite Möglichkeit wird in Kapitel 4 im Zusammenhang mit den Prinzipi-en der Mechanik ausführlich diskutiert werden. Durch die analytische Vorgehensweise kann diemechanische Bedeutung der verallgemeinerten Zwangskräfte verloren gehen.
Bei den eingeprägten Kräften unterscheidet man die idealen, d. h. nicht von den Reaktions-kräften abhängigen Kräfte und die nichtidealen Kontaktkräfte. Die idealen Kräfte gliedern sichweiterhin in die P-Kräfte, die PD-Kräfte und die PI-Kräfte. Die proportionalen P-Kräfte sindlage- und zeitabhängig
fff ei = fff e
i (xxx, t). (3.10)
Zu den P-Kräften zählt man neben den konservativen Federkräften auch die Gewichtskräfte so-wie die rein zeitabhängigen Steuerkräfte. Die proportional-differentialen PD-Kräfte hängen zu-sätzlich noch von der Geschwindigkeit ab
fff ei = fff e
i (xxx, xxx, t). (3.11)
Ein typisches Beispiel für PD-Kräfte ist ein Federbein, das der Parallelschaltung eines Dämpfersund einer Feder entspricht. Die proportional-integralen PI-Kräfte werden durch die Lage und dieLageintegrale des Systems bestimmt
fff ei = fff e
i (xxx,www, t), www = www(xxx,www, t). (3.12)
Die Lageintegrale werden dabei mit dem h× 1-Vektor www(t) der Kraftgrößen gebildet. Eine Hin-tereinanderschaltung eines Dämpfers und einer Feder führt ebenso wie die Eigendynamik einesStellmotors auf PI-Kräfte.
Die idealen Kräftearten (3.10) bis (3.12) treten in freien und reibungsfrei gebundenen Syste-men auf. Sind darüber hinaus auch reibungsbehaftete Bindungen gegeben, so entstehen zusätz-lich noch nichtideale Reibungskräfte
fff ei = fff e
i (yyy,ggg, t). (3.13)
Diese Reibungskräfte sind ebenso wie Kontaktkräfte durch die Kopplung von eingeprägten Kräf-ten und Zwangskräften gekennzeichnet. Diese Kopplung kann bei der späteren Lösung der Be-wegungsgleichung zu einem erheblichen zusätzlichen Aufwand führen.
In der Technik werden die einzelnen Kräftearten durch entsprechende Konstruktionselementeverwirklicht, von denen einige in Bild 1.3 zu sehen sind.
Beispiel 3.1: Kräfte am Doppelpendel
Das Doppelpendel, siehe auch Beispiel 2.9, ist ein räumliches Zweipunktsystem mit vierBindungen und zwei Freiheitsgraden. Zu den vier Bindungen (2.181) gibt es vier verallge-meinerte Zwangskräfte
ggg =[
g1 g2 g3 g4]. (3.14)
Die verallgemeinerten Zwangskräfte sind in Bild 3.3 zu sehen, wobei zur Unterstützung derAnschauung die innere Zwangskraft g4 doppelt eingetragen ist. Die Zwangskräfte g1, g3
3.2 Kinetik des starren Körpers 69
sind parallel zum Basisvektor e1. Damit erhält man nach (3.9) die Verteilungsmatrizen
FFF1(yyy) =
⎡⎣ 1 0 0 0
0 − sin α1 0 sin α20 cos α1 0 − cos α2
⎤⎦ , (3.15)
FFF2(yyy) =
⎡⎣ 0 0 1 0
0 0 0 − sin α20 0 0 cos α2
⎤⎦ . (3.16)
Die sechs Koordinaten der Zwangskräfte fff r1 und fff r
2 sind somit durch vier verallgemeinerteZwangskräfte bestimmt.
Weiterhin lauten die eingeprägten Gewichtskräfte
fff e1 =
⎡⎣ 0
0−mg
⎤⎦ , fff e
2 =
⎡⎣ 0
0−mg
⎤⎦ . (3.17)
Damit sind alle Kräfte am Doppelpendel festgelegt.
m
e2
e3
1
e1
2
g1
mg
mg
g3
g2
g4
g4
Bild 3.3: Gewichtskräfte und Reaktionskräfte am Doppelpendel
3.2 Kinetik des starren Körpers
Die Bewegung eines starren Körpers wird durch die auf ihn einwirkenden Kräfte und Momentebestimmt. Beim freien starren Körper beeinflussen die Kräfte die Translation und die Momentebezüglich des Massenmittelpunktes die Rotation. Diese kinematische Entkoppelung geht jedochbeim gebundenen starren Körper im Allgemeinen verloren. Zur Untersuchung der Bewegung ei-nes starren Körpers sind neben den Newtonschen Gleichungen auch die Eulerschen Gleichungenerforderlich. Dies gilt in entsprechender Weise für Mehrkörpersysteme.
Der starre Körper ist ein Kontinuum, eine Modellbildung, die von Euler mit großem Erfolg
70 3 Kinetische Grundlagen
verwendet wurde. Im Besonderen hat Euler [20] in seiner 1775 verfassten Arbeit ‘Nova methodusmotum corporum rigidorum determinandi’, oder übersetzt ‘Eine neue Methode zur Bestimmungder Bewegung starrer Körper’, die Integralformen von Impulsbilanz und Drallbilanz angegeben,nachdem er bereits 1758 die heute nach ihm benannten Kreiselgleichungen veröffentlicht hatte.Die Bezeichnung ‘Newtonsche Gleichungen ’ für die Impulsbilanz und ‘Eulersche Gleichungen’ für die Drallbilanz des starren Körpers ist historisch gesehen deshalb nicht richtig. Sie wirdin diesem Buch trotzdem verwendet, um die enge Verwandtschaft zwischen den Punktsystemenund den Mehrkörpersystemen zu verdeutlichen.
3.2.1 Newtonsche und Eulersche Gleichungen
Ein starrer Körper setzt sich zwar aus einer kompakten Menge materieller Punkte zusammen,trotzdem reichen im Allgemeinen die Newtonschen Gleichungen zu seiner Beschreibung alleinnicht aus. In Bild 3.4 sind zwei starre Körper dargestellt, die aus vier materiellen Punkten, sowiefünf bzw. sechs starren Gelenkstäben aufgebaut sind. In der Ebene verfügen beide Körper über jedrei Freiheitsgrade. Der linke Körper kann mit den Hilfsmitteln der Punktmechanik vollständigberechnet werden. Für drei verallgemeinerte Koordinaten und fünf verallgemeinerte Zwangskräf-te stehen acht Newtonsche Gleichungen zur Verfügung. Der rechte Körper lässt sich dagegen mitden Hilfsmitteln der Punktmechanik nicht beschreiben. Die drei verallgemeinerten Koordinatenund die sechs verallgemeinerten Zwangskräfte können aus den acht Newtonschen Gleichungennicht berechnet werden. Man sagt auch, der linke Körper ist statisch bestimmt, der rechte Kör-per ist statisch unbestimmt. Ein starres Kontinuum ist vollständig statisch unbestimmt, deshalbwerden zur Berechnung seiner Bewegung stets die Newtonschen und die Eulerschen Gleichun-gen benötigt. Der Begriff der statischen Bestimmtheit kommt aus der Stereostatik. Bei bewegtenKörpern kann man deshalb auch von der kinetischen Bestimmtheit eines Mehrkörpersystemssprechen. Dies ist allerdings weniger gebräuchlich.
Bild 3.4: Statisch bestimmtes und statisch unbestimmtes Punktsystem
In der Kontinuumsmechanik ordnet man dem materiellen Punkt P des starren Körpers K,Bild 2.4, die Masse dm zu. Damit gilt für die Masse des Körpers
m =∫K
dm =∫V
ρdV (3.18)
wobei das Integral über das Volumen V des Körpers K zu bilden ist und ρ die Dichte bedeutet.
Für die Newtonschen Gleichungen des starren Körpers ergibt sich durch Integration über alle
3.2 Kinetik des starren Körpers 71
materiellen Punkte aus (3.1) und (3.2) mit (2.119)∫K
aaa(t)+ [ααα(t)+ωωω(t) ·ωωω(t)] ·rrrP(ρρρ, t)dm
= maaa(t)+ [ααα(t)+ωωω(t) ·ωωω(t)] ·∫K
rrrP(ρρρ, t)dm = fff (t), (3.19)
wobei fff (t) den 3×1-Vektor aller äußeren, auf den Körper K einwirkenden Kräfte darstellt undrrrP den Vektor vom Bezugspunkt P1 zu den materiellen Punkten P bezeichnet. Die Lage desMassenmittelpunktes C bezüglich P1 ist durch rrrC gekennzeichnet. Wählt man nun den Massen-mittelpunkt C als Bezugspunkt P1, so gilt
rrrC(t) =1m
∫K
rrrP(ρρρ, t)dm (3.20)
und mit (2.79) folgt
rrrC =∫K
rrrP(ρ, t)dm = SSS(t) ·∫K
ρρρdm = 000. (3.21)
Damit lauten nach (3.19) die Newtonschen Gleichungen für den starren Körper bezogen auf denSchwerpunkt
maaa(t) = fff (t). (3.22)
Diese Gleichungen werden auch Impuls- oder Schwerpunktsatz genannt, da die Beschleunigungdes Massenmittelpunktes ausschlaggebend ist. Im Weiteren wird der Massenmittelpunkt - wennnicht anders vermerkt - auch stets als Bezugspunkt gewählt.
Die Eulerschen Gleichungen für einen beliebigen Körper K lauten∫K
rrr · rrrdm = lll, (3.23)
wobei lll der 3×1-Vektor aller äußeren am Körper K angreifenden Momente ist. Es sei im Beson-deren darauf hingewiesen, dass bei einem Körper bzw. Kontinuum der Drall
∫rrr ·rrrdm und die Mo-
mentensumme lll vom Impuls∫
rrrdm und von den Kräften fff unabhängig sind. Die NewtonschenGleichungen und die Eulerschen Gleichungen sind fundamentale, allgemeine und voneinanderunabhängige Gesetze der Mechanik. Wendet man nun (3.23) auf den starren Körper K an, soerhält man mit (2.80), (2.119) und (3.21)
rrr(t) ·maaa+∫K
rrrP(ρρρ, t) · [ααα(t)+ωωω(t) ·ωωω(t)] ·rrrP(ρρρ, t)dm = lll0(t), (3.24)
wobei lll0(t) die Summe aller äußeren Momente bezüglich des Ursprungs 0 des Koordinatensys-
72 3 Kinetische Grundlagen
tems darstellt. Setzt man weiterhin (3.22) in (3.24) ein, so bleibt∫K
rrrP · [ααα +ωωω ·ωωω] ·rrrPdm = lll0 − rrr · fff = lll (3.25)
mit dem 3× 1-Vektor lll der Summe aller äußeren Momente bezüglich des MassenmittelpunktesC.
Zur Umformung des zweiten Terms im Integral (3.25) dient der folgende Zusammenhang
xxx · xxx = xxxxxx−xxx ·xxxEEE. (3.26)
Durch zweimalige Anwendung von (3.26) findet man mit (A.18) die Beziehung
rrrP ·ωωω ·ωωω ·rrrP = rrrP · (ωωωωωω −ωωω ·ωωωEEE) ·rrrP
= ωωω · (−rrrPrrrP +rrrP ·rrrPEEE) ·ωωω = ωωω · rrrTP · rrrP ·ωωω. (3.27)
Aus (3.25) erhält man also∫K
rrrTP · rrrPdm ·ααα +ωωω ·
∫K
rrrTP · rrrPdm ·ωωω = lll. (3.28)
Führt man den 3×3-Trägheitstensor
III =∫K
rrrTP · rrrPdm (3.29)
ein, so bleiben schließlich die Eulerschen Gleichungen
III(t) ·ααα(t)+ωωω(t) ·III(t) ·ωωω(t) = lll(t). (3.30)
Die Eulerschen Gleichungen in der Form (3.30) gelten zunächst im Inertialsystem und der Träg-heitstensor III(t) und die äußeren Momente lll(t) sind auf den Massenmittelpunktes C zu beziehen.In Abschnitt 3.2.3. wird aber gezeigt, dass die Eulerschen Gleichungen (3.30) auch im körperfes-ten Koordinatensystem gültig sind.
Das dritte Newtonsche Gesetz muss für starre Körper entsprechend erweitert werden, Bild 3.5.Die zwischen zwei Körpern K1 und K2 eines Mehrkörpersystems wirkenden Kräfte und Momentesind in einem gemeinsamen Schnittpunkt S gleich groß und entgegengesetzt gerichtet,
fff 12 =− fff 21, lllS12 =−lllS21. (3.31)
Das Gegenwirkungsgesetz (3.31) ist für Mehrkörpersysteme unhandlich, da es nur für dengemeinsamen Schnittpunkt S zwischen zwei Körpern gilt. Die Eulerschen Gleichungen werdenjedoch jeweils auf die Massenmittelpunkte zu beziehen, siehe (3.30). Es ist deshalb zweckmäßig,auch das Gegenwirkungsgesetz bezüglich der Massenmittelpunkte anzuschreiben.
3.2 Kinetik des starren Körpers 73
l21r2Sr1S
lS12
C1r12
K2
l12
K1
f21
f12
f21
C2
S
lS21
f12
Bild 3.5: System von zwei starren Körpern
Dann geht (3.31) in
fff 12 =− fff 21, lll12 =−lll21 − rrr12 · fff 21 (3.32)
über, wobei rrr12 der Ortsvektor zwischen den Massenmittelpunkten C1 und C2 ist, wie auchBild 3.5 zeigt. Wendet man nun (3.22), (3.30) auf ein Zweikörpersystem an, so fallen mit (3.32)bei Addition alle inneren Kräfte und Momente heraus.
Bei einem starren Körper kann man mit dem Schnittprinzip auch die inneren Kräfte und Mo-mente für eine Schnittebene freilegen, Bild 3.6. In jedem Punkt Q der Schnittebene A wirkt ein3×1-Spannungsvektor
ttt =d fffdA
, (3.33)
der auf das Flächenelement dA bezogen ist, wobei gemäß der Definition eines nichtpolaren Konti-nuums, siehe Becker und Bürger [8], die Momentenspannungen vernachlässigt werden. Mit demin der Schnittebene A liegenden 3×1-Abstandsvektor uuu lautet der Schnittkraftwinder
fff 12 =∫A
tttdA, lll12 =∫A
uuu ·tttdA. (3.34)
Als Bezugspunkt wird dabei der Flächenmittelpunkt C verwendet.Der Schnittkraftwinder fff 12, lll12 kann im Allgemeinen aus den Newtonschen und Eulerschen
Gleichungen für den freigeschnittenen Teilkörper bestimmt werden. Dagegen ist die Bestimmungdes Spannungsvektors ttt und damit auch des Spannungstensors aus dem Schnittkraftwinder allei-ne nicht möglich, da sich ein Kraftwinder nicht eindeutig in ein Kräftesystem zerlegen lässt. ZurBerechnung der Spannungsverteilung in einem Körper muss das Modell des starren Körpers ver-lassen und durch ein elastisches Kontinuum ersetzt werden. Damit sind die Grenzen des Modellsdes starren Körpers deutlich geworden. Es eignet sich zur Bestimmung großer Bewegungen, diesowohl lokal für ein infinitesimales Element als auch global für den ganzen Körper gelten, dieSpannungsverteilung im Innern des Körpers bleibt aber unbestimmt. Man kann jedoch zumindestnäherungsweise auch beim starren Körper eine lineare Spannungsverteilung in einer Schnittflä-che aus dem Schnittkraftwinder bestimmen, wie dies z. B. auch in der Technischen Biegelehre
74 3 Kinetische Grundlagen
Schnittfläche A
Qf12
df
l12
C
f21
l21
u
dA
C
linkes Schnittufer rechtes Schnittufer
Bild 3.6: Innere Kräfte und Momente eines starren Körpers
üblich ist. Weitere Einzelheiten werden in Abschnitt 5.4.2 im Zusammenhang mit der Festigkeits-abschätzung in einem Mehrkörpersystem behandelt. Andererseits gelten alle Eigenschaften einesKontinuums, die aus den Bilanzgleichungen abgeleitet werden, auch für den starren Körper. Sofolgt z. B. die Symmetrie des Spannungstensors aus den Eulerschen Gleichungen, wenn sie aufein infinitesimales starres Tetraederelement angewandt werden.
Für ein Mehrkörpersystem von p starren Körpern lauten die Newton-Eulerschen Gleichungen
miaaai(t) = fff i(t), (3.35)IIIi(t) ·ααα i(t)+ωωω i(t) ·IIIi(t) ·ωωω i(t) = llli(t), i = 1(1)p. (3.36)
Dabei können die auf jeden einzelnen Körper einwirkenden Kräfte und Momente in äußere undinnere Kräfte und Momente des Mehrkörpersystems oder nach einer anderen Klassifizierung ineingeprägte und Reaktionskräfte und -momente eingeteilt werden,
fff i = fff ai + fff i
i = fff ei + fff r
i , (3.37)
llli = lllai + llli
i = lllei + lllr
i . (3.38)
Die äußeren Kräfte fff ai und die äußeren Momente llla
i haben ihre Ursachen außerhalb der Grenzendes betrachteten Mehrkörpersystems. Die inneren Kräfte und Momente
fff ii =
p
∑j=1
fff i j, lllii =
p
∑j=1
llli j (3.39)
gehorchen dem Gegenwirkungsgesetz (3.7) der Kräfte und dem Gegenwirkungsgesetz
llli j + lll ji + rrri j · fff ji = 000, i, j = 1(1)p, (3.40)
für die auf die Massenmittelpunkte Ci bezogenen Momente. Weiterhin erscheint in (3.40) derOrtsvektor rrri j zwischen den Massenmittelpunkten Ci und Cj mit i, j = 1(1)p.
Für die eingeprägten Kräfte fff ei und die eingeprägten Momente llle gelten alle für Kräfte in
3.2 Kinetik des starren Körpers 75
Punktsystemen abgeleiteten Beziehungen (3.10) bis (3.13) entsprechend.Für die Reaktionen gilt darüber hinaus mit dem (q+ r)×1-Vektor ggg(t) der verallgemeinerten
Zwangskräfte in nichtholonomen Systemen
fff ri =FFFi(yyy, zzz, t) ·ggg(t), lllr
i = LLLi(yyy, zzz, t) ·ggg(t), (3.41)
d. h. die 3× (q+ r)-Verteilungsmatrizen FFFi und LLLi sind in nichtholonomen Systemen nicht nurvom f ×1-Lagevektor yyy(t) abhängig, sondern sie können auch Funktionen des g×1-Geschwin-digkeitsvektor zzz(t) sein. Für holonome Systeme entfällt dagegen diese zusätzliche Abhängigkeit,siehe z. B. (3.9).
3.2.2 Massengeometrie des starren Körpers
Die Massengeometrie des starren Körpers wird durch den Trägheitstensor (3.29) beschrieben.Der Trägheitstensor ist in der Referenzkonfiguration bzw. im körperfesten Koordinatensystem{C;eeeα} eine zeitinvariante Größe
III = SSST ·∫K
rrrTP · rrrPdm ·SSS =
∫K
ρρρT · ρρρdm = const. (3.42)
Mit (3.26) kann man dafür auch
III =∫K
(ρρρ ·ρρρEEE −ρρρρρρ)dm (3.43)
schreiben oder in Koordinaten
III =
⎡⎣ I11 I12 I31
I12 I22 I23I31 I23 I33
⎤⎦ . (3.44)
Der Trägheitstensor ist ein symmetrischer, im Allgemeinen positiv definiter Tensor. Seine Dia-gonalelemente Iαα , α = 1(1)3, heißen Trägheitsmomente, die Nebendiagonalelemente I12, I23,I31 werden Deviationsmomente genannt. Für die Trägheitsmomente gelten die wichtigen Unglei-chungen
I11 + I22 > I33, I22 + I33 > I11, I33 + I11 > I22, (3.45)
die auch als Dreiecksungleichungen bezeichnet werden. Entsprechende Ungleichungen geltenauch für die Seiten eines Dreiecks. In ausgearteten Fällen gehen die Ungleichungen in Gleichun-gen über. Für stabförmige Körper wird dann der Trägheitstensor positiv semidefinit.
Wie jeder positiv definite Tensor hat auch der Trägheitstensor drei positive Eigenwerte, dieHauptträgheitsmomente Iα , α = 1(1)3. Die Hauptträgheitsmomente findet man aus der Eigen-wertaufgabe
(λEEE −III) ·xxx = 000 (3.46)
76 3 Kinetische Grundlagen
wobei λ ein zunächst unbekannter Eigenwert und xxx der zu λ gehörige Eigenvektor ist. Die Lö-sung der Eigenwertaufgabe führt auf die charakteristische Gleichung
det(λEEE −III) = λ 3 −a1λ 2 +a2λ −a3 = 0 (3.47)
mit den Grundinvarianten
a1 = SpIII = I11 + I22 + I33 = I1 + I2 + I3, (3.48)
a2 = I11I22 + I22I33 + I33I11 − I212 − I2
23 − I231 = I1I2 + I2I3 + I3I1, (3.49)
a3 = det III, (3.50)
die in jedem Koordinatensystem, also auch im Hauptachsensystem, stets gleiche Werte besit-zen. Die Nullstellen von (3.47) entsprechen damit den Hauptträgheitsmomenten. Setzt man dieHauptträgheitsmomente Ii der Reihe nach in (3.46) ein, so findet man die drei Eigenvektoren xxxi.Diese Eigenvektoren stehen senkrecht aufeinander oder können im Falle mehrfacher Eigenwer-te orthogonal zueinander gewählt werden. Die Eigenvektoren definieren damit ein kartesischesKoordinatensystem, das Hauptachsensystem {C;eeeHα}. Die zeitinvariante Transformationsmatrixzwischen dem körperfesten System K und dem Hauptachsensystem H lässt sich aus den normier-ten Eigenvektoren aufbauen
SSSHK =[
xxx1 xxx2 xxx3], xxxα ·xxxα = 1. (3.51)
Im Hauptachsensystem nimmt der Trägheitstensor Diagonalgestalt an
HIII = diagdiagdiag{I1 I2 I3}. (3.52)
Nach Möglichkeit verwendet man deshalb das Hauptachsensystem als körperfestes Koordinaten-system. Davon ausgehend findet man dann den zeitabhängigen Trägheitstensor im Inertialsystem
III(t) = SSS(t) ·SSSKH ·diagdiagdiag{I1 I2 I3} ·SSSTKH ·SSST (t). (3.53)
Mit Hilfe der Hauptträgheitsmomente können die massengeometrischen Eigenschaften eines star-ren Körpers sogar in einer Bildebene dargestellt werden. Dazu bildet man die dimensionslosenTrägheitsparameter
k1 =I2 − I3
I1, k2 =
I3 − I1
I2, k3 =
I1 − I2
I3, (3.54)
die im Magnusschen Formdreieck die Eintragung eines charakteristischen Punktes ermöglichen,siehe Magnus [36].
Beispiel 3.2: Trägheitstensor im Inertialsystem
Für den homogenen Kreiszylinder, Bild 3.7, mit dem Radius R und der Höhe H findet mandas Hauptachsensystem H, {Ci,eeeH} und die Hauptträgheitsmomente
I1 = I2 = m3R2 +H2
12, I3 = m
R2
2. (3.55)
3.2 Kinetik des starren Körpers 77
Er soll sich unter kleinen Abweichungen α(t) � 1, β (t) � 1 um seine 3-Achse mit derWinkelgeschwindigkeit Ω drehen. Dann lautet der linearisierte Drehtensor
SSS(t) =
⎡⎢⎢⎢⎢⎢⎣
cos Ω t − sin Ω t β
sin Ω t cos Ω t −α
α sin Ω t α cos Ω t−β cos Ω t +β sin Ω t 1
⎤⎥⎥⎥⎥⎥⎦ . (3.56)
Für den Trägheitstensor im Inertialsystem folgt aus (3.53) mit SSSKH =EEE unmittelbar
III(t) =
⎡⎣ I1 0 (I3 − I1)β
0 I1 −(I3 − I1)α(I3 − I1)β −(I3 − I1)α I3
⎤⎦ . (3.57)
Die Hauptträgheitsmomente sind infolge der kleinen Abweichungen weiterhin konstant, estreten aber zusätzliche lage- und damit auch zeitabhängige Deviationsmomente auf.
CHe11
R
e13
Bild 3.7: Kreiszylinder mit körperfestem Koordinatensystem
3.2.3 Relativbewegung des Koordinatensystems
Die Newton-Eulerschen Gleichungen (3.35) gelten im Inertialsystem. Mit den kinematischen Be-ziehungen der Relativbewegung, siehe Abschnitt 2.4.1, können diese Gleichungen aber auch ineinem bewegten Referenzsystem angegeben werden. Mit (2.257) folgt zunächst für die Newton-schen Gleichungen
mi(rrr∗∗R +( ˙ωωωR +ωωωR ·ωωωR) ·rrrRi +2ωωωR · rrrRi + rrrRi) = fff i, (3.58)
wobei der 3× 1-Ortsvektor rrrRi zum Massenmittelpunkt Ci des Körpers Ki, i = 1(1)p, zeigt. Fürdie Eulerschen Gleichungen erhält man aus (2.256), (2.258) nach längerer Rechnung das Ergeb-nis
IIIi ·ωωωR +ωωωR ·IIIi ·ωωωR +ωωωR ·ωωωRiSpIIIi +2ωωωRi ·IIIi ·ωωωR +IIIi ·ωωωRi +ωωωRi ·IIIi ·ωωωRi = llli. (3.59)
78 3 Kinetische Grundlagen
Diese Gleichung kann man aber auch direkt aus der Grundgleichung (3.23) herleiten. Die erstenbeiden Terme in (3.59) kennzeichnen die Momente der Führungsbeschleunigung, die mittlerenbeiden lassen den Einfluss der Coriolis-Beschleunigung erkennen und die beiden letzten beschrei-ben die Momente der relativen Drehbeschleunigung. Im Besonderen sieht man in (3.59), dass dieeinfache Form (3.30) der Drallbilanz nicht nur im Inertialsystem, sondern auch im körperfestenReferenzsystem (ωωωRi = 000) gilt. Deshalb wird zur Untersuchung von Kreiselproblemen eines star-ren Körpers stets das körperfeste Hauptachsensystem als Referenzsystem gewählt. Dann folgenaus (3.59) die dynamischen Euler-Gleichungen
ω1(t)− k1ω2(t)ω3(t) = l1(t)/I1,ω2(t)− k2ω3(t)ω1(t) = l2(t)/I2,ω3(t)− k3ω1(t)ω2(t) = l3(t)/I3
(3.60)
mit den dimensionslosen, zeitinvarianten Trägheitsparametern (3.54). Bei Mehrkörpersystemenverliert allerdings das körperfeste Hauptachsensystem seine Bedeutung als Referenzsystem, dadann lediglich ein Trägheitstensor zeitinvariant ist, während alle anderen doch wieder von derZeit abhängen. Man könnte sich nur noch dadurch helfen, dass man, wie in Abschnitt 2.4.1 ange-deutet, für jeden Körper Kj ein besonderes Referenzsystem R j wählt. Davon wird bei den rekur-siven Formalismen, Abschnitt 5.7.2, Gebrauch gemacht. Damit steigt aber wieder der Aufwandbei der Aufstellung der Bewegungsgleichungen, so dass sich letztlich für die Mehrkörpersystemedas Inertialsystem meist als das einfachste Referenzsystem erweist.
3.3 Kinetik des Kontinuums
Die Bewegung eines Kontinuums wird im Gegensatz zum starren Körper nicht nur durch resul-tierende Einzelkräfte und -momente, sondern auch durch stetig verteilte Kraftfelder bestimmt.Dabei wird im Rahmen der Technischen Dynamik auf die Einführung von Momentenfeldern ver-zichtet, d. h. es werden nur nichtpolare Kontinua betrachtet, deren materielle Punkte keine Eigen-drehungen ausführen können. Die Newton-Eulerschen Gleichungen ergeben dann die Cauchy-schen Bewegungsgleichungen, die zusammen mit einem Materialgesetz die Untersuchung derBewegung gestatten. Selbst mit dem einfachsten Materialgesetz, dem Hookeschen Gesetz fürlinear-elastisches Material, sind geschlossene Lösungen der partiellen Differentialgleichungennur selten möglich. Deshalb kommt den Näherungsmethoden, im Besonderen der Methode derfiniten Elemente, eine große Bedeutung zu.
3.3.1 Cauchysche Gleichungen
Beim nichtstarren Körper K eines Kontinuums, Bild 3.8, muss man noch einige Erweiterungenvornehmen. Während beim starren Körper nur die resultierenden Einzelkräfte und -momente vonBedeutung sind, erfordert das Kontinuum die Berücksichtigung der stetig verteilten Kraftfelder
fff (t) =∫V
ρ fff (ρρρ, t)dV +∫A
ttt(ρρρ, t)dA+Σ fff j(t). (3.61)
3.3 Kinetik des Kontinuums 79
Oberflächenkräfte
Volumenkräfte
Oberfläche A
Volumen V Einzelkraft fj
Körper K Kraftangriffspunkt Pj
Bild 3.8: Oberflächen- und Volumenkräfte an einem Kontinuum
Neben den Einzelkräften fff j(t) werden die Volumenkräfte mit dem 3 × 1-Vektor der Mas-senkraftdichte fff und die Oberflächenkräfte mit dem 3 × 1-Spannungsvektor ttt eingeführt, dieIntegrale erstrecken sich über das Volumen V und die Oberfläche A des Kontinuums K. DieVolumenkräfte sind in der Regel äußere, eingeprägte Kräfte wie z. B. die Gewichtskraft. DieOberflächenkräfte sind äußere eingeprägte Kräfte, wenn sie auf physikalische Gesetze, z. B. aufeine Windbelastung, zurückgehen. Es können aber auch äußere Zwangskräfte auftreten, wenndas Kontinuum an seiner Oberfläche gelagert ist. Die inneren Oberflächenkräfte, die nach demSchnittprinzip freigelegt werden, sind beim freien Kontinuum ebenfalls eingeprägte, vom Mate-rialgesetz abhängige Kräfte. Die Spannungen ttt hängen über den 3×3-Spannungstensor TTT (ρρρ, t)von der Schnittrichtung ab, die durch den 3×1-Normalenvektor nnn charakterisiert wird,
ttt(ρρρ, t) = nnn ·TTT (ρρρ, t), (3.62)
siehe Becker und Bürger [8] oder Lai, Rubin, Krempl [32].Schreibt man nun die Newtonschen Gleichungen (3.1) für einen materiellen Punkt mit der
Masse dm = ρdV an und integriert über den gesamten Körper, so folgt unter Beachtung von(3.61) und (3.62) mit dem Gaußschen Satz der Vektoranalysis die Impulsbilanz∫
V
ρaaadV =∫V
ρ fff dV +∫V
divTTT dV +Σ fff j. (3.63)
Diese Gleichung gilt nun nicht nur für ein endliches Kontinuum, sondern auch für einen infinite-simalen Körper, d. h. einen materiellen Punkt des Kontinuums,
ρaaa = ρ fff +divTTT . (3.64)
Wendet man weiterhin die Eulerschen Gleichungen an, so findet man als einzige zusätzlicheAussage die Symmetrie des Spannungstensors
TTT =
⎡⎣ σ11 τ12 τ31
τ12 σ22 τ23τ31 τ23 σ33
⎤⎦= TTT T , (3.65)
wobei σii die Normalspannungen und τi j die Schubspannungen darstellen. Damit verbleiben wie-
80 3 Kinetische Grundlagen
der sechs wesentliche Elemente, die zu einem 6×1-Spannungsvektor zusammengefasst werdenkönnen
σσσ =[
σ11 σ22 σ33 τ12 τ23 τ31]. (3.66)
Die Newton-Eulerschen Gleichungen für ein nichtpolares Kontinuum in der Form (3.64), (3.65)werden auch Cauchysche Bewegungsgleichungen genannt. Sie stellen die wesentlichen Grund-gleichungen der Kontinuumsmechanik im Rahmen der Technischen Dynamik dar.
Mit der in der Kinematik eingeführten Differentialoperatorenmatrix (2.142) lassen sich dieGrundgleichungen (3.64) und (3.65) kompakt zusammenfassen,
ρaaa = ρ fff +V T ·σσσ , (3.67)
wobei die Symmetrie des Spannungstensors mitberücksichtigt ist.
3.3.2 Hookesches Materialgesetz
Die Cauchyschen Bewegungsgleichungen (3.64) und (3.65), die mit (2.153) und (2.159) Dif-ferentialgleichungen für die aktuelle Deformation rrr(ρρρ, t) darstellen, lassen sich nicht lösen, dader Spannungstensor TTT (ρρρ, t) zunächst noch unbekannt ist. Die Spannungen müssen durch einMaterialgesetz als Funktion der Deformation ausgedrückt werden.
Für die Technische Dynamik ist das linearelastische Hookesche Materialgesetz am wichtigs-ten. Es entspricht in 1D einer proportionalen, eingeprägten Federkraft und stellt allgemein einenlinearen Zusammenhang zwischen den Spannungen und den Verzerrungen her. Anstelle der ten-soriellen Formulierung des Hookeschen Materialgesetzes, das die Tensoren 2. Stufe für die Span-nungen und Dehnungen über den Tensor 4. Stufe des Materials verknüpft, soll hier die entspre-chend umsortierte Matrizendarstellung gewählt werden. Es gilt
σσσ =HHH ·eee (3.68)
mit der symmetrischen 6×6-Matrix HHH des Hookeschen Gesetzes,
HHH =
⎡⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎣
1−ν ν ν |ν 1−ν ν | 000ν ν 1−ν |
−−− −−− −−− − −−− −−− −−−| 1−2ν
2 0 0000 | 0 1−2ν
2 0| 0 0 1−2ν
2
⎤⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎦
E(1+ν)(1−2ν)
. (3.69)
Dabei ist E der Elastizitätsmodul und ν die Querdehnzahl.
Beispiel 3.3: Zugstab
In einem Zugstab (Querschnitt A) mit axialer Belastung (Kraft F) herrscht ein eindimensio-naler Spannungszustand
σσσ =[
σ 0 0 0 0 0]
(3.70)
3.3 Kinetik des Kontinuums 81
mit der Normalspannung σ = F/A. Der entsprechende Verzerrungsvektor lautet
eee =[
1 −ν −ν 0 0 0]
ε, (3.71)
wobei die Querdehnung berücksichtigt ist. Durch Einsetzen des Materials (3.70), (3.71) in(3.68), (3.69) bestätigt man das eindimensionale Hookesche Gesetz
σ = Eε (3.72)
in seiner einfachsten Form.
3.3.3 Reaktionsspannungen
Neben den eingeprägten Spannungen können bei einem Kontinuum auch Zwangsspannungenauftreten. Dabei unterscheidet man die äußeren und die inneren Reaktionen.
Die äußeren Reaktionsspannungen gehen auf die äußeren Bindungen (2.211) zurück. IhreBerechnung erfolgt durch die Berücksichtigung der expliziten Bindungen an der Oberfläche desKontinuums
rrr = rrr(ρρρ, t) auf Ar, (3.73)
wobei Ar der gebundene Teil der Oberfläche ist. Durch die Lösung der Cauchyschen Bewegungs-gleichungen erhält man dann den zunächst unbekannten 3×1-Spannungsvektor tttr auf Ar.
Die inneren Reaktionsspannungen werden durch innere Bindungen vgl. (2.209) hervorgerufen.Der 3×3-Reaktionsspannungstensor hat die Form
TTT r =∂φ∂FFF
·FFFT g(ρρρ, t), (3.74)
wobei g(ρρρ, t) eine verallgemeinerte Zwangsspannungsverteilung ist. Soweit sie überhaupt berech-net werden kann, ist die verallgemeinerte Zwangsspannungsverteilung durch die CauchyschenBewegungsgleichungen bestimmt. Die Herleitung der Beziehung (3.74) ist z. B. bei Becker undBürger [8] zu finden.
4 Prinzipe der Mechanik
Die kinetischen Grundgleichungen für Punkt, Körper und Kontinuum gelten für freie Systeme.Die Grundgleichungen erlauben die Berechnung der Bewegungen, wenn die Kräfte und Momen-te gegeben sind, oder es können die resultierenden Kräfte und Momente aus den Bewegungenbestimmt werden. So kann einerseits aus den Newtonschen Gleichungen und der Gravitations-kraft das erste Keplersche Gesetz berechnet werden, während sich andererseits das NewtonscheGravitationsgesetz über die Planetenbewegung ermitteln lässt.
In gebundenen Systemen treten zusätzlich zu den eingeprägten Kräften und Momenten nochunbekannte Reaktionskräfte und -momente auf. Diese Reaktionskräfte und -momente könnenzwar in statisch bzw. kinetisch bestimmten Systemen mit Hilfe der kinetischen Grundgleichun-gen bestimmt werden, doch auf die Bewegung, die nur in die nicht gesperrten Richtungen auf-treten kann, haben sie keinen unmittelbaren Einfluss. Es liegt deshalb nahe, die Reaktionskräfteund -momente in den kinetischen Grundgleichungen zu eliminieren. Dies gelingt mit Hilfe derPrinzipe der Mechanik.
Ausgehend vom Prinzip der virtuellen Arbeit werden das d’Alembertsche, das Jourdainscheund das Gaußsche Prinzip behandelt. Weiterhin werden das Prinzip der minimalen potentiellenEnergie und das Prinzip von Hamilton vorgestellt. Darüber hinaus werden die LagrangeschenGleichungen erster und zweiter Art aus dem d’Alembertschen Prinzip hergeleitet.
4.1 Prinzip der virtuellen Arbeit
In gebundenen Systemen treten Reaktionskräfte und -momente auf. Diese Kräfte und Momenteinfolge der Bindungen leisten jedoch keine virtuelle Arbeit.
Für die virtuelle Arbeit der an einem materiellen Punkt angreifenden Reaktionskräfte gilt
δW r = fff r ·δrrr = 0. (4.1)
Dabei ist δW r die virtuelle Arbeit der Reaktionskräfte, fff r bezeichnet den 3× 1-Vektor der Re-aktionskräfte und δrrr ist der 3× 1-Vektor der virtuellen Verschiebungen, die infinitesimale, mitden Bindungen verträgliche Bewegungen kennzeichnen. Die Beziehung (4.1) gilt ganz allgemeinfür freie und beliebig gebundene Punkte, wie die folgenden Beispiele verdeutlichen. Beim freienPunkt, Bild 4.1, verschwindet die virtuelle Arbeit, da keine Reaktionskraft auftritt. Ist der Punktan eine Fläche, Bild 4.2, oder eine Kurve, Bild 4.3, gebunden, so verschwindet die virtuelleArbeit infolge der Orthogonalität von virtueller Bewegung und Reaktionskraft (Normalenbedin-gung). Ein statisch bestimmt gelagerter Punkt, Bild 4.4, kann keine Bewegung ausführen; des-halb ist wiederum die virtuelle Arbeit Null. Damit stellt (4.1) die Grundlage für die Formulierungallgemeiner mechanischer Prinzipe dar.
In einem System von p materiellen Punkten muss die virtuelle Arbeit der Reaktionskräfte
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014 W. Schiehlen, P. Eberhard, Technische Dynamik, DOI 10.1007/978-3-658-06185-2_4
84 4 Prinzipe der Mechanik
Oe1
r
e3
e2
2
3
1
r
f r = 0
r = e1 1 + e2 2 +e3 3
Bild 4.1: Berechnung der virtuellen Arbeit eines freien Punktes
(Normalenbedingung)Oe1
r
e2
1
g
2
e3
f r = Fgr =J1 1 + J2 2
f r r = 0J1
T F = 0, J2T F = 0
Bild 4.2: Berechnung der virtuellen Arbeit eines einfach gebundenen Punktes
Oe1
r
g1 g2
e2
y
e3
(Normalenbedingung)
f r = F1g1 + F2g2
r =Jf r r = 0JT F1 = 0, JT F2 = 0
Bild 4.3: Berechnung der virtuellen Arbeit eines zweifach gebundenen Punktes
4.1 Prinzip der virtuellen Arbeit 85
O
g1
g3
g2
e1e2
r
e3
f r = e1g1 + e2g2 + e3g3
r = 0f r r = 0
Bild 4.4: Berechnung der virtuellen Arbeit eines statisch bestimmten Punktes
ebenfalls verschwinden,
δW r =p
∑i=1
fff ri ·δrrri = 0. (4.2)
Weiterhin kann man nun äußere und innere Reaktionskräfte unterscheiden. Nach (3.5) und (3.6)gilt also
fff ri = fff ra
i +p
∑j=1
fff ri j, (4.3)
wobei noch das Gegenwirkungsgesetz (3.7) zu beachten ist. Setzt man (4.3) in (4.2) ein, so folgtmit (3.7)
δW r =p
∑i=1
fff rai ·δrrri +
p
∑i=1
p
∑j=i
fff ri j · (δrrri −δrrr j) = 0. (4.4)
Man erkennt, dass für die virtuelle Arbeit der äußeren Reaktionskräfte die virtuellen Verschie-bungen δrrri maßgebend sind, während die virtuelle Arbeit der inneren Reaktionskräfte durch dierelativen virtuellen Verschiebungsdifferenzen (δrrri −δrrr j) bestimmt wird.
Weiterhin findet man für die virtuelle Arbeit an einem nichtpolaren Kontinuum
δW r =∫K
d fff r ·δrrr = 0, (4.5)
wobei d fff r die auf einen materiellen Punkt P mit der Masse dm einwirkenden Zwangskräfte sind.Beachtet man nun, dass die Massenkraftdichte fff auf eingeprägte Kräfte zurückgeht, so folgt aus(3.64) die Beziehung
δW r =∫V
(divTTT r) ·δrrrdV = 0. (4.6)
Dieses Volumenintegral kann nun mit der Produktregel der Vektoranalysis und dem GaußschenSatz, jeweils angewandt auf div(TTT r · δrrr), umgeformt werden. Man findet dann für die virtuelle
86 4 Prinzipe der Mechanik
Arbeit
δW r =∫A
tttr ·δrrrdA−∫V
Sp(TTT r ·δGGG)dV =∫A
tttr ·δrrrdA−∫V
σσσ rT ·δeeedV = 0, (4.7)
wobei zur Vereinfachung (2.141) und (3.66) verwendet wurden. Neben den virtuellen Verschie-bungen δrrr an der Oberfläche A treten in (4.7) die virtuellen Verzerrungen δGGG bzw. δeee im Volu-men V des Kontinuums K auf. Der jeweils erste Term in (4.7) entspricht der virtuellen Arbeitder äußeren Reaktionskräfte, der jeweils zweite Term beschreibt die virtuelle Arbeit der innerenReaktionskräfte. Diese Aufteilung war auch bereits beim Punktsystem, siehe (4.4), möglich. Ineinem Kontinuum ohne innere Bindungen verbleibt deshalb nur der erste Term, das Integral istdabei nur über den Teil der Oberfläche zu berechnen, dessen Bewegungsfreiheit durch Bindun-gen oder Lagerungen eingeschränkt ist.
Die virtuelle Arbeit der Reaktionskräfte und -momente soll auch noch für ein polares Konti-nuum angegeben werden,
δW r =∫K
(d fff r ·δrrr+dlllr ·δsss) = 0. (4.8)
Dabei sind d fff und dlll die am Volumenelement des materiellen Punktes P mit der Masse dmangreifenden Reaktionskräfte und -momente. Die virtuelle Verschiebung δrrr muss bei polarenKontinua um die virtuelle Drehung δsss ergänzt werden.
Mehrkörpersysteme zählen aufgrund der Einzelmomente zu den nichtpolaren Kontinua. Be-rücksichtigt man die Kinematik des starren Körpers, so folgt aus (4.8)
δW r =p
∑i=1
[ fff ri ·δrrri +
∫Ki
(d fff ri ·δ sssi ·rrrp +dlllr
i ·δsssi)] =p
∑i=1
( fff ri ·δrrri + lllr
i ·δsssi) = 0 (4.9)
mit der virtuellen Bewegung δrrri, δsssi des Mehrkörpersystems, die durch (2.201) gegeben ist. Inden resultierenden Reaktionsmomenten lllr
i sind die Wirkungen der Kräfte d fff ri mit den Hebelar-
men rrrP(ρρρ) und der Momente dlllri enthalten.
Bei gebundenen Systemen entspricht der verschwindenden virtuellen Arbeit der Reaktions-kräfte eine allgemeine Orthogonalitätsbeziehung. Dies soll am Beispiel der Punktsysteme nunstellvertretend für alle oben genannten Systeme herausgearbeitet werden.
Die virtuellen Bewegungen von Punktsystemen wurden in der Kinematik bereits ausführlichbehandelt, siehe (2.188). Die für die Reaktionskräfte fff r
i maßgebenden Normalenrichtungen nnnikerhält man entweder geometrisch anschaulich oder rechnerisch aus der impliziten Form (2.175)der Bindungen. Mit dem 3×1-Vektor
nnnik =∂φk
∂xxx· ∂xxx
∂rrri, k = 1(1)q, (4.10)
und der zur Bindung φk gehörenden verallgemeinerten Zwangskraft gk bleibt für die resultierende
4.1 Prinzip der virtuellen Arbeit 87
Reaktionskraft fff ri am materiellen Punkt Pi die Summe
fff ri =
q
∑k=1
fff rik =
q
∑k=1
∂φk
∂xxxgk · ∂xxx
∂rrri. (4.11)
Der Normalenvektor (4.10) ist nicht normiert. Durch Division mit dem Betrag |nnnik| erhält man,falls erforderlich, die Richtung des Normaleneinheitsvektors. Durch die Normierung des Nor-malenvektors wird die verallgemeinerte Zwangskraft gk betragsgleich mit der entsprechendenReaktionskraft fff r
ik. Eingesetzt in (4.2) findet man
p
∑i=1
[(q
∑k=1
gk∂φk
∂xxx) · ∂xxx
∂rrri· ∂rrri
∂xxx·
f
∑�=1
∂xxx∂y�
δy�] = 0. (4.12)
Führt man nun den f × 1-Lagevektor yyy nach (2.177), die virtuelle Lageänderung δyyy und dieJacobi-Matrizen HHHTi, III, und JJJTi gemäß (2.188) und (2.189) sowie den q×1-Vektor der verallge-meinerten Reaktionskräfte (3.8) ein und definiert man die Funktionalmatrizen
FFFTi =
∂φφφ∂rrri
, GGGT =∂φφφ∂xxx
, HHH+Ti =
∂xxx∂rrri
, (4.13)
so kann man (4.12) auch schreiben als
ggg ·(
p
∑i=1
FFFTi ·JJJTi
)·δyyy = 0. (4.14)
Fasst man schließlich noch die Funktionalmatrizen zur globalen 3p×q-Verteilungsmatrix QQQ undzur globalen 3p× f -Jacobi-Matrix JJJ des Punktsystems zusammen,
QQQT=[FFFT
1 FFFT2 · · · FFFT
p], JJJ =
⎡⎢⎢⎢⎣
JJJT 1JJJT 2
...JJJT p
⎤⎥⎥⎥⎦ , (4.15)
so geht (4.14) in die Orthogonalitätsbeziehung
QQQT ·JJJ = 000, JJJT ·QQQ = 000 (4.16)
über. Ebenso folgt wegen ΣHHH+Ti ·HHHTi = pEEE auch
GGGT ·III = 000, IIIT ·GGG = 000. (4.17)
Die Orthogonalitätsbeziehung kann sowohl in kartesischen Koordinaten (4.16) als auch in verall-gemeinerten Koordinaten (4.17) angeschrieben werden. Die Reaktionskräfte leisten also - unab-hängig von der Wahl der Koordinaten - keine virtuelle Arbeit, was für alle mechanischen Systemegilt.
88 4 Prinzipe der Mechanik
Das Prinzip der virtuellen Arbeit, häufig auch das Prinzip der virtuellen Verschiebung genannt,kann man für statische Punktsysteme nun leicht herleiten. Die Gleichgewichtsbedingungen derStatik verlangen, dass die Summe aller äußeren, auf jeden einzelnen materiellen Punkt einwir-kenden Kräfte verschwindet
fff ai = 000, i = 1(1)p. (4.18)
Beachtet man, dass die äußeren Kräfte infolge der Bindungen in eingeprägte äußere Kräfte undReaktionskräfte aufgeteilt werden können, so gilt
fff aei + fff ar
i = 000, i = 1(1)p. (4.19)
Damit bleibt nach (4.2) für die virtuelle Arbeit eines Punktsystems
δW e =p
∑i=1
fff aei ·δrrri = 0. (4.20)
Das Prinzip der virtuellen Arbeit (4.20) besagt also: Ein Punktsystem ist dann und nur dann imstatischen Gleichgewicht, wenn die virtuelle Arbeit der äußeren eingeprägten Kräfte verschwin-det. Der große Vorteil für die technische Anwendung liegt darin, dass das Gleichgewicht ohnedie Berechnung der Reaktionskräfte untersucht werden kann.
Beispiel 4.1: Vorrichtung
Die Vorrichtung nach Bild 4.5 ist ein System von zwei materiellen Punkten (Masse m) mitf = 2 ·3−5= 1 Freiheitsgrad. Die Feder (Federkonstante c) sei in der horizontalen Lage derStäbe, α = 90o, ungespannt. Die Gleichgewichtslage kann mit dem Prinzip der virtuellenArbeit nun leicht ermittelt werden. Die virtuellen Verschiebungen lauten
δrrr1 =
⎡⎣ 0
L cos αL sin α
⎤⎦ δα, δrrr2 =
⎡⎣ 0
2L cos α0
⎤⎦ δα. (4.21)
Die Gewichtskräfte (Erdbeschleunigung g) und die Federkraft sind die einzigen eingepräg-ten Kräfte
fff e1 =
⎡⎣ 0
0−mg
⎤⎦ , fff e
2 =
⎡⎣ 0
2cL(1− sin α)−mg
⎤⎦ . (4.22)
Das Prinzip der virtuellen Arbeit liefert unmittelbar die Gleichgewichtsbedingung
δW e = (−mgL sin α +4cL2(1− sin α) cos α)δα = 0 (4.23)
oder −mgL sin α + 4cL2(1− sin α) cos α = 0. Für mg = 4cL erhält man die Zahlenwerteα1 = 27.97o und α2 =−117.97o.
Das Prinzip der virtuellen Arbeit gilt nicht nur für Punktsysteme, sondern ganz allgemein füralle statischen mechanischen Systeme. Die Beziehung (4.20) für die Berechnung der Arbeit der
4.2 Prinzipe von d’Alembert, Jourdain und Gauß 89
m
m
P1
P2 cLL
e2
e3
e1
Bild 4.5: Vorrichtung mit Federentlastung
eingeprägten Kräfte muss dann jedoch erweitert werden. Das dazu notwendige Vorgehen wirdim nächsten Abschnitt am Beispiel des d’Alembertschen Prinzips gezeigt, das einer Erweiterungdes Prinzips der virtuellen Arbeit auf kinetische mechanische Systeme entspricht.
4.2 Prinzipe von d’Alembert, Jourdain und Gauß
In diesem Abschnitt werden die Prinzipe zunächst für Punktsysteme angegeben und dann aufMehrkörpersysteme und Kontinua erweitert. Aus den Newtonschen Gleichungen (3.4) folgt mit(3.5) unter Beachtung von (4.2) das d’Alembertsche Prinzip in der Lagrangeschen Fassung
p
∑i=1
(miaaai − fff ei ) ·δrrri = 0. (4.24)
Bemerkenswert, obwohl häufig übersehen, ist die Tatsache, dass im d’Alembertschen Prinzipdie eingeprägten und nicht die äußeren Kräfte erscheinen. Das d’Alembertsche Prinzip erlaubtdeshalb - entsprechend dem Prinzip der virtuellen Arbeit - die Aufstellung von Bewegungsglei-chungen ohne direkte Berücksichtigung der Reaktionskräfte. Es gibt jedoch Systeme, in denendie eingeprägten Kräfte von den Reaktionskräften abhängen, z. B. im Fall von Reibungskräften.Dann haben die Reaktionskräfte einen indirekten Einfluss auf die Bewegung, der zwar die Lö-sung, nicht aber die Aufstellung der Bewegungsgleichungen beeinträchtigt.
Das d’Alembertsche Prinzip gilt für alle holonomen Systeme. Dies wird durch die in (4.24)auftretenden virtuellen Bewegungen (2.188) noch einmal verdeutlicht. Darüber hinaus kann manzeigen, dass das d’Alembertsche Prinzip auch für lineare nichtholonome Systeme gilt. Es ist je-doch einfacher und übersichtlicher bei nichtholonomen Systemen mit dem Jourdainschen Prinzipzu arbeiten,
p
∑i=1
(miaaai − fff ei ) ·δ ′vvvi = 0. (4.25)
Das Jourdainsche Prinzip (4.25) sagt aus, dass die virtuelle Leistung der Reaktionskräfte ver-schwindet
δPr =p
∑i=1
fff ri ·δ ′vvvi = 0. (4.26)
90 4 Prinzipe der Mechanik
Das Jourdainsche Prinzip ist also eng verwandt mit dem d’Alembertschen Prinzip (4.24). An dieStelle der virtuellen Bewegungen treten im Jourdainschen Prinzip die virtuellen Geschwindig-keitsvariationen (2.231). Die impliziten holonomen Bindungen (2.175) werden durch die impli-ziten nichtholonomen Bindungen (2.219) ergänzt, die entsprechend (4.10) zur Berechnung dernichtholonomen Reaktionskräfte herangezogen werden können.
Darüber hinaus kann man auch noch virtuelle Beschleunigungen einführen
δ ′′rrr = δ ′′vvv = 000, δ ′′t = 0, δ ′′aaa �= 000. (4.27)
Damit lässt sich das Gaußsche Prinzip anschreiben
p
∑i=1
(miaaai − fff ei ) ·δ ′′aaai = 0. (4.28)
Eine anschauliche Erklärung des Gaußschen Prinzips besagt, dass der Zwang minimiert wird,der durch die gemittelten Beschleunigungsabweichungen definiert ist. Das Gaußsche Prinzip hatbisher keine größere technische Bedeutung erlangt.
Das d’Alembertsche Prinzip für Mehrkörpersysteme folgt aus den Newton-Eulerschen Glei-chungen (3.35) unter der Berücksichtigung von (3.37) und (4.9) in der Form
p
∑i=1
[(miaaai − fff ei ) ·δrrri +(IIIi ·ααα i +ωωω i ·IIIi ·ωωω i − llle
i ) ·δsssi] = 0. (4.29)
Neben den virtuellen Verschiebungen δrrri müssen bei Mehrkörpersystemen auch die virtuellenDrehungen δsssi berücksichtigt werden, die nach (2.201) zusammen die virtuelle Bewegung erge-ben. In ganz entsprechender Weise kann das Jourdainsche Prinzip (4.25) für Mehrkörpersystemeangeschrieben werden. Dann kommen die virtuellen Geschwindigkeitsänderungen und die virtu-ellen Drehgeschwindigkeitsänderungen (2.232) zum Tragen. Dies ist besonders bei Kontakt- undbei Stoßproblemen von Vorteil.
In einem Kontinuum sind die Trägheits- und Volumenkräfte eingeprägte Kräfte, die Spannun-gen können in eingeprägte Spannungen TTT e und in Reaktionsspannungen TTT r aufgeteilt werden.Damit folgt aus den Cauchyschen Bewegungsgleichungen (3.64) nach Multiplikation mit dervirtuellen Verschiebung und Integration über das Volumen V des betrachteten Körpers K dasd’Alembertsche Prinzip∫
V
(ρaaa−ρ fff −divTTT e) ·δrrrdV = 0, (4.30)
wobei die Reaktionsspannungen gemäß (4.6) herausfallen. Führt man eine (4.7) entsprechendeUmformung durch, so findet man das d’Alembertsche Prinzip in der Form∫
V
[(ρaaa−ρ fff ) ·δrrr+σσσ e ·δeee]dV −∫A
ttte ·δrrrdA = 0. (4.31)
4.3 Prinzip der minimalen potentiellen Energie 91
Eine dritte Form erinnert schließlich noch an das Prinzip der virtuellen Arbeit∫V
ρaaa ·δrrr−δW e = 0, (4.32)
wobei die in (4.30) und (4.31) auftretende virtuelle Arbeit der eingeprägten Kräfte im Term δW e
zusammengefasst ist.Zwischen den Darstellungen (4.30) und (4.31) besteht ein für die Dynamik wichtiger Unter-
schied. Dies wird deutlich, wenn der Spannungsvektor σσσ durch das Hookesche Gesetz (3.68)und der Verzerrungsvektor eee nach (2.143) durch den Verschiebungsvektor www ausgedrückt werden∫
V
(ρaaa−ρ fff −V T ·HHH ·V ·www) ·δrrrdV = 0, (4.33)
∫V
(ρaaa−ρ fff ) ·δrrr+(V ·www) ·HHH ·δ (V ·www)dV −∫A
(NNNT ·HHH ·V ·www) ·δrrrdA = 0. (4.34)
In (4.33) wird die Differentialoperatorenmatrix V der Verzerrung zweimal, in (4.34) dagegennur einmal auf den Verschiebungsvektor www angewandt. Dies hat zur Folge, dass Lösungsansätzefür den Ortsvektor rrr bzw. den Verschiebungsvektor www in (4.33) die geometrischen und die dyna-mischen Randbedingungen erfüllen müssen, während in (4.34) nur die oft einfacheren geometri-schen Randbedingungen zu berücksichtigen sind. Die dynamischen, auf die Kräfte zurückgehen-den Randbedingungen sind in (4.34) im Oberflächenintegral enthalten und damit automatischerfüllt. Für einfache Näherungsansätze, wie sie bei der Methode der finiten Elemente Verwen-dung finden, wird deshalb stets (4.34) eingesetzt. Bei kontinuierlichen Systemen kommt dagegen(4.33) zum Tragen.
Zur übersichtlicheren Darstellung wurde in (4.34) die 6×3-Matrix
NNN =
⎡⎣ n1 0 0 n2 0 n3
0 n2 0 n1 n3 00 0 n3 0 n2 n1
⎤⎦ (4.35)
zum 3×1-Normalenvektor der Oberfläche
nnn =[
n1 n2 n3]
(4.36)
eingeführt. Die Bauform von (4.35) entspricht genau dem Aufbau von (2.142).
4.3 Prinzip der minimalen potentiellen Energie
In konservativen Systemen sind die eingeprägten Kräfte durch Potentiale gekennzeichnet. Die ge-samte potentielle Energie U eines mechanischen Systems ist durch das Potential Ua der äußerenKräfte und das Potential Ui der inneren Kräfte gegeben
U =Ua +Ui. (4.37)
92 4 Prinzipe der Mechanik
Bei einem konservativen Kontinuum, das z. B. dem linearelastischen Hookeschen Stoffgesetzgehorcht, entspricht das Potential der inneren Kräfte der Formänderungsenergie
Ui =12
∫V
σσσ ·eeedV. (4.38)
Variiert man nun die potentielle Energie bezüglich der virtuellen Verschiebungen, so erhält manmit (4.20)
δU =p
∑i=1
∂U∂rrri
·δrrri =−p
∑i=1
fff ei ·δrrri =−δW e = 0. (4.39)
Ein konservatives mechanisches System befindet sich also in einer Gleichgewichtslage, wennsein Gesamtpotential in dieser Lage stationär ist. Darüber hinaus kann man zeigen, dass dieseGleichgewichtslage genau dann stabil ist, wenn
U != min → δU = 0, δ 2U > 0 → δW e = 0, δ 2We < 0 (4.40)
gilt. Setzt man nun ein linearelastisches mechanisches System voraus, z. B. einen HookeschenKörper, so ist das Gesamtpotential eine positiv definite quadratische Form. Es existiert dannnur eine stabile Gleichgewichtslage mit minimaler potentieller Energie. Damit ist ein wichtigerAnwendungsbereich des Prinzips der minimalen potentiellen Energie abgesteckt: konservative,linearelastische, statische Systeme.
Gegenüber dem Prinzip der virtuellen Arbeit bringt das Prinzip der minimalen potentiellenEnergie keine Vorteile. Im Gegenteil, die quadratische Form eines linearelastischen Potentialsmuss durch Differentiation in lineare Federkräfte überführt werden, eine unnötig aufwendigeOperation.
Beispiel 4.2: Vorrichtung
Die eingeprägten, auf die Vorrichtung nach Bild 4.5 wirkenden äußeren Kräfte (Erdbe-schleunigung g, Federkonstante c) haben das Potential
U = mgr13 +mgr23 +12
c(2L− r22)2. (4.41)
Die Ortsvektoren der materiellen Punkte lauten
rrr1 =
⎡⎣ 0
L sin α−L cos α
⎤⎦ , rrr2 =
⎡⎣ 0
2L sin α0
⎤⎦ . (4.42)
Eingesetzt in (4.41) bleibt
U =−mgL cos α +2cL2(1− sin α)2. (4.43)
Die erste Variation δU bezüglich der verallgemeinerten Koordinaten α ergibt die negativevirtuelle Arbeit, vergleiche (4.23). Da in diesem Fall kein linearelastisches mechanisches
4.4 Hamiltonsches Prinzip 93
System vorliegt, soll noch die Stabilität der Gleichgewichtslagen mit (4.40) untersucht wer-den. Die zweite Variation δ 2U liefert weiter δ 2U(α1)> 0, δ 2U(α2)< 0, d. h. es gibt einestabile und eine instabile Gleichgewichtslage.
4.4 Hamiltonsches Prinzip
Das Hamiltonsche Prinzip, siehe Taylor [64], stellt die Erweiterung des Prinzips der minimalenpotentiellen Energie auf konservative, kinetische Systeme dar, wobei allerdings die Vorausset-zung des linearelastischen Materialverhaltens im Allgemeinen nicht herangezogen wird.
Für ein konservatives System kann (4.32) auch als∫V
ρaaa ·δrrrdV +δU = 0 (4.44)
geschrieben werden. Integriert man nun (4.44) mit den festen Grenzen t0 und t1, so bleibt zu-nächst
t1∫t0
∫V
ρaaa ·δrrrdV dt +
t1∫t0
δUdt = 0. (4.45)
Andererseits gilt für die Variation der kinetischen Energie
δT =∫V
ρrrr ·δ rrrdV =∫V
∂∂ t
(ρrrr ·δrrr)dV −∫V
ρaaa ·δrrrdV (4.46)
und die Integration liefert
t1∫t0
δT =∫V
(ρrrr ·δrrr)dV
∣∣∣∣∣∣t1
t0
−t1∫
t0
∫V
ρaaa ·δrrrdV dt. (4.47)
Verlangt man nun neben (2.186) von den virtuellen Verschiebungen noch
δrrr(t0) = 000, δrrr(t1) = 000, (4.48)
so folgt aus (4.45) und (4.47)
δt1∫
t0
(T −U)dt = δt1∫
t0
Ldt = 0. (4.49)
Damit ist das Hamiltonsche Prinzip, ein Extremalprinzip, gefunden, wobei
L = T −U (4.50)
94 4 Prinzipe der Mechanik
die bekannte Lagrange-Funktion ist. Das Hamiltonsche Prinzip besagt, dass die als Wirkungbezeichnete Größe
∫Ldt einen stationären Wert annimmt
ddt
t1∫t0
Ldt = 0. (4.51)
Diese Erkenntnis mag von naturphilosophischer Bedeutung sein, für die Technische Dynamikliefert (4.51) aber keine anderen Ergebnisse als das d’Alembertsche Prinzip (4.32). DetailierteAusführungen zum Hamiltonschen Prinzip sind in Taylor [64] oder Bremer [11] zu finden.
4.5 Lagrangesche Gleichungen erster Art
Zur Herleitung der Lagrangeschen Gleichungen erster Art für ein holonomes Punktsystem kannman zunächst das d’Alembertsche Prinzip (4.24) mit (4.2) in der Form
p
∑i=1
(miaaai − fff ei − fff r
i ) ·δrrri = 0. (4.52)
schreiben. Da die virtuellen Verschiebungen δrrri infolge der q Bindungen voneinander abhän-gig sind, können nur f = 3p − q Variationen δrrri frei gewählt werden und die zugehörigenKlammerausdrücke müssen jeweils für sich verschwinden. Die restlichen Klammerausdrückeverschwinden durch geeignete Wahl der verallgemeinerten Zwangskräfte, die hier als Lagrange-Multiplikatoren wirken. Damit erhält man die Lagrangeschen Gleichungen erster Art in der Form
miaaai(xxx, xxx, xxx) = fff ei (xxx, xxx, t)+FFFi(xxx, t) ·ggg(t), i = 1(1)p, (4.53)
wenn man den 3p×1-Lagevektor xxx(t) und den g×1-Vektor ggg(t) der verallgemeinerten Zwangs-kräfte einführt. Man erkennt, dass die 3p Gleichungen (4.53) nicht ausreichen, um die 3p+ qUnbekannten zu bestimmen. Man muss deshalb (4.53) noch durch die q algebraischen Gleichun-gen φφφ(xxx, t) = 000 nach (2.175) ergänzen. Somit stellen die Lagrangeschen Gleichungen erster Artein stark gekoppeltes, nichtlineares System von algebraischen Gleichungen und Differentialglei-chungen dar, das zudem noch eine erhöhte Ordnung hat. Dies bedeutet, dass die LagrangeschenGleichungen erster Art numerisch aufwendig zu lösen sind.
Die Zahl der Gleichungen kann nach Differentiation von (2.175) formal reduziert werden
φφφ(xxx, t) = 000, (4.54)∂φφφ∂xxx
· xxx+ dφφφdt
= 000, (4.55)
∂φφφ∂xxx
· xxx+ ddt
∂φφφ∂xxx
· xxx+ d2φφφdt2 = 000. (4.56)
Löst man (4.53) nach xxx(t) auf, was stets möglich ist, und setzt in (4.56) ein, so folgt eine Bestim-
4.6 Lagrangesche Gleichungen zweiter Art 95
mungsgleichung für die verallgemeinerten Zwangskräfte von der Form
ggg = ggg(xxx, xxx, t). (4.57)
Damit verbleibt von den gekoppelten Gleichungen (4.53), (4.54) nur das System
miaaai(xxx, xxx, xxx) = fff ei (xxx, xxx, t)+FFFi(xxx, t) ·ggg(xxx, xxx, t) (4.58)
für die 3p Unbekannten xxx(t). Da jedoch der Lagevektor xxx(t) wegen der Bindungen weiterhinvoneinander abhängige Koordinaten aufweist, müssen die Anfangsbedingungen xxx(t0), xxx(t0) aus(4.54) und (4.55) berechnet werden. Außerdem ist zu beachten, dass das System (4.58) infolgeder Differentiationen (4.55) und (4.56) zwei Nulleigenwerte aufweist und damit singulär ist. Die-se Singularitäten lassen sich nach einer Methode von Baumgarte, siehe z. B. Wittenburg [66],zwar aufheben, doch können dann systematische Fehler bei der numerischen Integration auftre-ten. Unabhängig davon müssen aber nach (4.58) immer noch q = 3p− f überzählige Differential-gleichungen gelöst werden. Die Lagrangeschen Gleichungen erster Art sind deshalb oft wenigerempfehlenswert.
4.6 Lagrangesche Gleichungen zweiter Art
Lagrangesche Gleichungen zweiter Art eines holonomen konservativen Punktsystems könnenebenfalls aus dem d’Alembertschen Prinzip gewonnen werden. Nach einer Zwischenrechnung,die z. B. von Magnus und Müller-Slany [37] angegeben wird, findet man die Zusammenhänge
p
∑i=1
miaaai ·δrrri =
(ddt
∂T∂ yyy
− ∂T∂yyy
)·δyyy, (4.59)
p
∑i=1
fff ei ·δrrri =−∂U
∂yyy·δyyy, (4.60)
woraus mit (4.24) und (4.50) wegen der Unabhängigkeit der virtuellen Bewegung δyyy aufgrundder verallgemeinerten Koordinaten unmittelbar die Lagrangeschen Gleichungen zweiter Art fol-gen
ddt
∂L∂ yyy
− ∂L∂yyy
= 000. (4.61)
Man erhält aber (4.61) auch aus (4.51), da die Lagrangeschen Gleichungen auch nichts anderesals die Euler-Lagrangesche Gleichung der Variationsaufgabe (4.51) darstellen. Damit gelten dieLagrangeschen Gleichungen nicht nur für Punktsysteme, sondern für alle Arten von holonomenmechanischen Systemen.
Trotz ihrer weiten Verbreitung sind die Lagrangeschen Gleichungen zweiter Art für die prak-tische Aufstellung von Bewegungsgleichungen oft zu umständlich. Dies erkennt man bereits am
96 4 Prinzipe der Mechanik
Beispiel eines skleronomen Punktsystems. In diesem Fall lautet die kinetische Energie
T =12
p
∑i=1
vvvi ·mivvvi =12
p
∑i=1
yyy(t) ·JJJTTi(yyy)mi ·JJJTi(yyy) · yyy(t)
=12
yyy(t) ·JJJT(yyy) ·MMM ·JJJ(yyy) · yyy(t), (4.62)
wobei die Geschwindigkeiten nach (2.184) und die globale Jacobi- und Massenmatrix, gemäß(5.21) und (5.20) berücksichtigt werden. Nun gilt für die partiellen Ableitungen der kinetischenEnergie
∂T∂ yyy
= JJJT ·MMM ·JJJ · yyy, ∂T∂yyy
=∂ (JJJ · yyy)
∂yyy·MMM ·JJJ · yyy. (4.63)
Zunächst entfällt also der Faktor 12 , da (4.62) eine quadratische Form bezüglich yyy(t) und JJJ(yyy) ist.
Die totale Ableitung von (4.63) nach der Zeit ergibt darüber hinaus
ddt
∂T∂ yyy
= JJJT ·MMM ·JJJ · yyy+JJJT ·MMM · ∂ (MMM ·JJJ · yyy)∂yyy
· yyy+ ∂ (JJJ · yyy)∂yyy
·MMM ·JJJ · yyy. (4.64)
Setzt man nun (4.64) und (4.63) unter Berücksichtigung von (4.50) in (4.61) ein, so fällt derdritte Term auf der rechten Seite von (4.64) wieder heraus. Dies bedeutet, dass die direkte Aus-wertung der Lagrangeschen Gleichungen zweiter Art in ihrer ursprünglichen Form (4.61) aufeinen unnötigen Rechenaufwand führt. Bei der Aufstellung der Bewegungsgleichungen nachdem d’Alembertschen Prinzip kommt man dagegen unmittelbar ans Ziel. Deshalb wird in dennächsten Kapiteln nur noch das d’Alembertsche bzw. das Jourdainsche Prinzip herangezogen.Diesen beiden Prinzipien liegt aber letztlich die Aufteilung des Raumes, der von den Koor-dinaten eines freigeschnittenen mechanischen Systems aufgespannt wird, in zwei orthogonaleUnterräume für die freien bzw. gesperrten Bewegungsrichtungen zugrunde. Diese orthogonalenUnterräume sind unter der Voraussetzung idealer Kräfte, wie sie z. B. in gewöhnlichen Mehrkör-persystemen auftreten, voneinander unabhängig, was auf ungekoppelte Bewegungs- und Reakti-onsgleichungen führt.
5 Mehrkörpersysteme
Ein Mehrkörpersystem besteht aus starren Körpern zwischen denen innere Kräfte und Momen-te wirken, die auf masselose Bindungs- und Koppelelemente zurückgehen. Daneben könnennoch beliebige äußere Kräfte und Momente am System angreifen. Ein Massenpunktsystem istein Sonderfall eines Mehrkörpersystems. So kann man z. B. ein Mehrkörpersystem als Punkt-system darstellen, wenn alle Drehgeschwindigkeiten sowie alle inneren und äußeren Momentebezüglich der Massenmittelpunkte verschwinden. Im Vergleich zum freien Mehrkörpersystemverfügt ein freies Punktsystem wegen der wegfallenden Rotationen nur über die halbe Zahl vonFreiheitsgraden. Bei einem ebenen Mehrkörpersystem entfallen eine Verschiebungs- und zweiWinkelkoordinaten, sowie eine Kraft- und zwei Momentenkoordinaten. Darüber hinaus müssensich alle Teilkörper in parallelen Hauptträgheitsebenen bewegen. Im Vergleich zum freien räum-lichen Mehrkörpersystem vermindert sich beim freien ebenen Mehrkörpersystem die Zahl derFreiheitsgrade auf die Hälfte. Ähnliche Vereinfachungen ergeben sich bei Kreiselsystemen oderebenen Punktsystemen. Um die Vielfalt der Varianten einzuschränken, wird nur das räumlicheMehrkörpersystem behandelt. Die Vereinfachungen in den genannten Sonderfällen, die auf einreines Streichen von verschwindenden Gleichungen hinauslaufen, bleiben dem Leser überlassen,sie werden jedoch zum Teil in den Beispielen benutzt.
Ausgehend von den lokalen Bewegungsgleichungen eines freien starren Körpers werden dieglobalen Newton-Eulerschen Gleichungen formuliert. Daraus lassen sich die Bewegungsglei-chungen für ideale Systeme ohne Reibungs- und Kontaktkräfte gewinnen, die für gewöhnlicheund allgemeine Mehrkörpersysteme eine unterschiedliche Form aufweisen. Weiterhin folgen ausden Newton-Eulerschen Gleichungen die Reaktionsgleichungen, die sich für ideale Systeme un-abhängig von den Bewegungsgleichungen lösen lassen. Mit den Reaktionskräften werden auchFragen der Festigkeitsberechnung und des Massenausgleiches angesprochen. In nichtidealen Sys-temen mit Reibung findet man eine Koppelung der Bewegungs- und Reaktionsgleichungen, dieeine gemeinsame Lösung beider Gleichungssysteme erfordert. Einige Bemerkungen über dieheute verfügbaren Formalismen zur Aufstellung von Bewegungsgleichungen schließen diesesKapitel ab.
5.1 Lokale Bewegungsgleichungen
Die lokalen Bewegungsgleichungen eines Mehrkörpersystems gelten für freie Teilkörper. Oh-ne Einschränkung der Allgemeinheit kann deshalb ein Teilkörper K herausgegriffen werden,Bild 5.1. Mit dem 6× 1-Lagevektor xxx(t) entsprechend (2.81) kann man dann die Newtonschenund Eulerschen Gleichungen, (3.22) und (3.30), mit (2.120) und (2.121) zusammenfassen
MMM(xxx) ·HHH(xxx) · xxx(t)+qqqc(xxx, xxx) = qqqe(t). (5.1)
Dabei ist MMM = dddiiiaaaggg{mEEE III} eine symmetrische 6× 6-Blockdiagonalmatrix, HHH = [HHHTT HHHT
R ]T
eine 6×6-Funktionalmatrix und qqqc ein 6×1-Vektor der Coriolis- und Zentrifugalkräfte bzw. der
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014 W. Schiehlen, P. Eberhard, Technische Dynamik, DOI 10.1007/978-3-658-06185-2_5
98 5 Mehrkörpersysteme
e2
e3
O
r2
K
C
r (t)
r3l2
f2
e1
f1
l1
f3
f = 3fj
l = 3 ( ~rj fj + lj)
j=1
j=1
r1
Bild 5.1: Kräfte am freien Teilkörper K
Kreiselmomente. Der 6× 1-Vektor qqqe = [ fff lll], der auch als Kraftwinder bezeichnet wird, ent-hält weiterhin alle äußeren oder eingeprägten, auf den freien Körper K einwirkenden Kräfte fffund Momente lll, während Reaktionskräfte und -momente definitionsgemäß nicht auftreten. DieMassenmatrix (MMM ·HHH) ist in (5.1) durch die Einführung der verallgemeinerten Koordinaten xxx(t)unsymmetrisch geworden. Sie lässt sich aber durch Linksmultiplikation mit HHHT wieder symme-trisieren. Dann erhält man die lokalen Bewegungsgleichungen
MMM(xxx) · xxx(t)+kkk(xxx, xxx) = qqq(t) (5.2)
mit der symmetrischen 6×6-Massenmatrix MMM und den 6×1-Vektoren kkk und qqq der verallgemei-nerten Kreiselkräfte und der verallgemeinerten eingeprägten Kräfte. Die lokalen Bewegungsglei-chungen eines starren Körpers haben nur eine geringe praktische Bedeutung, da sie für sich al-leine nicht gelöst werden können, da die verallgemeinerten eingeprägten Kräfte im Allgemeinenvon der Lage und der Geschwindigkeit der restlichen Körper des Systems abhängen. Die lokalenBewegungsgleichungen erleichtern jedoch das Verständnis der globalen Bewegungsgleichungendes Gesamtsystems.
Die Newtonschen und Eulerschen Gleichungen sind in (5.1) auf das Inertialsystem bezogenworden. Man kann sie aber auch für das bewegte aber nicht notwendigerweise körperfeste Refe-renzsystem R angeben. Aus (3.58), (3.59) folgt dann
RMMM(xxx) · RHHH(xxx1) · xxx(t)+ Rqqqc(xxx, xxx) = Rqqqe(t) (5.3)
mit den Transformationsbeziehungen
MMM = SSSR · RMMM ·SSSTR , (5.4)
und
HHH = SSSR · RHHH, qqqc = SSSR · Rqqqc, qqqe = SSSR · Rqqqe. (5.5)
Diese Transformationen entsprechen formal (2.248), jedoch stellt im vorliegenden Fall die Trans-
5.1 Lokale Bewegungsgleichungen 99
formationsmatrix SSSR eine 6×6-Blockdiagonalmatrix dar,
SSSR = diagdiagdiag{SSSR SSSR}. (5.6)
Dies bedeutet, dass die Newtonsche und die Eulersche Gleichung von der Wahl des Referenz-systems abhängen. Im Gegensatz dazu sind die Bewegungsgleichungen (5.2) invariant gegenTransformationen des Koordinatensystems. Der Beweis der Invarianz der Bewegungsgleichun-gen ist dadurch zu führen, dass man (5.3) von links mit RHHHT multipliziert und dann die inversenTransformationen (5.4) und (5.5) einsetzt. Trotz der Invarianz des Ergebnisses kann das Rech-nen bezüglich eines bewegten Referenzsystems vorteilhaft sein, da die Rechenschritte bei derAufstellung von Bewegungsgleichungen in bewegten Referenzsystemen häufig einfacher sind.
Beispiel 5.1: Ebene Punktbewegung
Ein freier materieller Punkt P soll durch eine eingeprägte Kraft f (t) angetrieben werden, diesenkrecht zum Abstandsvektor zwischen Koordinatenursprung O und dem Punkt P wirkt,Bild 5.2. Die Bewegungsgleichungen werden in den Koordinaten des Inertialsystems I unddes bewegten Referenzsystems R aufgestellt. Als verallgemeinerte Koordinaten dienen diePolarkoordinaten
xxx(t) =[
r ϕ]. (5.7)
O e1
P eR1eR2
rR (t)e2 f (t)
Bild 5.2: Ebene Punktbewegung mit Referenzsystem
Die Newtonschen Gleichungen (5.2) lauten im Inertialsystem[m 00 m
]·[
cos ϕ −r sin ϕsin ϕ r cos ϕ
]·[
rϕ
]
+m[ −2rϕ sin ϕ − rϕ2 cos ϕ
+2rϕ cos ϕ − rϕ2 sin ϕ
]=
[ − sin ϕcos ϕ
]f (t). (5.8)
Durch Linksmultiplikation von (5.8) mit HHHTT findet man die Bewegungsgleichungen[
m 00 mr2
]·[
rϕ
]+
[ −mrϕ2
2mrrϕ
]=
[0
r f (t)
]. (5.9)
100 5 Mehrkörpersysteme
Das Referenzsystem ist gegeben durch
RrrrR(xxx) =[
r0
], SSSR(xxx) =
[cos ϕ − sin ϕsin ϕ cos ϕ
](5.10)
und für den relativen Lagevektor gilt
rrrR = 000. (5.11)
Damit findet man unter Berücksichtigung von (2.257) die Newtonschen Gleichungen imReferenzsystem[
m 00 m
]·[
1 00 r
]·[
rϕ
]+
[ −mrϕ2
2mrϕ
]=
[0
f (t)
]. (5.12)
Man erkennt die viel einfachere Bauform der Newtonschen Gleichung (5.12) im Vergleichzu (5.8). Durch Linksmultiplikation mit RHHHT
T erhält man aus (5.12) ebenfalls die Bewe-gungsgleichungen (5.9) in unveränderter Form.
Dieses Beispiel bestätigt die Erkenntnis, dass bewegte Referenzsysteme die Rechenschrit-te bei der Aufstellung von Bewegungsgleichungen erleichtern können, ohne das Ergebnisselbst zu beeinflussen.
Die Massenmatrix MMM der lokalen Bewegungsgleichungen (5.2) kann bei geeigneter Wahl derverallgemeinerten Koordinaten Blockdiagonalgestalt annehmen. Dies ist im Besonderen der Fall,wenn die Koordinaten des 3×1-Ortsvektors rrr zum Massenmittelpunkt C bezüglich des Inertial-systems verwendet werden. Mit dem 6×1-Lagevektor
xxx(t) =[
r1 r2 r3 α β γ]
(5.13)
erhält man die 6×6-Massenmatrix
MMM =
⎡⎣ mEEE | 000
−−−− | −−−−−−−000 | HHHT
R ·III ·HHHR
⎤⎦ (5.14)
wobei die 3× 3-Jacobi-Matrix der Kardan-Winkel durch (2.100) gegeben ist. Verwendet mandagegen die Koordinaten des 3×1-Ortsvektors rrrK = rrrC +rrrCK zu einem Knotenpunkt als verall-gemeinerte Koordinaten, so lautet der 6×1-Lagevektor
xxx′(t) =[
r1K r2K r3K α β γ]
(5.15)
und die zugehörige 6×6-Massenmatrix
MMM′ =
⎡⎣ mEEE | mrrrCK ·HHHR
−−−−−− | −−−−−−−−HHHT
R · rrrTCKm | HHHT
R ·III′ ·HHHR
⎤⎦ (5.16)
ist voll besetzt. Bei der Berechnung der Massenmatrix (5.16) ist zu beachten, dass im körper-
5.2 Newton-Eulersche Gleichungen 101
festen Koordinatensystem rrrCK = const. gilt. Die Massenmatrix (5.14) verdeutlicht die Tatsache,dass die Rotation und die Translation eines freien starren Körpers K unter der Voraussetzungentsprechender äußerer Kräfte und Momente bezüglich des Massenmittelpunktes C entkoppeltsind. Für einen beliebigen bewegten Bezugspunkt, z. B. für einen Knotenpunkt, ist dies nicht derFall, wie (5.16) unmittelbar zeigt.
5.2 Newton-Eulersche Gleichungen
Schreibt man nun für jeden Teilkörper Ki, i = 1(1)p, eines Mehrkörpersystems die Newtonschenund Eulerschen Gleichungen an, so erhält man die globalen Systemgleichungen, auch Newton-Eulersche Gleichungen genannt. Man muss jetzt jedoch die Art der Bindungen nach Kapitel 2unterscheiden.
Für freie Systeme mit dem e×1-Lagevektor xxx(t) lauten die Newton-Eulerschen Gleichungen
MMM(xxx) ·HHH(xxx) · xxx(t)+qqqc(xxx, xxx) = qqqe(t). (5.17)
In holonomen Systemen treten zusätzlich Reaktionskräfte auf, welche nach (3.41) durch denq×1-Vektor ggg(t) der verallgemeinerten Zwangskräfte ausgedrückt werden können. Damit folgenaus (3.35) mit dem f ×1-Lagevektor yyy(t) die Newton-Eulerschen Gleichungen in der Form
MMM(yyy, t) ·JJJ(yyy, t) · yyy(t)+qqqc(yyy, yyy, t) = qqqe(t)+QQQ ·ggg(t). (5.18)
Weitere Bindungen kommen in nichtholonomen Systemen dazu, so dass der (q+ r)× 1-Vektorggg(t) der verallgemeinerten Zwangskräfte benötigt wird. Mit dem g×1-Geschwindigkeitsvektorzzz(t) lassen sich dann die Newton-Eulerschen Gleichungen in der Form
MMM(yyy, t) ·LLL(yyy, zzz, t) · zzz(t)+qqqc(yyy, zzz, t) = qqqe(t)+QQQ ·ggg(t) (5.19)
schreiben. Dabei tritt jeweils die e× e-Blockdiagonalmatrix
MMM = diagdiagdiag{m1EEE m2EEE ... mpEEE III1 ... III p} (5.20)
auf, welche die Massen und Trägheitstensoren enthält. Die globalen Funktional- oder Jacobi-Ma-trizen HHH,JJJ,LLL schreibt man nach folgendem Schema an,
HHH =[
HHHTT 1 HHHT
T 2 ... HHHTT p HHHT
R1 ... HHHTRp]T
, (5.21)
die globale Verteilungsmatrix der Reaktionskräfte lautet
QQQ =[
FFFT1 FFFT
2 ... FFFTp LLLT
1 ... LLLTp]T (5.22)
und für die globalen e×1-Kraftvektoren qqqc und qqqe gilt jeweils
qqq =[
fff 1 fff 2 ... fff p lll1 ... lll p]. (5.23)
Die Newton-Eulerschen Gleichungen (5.17), (5.18) und (5.19) stellen jeweils 6p skalare Glei-
102 5 Mehrkörpersysteme
chungen dar. Damit können jeweils 6p Unbekannte bestimmt werden. Als Unbekannte tretenBewegungen und/oder Kräfte auf. In einem freien System sind die eingeprägten Kräfte vorge-geben, so dass sich alle Bewegungen bestimmen lassen, was man auch als direktes Problem be-zeichnet. Beim indirekten oder inversen Problem sind dagegen alle Bewegungen durch rheonomeBindungen festgelegt und es werden die Reaktionskräfte gesucht. Aber auch eine Kombinationder genannten Fälle kann auftreten, es liegt dann ein gemischtes Problem vor. Holonome undnichtholonome Systeme gehören zu den gemischten Problemen, wenn durch Bindungen einigeBewegungen vorgegeben sind. So können in einem holonomen System z. B. f Bewegungen be-rechnet werden, zusätzlich treten q Reaktionskräfte auf. Zusammen liegen also f +q Unbekanntevor. Das indirekte Problem kennzeichnet ein System mit f = 0 Freiheitsgraden und q Reaktions-kräften, das im Falle skleronomer Bindungen ein statisch bestimmtes Mehrkörpersystem dar-stellt. Sind dagegen q > 6p Reaktionskräfte unbekannt, so ist das System statisch unbestimmt. Instatisch unbestimmten Systemen können die Reaktionskräfte nicht eindeutig berechnet werden.Sie sind einer Berechnung erst zugänglich, wenn im erforderlichen Umfang die Reaktionskräftedurch eingeprägte Kräfte ersetzt werden, z. B. durch Einführung elastischer Elemente.
Die Lösung der Newton-Eulerschen Gleichungen (5.18) und (5.19) gebundener Systeme istnicht trivial. Infolge des gemischten Problems sind (5.18) und (5.19) keine reinen Differenti-algleichungssysteme mehr, sondern es liegen gekoppelte differential-algebraische Gleichungenvor. Diese können direkt mit aufwendigen numerischen Verfahren gelöst werden, siehe z. B. Eich-Soellner und Führer [18] oder Simeon [60]. Andererseits erlauben die Prinzipe der Mechanikaber eine weitgehende oder vollständige Entkopplung des gemischten Problems. Es verbleibendann die separat lösbaren Bewegungs- und Reaktionsgleichungen.
Zur direkten Lösung wird auf die verallgemeinerten Koordinaten vollständig verzichtet, wo-durch die Massenmatrix ihre Blockdiagonalgestalt behält
MMM · xxx(t)+qqqc(xxx, xxx) = qqqe(t)+QQQ ·ggg(t). (5.24)
Beachtet man nun weiterhin, dass die Verteilungsmatrix QQQ durch partielle Differentiation aus denimpliziten Zwangsbedingungen (2.175) bestimmt werden kann
QQQT=
∂φφφ∂xxx
= φφφ x, (5.25)
wie in Abschnitt 4.1 gezeigt wurde, und dass sich die verallgemeinerten Zwangskräfte als La-grange-Multiplikatoren interpretieren lassen, so folgt nach zweimaliger totaler Differentiationvon (2.175) entsprechend (4.55) mit (5.24)[
MMM −φφφ Tx
−φφφ x 000
]·[
xxxggg
]=
[qqqe −qqqc
φφφ tt + φφφ x · xxx]. (5.26)
Infolge der zweimaligen Differentiation der Zwangsbedingungen (2.175) hat das differential-algebraische Gleichungssystem (5.26) einen doppelten Nulleigenwert und ist damit numerischinstabil. Die Integrationsverfahren für differential-algebraische Gleichungen gewährleisten eineautomatische Stabilisierung des Systems (5.26). Für die verallgemeinerten Zwangskräfte findet
5.3 Bewegungsgleichungen idealer Systeme 103
man daraus die Beziehung
ggg = (φφφ x ·MMM−1 ·φφφ T
x )−1 ·[φφφ x ·MMM
−1 · (qqqc −qqqe)−φφφ tt − φφφ x · xxx]. (5.27)
Mit einer dritten totalen Differentiation von (5.27) lässt sich das differential-algebraische Glei-chungssystem in ein reines Differentialgleichungssystem überführen. Die Gesamtzahl der totalenDifferentiationen bezeichnet man auch als Index. Mehrkörpersysteme repräsentieren differential-algebraische Systeme mit dem Index 3. Die Anfangsbedingungen der Integration, xxx0, xxx0 und ggg0,müssen die Gleichungen (5.26) und (5.27), d. h. die Zwangsbedingungen und ihre Ableitungenerfüllen, was eine weitere Schwierigkeit bei der numerischen Lösung darstellt.
5.3 Bewegungsgleichungen idealer Systeme
Ein ideales System ist dadurch gekennzeichnet, dass die eingeprägten Kräfte nicht von denReaktionskräften abhängen. Dies ist z. B. der Fall, wenn alle Kontakt- und Reibungskräfte ver-schwinden. Zeigen alle eingeprägten Kräfte ein proportional-differentiales Verhalten und tretennur holonome Bindungen auf, so ist ein gewöhnliches Mehrkörpersystem gegeben. GewöhnlicheMehrkörpersysteme sind vom mathematischen Standpunkt aus dadurch charakterisiert, dass dieBewegungsgleichungen in eine reine Vektordifferentialgleichung zweiter Ordnung transformiertwerden können. Alle nicht gewöhnlichen Mehrkörpersysteme heißen allgemeine Mehrkörpersys-teme. Dazu gehören im Besonderen die nichtholonomen Systeme und Systeme mit proportional-integralen eingeprägten Kräften.
5.3.1 Gewöhnliche Mehrkörpersysteme
Die Bewegungsgleichungen eines freien Mehrkörpersystems mit ausschließlich proportional-differentialen Kräften erhält man aus (5.17) mit (3.11) durch Linksmultiplikation mit HHHT in derForm
MMM(xxx) · xxx(t)+kkk(xxx, xxx) = qqq(xxx, xxx, t). (5.28)
Dabei ist
MMM(xxx) =HHHT ·MMM ·HHH (5.29)
die symmetrische e×e-Massenmatrix, kkk(xxx, xxx) der e×1-Vektor der verallgemeinerten Kreiselkräf-te und qqq(xxx, xxx, t) der e×1-Vektor der verallgemeinerten eingeprägten Kräfte. Die verallgemeiner-ten Kreiselkräfte gehen also auf die Coriolis- und Zentrifugalkräfte sowie die Kreiselmomentein den Newton-Eulerschen Gleichungen zurück.
Die globalen Bewegungsgleichungen (5.28) eines freien Systems können aber auch durch dieZusammenfassung der lokalen Bewegungsgleichungen (5.2) gefunden werden. Verwendet manz. B. den globalen e×1-Lagevektor
xxx(t) =[
xxx1 xxx2 ... xxxp], (5.30)
104 5 Mehrkörpersysteme
der sich aus den lokalen 6 × 1-Lagevektoren xxxi(t), i = 1(1)p, aufbaut, so findet man für dieMassenmatrix und die Kraftvektoren der globalen Bewegungsgleichungen
MMM(xxx) = diagdiagdiag{MMM1 MMM2 ... MMMp}, (5.31)
kkk(xxx, xxx) =[
kkk1 kkk2 ... kkkp], (5.32)
qqq(xxx, xxx, t) =[
qqq1 qqq2 ... qqqp]. (5.33)
Der Beweis ist leicht zu führen. Mit (5.21) nimmt nämlich die globale e× e-Funktionalmatrixdie spezielle Form
HHH = diagdiagdiag{HHH1 HHH2 ... HHH p} (5.34)
an, wobei die lokalen 6×6-Funktionalmatrizen HHHi auftreten, siehe (5.1).
Im Gegensatz zu den lokalen Bewegungsgleichungen (5.2) stellen die globalen Bewegungs-gleichungen (5.28) ein vollständiges Differentialgleichungssystem dar, da nun die Lage und Ge-schwindigkeit aller Körper zur Verfügung stehen. Die globalen Bewegungsgleichungen könnenfür gegebene Anfangsbedingungen xxx(t0) = xxx0, xxx(t0) = xxx0 durch Integration gelöst werden.
Die Bewegungsgleichungen eines holonomen Mehrkörpersystems mit proportional-differen-tialen Kräften folgen aus (5.18) mit (3.11) unter Verwendung des d’Alembertschen Prinzips(4.29) in der Form
MMM(yyy, t) · yyy(t)+kkk(yyy, yyy, t) = qqq(yyy, yyy, t). (5.35)
Nach dem d’Alembertschen Prinzip entfallen die Reaktionskräfte entsprechend der Orthogonali-tätsbeziehung (4.16). Darüber hinaus ergibt sich eine Symmetrisierung der f × f -Massenmatrix
MMM(yyy, t) = JJJT ·MMM ·JJJ. (5.36)
Die Massenmatrizen (5.29) und (5.36) werden mit den gleichen Buchstaben gekennzeichnet, ob-wohl sie unterschiedliche Dimensionen und natürlich auch unterschiedliche Elemente aufweisen.Die Zuordnung ist aber im Zusammenhang mit den Bewegungsgleichungen völlig klar, so dassder besseren Lesbarkeit wegen auf eine Indizierung dieser Matrizen verzichtet wird. Dasselbegilt auch für die f ×1-Vektoren kkk und qqq der verallgemeinerten Kreiselkräfte und der verallgemei-nerten eingeprägten Kräfte.
Gehen die eingeprägten Kräfte auf linienflüchtige Koppelelemente zurück, die zwischen zweiPunkten P1 und P2 verschiedener starrer Körper wirken, so gilt nach Bild 5.3
fff 12 =− fff 21 =rrr12(yyy)√rrr12 ·rrr12
f (yyy, yyy, t). (5.37)
Dabei ist f der für das betrachtete Koppelelement typische skalare Kraftverlauf, also z. B.f =−c(r12 −L) für eine lineare Feder mit der Federkonstanten c, der ungespannten FederlängeL und der aktuellen Länge r12 =
√rrr12 ·rrr12. Nach dem d’Alembertschen Prinzip (4.24) kann man
5.3 Bewegungsgleichungen idealer Systeme 105
O r12 (y) = rP2 - rP1
rP2 (y)rP1 (y)
f(y, y, t)
f21f12
P2P1
Bild 5.3: Eingeprägte Kräfte eines linienflüchtige Koppelelementes
aber die verallgemeinerten eingeprägten Koppelkräfte auch direkt aus
qqq =∂ r12
∂yyyf (yyy, yyy, t) (5.38)
berechnen. Diese Beziehung ist nützlich, wenn sich der skalare Abstand r12(yyy) auf einfache Wei-se angeben lässt.
Die Bewegungsgleichungen (5.28) und (5.35) beschreiben gewöhnliche Mehrkörpersysteme,die durch Vektordifferentialgleichungen der Form
MMM(yyy, t) · yyy(t)+ fff (yyy, yyy, t) = 000 (5.39)
mit positiv definiter Massenmatrix MMM(yyy, t) definiert sind. Gewöhnliche Mehrkörpersysteme wer-den also durch holonome Bindungen und ideale, proportional-differentiale Kräfte gekennzeich-net.
Die Bewegungsgleichungen (5.35) können nicht nur aus den Newton-Eulerschen Gleichungen(5.18), sondern zusammen mit den Bindungsgleichungen nach (2.176) auch aus den Bewegungs-gleichungen (5.28) des freien Systems gewonnen werden. Mit
xxx = xxx(yyy, t), xxx = III(yyy, t) · yyy(t)+ ∂xxx∂ t
(5.40)
gelten die Beziehungen
MMMholonom(yyy, t) = IIIT ·MMMfrei(xxx, t) ·III, (5.41)
kkkholonom(yyy, yyy, t) = IIIT · [MMMfrei(xxx, t) · III · yyy+MMMfrei(xxx, t) · ∂ 2xxx∂ t2 +kkkfrei(xxx, xxx)], (5.42)
qqqholonom(yyy, yyy, t) = IIIT ·qqqfrei(xxx, xxx, t), (5.43)
wobei auf den rechten Seiten die Argumente durch (5.40) zu ersetzen sind. Die durch die Bindun-gen zusätzlich auftretenden Reaktionskräfte und -momente fallen bei der Operation (5.41) gemäß(4.17) wieder heraus. Werden also lediglich die Bewegungsgleichungen gesucht, so kann auf dieAddition von Reaktionskräften vollständig verzichtet werden, wie dies auch bei den Lagrange-schen Gleichungen zweiter Art der Fall ist. Entsprechende Beziehungen gelten auch, wenn einem
106 5 Mehrkörpersysteme
holonomen System zusätzliche holonome Bindungen auferlegt werden.
Beispiel 5.2: Körperpendel
Die Bewegungsgleichungen des Körperpendels sollen aus den Bewegungsgleichungen deszugehörigen Doppelpendels gewonnen werden, Bild 5.4.
e2
1
2
mgmg
e3
e2
e3
mg
mg
Doppelpendel Körperpendel
Bild 5.4: Übergang vom Doppelpendel zum Körperpendel
Die Newton-Eulerschen Gleichungen (5.18) des Doppelpendels lauten unter Berücksichti-gung des Lagevektors (2.180) und des Vektors (3.14) der verallgemeinerten Zwangskräfte
mL
⎡⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎣
0 0cos α1 0sin α1 0
0 0cos α1 cos α2sin α1 sin α2
⎤⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎦
︸ ︷︷ ︸MMM ·JJJ
·[
α1α2
]
︸ ︷︷ ︸yyy(t)
+mL
⎡⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎣
0−α2
1 sin α1−α2
1 cos α10
−α21 sin α1 − α2
2 sin α2α2
1 cos α1 + α22 cos α2
⎤⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎦
︸ ︷︷ ︸qqqc(yyy, yyy)
=
⎡⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎣
00
−mg00
−mg
⎤⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎦
︸ ︷︷ ︸qqqe(yyy)
+
⎡⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎣
1 0 0 00 − sin α1 0 sin α20 0 0 − cos α20 0 1 00 0 0 − sin α20 0 0 cos α2
⎤⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎦
︸ ︷︷ ︸QQQ(yyy)
·
⎡⎢⎢⎣
g1g2g3g4
⎤⎥⎥⎦
︸ ︷︷ ︸ggg(t)
. (5.44)
Nach dem d’Alembertschen Prinzip findet man dann für die Bewegungsgleichungen des
5.3 Bewegungsgleichungen idealer Systeme 107
Doppelpendels
mL2[
2 cos(α1 −α2)cos(α1 −α2) 1
]︸ ︷︷ ︸
MMM(yyy)
·[
α1α2
]︸ ︷︷ ︸
yyy(t)
(5.45)
+mL2[
α22 sin(α1 −α2)
−α21 sin(α1 −α2)
]︸ ︷︷ ︸
kkk(yyy, yyy)
=−mgL[
2 sin α1sin α2
]︸ ︷︷ ︸
qqq(yyy)
.
Nun wird die zusätzliche Bindung α1 −α2 = 0 eingeführt oder
yyy =[
11
]α, (5.46)
wodurch ein zusätzliches Reaktionsmoment entsteht, das aber nicht angeschrieben wird.Aus (5.46) folgt die 2×1-Funktionalmatrix
III =[
1 1]
(5.47)
und mit den Beziehungen (5.41) erhält man die skalare Bewegungsgleichung des Körper-pendels
5mL2α(t) =−3mgL sin α(t). (5.48)
Die entsprechende nichtlineare Schwingungsgleichung
α(t)+ν2 sin α(t) = 0, ν2 =35
gL, (5.49)
kann analytisch geschlossen gelöst werden, siehe z. B. Magnus und Müller-Slany [37].
Neben den allgemeinen nichtlinearen Bewegungsgleichungen (5.35) spielen die linearisiertenBewegungsgleichungen in der Praxis eine wichtige Rolle. Zunächst soll die Linearisierung derBewegungsgleichung bezüglich einer Soll-Bewegung vorgenommen werden. Dann werden eini-ge Hinweise zur Berechnung linearisierter Gleichungen gegeben.
Die Soll-Bewegung eines mechanischen Systems kann entweder im System selbst begründetsein oder sie ist durch die technische Aufgabe vorgegeben. Charakteristische Soll-Bewegungeneines Systems sind seine partikulären Lösungen
yyyS(t) = yyyp(t) (5.50)
mit
MMM(yyyp, t) · yyyp(t)+kkk(yyyp, yyyp, t) = qqq(yyyp, yyyp, t), (5.51)
zu denen im Besonderen auch die Nulllage oder weitere Gleichgewichtslagen gehören, und tech-nisch gegebene Bewegungen yyyS(t).
108 5 Mehrkörpersysteme
In der Umgebung der Soll-Bewegung soll das System noch eine kleine Nachbarbewegungausführen. Dann gilt, wie auch in (2.278) gezeigt,
yyy(t) = yyyS(t)+ηηη(t), ||ηηη(t)|| � a, (5.52)
wobei yyy(t) den f × 1-Lagevektor großer Bewegungen darstellt, yyyS(t) den f × 1-Vektor der Soll-Bewegung beschreibt und ηηη(t) nunmehr als f × 1-Lagevektor kleiner Bewegungen eingeführtwird. Dabei ist a eine problemspezifische Bezugsgröße. Analog sind auch die Geschwindigkeitenund Beschleunigungen linearisierbar, d. h.
yyy(t) = yyyS(t)+ ηηη(t), ||ηηη(t)|| � b, (5.53)yyy(t) = yyyS(t)+ ηηη(t), ||ηηη(t)|| � c. (5.54)
Setzt man nun (5.52) bis (5.54) in (5.35) ein, so liefert eine Taylorsche Reihenentwicklung, je-weils bis zum ersten Glied
MMM(yyy, t) =MMM0(t)+∂MMM∂yyy
·ηηη(t), (5.55)
kkk(yyy, yyy, t) = kkk0(t)+∂kkk∂yyy
·ηηη(t)+∂kkk∂ yyy
· ηηη(t), (5.56)
qqq(yyy, yyy, t) = qqq0(t)+∂qqq∂yyy
·ηηη(t)+∂qqq∂ yyy
· ηηη(t). (5.57)
Damit folgen aus (5.35) unter Vernachlässigung aller Glieder zweiter Ordnung in ηηη , ηηη , und ηηηdie linearisierten Bewegungsgleichungen
MMM(t) · ηηη(t)+PPP(t) · ηηη(t)+QQQ(t) ·ηηη(t) = hhh(t). (5.58)
Es gelten die folgenden Abkürzungen
MMM(t) =MMM0(t),
PPP(t) =∂kkk∂ yyy
− ∂qqq∂ yyy
,
QQQ(t) =∂MMM∂yyy
· yyyS(t)+∂kkk∂yyy
− ∂qqq∂yyy
,
hhh(t) = qqq0(t)−kkk0(t)−MMM0(t) · yyyS(t). (5.59)
Dabei wird ηηη · ηηη als quadratisch kleine Größe vernachlässigt. Neben der f × f -MassenmatrixMMM(t) findet man in (5.58) die f × f -Matrix PPP(t) der geschwindigkeitsabhängigen Kräfte und dief × f -Matrix QQQ(t) der lageabhängigen Kräfte, sowie den f ×1-Vektor hhh(t) der Erregerfunktion.Wird das System bezüglich einer partikulären Lösung (5.50) linearisiert, so verschwindet dieErregerfunktion, hhh(t) ≡ 000, d. h. es ist dann ein homogenes zeitvariantes System gegeben. Ande-rerseits kann auch ein zeitinvariantes System mit konstanten Matrizen MMM, PPP, QQQ vorliegen. Dann
5.3 Bewegungsgleichungen idealer Systeme 109
ist es möglich, die Matrizen in ihre symmetrischen und schiefsymmetrischen Anteile aufzuteilen
MMM · ηηη(t)+(DDD+GGG) · ηηη(t)+(KKK +NNN) ·ηηη(t) = hhh(t) (5.60)
mit MMM =MMMT , DDD =DDDT , KKK =KKKT und GGG =−GGGT , NNN =−NNNT . Durch Multiplikation mit ηηη(t) erhältman aus (5.60) die zeitliche Ableitung eines Energieausdruckes
ηηη ·MMM · ηηη︸ ︷︷ ︸ddt
T
+ ηηη ·DDD · ηηη︸ ︷︷ ︸2R
+ ηηη ·GGG · ηηη︸ ︷︷ ︸0
+ ηηη ·KKK ·ηηη︸ ︷︷ ︸ddt
U
+ηηη ·NNN ·ηηη = ηηη ·hhh, (5.61)
der eine physikalische Erklärung der einzelnen Terme erlaubt. Die Massenmatrix MMM bestimmtdie kinetische Energie T und damit die Massenkräfte, die Dämpfungsmatrix DDD kennzeichnetüber die Rayleighsche Dissipationsfunktion R > 0 die Dämpfungskräfte und die KreiselmatrixGGG beschreibt die gyroskopischen Kräfte, die keine Änderung der Energiebilanz bewirken. DieSteifigkeitsmatrix KKK bestimmt die potentielle Energie U und damit die konservativen Lagekräfte,während die Matrix NNN die zirkulatorischen Kräfte, auch nichtkonservative Lagekräfte genannt,zusammenfasst. Weiterhin wird die Energie des Systems durch die Erregerkräfte hhh(t) beeinflusst.Für DDD = 000, NNN = 000 und hhh = 000 ist das Mehrkörpersystem konservativ, d. h. die Gesamtenergie istkonstant,
ddt(T +U) = 0 → T +U = const. (5.62)
Die Linearisierung der Bewegungsgleichungen (5.35) wird man in der Praxis nur bei einfachenSystemen oder Handrechnungen durchführen. Für die Umsetzung in Computer-Programmen istes dagegen vorteilhafter, die Linearisierung bereits in der Kinematik nach Abschnitt 2.5 durch-zuführen und dann die Bewegungsgleichungen mit den linearisierten kinematischen Größen auf-zustellen. Dadurch wird die Rechenarbeit stark vereinfacht und man erhält die Bewegungsglei-chungen ebenfalls in der Form (5.58) bzw. (5.60). Es muss jedoch darauf hingewiesen werden,dass die Taylorsche Reihenentwicklung der Ortsvektoren rrri(yyy, t) und der Drehtensoren SSSi(yyy, t)bis zum zweiten Glied erforderlich ist. Zur Bildung der Jacobi-Matrizen JJJTi(yyy, t) und JJJRi(yyy, t)entsprechend (2.284) ist nämlich eine Differentiation nach dem Lagevektor yyy(t) erforderlich, wo-durch sich die auftretenden Potenzen um Eins erniedrigen. Unter besonderen einschränkendenVoraussetzungen genügt manchmal auch die Taylorsche Reihenentwicklung der Ortsvektorenund Drehtensoren bis zum ersten Glied, doch ist dies nicht der allgemeine Fall. Dieser Umstandwird in vielen Arbeiten nicht beachtet und er wird gelegentlich auch bei der Erstellung von Pro-grammsystemen übersehen.
Die hier vorgestellte Linearisierung setzt die Stetigkeit der nichtlinearen Beziehungen voraus.Diese ist in der Kinematik im Allgemeinen auch gegeben. Die eingeprägten Kräfte können da-gegen auch einen unstetigen Verlauf zeigen, wie z. B. die Coulombsche Reibkraft. Dann kannkeine vollständige Linearisierung erreicht werden und es müssen andere Verfahren, z. B. die har-monische Linearisierung herangezogen werden. Für weitere Einzelheiten wird auf die Literaturverwiesen, z. B. Sextro, Popp und Magnus [54] oder Nayfeh, Mook [39].
110 5 Mehrkörpersysteme
Beispiel 5.3: Körperpendel
Die Bewegungsgleichung des Körperpendels, Bild 5.4, soll bezüglich der Nulllage αS(t)≡0 linearisiert werden, d. h.
α = αS +αL = αL. (5.63)
Zunächst folgt unmittelbar aus der nichtlinearen Bewegungsgleichung mit sin αL ≈ αL dielineare Differentialgleichung eines konservativen Schwingers
5mL2αL(t) =−3mgLαL(t). (5.64)
Weiterhin soll der Weg über die Linearisierung der Kinematik aufgezeigt werden. Für denOrtsvektor und den Drehtensor findet man mit sin αL ≈ αL und cos αL ≈ 1− 1
2 α2L die Be-
ziehungen der Kinematik bis zum 2. Glied
rrr(αL) =
⎡⎣ 0
32 LαL
− 32 L(1− 1
2 α2L)
⎤⎦ , (5.65)
SSS(αL) =
⎡⎣ 1 0 0
0 1− 12 α2
L −αL0 αL 1− 1
2 α2L
⎤⎦ . (5.66)
Die linearisierte globale Jacobi-Matrix lautet dann
JJJT=[
0 32 L 3
2 LαL 1 0 0]. (5.67)
Die Newton-Eulerschen Gleichungen haben die Form⎡⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎣
03mL
012 mL2
00
⎤⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎦ αL(t) =
⎡⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎣
00
−2mg000
⎤⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎦+qqqr. (5.68)
Wendet man (5.67) auf (5.68) an, so folgt aufgrund der Orthogonalität zwischen Reaktions-kräften und Bewegungen unmittelbar wieder (5.64).
Dieses einfachste aller Beispiele liefert bereits interessante Erkenntnisse. Das Rückführmo-ment (Steifigkeit) des Körperpendels geht auf das quadratische Glied im Ortsvektor zurück.Bei einem Abbruch der Reihenentwicklung nach dem linearen Glied ginge die Steifigkeitdes Körperpendels verloren! Die quadratischen Glieder im Drehtensor fallen dagegen her-aus, die Jacobi-Matrix der Rotation ist unabhängig von αL. Es hätte also in diesem speziel-len Fall auch genügt, den Drehtensor nur bis zum linearen Glied zu entwickeln.
5.3 Bewegungsgleichungen idealer Systeme 111
5.3.2 Allgemeine Mehrkörpersysteme
Die Bewegungsgleichungen eines nichtholonomen Mehrkörpersystems erhält man aus (5.19)unter Beachtung des Jourdainschen Prinzips (4.25) als
MMM(yyy, zzz, t) · zzz(t)+kkk(yyy, zzz, t) = qqq(yyy, zzz, t), (5.69)
wobei die Reaktionskräfte wiederum herausfallen. Zusätzlich wurde wieder eine Symmetrisie-rung des Problems erreicht. Die symmetrische g×g-Massenmatrix lautet
MMM(yyy, zzz, t) = LLLT ·MMM ·LLL (5.70)
und hängt im rheonomen Fall wieder explizit von der Zeit ab. Daneben treten die g×1-Vektorenkkk und qqq der verallgemeinerten Kreiselkräfte und der verallgemeinerten eingeprägten Kräfte auf.Zwischen den Bewegungsgleichungen (5.35) für holonome Systeme und (5.69) besteht ebenfallsein enger Zusammenhang. Dies bedeutet, dass man (5.69) auch aus (5.35) gewinnen kann. Zudiesem Zweck beachtet man die in (2.235) definierte f ×g-Funktionalmatrix KKK(yyy, zzz, t). Entspre-chend (5.38) bis (5.40) gilt dann
MMM(yyy, zzz, t) =KKKT ·MMM(yyy, t) ·KKK, (5.71)
kkk(yyy, zzz, t) =KKKT · [MMM(yyy, t) · (∂ yyy∂yyy
· yyy+ ∂ yyy∂ t
)+kkk(yyy, yyy, t)], (5.72)
qqq(yyy, zzz, t) =KKKT ·qqq(yyy, yyy, t), (5.73)
wobei auf der rechten Seite jeweils (2.220) einzusetzen ist.
Die Bewegungsgleichungen (5.69) sind alleine nicht lösbar, sie müssen durch die Differenti-algleichungen (2.220) der nichtholonomen Bindungen ergänzt werden. Weiterhin sind jetzt auchproportional-integrale Kräfte nach (3.12) zugelassen. Dies bedeutet, dass man zur Lösung dasfolgende gekoppelte Differentialgleichungssystem zu untersuchen hat
yyy = yyy(yyy, zzz, t), (5.74)MMM(yyy, zzz, t) · zzz(t)+kkk(yyy, zzz, t) = qqq(yyy, zzz,www, t), (5.75)
www = www(yyy, zzz,www, t). (5.76)
Damit sind die allgemeinen Mehrkörpersysteme vollständig beschrieben.
Beispiel 5.4: Transportkarren
Der Transportkarren, Bilder 2.18 und 5.5, besteht aus einem starren Körper K, der geführtwird durch masselose Räder auf der rauhen schiefen Ebene und eine reibungsfreie Gleitkufe.Der Massenmittelpunkt C soll mit dem Achsmittelpunkt P zusammenfallen. Dann geltenalle in Beispiel 2.14 angegebenen kinematischen Beziehungen für dieses nichtholonomeSystem.
112 5 Mehrkörpersysteme
e3K
C
g3mg
g1, g2
e2
C
L
a
g4
e1
e1
Bild 5.5: Transportkarren auf schiefer Ebene
Die Masse des Transportkarren ist m und der Trägheitstensor lautet im Inertialsystem
III =
⎡⎣ I11 I12 I31
I12 I22 I23I31 I23 I33
⎤⎦ . (5.77)
Infolge der vier Bindungen sind vier verallgemeinerte Zwangskräfte vorhanden, die Normal-kräfte g1, g2 und g3 an den beiden Rädern und der Kufe sowie eine die Seitenführungskraftg4 der Achse. Mit den Abständen a, L von Rädern und Kufe und der Drehung γ um dieeee3-Achse lauten die Reaktionskräfte und -momente im Inertialsystem
fff r =
⎡⎣ 0 0 0 − sin γ
0 0 0 cos γ1 1 1 0
⎤⎦ ·⎡⎢⎢⎣
g1g2g3g4
⎤⎥⎥⎦ , (5.78)
lllr =
⎡⎣ a
2 cos γ − a2 cos γ L sin γ 0
a2 sin γ − a
2 sin γ −L cos γ 00 0 0 0
⎤⎦ ·⎡⎢⎢⎣
g1g2g3g4
⎤⎥⎥⎦ . (5.79)
Als einzige eingeprägte Kraft wirkt die Gewichtskraft
fff e =[
mg sin δ 0 −mg cos δ]. (5.80)
5.3 Bewegungsgleichungen idealer Systeme 113
Damit lauten die Newton-Eulerschen Gleichungen⎡⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎣
m cos γ 0m sin γ 0
0 00 −I310 −I230 I33
⎤⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎦
︸ ︷︷ ︸MMM ·LLL(yyy)
·[
vγ
]
︸ ︷︷ ︸zzz(t)
+
⎡⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎣
−mvγ sin γmvγ cos γ
0I23γ2
−I31γ2
0
⎤⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎦
︸ ︷︷ ︸qqqc(yyy, zzz)
=
⎡⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎣
mg sin δ0
−mg cos δ000
⎤⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎦
︸ ︷︷ ︸qqqe
+
⎡⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎣
0 0 0 − sin γ0 0 0 cos γ1 1 1 0
a2 cos γ − a
2 cos γ L sin γ 0a2 sin γ − a
2 sin γ −L cos γ 00 0 0 0
⎤⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎦
︸ ︷︷ ︸QQQ(yyy)
·
⎡⎢⎢⎣
g1g2g3g4
⎤⎥⎥⎦
︸ ︷︷ ︸ggg(t)
. (5.81)
Nach Linksmultiplikation mit der transponierten globalen Jacobi-Matrix LLLT findet man un-mittelbar die Bewegungsgleichungen[
m 00 I33
]︸ ︷︷ ︸
MMM
·[
vγ
]︸ ︷︷ ︸zzz(t)
=
[mg sin δ cos γ
0
]︸ ︷︷ ︸
qqq(yyy)
. (5.82)
Die Bewegungsgleichungen (5.82) beschreiben zusammen mit den kinematischen Gleichun-gen (2.239) das gegebene allgemeine Mehrkörpersystem vollständig. Die Differentialglei-chungen können für dieses einfache Beispiel geschlossen gelöst werden. Aus der zweitenDifferentialgleichung von (5.82) folgt mit den Anfangsbedingungen γ0 = 0, γ0 = Ω einekonstante Drehgeschwindigkeit
γ(t) = Ω t. (5.83)
Damit ergibt sich aus der ersten Differentialgleichung von (5.82) mit der Anfangsbedingungv0 = 0 die periodisch veränderliche Geschwindigkeit
v(t) =1Ω
g sin δ sin Ω t. (5.84)
Eine Auskunft über die Bahn des Massenmittelpunktes liefern die Bewegungsgleichungendagegen nicht. Diese erhält man erst aus der Kinematik der nichtholonomen Bindungen(2.239), die weitere Differentialgleichungen liefern
r1 =g sin δ
Ωsin Ω t cos Ω t, (5.85)
114 5 Mehrkörpersysteme
r2 =g sin δ
Ωsin2 Ω t. (5.86)
Mit den Anfangsbedingungen r10 = r20 = 0 findet man nach einer weiteren Integration
r1(t) =14
g sin δΩ 2 (1− cos 2Ω t), (5.87)
r2(t) =14
g sin δΩ 2 (2Ω t − sin 2Ω t). (5.88)
Der Transportkarren wandert also quer zur Ebene in 2-Richtung aus, er rollt nicht die Ebenein 1-Richtung hinunter, Bild 5.6. Lediglich für Ω = 0 erhält man nach der l’HospitalschenRegel
r1(t) =12
gt2 sin δ , r2(t) = 0, (5.89)
d. h. der Transportkarren verhält sich dann wie ein Massenpunkt.
e1
e2
Bild 5.6: Bahn des Massenmittelpunktes C des Transportkarrens
Beispiel 5.5: Elastischer Dämpfer
Die kleinen Schwingungen eines Punktpendels sollen gedämpft werden. Zur Vermeidungharter Stöße wird ein elastischer Dämpfer vorgesehen, Bild 5.7. Es liegt dann ein Systemmit proportional-integralen Kräften vor. Für kleine Winkel, d. h. für α � 1, findet man die
5.3 Bewegungsgleichungen idealer Systeme 115
Newtonschen Gleichungen
m
⎡⎣ 0
LLα
⎤⎦ α(t) =
⎡⎣ 0
−cw(t)−mg
⎤⎦+qqqr, (5.90)
wobei auf die explizite Bestimmung der Reaktionskräfte verzichtet wird, da diese sowiesogleich eliminiert werden. Nach Linksmultiplikation mit der transponierten Jacobi-Matrixbleibt die Bewegungsgleichung
mL2α(t)+mgLα(t)+Lcw(t) = 0. (5.91)
e3
L
w
c
e2
d
m
Bild 5.7: Pendel mit elastischem Dämpfer
Diese Bewegungsgleichung kann alleine nicht gelöst werden, da w(t) unbekannt ist. Die Be-wegungsgleichung (5.91) muss durch die Differentialgleichung der Kraftgröße w(t) ergänztwerden. Aus dem Gegenwirkungsgesetz für die Schnittkräfte
d(Lα(t)− w(t)) = cw(t) (5.92)
folgt
w(t) = Lα(t)− cd
w(t). (5.93)
Die Gleichungen (5.91) und (5.93) beschreiben ein allgemeines Mehrkörpersystem.
Ein allgemeines Mehrkörpersystem der Form (5.74) kann nicht in die Form (5.39) eines ge-wöhnlichen Mehrkörpersystems transformiert werden. Umgekehrt kann jedoch ein gewöhnlichesMehrkörpersystem in der Form (5.74) dargestellt werden, was auf eine Trennung von Kinema-tik und Kinetik hinausläuft. Zu diesem Zweck führt man neben dem f × 1-Lagevektor yyy(t) derverallgemeinerten Koordinaten einen zweiten f × 1-Vektor zzz(t) ein, der die verallgemeinertenGeschwindigkeiten beschreibt. Beide Vektoren sollen durch eine reguläre f × f -Matrix KKK(yyy, t)verknüpft sein,
yyy(t) =KKK(yyy, t) ·zzz(t), (5.94)
116 5 Mehrkörpersysteme
was formal einer nichtholonomen Bindung nach (2.220) und (2.235) entspricht. Da jedoch f =g gilt, folgt auch aus (2.218), dass (5.94) keine reale Bindung darstellt, da kein Freiheitsgradverloren geht, r = 0. Aus (5.35) und (5.94) ergeben sich nach Linksmultiplikation mit KKKT dieBewegungsgleichungen
KKKT (yyy, t) ·MMM(yyy, t) ·KKK(yyy, t) · zzz(t)+KKKT (yyy, t) · [MMM(yyy, t) ·KKK(yyy, yyy, t) ·zzz(t)+kkk(yyy, yyy, t)
]=KKKT (yyy, t) ·qqq(yyy, yyy, t), (5.95)
die natürlich nur zusammen mit (5.94) gelöst werden können. Die Bewegungsgleichungen (5.95)haben aber häufig einen einfacheren Aufbau als (5.35), wovon in der Kreiseltheorie und beigroßen, nichtlinearen Mehrkörpersystemen immer wieder Gebrauch gemacht wird.
Beispiel 5.6: Schwerer Kreisel
Ein Kreisel ist ein starrer Körper mit einem Fixpunkt, Bild 5.8. Man kann in diesem Fall dieNewtonschen und Eulerschen Gleichungen (3.22) und (3.30) für den Massenmittelpunkt Czu neuen Eulerschen Gleichungen zusammenfassen, die dann jedoch für den Fixpunkt 0als Bezugspunkt gelten. Von dieser für einen einzelnen starren Körper interessanten Ei-genschaft macht die Kreiseltheorie regen Gebrauch. Darüber hinaus wird auch stets einkörperfestes Koordinatensystem als Referenzsystem R herangezogen.
Oe12
e11
Ce13
Bild 5.8: Schwerer Kreisel
Verwendet man als verallgemeinerte Koordinaten die Euler-Winkel
yyy(t) =[
ψ ϑ φ]
(5.96)
mit dem Drehtensor (2.58), so gilt entsprechend (2.100) für den Drehgeschwindigkeitsvek-tor
ωωω = JJJR(yyy) · yyy(t) (5.97)
und gemäß (2.121) für den Drehbeschleunigungsvektor
ααα = JJJR(yyy) · yyy(t)+ yyy(t) ·KKKR(yyy) · yyy(t) (5.98)
im körperfesten Koordinatensystem. Die Bewegungsgleichungen lauten nach dem
5.3 Bewegungsgleichungen idealer Systeme 117
d’Alembertschen Prinzip
JJJTR(yyy) ·III ·JJJR(yyy) · yyy(t)+kkk(yyy, yyy) = qqq(yyy), (5.99)
wobei das Moment der Gewichtskraft berücksichtigt wurde. Die Massenmatrix ist hochgra-dig nichtlinear, eine analytische Lösung scheint nicht möglich zu sein.
Führt man nun zusätzlich zu den verallgemeinerten Koordinaten noch die Drehgeschwin-digkeiten
zzz(t) =[
ωωω1 ωωω2 ωωω3]
(5.100)
als verallgemeinerte Geschwindigkeiten ein, so gilt
ωωω = LLLR ·zzz(t), ααα = LLLR · zzz(t) (5.101)
mit LLLR = JJJR ·KKK =EEE = const. Damit vereinfachen sich die Bewegungsgleichungen erheblichzu
III · zzz(t)+kkk(zzz) = qqq(yyy), (5.102)
d. h. als Massenmatrix bleibt der zeitinvariante Trägheitstensor im körperfesten System be-züglich des Fixpunktes 0. Man erkennt aber auch, dass die Bewegungsgleichungen (5.102)nicht alleine gelöst werden können. Sie müssen durch (5.94) mit KKK(yyy) = JJJ−1
R (yyy) ergänzt wer-den. Trotzdem ist der schwere Kreisel ein gewöhnliches Mehrkörpersystem, da die Trans-formation von (5.102) mit (5.71) und (5.72) auf die Form (5.99) möglich ist.
Es sei noch vermerkt, dass sich (5.102) und (5.94) im Falle der Symmetrie I11 = I22 vollstän-dig analytisch lösen lassen. Die Lösung geht auf Lagrange zurück und ist in der Literaturausführlich beschrieben, siehe Magnus [36].
Der Ansatz (5.94) kann auch verwendet werden, um die Bewegungsgleichungen gewöhnlicherMehrkörpersysteme in der Normalform darzustellen. Zu diesem Zweck beachtet man, dass jedepositiv definite Matrix durch eine Kongruenztransformation, die einer Folge von elementarenMatrizenoperationen entspricht, in eine Einheitsmatrix überführt werden kann.
Die Normalform der Bewegungsgleichungen (5.35) ist durch (5.94) und
zzz(t) =KKKT (yyy, t) · [ qqq−kkk−MMM ·KKK(yyy, t) ·zzz] (5.103)
gegeben, wobei die Argumente der Größen in der Klammer nicht angeschrieben sind. Die Trans-formationsmatrix KKK(yyy, t) muss dabei die Bedingungen
KKKT (yyy, t) ·MMM(yyy, t) ·KKK(yyy, t) =EEE (5.104)
erfüllen, wodurch die f × f -Massenmatrix in die f × f -Einheitsmatrix EEE übergeführt wird. DieNormalform (5.94), (5.103) kann gegebenenfalls numerische Vorteile bieten, da die Inversion derMassenmatrix bei der Integration entfällt.
118 5 Mehrkörpersysteme
Beispiel 5.7: Normalform einer Massenmatrix
Die Massenmatrix des Doppelpendels ist durch (5.45) gegeben,
MMM = mL2[
2 cos(α1 −α2)cos(α1 −α2) 1
]. (5.105)
Zunächst wird die Matrix (5.105) diagonalisiert, indem die zweite Spalte bzw. Zeile nachMultiplikation mit cos(α1 −α2) von der ersten Spalte bzw. Zeile abgezogen wird. Dannwerden die erste Spalte und Zeile mit dem Kehrwert der Wurzel aus dem ersten Diagonal-element multipliziert. Diese elementaren Operationen führen auf die Transformationsmatrix
KKK =1√mL2
⎡⎢⎢⎢⎢⎣
1√1+ sin2(α1 −α2)
0
− cos(α1 −α2)√1+ sin2(α1 −α2)
1
⎤⎥⎥⎥⎥⎦ . (5.106)
Man überzeugt sich, dass (5.105) und (5.106) die Beziehung (5.104) erfüllen.
5.4 Reaktionsgleichungen idealer Systeme
Bei der Aufstellung der Bewegungsgleichungen sind die Reaktionskräfte herausgefallen. Zur Di-mensionierung von Bindungselementen (Gelenke, Lagerungen) und zur Festigkeitsabschätzungvon Maschinenelementen sind jedoch auch die Reaktionskräfte von großer Bedeutung. Die äuße-ren Reaktionskräfte bestimmen darüber hinaus die Belastung der Umwelt durch eine Maschine,die jedoch durch einen geeigneten inneren Massenausgleich vermindert oder aufgehoben werdenkann.
5.4.1 Berechnung von Reaktionskräften
Zur Berechnung der Reaktionskräfte muss man auf die Newton-Eulerschen Gleichungen (5.18)zurückgehen. Die unmittelbare Auswertung dieser Gleichungen ist jedoch ungünstig. Einmalstören die verallgemeinerten Beschleunigungen yyy(t) und zum anderen ist (5.18) durch die 6p×q-Verteilungsmatrix QQQ bezüglich des Vektors der verallgemeinerten Zwangskräfte ggg(t) überbe-stimmt. Beide Probleme lassen sich mit der dem Prinzip der virtuellen Arbeit entsprechendenOrthogonalitätsbeziehung (4.16) lösen, siehe z. B. Schiehlen [51]. Multipliziert man (5.18) von
links mit der q×6p-Matrix QQQT ·MMM−1
, so erhält man die Reaktionsgleichungen in der Form eineslinearen algebraischen Gleichungssystems
NNN(yyy, t) ·ggg(t) = kkk(yyy, yyy, t)− qqq(yyy, yyy, t). (5.107)
Dabei ist
NNN(yyy, t) =QQQT ·MMM−1 ·QQQ (5.108)
5.4 Reaktionsgleichungen idealer Systeme 119
eine symmetrische, im Allgemeinen positiv definite q× q-Reaktionsmatrix, während die q× 1-Vektoren qqq(yyy, yyy, t) und kkk(yyy, yyy, t) den Einfluss der eingeprägten Kräfte und der Kreiselkräfte aufdie Reaktionskräfte kennzeichnen.
Bei der Aufstellung der Bewegungsgleichungen kann auf die Bestimmung der Reaktionskräf-te und im Besonderen auf die Bestimmung der Verteilungsmatrix QQQ vollständig verzichtet wer-den, da die Bewegung davon nicht beeinflusst wird. Zur Aufstellung der Reaktionsgleichungenwird die Verteilungsmatrix QQQ dagegen stets benötigt. Es sollen deshalb einige Überlegungen zuihrer Bestimmung angeschlossen werden. Die erste Möglichkeit besteht aus dem anschaulichkonstruktiven Vorgehen. Dabei werden jeder Bindung in einem natürlichen, an den Gelenkach-sen orientierten Koordinatensystem die entsprechenden Zwangskräfte zugeordnet. Durch Trans-formationen werden die Zwangskräfte dann in ein gemeinsames Koordinatensystem, z. B. dasInertialsystem, übergeführt. Die zweite Möglichkeit zur Bestimmung der Verteilungsmatrix istdurch (4.13), d. h. über die impliziten Zwangsbedingungen gegeben. Dabei können die implizi-ten Zwangsbedingungen entweder direkt nach den kartesischen Koordinaten des Inertialsystemsabgeleitet werden oder es erfolgt die Ableitung nach den verallgemeinerten Koordinaten für dasfreie System mit anschließender Berücksichtigung der Funktionalmatrizen (4.13).
Zur Unterstützung der Anschauung lassen sich nach (4.11) die q verallgemeinerten Zwangs-kräfte gk einzeln den Reaktionskräften und -momenten zuordnen
fff rik =
∂φk
∂xxx· ∂xxx
∂rrrigk, lllr
ik =∂φk
∂xxx· ∂xxx
∂sssigk, i = 1(1)p, k = 1(1)q. (5.109)
In (5.109) tritt der 3× 1-Vektor ∂sssi der infinitesimalen Drehung auf. Die Beziehungen (5.109)sind immer nützlich, wenn über Betrag, Richtung oder Richtungssinn der Reaktionen auf einebestimmte Bindung φk Unklarheiten bestehen.
Werden die Bewegungsgleichungen (5.35) mit (5.40) aus den Bewegungsgleichungen (5.28)gewonnen, so gelten für die Reaktionsgleichungen (5.107) die Beziehungen
NNNholonom(yyy, t) = GGGT ·MMM−1
frei(xxx, t) ·GGG, (5.110)
kkkholonom(yyy, yyy, t) = GGGT · [III · yyy+MMM−1
frei ·kkkfrei(xxx, xxx)], (5.111)
qqqholonom(yyy, yyy, t) = GGGT ·MMM−1
frei ·qqqfrei(xxx, xxx, t). (5.112)
Dabei sind wiederum die Argumente auf den rechten Seiten durch (5.40) zu ersetzen. Der Ver-gleich zwischen (5.108) und (5.110) zeigt Folgendes: Einerseits ist die Inversion der Blockdia-gonalmatrix MMM einfacher als die Inversion von MMM =HHHT ·MMM ·HHH, andererseits ist die entsprechend(4.13) definierte Matrix GGG im Allgemeinen weniger stark besetzt als QQQ = HHH−T ·GGG. Es empfiehltsich deshalb, die Verteilungsmatrix QQQ zunächst aus GGG und HHH zu berechnen und dann auf dieNewton-Eulerschen Gleichungen gemäß (5.108) zurückzukommen.
Beispiel 5.8: Ebenes Körperpendel
Für das Körperpendel, Bild 5.9, lauten die impliziten Bindungen
φφφ =
[r2 −L sin αr3 +L cos α
]= 000 (5.113)
120 5 Mehrkörpersysteme
mit den drei Koordinaten der ebenen Bewegung, die im Vektor
xxx =[
r2 r3 α]
(5.114)
zusammengefasst werden können. Die globale 3× 3-Jacobi-Matrix des freien Systems istdamit gleich der Einheitsmatrix, HHH =EEE. Es gilt weiter für die 3×2-Verteilungsmatrix
QQQ =GGG =∂φφφ∂xxx
=
[1 0 −L cos α0 1 −L sin α
]. (5.115)
C
e3
g2
g1 e2
m, I
mg
Bild 5.9: Reaktionskräfte am Körperpendel
Damit ergeben sich die Newton-Eulerschen Gleichungen im Inertialsystem zu⎡⎣ mL cos α
mL sin αI
⎤⎦ α +mL
⎡⎣ −α2 sin α
α2 cos α0
⎤⎦=
⎡⎣ 0
−mg0
⎤⎦+⎡⎣ 1 0
0 1−L cos α −L sin α
⎤⎦ ·[ g1
g2
]. (5.116)
Nach Linksmultiplikation mit QQQT ·MMM−1
bleibt⎡⎢⎣
1m+
L2
Icos2 α
L2
Isin α cos α
L2
Isin α cos α
1m+
L2
Isin2 α
⎤⎥⎦ ·[ g1
g2
]+
[0−g
]=
[ −Lα2 sin αLα2 cos α
].
(5.117)
Dieses lineare Gleichungssystem bestimmt eindeutig die Lagerkräfte des Körperpendels.Nach (5.109) entspricht g1 der horizontalen und g2 der vertikalen Reaktionskraft, wie diesin Bild 5.9 dargestellt ist.
5.4 Reaktionsgleichungen idealer Systeme 121
Beispiel 5.9: Transportkarren
Die Newton-Eulerschen Gleichungen (5.81) enthalten eine Verteilungsmatrix QQQ, die an-schaulich nach Bild 5.5 zusammengestellt wurde. Man überzeugt sich leicht davon, dassauch bei nichtholonomen Systemen die verallgemeinerten Zwangskräfte durch Linksmulti-
plikation mit einer Matrix QQQT ·MMM−1
bestimmt werden können. Die Inversion des in MMM auf-tretenden 3× 3-Trägheitstensors (5.77) kann dabei auch symbolisch ohne größere Schwie-rigkeiten mit einem Formelmanipulationsprogramm durchgeführt werden.
Die Reaktionskräfte können natürlich auch im statischen Fall, f = 0, ermittelt werden. Dannentfallen sämtliche Beschleunigungen, so dass die Linksmultiplikation der Newton-EulerschenGleichungen nicht erforderlich ist. Es gelten dann die zeitinvarianten Gleichgewichtsbedingun-gen der Statik
QQQ ·ggg+qqqe = 000. (5.118)
Gewinnt man die 6p×6p-Matrix QQQ aus den impliziten Zwangsbedingungen, so findet man auto-matisch die Schnittkräfte in den Lagern zwischen den einzelnen Teilkörpern eines Mehrkörper-systems.
Beispiel 5.10: Statisches Punktsystem
Das in Bild 5.10 skizzierte Punktsystem ist durch die zwei impliziten Zwangsbedingungen
φ1 = r1 −L1 = 0, φ2 = r2 − r1 −L2 = 0 (5.119)
gekennzeichnet. Damit lauten die Gleichgewichtsbedingungen mit der 2 × 2-Verteilungsmatrix QQQ[
1 −10 1
]·[
ST
]+
[ −m1g−m2g
]= 000, (5.120)
woraus als Lösung[S T
]=[(m1 +m2)g m2g
](5.121)
folgt. Die verallgemeinerten Zwangskräfte S und T sind in Bild 5.10 eingetragen.
T
T
SL1r1
r2L2
m1
m2
Bild 5.10: Reaktionskräfte eines statischen Punktsystems
122 5 Mehrkörpersysteme
5.4.2 Festigkeitsabschätzung
Die für die Festigkeitsberechnung maßgebenden inneren Spannungen eines Körpers könnenbeim starren Körper nicht ermittelt werden, da ein statisch unbestimmtes Problem vorliegt. Es istjedoch möglich, eine Festigkeitsabschätzung vorzunehmen. Zu diesem Zweck wird aus dem Re-aktionskraftwinder für eine beliebig gewählte Schnittebene, Bild 3.6, eine lineare Spannungsver-teilung errechnet. Die sich dabei ergebenden maximalen Spannungen können dann einer Festig-keitsabschätzung zugrunde gelegt werden. Dieses Vorgehen ist aus der Balkenstatik schon langebekannt. Es lässt sich auf einen beliebigen starren Körper übertragen, wenn man die im Prinzipvon De Saint-Venant zusammengefassten Erfahrungen berücksichtigt, dass einzelne Spannungs-spitzen in einem Kontinuum nur eine lokale Wirkung haben. Das Kontinuum gleicht stark unter-schiedliche Spannungen in natürlicher Weise aus.
Für eine beliebig gewählte Schnittebene A wird nach Bild 5.11 zunächst der Flächenmittel-punkt C und das Hauptachsensystem H bestimmt. Dann gilt für die Koordinaten des Flächenmit-telpunktes∫
A
u2dA = 0,∫A
u3dA = 0 (5.122)
und das Flächendeviationsmoment ist∫A
u2u3dA = 0. (5.123)
eH3
u2
eH2
Q u3
Flächenelement dA
Schnittebene A
Bild 5.11: Ebener Schnitt durch einen starren Körper
Der lokale 3×1-Spannungsvektor ttt im Punkt Q wird durch den linearen Ansatz
ttt =d fffdA
=
⎡⎣ σ11
τ12τ13
⎤⎦=
⎡⎣ σ1 +σ2u3 +σ3u2
τ2 − τ1u3τ3 + τ1u2
⎤⎦ (5.124)
mit den sechs Koeffizienten σ1,σ2,σ3, τ1, τ2, τ3 beschrieben. Diese Konstanten können eindeutigaus dem Reaktionskraftwinder ( fff , lll) bestimmt werden. Der Reaktionskraftwinder lässt sich wie-derum aus den Reaktionsgleichungen (5.107) bestimmen, wenn der zusätzlich durch den Schnittentstehende starre Körper in den Newton-Eulerschen Gleichungen berücksichtigt wird. Die bei-
5.4 Reaktionsgleichungen idealer Systeme 123
den Teilkörper des Schnitts sind dabei durch eine feste Einspannung verbunden. Im Einzelnengilt bei Integration über die Schnittebene A für die Koordinaten des Reaktionskraftwinders
f1 =∫A
σ11dA, f2 =∫A
τ12dA, f3 =∫A
τ13dA, (5.125)
l1 =∫A
(u2τ13 −u3τ12)dA, l2 =∫A
u3σ11dA, l3 =−∫A
u2σ11dA. (5.126)
Setzt man nun (5.124) der Reihe nach in (5.125) und (5.126) ein, so findet man unter Berücksich-tigung von (5.122) und (5.123) die Koeffizienten
σ1 =f1
A, τ2 =
f2
A, τ3 =
f3
A, (5.127)
τ1 =l1JP
, σ2 =l2J2, σ3 =− l3
J3. (5.128)
Dabei ist A die Fläche der Schnittebene, J2 und J3 sind die axialen Flächenträgheitsmomente undJP = J2 +J3 ist das polare Flächenträgheitsmoment, jeweils bezüglich des Flächenmittelpunktes.Somit können in jedem Punkt der Schnittebene die Spannungen abgeschätzt werden.
Beispiel 5.11: Rundstab
Ein starrer Rundstab (Masse 2m, Radius R) ist links durch eine Drehfeder (Federkonstantek) gefesselt und wird rechts durch ein harmonisches Moment (Amplitude e, Frequenz Ω )beaufschlagt, Bild 5.12. Es sind die Spannungen in der Mitte des Stabes abzuschätzen.
k
K2K1l
l
Bild 5.12: Starrer Rundstab mit harmonischem Antriebsmoment
Zum Zweck der Spannungsabschätzung wird der Rundstab in der Mitte geschnitten, so dasszwei Teilkörper K1 und K2 entstehen. Die freie Drehbewegung bezüglich der 1-Achse istdurch zwei verallgemeinerte Koordinaten
xxx(t) =[
α1 α2]
(5.129)
gekennzeichnet, die starre Bindung zwischen den Körpern lautet implizit
φ = α1 −α2 = 0 (5.130)
124 5 Mehrkörpersysteme
oder mit der skalaren verallgemeinerten Lagekoordinate α explizit
xxx =[
1 1]
α. (5.131)
Die Eulerschen Gleichungen ergeben
12
mR2α(t) =−kα(t)+ l(t), (5.132)
12
mR2α(t) = e sin Ω t − l(t), (5.133)
woraus die Bewegungsgleichung
mR2α(t)+ kα(t) = e sin Ω t (5.134)
und die Reaktionsgleichung
2l(t)− kα(t)− e sin Ω t = 0 (5.135)
folgen. Mit der partikulären Lösung der Bewegungsgleichung
α(t) =1
k−mR2Ω 2 e sin Ω t (5.136)
findet man das Schnittmoment
l(t) =2k−mR2Ω 2
k−mR2Ω 2e2
sin Ω t, (5.137)
woraus sich nach (5.128) und (5.124) die Spannungen τ12, τ13 abschätzen lassen, die ihrengrößten Wert an der Oberfläche u2
2 +u23 = R2 annehmen.
Werden in einem holonomen System von p starren Körpern und q Bindungen insgesamt nSchnitte durch die Körper gelegt, so erhält man n zusätzliche Körper und 6n zusätzliche Bindun-gen. Die Zahl der Freiheitsgrade bleibt davon unberührt,
f = 6(p+n)− (q+6n) = 6p−q, (5.138)
während die Zahl der Bindungen auf qn = q+ 6n anwächst. Darüber hinaus müssen bei jedemSchnitt die massengeometrischen Größen und die eingeprägten Volumenkräfte angepasst wer-den.
5.4.3 Massenausgleich in Mehrkörpersystemen
Die äußeren Reaktionskräfte belasten die Umgebung einer Maschine. Ihre Berechnung ist des-halb von großem Interesse. Da die inneren Kräfte und Momente bei der Betrachtung des Mehr-körpersystems als Gesamtsystem nach den Gegenwirkungsgesetzen (3.7) und (3.40) herausfal-len, ist es zweckmäßig, die äußeren Reaktionskräfte nicht aus den Reaktionsgleichungen (5.107),
5.4 Reaktionsgleichungen idealer Systeme 125
sondern unmittelbar aus den Newton-Eulerschen Gleichungen zu ermitteln. Die äußeren Reakti-onskräfte und -momente werden nur durch die äußeren eingeprägten Kräfte und Momente unddie Massenkräfte und Massenmomente bestimmt. Häufig sind die Massenkräfte und -momentesehr viel größer als die eingeprägten Kräfte und Momente, im Besonderen bei schnelllaufendenMaschinen. In diesen Fällen begnügt man sich mit der Untersuchung und dem Ausgleich vonMassenkräften und -momenten, dem sogenannten Massenausgleich.
Massenkräfte und Massenmomente treten bei der Betrachtung des Gesamtsystems nur dannauf, wenn sich der Gesamtimpuls und der Gesamtdrall ändern. Maschinen mit konstantem Ge-samtimpuls und konstantem Gesamtdrall heißen ausgeglichen oder ausgewuchtet. Die Forderungnach konstantem Gesamtimpuls ist gleichbedeutend mit der Forderung auch einer zeitinvariantenLage des Massenmittelpunktes C des Gesamtsystems.
Für die weitere Rechnung werden die Gegenwirkungsgesetze (3.7) und (3.40) herangezogen.Mit einem Bezugspunkt O gelten für das Gesamtsystem die Beziehungen
p
∑i, j=1
fff i j = 000,p
∑i, j=1
(llli j + rrr0i · fff i j) = 000, (5.139)
oder
GGG ·qqqi = 000. (5.140)
Dabei ist qqqi gemäß Schema (5.23) der 6p×1-Vektor der inneren Kräfte und Momente und
GGG =
⎡⎣ EEE EEE ... EEE | 000 000 ... 000−−− −−− −−− −−− | −−− −−− −−− −−−
rrr01 rrr02 ... rrr0p | EEE EEE ... EEE
⎤⎦ (5.141)
ist eine 6× 6p-Summationsmatrix, die im Besonderen die 3× 3-Matrizen rrr0i der Ortsvektorenzu den Massenmittelpunkten Ci enthält. Die äußeren Reaktionen findet man aus den Newton-Eulerschen Gleichungen (5.18) durch Linksmultiplikation mit (5.141). Es bleibt der Reaktions-kraftwinder des Gesamtsystems⎡
⎣ fff ra−−−−
lllra
⎤⎦=GGG · (MMM ·JJJ · yyy(t)+qqqc −qqqe). (5.142)
Vernachlässigt man nun die eingeprägten Kräfte qqqe, so sind die äußeren Reaktionskräfte und -momente gleich den Massenkräften und -momenten, die sich aus der zeitlichen Ableitung vonGesamtimpuls und Gesamtdrall ergeben,
fff ra =p
∑i=1
miaaai = maaaC, (5.143)
lllra0 =p
∑i=1
(IIIi ·ωωω i +ωωω i ·IIIi ·ωωω i + rrr0i ·miaaai) (5.144)
126 5 Mehrkörpersysteme
wobei aaaC die Beschleunigung des Massenmittelpunktes C des Gesamtsystems ist. Die Massen-kräfte (5.143) werden durch die Beschleunigung des Gesamtschwerpunktes hervorgerufen, wäh-rend die Massenmomente entsprechend den drei Termen in (5.144) auf eine ungleichförmigeDrehung, auf eine dynamische oder eine statische Unwucht zurückgehen können. Für den Mas-senausgleich wird nun gefordert, dass die Massenkräfte (5.143) und die Massenmomente (5.144)verschwinden oder möglichst klein werden.
Beispiel 5.12: Auswuchten eines starren Rotors
Ein homogener Rotor (Masse M, Länge L, Radius R) ist unter dem Winkel γ � 1 schiefeingebaut, Bild 5.13. Zum Ausgleich der dynamischen Unwucht werden in den PunktenP2 und P3 Ausgleichsmassen (Masse m) montiert. Die für eine vollkommene Auswuchtungerforderliche Größe der Massen soll bestimmt werden.
OR
P3
e12
P2
Le13
e11
Bild 5.13: Starrer Rotor mit Ausgleichsgewichten
Im körperfesten Koordinatensystem lautet der Trägheitstensor des Rotors
III =
⎡⎣ I11 I12 0
I12 I22 00 0 I22
⎤⎦ , I12 =−M
12(3R2 −L2)γ. (5.145)
Der konstante Drehgeschwindigkeitsvektor ist
ωωω =[
ω 0 0]. (5.146)
Die Ortsvektoren und Beschleunigungen der Ausgleichsmassen P2,P3 findet man z. B. mit(2.257) als
rrr2,3 =± [ (L2 +Rγ) (−R+ L
2 γ) 0], (5.147)
aaa2,3 =± [ 0 (−R+ L2 γ)ω2 0
]. (5.148)
Eingesetzt in (5.144) verbleibt für das resultierende Massenmoment im körperfesten Koor-
5.5 Bewegungs- und Reaktionsgleichungen nichtidealer Systeme 127
dinatensystem nur die 3-Koordinate in der Form
lra03 =M12
(3R2 −L2)ω2γ +mLRω2, (5.149)
wobei zusätzlich m � M berücksichtigt wurde. Aus (5.149) kann man ablesen, dass mitden Ausgleichsmassen in P2 und P3 abgeplattete Rotoren ausgewuchtet werden können.Weiterhin folgt aus (5.149) auch die Größe der Ausgleichsmassen.
5.5 Bewegungs- und Reaktionsgleichungen nichtidealer Systeme
Nichtideale Systeme sind dann gegeben, wenn die eingeprägten Kräfte auch von den Reaktions-kräften abhängen. Nach (3.13) ist dies z. B. bei Reibkräften der Fall. Dazu gehören einmal dieGleitreibkräfte, die vom Normaldruck und der momentanen Richtung der relativen Geschwin-digkeit abhängen. Aber auch die Seitenführungskräfte eines elastischen Rades sind eingeprägteKräfte, die von den Reaktionskräften bestimmt werden. Die nichtidealen Systeme haben alsoeinen durchaus realen Hintergrund.
Die Bewegungsgleichungen (5.35) und die Reaktionsgleichungen (5.107) nehmen für nicht-ideale Systeme die Form
MMM(yyy, t) · yyy(t)+kkk(yyy, yyy, t) = qqq(yyy, yyy,ggg, t), (5.150)
NNN(yyy, t) ·ggg(t)+ qqq(yyy, yyy,ggg, t) = kkk(yyy, yyy, t) (5.151)
an. Man erkennt, dass die beiden Gleichungen miteinander gekoppelt sind und die Reaktionsglei-chungen (5.151) darüber hinaus einen nichtlinearen Charakter annehmen können. Die Lösungvon (5.150) und (5.151) wird dadurch sehr erschwert. Sie ist aber trotzdem meist nicht kritisch.Löst man nämlich (5.151) simultan während der Integration von (5.150), so stehen für das nicht-lineare algebraische Gleichungssystem stets sehr gute Startwerte zur Verfügung. Damit ist einegute und schnelle Konvergenz zu erwarten. Eine gewisse Vereinfachung tritt noch ein, wenn dieRichtung der Reaktionskraft zeitinvariant ist, wie dies im folgenden Beispiel der Fall ist.
Beispiel 5.13: Seiltrommel
Die in Bild 5.14 dargestellte Seiltrommel gleitet auf einer Ebene mit Gleitreibungskoeffi-zient μ . Mit den vier wesentlichen Koordinaten des freien Systems
xxx(t) =[
y1 x2 y2 α2]
(5.152)
lauten die drei Bindungen
φ1 = x2 = 0, φ2 = y2 − r2 = 0, φ3 = y1 − y2 −α2r1 = 0, (5.153)
so dass als verallgemeinerte Koordinate y1(t) verbleibt. Damit findet man die expliziten
128 5 Mehrkörpersysteme
m
x2
y1
F
S
M, k
S
r1
y2
r2
2
N
R = N sgn r2 2
Bild 5.14: Seiltrommel mit Coulombscher Reibung
Bindungen
xxx =
⎡⎢⎢⎢⎣
y10r2
1r1(y1 − y2)
⎤⎥⎥⎥⎦ . (5.154)
Die Newton-Eulerschen Gleichungen lauten mit den in Bild 5.14 eingetragenen Größen⎡⎢⎢⎢⎢⎣
m00
Mk2
r1
⎤⎥⎥⎥⎥⎦ y1 =
⎡⎢⎢⎣
−mg−μNsgny1
−Mg−μr2Nsgny1
⎤⎥⎥⎦+⎡⎢⎢⎣
0 0 11 0 00 1 −10 0 −r1
⎤⎥⎥⎦ ·⎡⎣ F
NS
⎤⎦ . (5.155)
Daraus folgt die Bewegungsgleichung(m+M
k2
r21
)︸ ︷︷ ︸
MMM
y1︸︷︷︸yyy(t)
=−mg−μr2
r1Nsgny1︸ ︷︷ ︸
qqq(yyy,ggg)
(5.156)
und die Reaktionsgleichungen lauten⎡⎢⎣
1M 0 00 1
M − 1M
0 − 1M
1m + 1
M +r21
Mk2
⎤⎥⎦
︸ ︷︷ ︸NNN
·⎡⎣ F
NS
⎤⎦
︸ ︷︷ ︸ggg(t)
+
⎡⎣ − μ
M Nsgny1−g
gMk2 Nsgny1
⎤⎦
︸ ︷︷ ︸qqq(yyy,ggg)
= 000. (5.157)
5.6 Kreiselgleichungen von Satelliten 129
Im vorliegenden Fall ist die Normalkraft NNN zeitinvariant, da bei geeigneten Anfangsbedin-gungen immer y1(t) < 0 gilt. Es ist aber offensichtlich, dass auch in diesem Fall (5.156)nicht ohne (5.157) gelöst werden kann.
Bei der Untersuchung von Kontaktproblemen können auch elastische Mehrkörpersysteme ver-wendet werden. Wie Eberhard [17] gezeigt hat, ist es dabei oft zweckmäßig, zwischen Mehrkör-persystemmodellen und Finite-Elemente-Modellen umzuschalten, um eine effizientere Integrati-on zu ermöglichen.
5.6 Kreiselgleichungen von Satelliten
Mehrkörpersysteme eignen sich auch zur Modellierung von Satelliten mit im Inneren bewegtenMassen. Die Gesamtbewegung setzt sich dann aus der Bahnbewegung des Massenmittelpunktesund der Drehbewegung um den Massenmittelpunkt zusammen. Die Bahnbewegung wird in derHimmelsmechanik ausführlich untersucht und kann als gegeben angenommen werden. Die Dreh-bewegung und damit die Orientierung gehorcht den Gesetzen der Kreisellehre. Im Besonderenkann die Bahnbewegung in den Kreiselgleichungen des Satelliten eliminiert werden, wodurchsich die Zahl der Freiheitsgrade um drei verringert.
Umlaufbahn
Kj
OI
eR1
e2e1
C1 = OR
eR3 K1
eR2
e3
Ci
Bild 5.15: Satelliten mit im Inneren bewegten Massen
Das Gehäuse des Satelliten wird als Grundkörper K1 gewählt, Bild 5.15. Im Inneren bewegensich die Massen Kj, j = 2(1)p. Als bewegtes Referenzsystem {0R;eeeRα} dient ein gehäusefestesKoordinatensystem {C1;eee1α},α = 1(1)3, im Massenmittelpunkt C1 des Gehäuses. Dann könnensowohl der 6p×1-Lagevektor xxx des freien Systems als auch der f ×1-Lagevektor des gebunde-nen Systems wie folgt zerlegt werden,
xxx(t) =
⎡⎣ rrrR
−−xxxR
⎤⎦ , yyy(t) =
⎡⎣ rrrR
−−yyyR
⎤⎦ , (5.158)
wobei rrrR den 3× 1-Ortsvektor der Bahnbewegung des Gehäusemassenmittelpunktes darstellt,
130 5 Mehrkörpersysteme
Bild 5.15. Mit den 3p×3-Matrizen
EEE =[
EEE EEE ... EEE]T
, 000 =[
000 000 ... 000]T
, (5.159)
die sich aus 3×3-Einheits- und Nullmatrizen aufbauen, lautet dann die globale Jacobi-Matrix
JJJ =
⎡⎣ EEE | JJJRT
−−− | −−−−000 | JJJRR
⎤⎦ . (5.160)
Unterteilt man weiterhin die 6p×6p-Blockdiagonalmatrix (5.20) in vier 3p×3p-Matrizen
MMM =
⎡⎢⎣ MMMT | 000
−−− | −−−000 | MMMR
⎤⎥⎦ , (5.161)
so erhält man die Bewegungsgleichungen (5.35) in der Form
mrrrR(t)+EEET ·MMMT ·JJJRT · yyyR(t)+kkkr = qqqr, (5.162)
[ JJJTRT ·MMMT ·JJJRT +JJJT
RR ·MMMR ·JJJRR ] · yyyR(t)+JJJTRT ·MMMT ·EEE · rrrR(t)+kkky = qqqy (5.163)
mit der skalaren Gesamtmasse m des Systems, die aus
mEEE =p
∑i=1
miEEE =EEET ·MMMT ·EEE (5.164)
folgt. Man erkennt, dass die Bahnbewegung rrrR in (5.163) durch (5.162) eliminiert werden kann.Die Kreiselgleichungen für den ( f −3)×1-Lagevektor yyyR des Satelliten nehmen schließlich dieForm
MMMR(yyyR, t) · yyyR(t)+kkkR(yyyR, yyyR, t) = qqqR (5.165)
an. Hierbei ist allerdings zu bedenken, dass die verallgemeinerten Kräfte qqqR, zu denen auch dasGravitationsmoment zählt, von der Bahnbewegung rrrR abhängen können. Die Bahnbewegung rrrRdes Gehäusemassenmittelpunktes kann aber wegen der im Verhältnis zum Bahnradius kleinenAbmessungen eines Satelliten stets gleich der Bahnbewegung des Massenmittelpunktes des ge-samten Satelliten gesetzt werden. Die Bahnbewegung des Massenmittelpunktes ist aus der Him-melsmechanik bekannt, im einfachsten Fall wird sie durch die Keplerschen Gesetze festgelegt.
Führt der Satellit um mehr als eine Achse große Drehbewegungen aus, so ist es zweckmä-ßig, die Drehgeschwindigkeiten als verallgemeinerte Geschwindigkeiten einzuführen und damit(5.165) in die Form (5.74) überzuführen. Zusätzliche Vereinfachungen ergeben sich, wenn sichim Inneren des Satelliten symmetrische Rotoren mit konstanter Drehzahl bewegen. Dann ist einGyrostat gegeben, siehe z. B. Magnus [36] oder Wittenburg [66].
5.7 Formalismen für Mehrkörpersysteme 131
5.7 Formalismen für Mehrkörpersysteme
Die Aufstellung der Bewegungs- und Reaktionsgleichungen ist für große Mehrkörpersystemeeine nichttriviale Aufgabe, die zahlreiche Rechenoperationen umfasst. Es sind deshalb seit den1960iger Jahren rechnergestützte Formalismen entwickelt worden, die zunächst rein numerische,heute aber auch symbolische Gleichungen liefern.
Die numerischen Formalismen liefern für lineare Mehrkörpersysteme die Koeffizienten derSystemmatrizen (5.59) in Zahlenform. Im nichtlinearen Fall erzeugen die numerischen Forma-lismen die für jeden Integrationsschritt erforderlichen Zahlenwerte der Bewegungsgleichungen(5.35) im Rahmen eines umfassenden Simulationsprogrammes. Als Ergebnis erhält man Zeit-verläufe der verallgemeinerten Koordinaten. Im Gegensatz dazu liefern die symbolischen For-malismen zusätzliche Informationen. Bei linearen Mehrkörpersystemen lässt sich erkennen, wel-chen Einfluss die Systemparameter auf die einzelnen Koeffizienten der Systemmatrizen (5.59)haben. Das Ergebnis liegt in der gleichen Form vor, wie man es bei einer herkömmlichen Rech-nung mit Papier und Bleistift erhält. Ein symbolischer Formalismus entlastet den Ingenieur vonder Ausführung umfangreicher und häufig fehlerbehafteter Zwischenrechnungen, alle relevan-ten Informationen bleiben jedoch erhalten. Auch im nichtlinearen Fall erhält man vollständigeDifferentialgleichungen, die z. B. die Art der Kopplungen im System erkennen lassen. Die sym-bolisch bestimmten, linearen oder nichtlinearen Bewegungsgleichungen können dann mit jedemverfügbaren Integrationsprogramm gelöst werden. Die Trennung von Aufstellung und Lösungder Bewegungsgleichungen erleichtert die Beurteilung von Ergebnissen erheblich.
Weiterhin unterscheidet man zwischen nichtrekursiven und rekursiven Formalismen. Die re-kursiven Formalismen nutzen spezielle Topologieeigenschaften von Mehrkörpersystemen aus,um die numerische Effizienz zu erhöhen.
Die kommerziellen Programme für die Dynamik von Mehrkörpersystemen wie z. B. Simpack,Recurdyn, VL.Motion oder MSc.Adams erlauben eine effiziente Dynamikanalyse mit vielfälti-gen Anwendungen in der Industrie. Die Forschungscodes wie z. B. Neweul-M2 oder Robotranbieten zusätzlich die Möglichkeit die Modellierungsansätze und die numerischen Lösungsverfah-ren zu beeinflussen und eigene Ideen zu testen.
5.7.1 Nichtrekursive Formalismen
An dieser Stelle soll der symbolische Formalismus, auf dem Neweul-M2 beruht, kurz beschrie-ben werden, siehe [31]. Neweul-M2 1 ist ein Forschungscode auf der Grundlage der Newton-Eulerschen Gleichungen und den Prinzipen von d’Alembert und Jourdain, der in seiner erstenVersion bereits in den 1970er Jahren an der Universität Stuttgart von Kreuzer [29], Kreuzer undSchiehlen [30] und anderen entwickelt wurde. Neweul-M2 generiert soweit möglich und sinnvollBewegungsgleichungen in Minimalform (5.35) bzw. (5.74), die mit jedem Code für die Lösungvon gewöhnlichen Differentialgleichungen integriert werden können.
Für sehr komplexe Systeme stehen in Neweul-M2 auch rekursive Algorithmen zur Verfügungund es gibt auch viele Erweiterungen z. B. zur Einbindung flexibler Körper, zur Modellredukti-on oder zu Online-Schädigungsberechnungen. Allerdings lassen sich dann i. A. die Bewegungs-gleichungen nicht mehr voll-symbolisch angeben und daher soll hier nur der Grundalgorithmusanhand eines einfachen Beispiels verdeutlicht werden. Neweul-M2 beruht auf Matlab mit der
1 Nähere Einzelheiten finden sich unter www.itm.uni-stuttgart.de/research/neweul
132 5 Mehrkörpersysteme
Symbolic Math Toolbox (entweder auf Maple- oder Mupad-Basis) und kann in verschiedenenModi verwendet werden.
Das Doppelpendel in Bild 5.16 soll im Folgenden als bewusst einfaches kleines Beispiel mo-delliert und simuliert werden.
e2
e1
m2
m1
1
1
L1
L2/2
/2
L1/2
Bild 5.16: Beispiel Zweikörperpendel
Speziell für den unerfahrenen Benutzer oder Einsteiger eignet sich die Verwendung der gra-phischen Benutzerschnittstelle, siehe Bild 5.17.
Allerdings wird die GUI auch gerne zum Aufbau eines später in Textdateien weiter detailier-ten Grundmodells verwendet und es kann beliebig zwischen der graphischen Benutzerschnitt-stelle und der Fileschnittstelle gewechselt werden. In Bild 5.18 ist eine einfach verständlicheASCII-Eingabedatei für Neweul-M2 dargestellt. Es können beliebige Matlab-Kommandos mitden Neweul-M2-Kommandos kombiniert werden und es steht damit eine sehr leistungsfähigeProgrammumgebung zur Verfügung.
Einige Erklärungen dazu. Zunächst wird mit newSys() ein neues System ange-legt und es werden mit newGenCoord() verallgemeinerte Koordinaten sowie mitnewUserVarkonst() Variablen festgelegt. Danach werden mit newBody() die Körperfestgelegt. Man kann dabei flexibel symbolische und numerische Größen mischen und eskönnen auch direkt Formeln eingegeben werden. Hier werden die symbolischen Fähigkeitender Symbolic Math Toolbox genutzt. Anschließend kann man mit newForceElement()Kraftelemente definieren und es ist damit die komplette Kinematik und Kinetik beschrie-ben. Mit calcEqMotNonLin() können mit Hilfe der in diesem Buch beschriebenenMethoden die nichtlinearen Bewegungsdifferentialgleichungen aufgestellt werden und mitwriteMbsNonLin() werden diese geschrieben. Diese symbolischen Gleichungen könnenwie bei einer Rechnung von Hand vom Menschen gelesen werden und können dann fürdie Simulation in Matlab genutzt werden oder auch für den externen Gebrauch mit ande-ren Simulationsprogrammen exportiert werden. Mit createAnimationWindow() bzw.defineGraphics() wird eine einfache Animation vorbereitet, in die aber auch komplexeCAD Körper eingebunden werden können. In die Matlab-Struktur sys.par.timeInt können
5.7 Formalismen für Mehrkörpersysteme 133
Bild 5.17: Graphische Benutzerschnittstelle von Neweul-M2
nun Anfangsbedingungen festgelegt werden und timeInt() führt die Zeitsimulation durch.Deren Ergebnisse können nun graphisch angeschaut werden, siehe Bild 5.19 für einen Zeitplotder beiden Zustandsgrößen α1 und β1, oder direkt als bewegte Animation animTimeInt()angeschaut werden, siehe Bild 5.20.
Das Ausgabeprotokoll von Neweul-M2 kann in Bild 5.21 betrachtet werden. Es ist darin gut zuerkennen, wie der interne Berechnungsablauf ist. Nach der Berechnung der Kinematik werdendie globalen Newton-Euler-Gleichungen aufgestellt und alle notwendigen kinematischen undkinetischen Größen geschrieben. Anschließend werden notwendige Daten für die Zeitsimulationgeschrieben.
Als Beispiel für typische Neweul-M2 Ausgaben sind in Bild 5.22 die symbolischen Ausdrückezu den beiden Vektorkoordinaten der verallgemeinerten Kreiselkräfte kkk sowie der verallgemeiner-ten Kräfte qqq angegeben.
Zur optionalen Berechnung aller oder einiger Reaktionskräfte stehen auch die Newton-Euler-schen Gleichungen des Gesamtsystems zur Verfügung. Daraus können die rein algebraischenReaktionsgleichungen (5.107) bei Bedarf gewonnen werden.
134 5 Mehrkörpersysteme
% new system definitionnewSys(’Id’,’DP’, ’Name’,’double pendulum’,...
’Gravity’,’[0; -g; 0]’,’frameOfReference’,’ISYS’);
% generalized coordinatesnewGenCoord(’alpha1’,’beta1’);
newUserVarKonst(’l1’,1,’b1’,0.05,’m1’,19.625, ...’l2’,0.7,’b2’,0.04,’m2’,8.792,’T1’,0,’T2’,0);
% body defintionsnewBody(’Id’,’P1’, ...
’Name’,’Pendulum 1’, ...’RefSys’,’ISYS’, ...’RelRot’,’[0; 0; alpha1]’, ...’CgPos’,’[l1/2; 0; 0]’, ...’Mass’,’m1’, ...’Inertia’,’[m1/12*(2*b1^2) 0 0; 0 m1/12*(l1^2+b1^2) 0; 0 0 m1/12*(l1^2+b1^2)]’);
newBody(’Id’,’P2’, ...’Name’,’Pendulum 2’, ...’RefSys’,’P1’, ...’RelPos’,’[l1; 0; 0]’, ...’RelRot’,’[0; 0; beta1]’, ...’CgPos’,’[l2/2; 0; 0]’, ...’Mass’,’m2’, ...’Inertia’,’[m2/12*(2*b2^2) 0 0; 0 m2/12*(l2^2+b2^2) 0; 0 0 m2/12*(l2^2+b2^2)]’);
% force elementsnewForceElem(’Id’,’FELEM_1’, ...
’Name’,’Force Element Pendulum 1’, ...’Type’,’General’, ...’Ksys1’,’P1’, ...’Ksys2’,’ISYS’, ...’DirDef’,’P1’, ...’ForceLaw’,’[0; 0; 0; 0; 0; T1]’);
newForceElem(’Id’,’FELEM_2’, ...’Name’,’Force Element Pendulum 2’, ...’Type’,’General’, ...’Ksys1’,’P2’, ...’Ksys2’,’P1’, ...’DirDef’,’P2’, ...’ForceLaw’,’[0; 0; 0; 0; 0; T2]’);
% create nonlinear equations of motioncalcEqMotNonLin;
% write functions for numerical evaluationwriteMbsNonLin;
% initialize animationcreateAnimationWindow;defineGraphics; % model-specific!
% set initial conditions and run time integrationsys.par.timeInt.y0 = zeros(sys.dof,1);sys.par.timeInt.Dy0 = zeros(sys.dof,1);sys.par.timeInt.y0(1) = 56/180*pi;sys.par.timeInt.y0(2) = 15/180*pi;sys.results.timeInt = timeInt(sys.par.timeInt.y0, sys.par.timeInt.Dy0, ...’Time’,[0 10]);animTimeInt;
Bild 5.18: Neweul-M2 Eingabedatei
5.7 Formalismen für Mehrkörpersysteme 135
Bild 5.19: Zeitverlauf der verallgemeinerten Koordinaten für das Zweikörperpendel
Bild 5.20: Animationsdarstellung Zweikörperpendel
136 5 Mehrkörpersysteme
Creating New System ... ok!Generating Nonlinear Equations of Motion ...Preparations ... ok!Calculating Relative Kinematic Values ok!Calculating Absolute Kinematic Values ...Inertial System ... ok!Primary System Pendulum 1 ... ok!Center of Gravity Pendulum 1 ... ok!Primary System Pendulum 2 ... ok!Center of Gravity Pendulum 2 ... ok!ok!Creating Global Jacobian Matrix ... ok!Creating Global Newton Euler Equations ...Mass Matrix, Gen. Coriolis, Centrifugal and Gyroscopic Forces, Gravitation ...Pendulum 1 ... ok!Pendulum 2 ... ok!Forces of Force Elements ...Force Element Pendulum 1 ... ok!Force Element Pendulum 2 ... ok!Simplifying the Equations of Motion ...Mass Matrix ... ok!Local accelerations of frame of reference ... ok!Coriolis and centrifugal forces ... ok!Inner elastic forces ... ok!ok!Creating Functions for Numerical Evaluation ...Auxiliary Functions ... ok!Functions for the Coordinate Systems ... ok!Functions for the System Dynamics ... ok!Functions for the Equations of Motion ... ok!ok!Initializing the Animation ... ok!Drawing coordinate systems ... ok!Creating graphic objects ...ok!Animating Simulation results ...Finding the optimal stepsize for the animation time by calculatingthe maximum of the duration of the first 3 timesteps ...Setting timestepsize to 1.974830e-02 s.
Bild 5.21: Neweul-M2 Protokoll-Datei
sys.eqm.kans =-(Dbeta1*l1*l2*m2*sin(beta1)*(2*Dalpha1 + Dbeta1))/2
(Dalpha1^2*l1*l2*m2*sin(beta1))/2sys.eqm.qans =T1 - (g*l2*m2*cos(alpha1 + beta1))/2 - (g*l1*m1*cos(alpha1))/2 - g*l1*m2*cos(alpha1)
T2 - (g*l2*m2*cos(alpha1 + beta1))/2
Bild 5.22: Neweul-M2 Matlab-Ausgabe
5.7 Formalismen für Mehrkörpersysteme 137
5.7.2 Rekursive Formalismen
Bei der numerischen Lösung der Bewegungsgleichungen (5.35) von großen Mehrkörpersyste-men in Minimalform erweist sich die Inversion der häufig vollbesetzten Massenmatrix als auf-wendig. Deshalb wurden rekursive Verfahren entwickelt, welche diese Inversion vermeiden unddamit die numerischen Effizienz steigern, siehe Hollerbach [27], Bae und Haug [3], Brandl, Jo-hanni und Otter [10], Schiehlen [50]. Die Grundlagen der rekursiven Formalismen sollen hier fürholonome Mehrkörpersysteme vorgestellt werden.
Eine wichtige Voraussetzung für rekursive Formalismen ist die Ketten- oder Baumtopologiedes betrachteten Mehrkörpersystems, Bild 5.23.
Schleife Baum Kette
Bild 5.23: Topologie von Mehrkörpersystemen
Eine Schleifenstruktur ist nicht direkt zugelassen. Treten dennoch Schleifen auf, so werdensie durch Aufschneiden in eine Baumtopologie zurückgeführt und es müssen einige wenige al-gebraische Schließbedingungen eingehalten werden. Die rekursive Kinematik macht von der Re-lativbewegung zweier benachbarter Körper und den zugehörigen lokalen Bindungen Gebrauch,Bild 5.24.
Der absolute 6×1-Bewegungswinder wwwi des starren Körper Ki mit dem körperfesten Bezugs-punkt Oi setzt sich gemäß (2.86) aus dem 3× 1-Geschwindigkeitsvektor vvvOi des Bezugspunktsund dem 3 × 1-Drehgeschwindigkeitsvektor ωωω i zusammen. Der Bewegungswinder beschreibteindeutig den Geschwindigkeitszustand des Körpers Ki. Der absolute Bewegungswinder wwwi wirdnun auf den absoluten Bewegungswinder wwwi−1 des Vorgängerkörpers Ki−1 und die verallgemei-nerten Relativgeschwindigkeiten yyyi im Gelenk Pi−1 zwischen beiden Körper bezogen. Dann gilt[
vvvOiωωω i
]︸ ︷︷ ︸
wwwi
= SSSi,i−1 ·[
EEE −rrrOi−1,Oi000 EEE
]︸ ︷︷ ︸
CCCi
·[
vvvOi−1ωωω i−1
]︸ ︷︷ ︸
wwwi−1
+SSSi,i−1 ·[
JJJTiJJJRi
]︸ ︷︷ ︸
JJJi
·yyyi, (5.166)
wobei SSSi,i−1 eine 6× 6-Blockdiagonalmatrix mit zwei Blöcken des relativen 3× 3-Drehtensorszwischen den körperfesten Koordinatensystemen i und i− 1 ist. Die 6× 6-Matrix CCCi wird nach(2.255) durch den Ortsvektor zwischen den Punkten Oi−1 und Oi bestimmt, während die 6× fi-
138 5 Mehrkörpersysteme
O1
vO2
vO1
r12
r22
r23
f 2r
eI2
O3
l 3r
eI1
O1
O2
f 3r
l 2r
P2O2
rI1
rI2 rI3
P1
eI3
OI
r11
Bild 5.24: Relativbewegung zweier Körper
Matrix JJJi sich aus den relativen Jacobi-Matrizen der Translation und Rotation zusammensetzt.Dabei gilt für die Gesamtzahl der Freiheitsgrade des Systems weiterhin f = ∑p
i=1 fi, siehe auch(2.197). Nach den Regeln der Relativbewegung gemäß Abschnitt 2.4 bleibt für die absolute Be-schleunigung entsprechend (2.257) und (2.258)
bbbi =CCCi ·bbbi−1 +JJJi · yyyi +βββ i(yyyi,wwwi−1), (5.167)
wobei die 6×1-Vektoren bbbi bzw. bbbi−1 die Translations- und Rotationsbeschleunigungen zusam-menfassen, während die restlichen, von den Geschwindigkeiten abhängigen Terme im 6 × 1-Vektor βββ i zu finden sind. Für das gesamte Mehrkörpersystem lässt sich die absolute Beschleuni-gung mit den 6p×1-Vektoren bbb und βββ sowie den 6p×6p-Matrizen CCC und JJJ angeben,
bbb =CCC ·bbb+JJJ · yyy+βββ . (5.168)
Dabei ist die Geometriematrix CCC eine untere Blocknebendiagonalmatrix, während die Jacobi-Matrix JJJ Diagonalgestalt hat
CCC =
⎡⎢⎢⎢⎢⎢⎣
000 000 000 · · · 000CCC2 000 000 · · · 000000 CCC3 000 · · · 000...
.... . . . . .
...000 000 000 CCCp 000
⎤⎥⎥⎥⎥⎥⎦ , JJJ =
⎡⎢⎢⎢⎢⎢⎣
JJJ1 000 000 · · · 000000 JJJ2 000 · · · 000000 000 JJJ3 · · · 000...
.... . . . . .
...000 000 000 000 JJJp
⎤⎥⎥⎥⎥⎥⎦ . (5.169)
Aus (5.168) erhält man die nichtrekursive Form der Absolutbeschleunigung
bbb = (EEE −CCC)−1 ·JJJ · yyy+βββ , (5.170)
5.7 Formalismen für Mehrkörpersysteme 139
wobei wiederum die globale 6p× f -Jacobi-Matrix JJJ, siehe auch (5.21), auftritt
JJJ = (EEE −CCC)−1 ·JJJ =
⎡⎢⎢⎢⎢⎢⎣
JJJ1 000 000 · · · 000CCC2 ·JJJ1 JJJ2 000 · · · 000
CCC3 ·CCC2 ·JJJ1 CCC3 ·JJJ2 JJJ3 · · · 000...
.... . . . . .
...∗ ∗ ∗ · · · JJJp
⎤⎥⎥⎥⎥⎥⎦ . (5.171)
Durch die Kettentopologie des Mehrkörpersystems ist die globale Jacobi-Matrix JJJ eine untereDreiecksmatrix.
Die Newtonsche Gleichung und die Eulersche Gleichung werden für den Körper Ki im körper-festen Koordinatensystem mit dem Knotenpunkt Oi angeschrieben, wobei der absolute Beschleu-nigungswinder bbbi und der Kraftwinder qqqi der äußeren Kräfte und Momente verwendet werden,[
miEEE mirrrTOiCi
mirrrOiCi IIIOi
]︸ ︷︷ ︸
MMMi = const.
·[
aaaOiαααOi
]︸ ︷︷ ︸
bbbi
+
[miωωω i ·ωωω i ·rrrOiCi
ωωω i ·IIIOi ·ωωω i
]︸ ︷︷ ︸
kkki
=
[fff i
lllOi
]︸ ︷︷ ︸
qqqi
. (5.172)
Dabei ist die 6×6-Massenmatrix MMMi konstant. Der Kraftwinder qqqi wird nun in einen eingepräg-ten Kraftwinder und einen Kraftwinder der Reaktionen aufgeteilt, wobei der Letztere durch dieReaktionen in den Gelenken Oi und Oi+1 bestimmt wird
qqqi = qqqei +qqqr
i , qqqri =QQQi ·gggi −CCCT
i+1 ·QQQi+1 ·gggi+1. (5.173)
Weiterhin sind QQQi bzw. QQQi+1 die 6× qi-Verteilungsmatrizen in den entsprechenden Gelenken,während die transponierte Geometriematrix CCCT
i+1 die Transformation des Kraftwinders qqq(r)i+1 nachOi übernimmt und das Gegenwirkungsgesetz Anwendung findet. Dabei gilt für die Gesamtzahlder Bindungen des Systems weiterhin q = ∑p
i=1 qi, siehe auch (2.197). Damit stehen 18p globaleGleichungen nach (5.170), (5.172) und (5.173) für das gesamte Mehrkörpersystem zur Verfü-gung
bbb = JJJ · yyy+βββ , (5.174)
MMM ·bbb+kkk = qqq(e) +qqq(r), (5.175)
qqq(r) = (EEE −CCC)T ·QQQ ·ggg =QQQ ·ggg (5.176)
mit den 18p Unbekannten in den Vektoren bbb, yyy, qqq(r), ggg. Weiterhin tritt die globale dünn besetzteVerteilungsmatrix QQQ auf, welche nur Blöcke auf der Diagonale und der oberen Nebendiagonaleaufweist
QQQ =
⎡⎢⎢⎢⎢⎢⎣
QQQ1 −CCC2 ·QQQ2 000 · · · 000000 QQQ2 −CCC3 ·QQQ3 · · · 000000 000 QQQ3 · · · 000...
.... . . . . .
...000 000 000 000 QQQp
⎤⎥⎥⎥⎥⎥⎦ . (5.177)
140 5 Mehrkörpersysteme
Setzt man nun (5.174) und (5.176) in (5.175) ein und wendet man die OrthogonalitätbeziehungJJJT ·QQQ = 000 nach (4.16) an, so erhält man die Bewegungsgleichungen in der bekannten Minimal-form (5.35). Die f × f -Massenmatrix ist allerdings voll besetzt,
MMM =
⎡⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎣
JJJT1 · (MMM1 +CCCT
2 · (MMM2+ JJJT1 ·CCCT
2 (MMM2 +CCCT3 ·MMM3 ·CCC3) ·JJJ2 JJJT
1 ·CCCT2 ·CCCT
3 ·MMM3 ·JJJ3+CCCT
3 ·MMM3 ·CCC3) ·CCC2) ·JJJ1
JJJT2 · (MMM2+ JJJT
2 · (MMM2 +CCCT3 ·MMM3 ·CCC3) ·JJJ2 JJJT
2 ·CCCT3 ·MMM3 ·JJJ3
+CCCT3 ·MMM3 ·CCC3) ·CCC2 ·JJJ1
JJJT3 ·MMM3 ·CCC3 ·CCC2 ·JJJ1 JJJT
3 ·MMM3 ·CCC3 ·JJJ2 JJJT3 ·MMM3 ·JJJ3
⎤⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎦ , (5.178)
und der f ×1-Vektor kkk der Kreisel- und Coriolis-Kräfte hängt nicht nur von den verallgemeiner-ten Koordinaten, sondern auch von den absoluten Geschwindigkeiten mit dem globalen Bewe-gungswinder www ab
kkk = kkk(yyy, yyy,www). (5.179)
Die Massenmatrix (5.178) weist auf Grund der Kettentopologie des Mehrkörpersystems einecharakteristische Bauform auf, die mit einer Gauß-Transformation, siehe z. B. Bronstein et al.[12] und einer Rekursionsformel direkt ausgewertet werden kann.
Damit ergeben sich drei Schritte, um die verallgemeinerten Beschleunigungen yyy zu bestim-men, welche bei der Integration der Bewegungsgleichungen benötigt werden.
Schritt 1: Vorwärtsrekursion zur Bestimmung der absoluten Bewegung beginnend mit demGrundkörper i= 1. Die Bewegung des nicht zum System gehörenden Körpers i= 0 muss bekanntsein. Häufig dient das Inertialsystem als Körper i = 0, so dass dessen absolute Beschleunigungverschwindet.
Schritt 2: Rückwärtsrekursion beginnend mit dem Endkörper i = p mit einer Gauß-Transfor-mation. Als Ergebnis dieses Schrittes bleiben die Bewegungsgleichungen
MMM · yyy+ kkk = qqq (5.180)
wobei die f × f -Massenmatrix MMM eine untere Dreiecksmatrix ist
MMM =
⎡⎣ JJJT
1 ·MMM1 ·JJJ1 000 000JJJT
2 ·MMM2 ·CCC2 ·JJJ1 JJJT2 ·MMM2 ·JJJ2 000
JJJT3 ·MMM3 ·CCC3 ·CCC2 ·JJJ1 JJJT
3 ·MMM3 ·CCC3 ·JJJ2 JJJT3 ·MMM3 ·JJJ3
⎤⎦ (5.181)
Die Blöcke in (5.181) erhält man aus der fi × fi-Rekursionsformel
MMMi−1 = MMMi−1 +CCCTi · (MMMi −MMMi ·JJJi · (JJJT
i ·MMMi ·JJJi)−1 ·JJJT
i ·MMMi) ·CCCi. (5.182)
Da für ein Mehrkörpersystem mit Kettenstruktur in Abhängigkeit von der lokalen Bindung fi ≤ 5gilt, sind nur kleine Matrizen zu invertieren.
Schritt 3: Vorwärtsrekursion zur Bestimmung der verallgemeinerten Beschleunigungen yyy be-ginnend mit i = 1.
Bei Bedarf lassen sich ohne zusätzlichen Rechnenaufwand auch die verallgemeinerten
5.7 Formalismen für Mehrkörpersysteme 141
Zwangskräfte angeben. Es ist offensichtlich, dass ein rekursiver Algorithmus einen zusätzlichennumerischen Aufwand bedingt. Deshalb bringt die Rekursion erst bei mehr als 8-10 Körpern eineechte Effizienzsteigerung gegenüber der direkten Matrizeninversion. Es sind auch Erweiterungenfür Schleifentopologien vorgeschlagen worden, siehe Bae und Haug [3] oder Saha und Schiehlen[48]. Wegen der möglichen Effizienzsteigerung haben die rekursiven Formalismen auch Eingangin kommerzielle Programme gefunden.
6 Finite-Elemente-Systeme
Ein Finite-Elemente-System erhält man anschaulich durch die Zerlegung eines nichtstarren Kon-tinuums in geometrisch einfache Teilkörper, die an diskreten Knotenpunkten miteinander verbun-den sind. Das Materialgesetz, wie z. B. das linearelastische Hookesche Materialgesetz, führt dannauf innere Kräfte und Momente, die in der Steifigkeitsmatrix eines einzelnen finiten Elements ih-ren Niederschlag finden. Die Knotenpunkte der Elemente sind durch holonome Bindungen mit-einander verknüpft, darüber hinaus können an den Knotenpunkten äußere Kräfte und Momenteangreifen. Viele Details zur Finite-Elemente-Methode sind z. B. in Zienkiewicz, Taylor [69], Ba-the [5] oder Wriggers [68] zu finden.
Die globalen Bewegungsgleichungen des Gesamtsystems werden durch einen Zusammenbau-prozess aus den lokalen Bewegungsgleichungen der finiten Elemente gewonnen. Es werden des-halb zuerst die lokalen Bewegungsgleichungen betrachtet. Dabei ist es in diesem Buch nichtmöglich oder erwünscht, die große Vielfalt heute eingeführter finiter Elemente im Einzelnen dar-zustellen. Vielmehr sollen die Grundgedanken für das Tetraederelement aufgezeigt und am Bei-spiel des Balkenelements im Einzelnen erläutert werden. Das räumliche Balkenelement schließtals Sonderfälle den Zug-Druck-Stab, den Torsionsstab und den ebenen Balken mit ein. Dasd’Alembertsche Prinzip wird sowohl zur Bestimmung der lokalen Bewegungsgleichungen alsauch zur Aufstellung der globalen Systemgleichungen herangezogen. Dabei werden kleine Ver-formungen vorausgesetzt, wie dies in der linearisierten Strukturdynamik üblich ist.
Ein Balkensystem ist ein aus starren Teilkörpern und finiten Balkenelementen aufgebautesErsatzsystem. Infolge der großen Starrkörperbewegungen führen dann auch die finiten Balken-elemente große Bewegungen bei häufig kleinen Deformationen aus. Es müssen deshalb zusätz-lich die Gesetze der Relativbewegung berücksichtigt werden. Abschließend werden noch einigeHinweise zur Festigkeitsberechnung für Finite-Elemente-Systeme gegeben.
6.1 Lokale Bewegungsgleichungen
Die lokalen Bewegungsgleichungen eines Finite-Elemente-Systems gelten für einzelne, freieElemente, die keinen äußeren Bindungen unterliegen. Ohne Einschränkung der Allgemeinheitgenügt es deshalb, ein beliebiges finites Element K zu betrachten. Zur Aufstellung der lokalenBewegungsgleichungen wird die Impulsbilanz (3.63) mit dem durch das Hookesche Gesetz gege-benen Spannungstensor und den in den Knotenpunkten wirkenden Einzelkräften herangezogen.Die Impulsbilanz (3.63) kann aber trotzdem nicht ausgewertet werden, da die Deformation imelastischen Element K unbekannt ist.
Zur Lösung des Problems wird das finite Element nun inneren Bindungen durch die Einfüh-rung von Ansatzfunktionen unterworfen. Diese zunächst sehr willkürlich erscheinende Vorausset-zung hat sich in der Mechanik aber seit Jahrhunderten bewährt. So stellt z. B. die bekannte Ber-noullische Hypothese der Balkenbiegung auch eine innere Bindung dar: die Balkenquerschnittesollen eben und senkrecht zur Balkenachse bleiben. Einfache, aber bereits sehr wirkungsvol-le innere Bindungen erhält man durch die Voraussetzung einer konstanten Dehnung, was einer
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014 W. Schiehlen, P. Eberhard, Technische Dynamik, DOI 10.1007/978-3-658-06185-2_6
144 6 Finite-Elemente-Systeme
linearen Ansatzfunktion entspricht. Die lokalen Bewegungsgleichungen sollen nun für ein Tetra-ederelement und ein räumliches Balkenelement vorgestellt werden.
6.1.1 Tetraederelement
Nach Bild 6.1 gilt für die aktuelle Konfiguration K(t) eines Tetraederelements
rrr(ρρρ, t) = ρρρ +CCC(ρρρ) ·xxx(t) (6.1)
mit dem 12×1-Lagevektor
xxx(t) =[
www1 www2 www3 www4]
(6.2)
und der 3×12-Jacobi-Matrix
JJJ(ρρρ) =CCC(ρρρ), (6.3)
welche der Matrix der Ansatzfunktionen entspricht. Das Tetraederelement hat also e = 12 Frei-heitsgrade. Aus (6.1) erhält man für die Beschleunigung
aaa(ρρρ, t) =CCC(ρρρ) · xxx(t) (6.4)
und die virtuellen Größen lauten
δrrr =CCC ·δxxx, (6.5)δeee =BBB ·δxxx = V ·AAA ·δxxx. (6.6)
e2e1
e3
w1
w2
w4
w3
f2
f1
f4
f3
P4
P1
P1
P4
P2
P3
K (t)
K (t0)
P2
P3
Bild 6.1: Finites Tetraederelement
Berücksichtigt man noch das Hookesche Materialgesetz (3.68), so folgen mit dem d’Alem-bertschen Prinzip (4.31) die lokalen Bewegungsgleichungen in der Form
MMM · xxx(t)+KKK ·xxx(t) = qqq(t). (6.7)
6.1 Lokale Bewegungsgleichungen 145
Dabei ist
MMM = ρ∫V
CCCT ·CCCdV (6.8)
die zeitinvariante 12×12-Massenmatrix,
KKK =∫V
BBBT ·HHH ·BBBdV (6.9)
die ebenfalls zeitinvariante 12× 12-Steifigkeitsmatrix und im 12×1-Vektor qqq(t) sind die einge-prägten Volumen- und Oberflächenkräfte zusammengefasst
qqq(t) = ρ∫V
CCCT · fff dV +∫A
CCCT ·tttedA. (6.10)
Dabei umfassen die eingeprägten Oberflächenkräfte die in den vier Knotenpunkten wirkendenoder auf diese projizierten verallgemeinerten Kräfte∫
A
CCCT ·tttedA =[
fff 1 fff 2 fff 3 fff 4], (6.11)
die in Bild 6.1 eingetragen sind. Die Elemente der Matrizen und Vektoren sollen hier nicht an-gegeben werden, sie können in der Literatur nachgelesen werden, z. B. bei Bathe [5]. Die häufigverwendeten linearen Ansatzfunktionen CCC =DDD+EEE ·ρρρ entsprechen den inneren Bindungen einerkonstanten Dehnung im ganzen Tetraederelement.
6.1.2 Räumliches Balkenelement
Wegen seiner großen technischen Bedeutung wird nun das räumliche Balkenelement, Bild 6.2,ausführlicher behandelt. In der technischen Biegelehre wird zunächst vorausgesetzt, dass dieQuerschnitte eines Balkens eben und senkrecht zur Balkenachse bleiben. Dies führt auf die inne-ren Bindungen eines kontinuierlichen Balkens, welche die folgende Gestalt haben
rrr(ρρρ, t) =
⎡⎣ ρ1 +u(ρ1, t)+β (ρ1, t)ρ3 − γ(ρ1, t)ρ2
ρ2 + v(ρ1, t)−αρ1, t)ρ3ρ3 +w(ρ1, t)+α(ρ1, t)ρ2
⎤⎦ . (6.12)
Dabei kennzeichnen u, v und w die Verschiebungskoordinaten der Balkenachse ρρρ = [ρ1 0 0]und α , β und γ stellen die Drehungen der Balkenquerschnitte dar. Wegen der Orthogonalität vonBalkenachse und Querschnitt gilt weiterhin
β =− ∂w∂ρ1
=−w′, γ =∂v
∂ρ1= v′. (6.13)
Man bezeichnet u auch als die Längsverschiebung infolge einer Zug-Druckbelastung, v und w
146 6 Finite-Elemente-Systeme
starrer QuerschnittK (t0)
e2
L
e3
P (t)
K (t)
e1
w
v
u
P (t0)
r1 ( , t)
Bild 6.2: Räumliches Balkenelement
beschreiben die Durchbiegung und α stellt den Torsionswinkel dar.Jeder Querschnitt des Balkens wird also durch einen Punkt auf der Balkenachse mit der Ko-
ordinate ρ1 beschrieben und hat sechs Freiheitsgrade. Die Balkenachse ist andererseits ein eindi-mensionales Kontinuum mit a→∞ Freiheitsgraden. Damit folgt, dass der kontinuierliche Balkennach (6.12) insgesamt f = 6a mit a → ∞ Freiheitsgrade aufweist. Der Balken kann deshalb auchals eindimensionales polares Kontinuum aufgefasst werden. Da die Theorie polarer Kontinuanicht eingeführt wurde, wird hier nur die Behandlung des Balkens als nichtpolares Kontinuummit inneren Bindungen fortgeführt.
Das finite Balkenelement erhält man aus (6.12) durch die zusätzliche Einführung innerer Bin-dungen. Dabei ist für die Längsverschiebung und die Torsion ein linearer Ansatz möglich, wie ersich z. B. auch bei der Lösung des elastostatischen Problems ergibt. Aus
u(ρ1, t) = c1(t)+ρ1c2(t) (6.14)
folgt nach der Anpassung der Randbedingungen an den Balkenenden,
u(0, t) = ul(t) = c1(t), (6.15)u(L, t) = ur(t) = c1(t)+Lc2(t), (6.16)
und der Normierung der Koordinate ρ1 die Ansatzfunktion
u(x, t) =[(1− x) x
] · [ ul(t) ur(t)], x =
ρ1
L. (6.17)
Ebenso erhält man
α(x, t) =[(1− x) x
] · [ αl(t) αr(t)], x =
ρ1
L. (6.18)
Für die Durchbiegungen ist dagegen aufgrund der Randbedingungen mindestens ein kubischer
6.1 Lokale Bewegungsgleichungen 147
Ansatz erforderlich, da nach (6.13) die Drehungen β , γ mit den Durchbiegungen w, v verknüpftsind, und es sind vier Randbedingungen zu erfüllen. So findet man mit dem Ansatz
v(ρ1, t) = c1(t)+ρ1c2(t)+ρ21 c3(t)+ρ3
1 c4(t) (6.19)
nach Anpassung an die Randbedingungen und Normierung der Koordinate ρ1 die Ansatzfunktion
v(x, t) =
⎡⎢⎢⎣
(1− x)2(1+2x)x(1− x)2Lx2(3−2x)−x2(1− x)L
⎤⎥⎥⎦ ·⎡⎢⎢⎣
vl(t)γl(t)vr(t)γr(t)
⎤⎥⎥⎦ , x =
ρ1
L. (6.20)
Entsprechende Ausdrücke erhält man auch für w(x, t), wobei die Vorzeichen der mit L multipli-zierten Elemente zu vertauschen sind weil w′ =−β ist.
Das finite Balkenelement hat also 12 Freiheitsgrade, die den Starrkörperbewegungen der Quer-schnitte am linken und rechten Balkenende entsprechen. Da jedoch (6.17), (6.18) und (6.20)entkoppelt sind, können die Elementmatrizen für die einzelnen Belastungsfälle unabhängig von-einander bestimmt werden.
Aus (6.12) und (6.17) folgt zunächst die Jacobi-Matrix für die Längsverschiebung des finitenBalkenelements
CCC(x) =
⎡⎣ 1− x x
0 00 0
⎤⎦ . (6.21)
Die Massenmatrix für die Balkenlängsverschiebung lautet damit nach (6.8)
MMM = ρAL1∫
0
[(1− x)2 (1− x)x(1− x)x x2
]dx. (6.22)
Nach Auswertung der Integrale bleibt für die Massenmatrix
MMM =ρAL
6
[2 11 2
]. (6.23)
Dabei ist A die konstante Querschnittsfläche des Balkens mit der Masse m = ρAL.
Zur Berechnung der Steifigkeitsmatrix werden zunächst die Dehnung und die Spannung er-mittelt. Aus (6.17) folgt der eindimensionale Verzerrungszustand zu
eee(t) =
⎡⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎣
− 1L
1L
0 00 00 00 00 0
⎤⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎦ ·[
ul(t)ur(t)
], (6.24)
148 6 Finite-Elemente-Systeme
der mit dem Hookeschen Gesetz (3.68) auf einen dreidimensionalen Spannungszustand führt,
σσσ =E
(1−ν)(1−2ν)
⎡⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎣
−1−νL
1−νL
−νL
νL
−νL
νL
0 00 00 0
⎤⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎦, (6.25)
was der Erfahrung widerspricht. Man erkennt, dass lediglich für verschwindende Querdehnungen,ν = 0, ein eindimensionaler Spannungszustand vorliegt. Die Ursache dieses Widerspruchs liegtdarin begründet, dass in (6.12) nicht nur ebene, sondern auch starre Querschnitte vorausgesetztwerden. Beim freien Balkenelement kann nun der Widerspruch dadurch behoben werden, dass in(6.12) zusätzliche Terme eingeführt werden, die den Einfluss der Querdehnung berücksichtigen.Dann ergibt sich ein dreidimensionaler Verzerrungszustand und ein eindimensionaler Spannungs-zustand. Allerdings kann dann das Balkenelement nicht mehr über die ganze Querschnittsflächemit einem starren Körper verbunden werden, da dann die geometrischen Randbedingungen ver-letzt sind. Eine vollständige Lösung dieses Dilemmas lässt sich nur durch eine genauere Model-lierung des Übergangs zwischen einem starren Körper und dem Balken, z. B. durch räumlicheTetraederelemente, finden. Für die ingenieurwissenschaftliche Praxis kann man sich entwederdurch ein radialverschiebliches Lager zwischen Balken und Starrkörper oder durch ein anisotro-pes Materialgesetz behelfen. Beide Varianten führen zu einem mit der Erfahrung verträglichenErgebnis (Prinzip von Saint Venant). In der Literatur wird in der Regel das anisotrope Material-gesetz verwendet. Es vereinfacht die Berechnung der Elementmatrizen und wird deshalb auchhier herangezogen.
An die Stelle der Matrix (3.69) des Hookeschen Materialgesetzes tritt beim Balken somit dieBeziehung
HHH =
⎡⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎣
1+ν 0 0 |0 1+ν 0 | 0000 0 1+ν |
−− −− −− | −− −− −−| 1
2 0 0000 | 0 1
2 0| 0 0 1
2
⎤⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎦
E1+ν
. (6.26)
Damit lautet die Steifigkeitsmatrix für die Balkenlängsverschiebung nach (6.9)
KKK =AEL
1∫0
[1 −1−1 1
]dx. (6.27)
6.1 Lokale Bewegungsgleichungen 149
Ausgewertet bleibt für die Steifigkeitsmatrix
KKK =AEL
[1 −1−1 1
]. (6.28)
Setzt man weiterhin eine konstante Massenkraftdichte fff = [n 0 0] mit der konstanten spezifi-schen Längsbelastung n voraus, so gilt für die verallgemeinerten Kräfte
qqq(t) =ρAL1∫
0
[1− x 0 0
x 0 0
]·⎡⎣ n
00
⎤⎦ dx+
∫A�
[10
]te1dA+
∫Ar
[01
]te1dA
=ρALn
2
[11
]+
[Nl(t)Nr(t)
]. (6.29)
Dabei sind Nl,r die Normalkräfte, die auf die Normalspannungen am linken und rechten Balke-nende zurückgehen.
Aus (6.12) und (6.18) findet man die Jacobi-Matrix für die Torsion des finiten Balkenelements
CCC(x, ρ2, ρ3) =
⎡⎣ 0 0
−(1− x)ρ3 −xρ3(1− x)ρ2 xρ2
⎤⎦ . (6.30)
Die Massenmatrix (6.8) hat für die Torsion die Form
MMM = ρL1∫
0
∫A
[(1− x)2 (1− x)x(1− x)x x2
](ρ2
2 +ρ23 )dA =
ρLJP
6
[2 11 2
], (6.31)
wobei das polare Flächenträgheitsmoment JP auftritt. Weiterhin gilt für die Steifigkeitsmatrix derTorsion nach (6.9) mit (6.6), (6.26) und (6.30)
KKK =E
2(1+ν)L
1∫0
∫A
[1 −1−1 1
](ρ2
2 +ρ23 )dA =
GJP
L
[1 −1−1 1
], (6.32)
wobei der Schubmodul G = E/2(1+ν) verwendet wird.
Als verallgemeinerte Kräfte bleiben die Momente MT l,r der Schubspannungen in den Quer-schnitten am linken und rechten Ende
qqq(t) =∫Al
[0 ρ3 −ρ20 0 0
]·⎡⎣ te
1lte2l
te3l
⎤⎦ dA
+∫Ar
[0 0 00 ρ3 −ρ2
]·⎡⎣ te
1rte2r
te3r
⎤⎦ dA =
[MT l(t)MTr(t)
]. (6.33)
150 6 Finite-Elemente-Systeme
Aus (6.12), (6.13) und (6.20) findet man für die Jacobi-Matrix der Durchbiegung v und die Dre-hung γ des finiten Balkenelements
CCC(x, ρ2) =
⎡⎣ 6x(1− x)ρ2 −(1−4x+3x2) −6x(1− x)ρ2
L x(2−3x)ρ2(1− x)2(1+2x) x(1− x)2L x2(3−2x) −x2(1− x)L
0 0 0 0
⎤⎦ . (6.34)
Damit lassen sich, wie oben gezeigt, die Massen- und Steifigkeitsmatrix berechnen. Man erhältnach einigen Zwischenrechnungen schließlich für die Massenmatrix der Durchbiegung
MMM =ρAL420
⎡⎢⎢⎣
156 22L 54 −13L22L 4L2 13L −3L2
54 13L 156 −22L−13L −3L2 −22L 4L2
⎤⎥⎥⎦+ ρJ3
30L
⎡⎢⎢⎣
36 3L −36 3L3L 4L2 −3L −L2
−36 −3L 36 −3L3L −L2 −3L 4L2
⎤⎥⎥⎦ , (6.35)
wobei J3 das Flächenträgheitsmoment bezüglich der 3-Achse des Querschnittes ist. Weiterhinlautet die Steifigkeitsmatrix der Durchbiegung
KKK =EJ3
L3
⎡⎢⎢⎣
12 6L −12 6L6L 4L2 −6L 2L2
−12 −6L 12 −6L6L 2L2 −6L 4L2
⎤⎥⎥⎦ . (6.36)
Die verallgemeinerten Kräfte werden durch die Querkräfte und die Biegemomente am linkenund rechten Balkenende bestimmt zu
qqq(t) =[
Q2l(t) M3l(t) Q2r(t) M3r(t)]. (6.37)
Entsprechende Matrizen und Vektoren gelten für die Durchbiegung w und die Drehung β .Damit stehen auch die lokalen Bewegungsgleichungen für ein finites Balkenelement bezüg-
lich kleiner Bewegungen gegenüber dem Inertialsystem zur Verfügung. Sie gelten unter der Vor-aussetzung, dass die Balkenlängsachse mit der 1-Achse des Inertialsystems zusammenfällt. Istdies nicht der Fall, so sind entsprechende Koordinatentransformationen durchzuführen, siehez. B. Link [34].
6.2 Globale Bewegungsgleichungen
Finite Elemente dienen der Modellierung von Konstruktionen, d. h. sie müssen zu einem Gesamt-system zusammengefügt werden. Zu diesem Zweck werden die freien finiten Elemente äußerenBindungen unterworfen. Die äußeren Bindungen werden in den verallgemeinerten Koordinatender einzelnen Elemente, d. h. in ihren Knotenpunktskoordinaten, formuliert. Damit verbleibt einGesamtsystem mit einer reduzierten Anzahl f von Freiheitsgraden. In der Strukturdynamik, wonur kleine Bewegungen gegenüber dem Inertialsystem auftreten, empfiehlt es sich, die Bindun-gen auch in den Koordinaten des Inertialsystems auszudrücken.
Fasst man nun die verallgemeinerten Koordinaten des Gesamtsystems von p finiten Elementen
6.2 Globale Bewegungsgleichungen 151
zum f ×1-Lagevektor
yyy(t) =[
y1 y2 ... y f]
(6.38)
zusammen, so lassen sich die Bindungen stets wie folgt ausdrücken,
xxxi(t) = IIIi ·yyy(t), i = 1(1)p, (6.39)
wobei xxxi(t) der ei × 1-Lagevektor des i-ten finiten Elementes ist und IIIi eine im Allgemeinenkonstante ei × f -Jacobi-Matrix darstellt. Aus dem d’Alembertschen Prinzip (4.24) folgen danndie Bewegungsgleichungen des Gesamtsystems für lineare finite Elemente in der Form
MMM · yyy(t)+KKK ·yyy(t) = qqq(t) (6.40)
mit der f × f -Massenmatrix
MMM =p
∑i=1
IIITi ·MMMi ·IIIi, (6.41)
der f × f -Steifigkeitsmatrix
KKK =p
∑i=1
IIITi ·KKKi ·IIIi (6.42)
und dem Vektor der verallgemeinerten Kräfte
qqq =p
∑i=1
IIITi ·qqqi. (6.43)
In der Strukturdynamik erhält man also in der Regel lineare konservative Schwingungssysteme.Häufig werden jedoch noch Dämpfungseinflüsse mit der so genannten Bequemlichkeitshypothe-se berücksichtigt. Zu diesem Zweck wird (6.40) durch eine Dämpfungsmatrix DDD, multipliziertmit der ersten Ableitung des Lagevektors yyy(t) ergänzt. Für die Dämpfungsmatrix nimmt man oftnach der Rayleigh Hypothese
DDD = aMMM+bKKK, a, b = const. (6.44)
an, wodurch sich die Matrizen MMM, DDD und KKK simultan diagonalisieren lassen, was einer modalenDämpfung sämtlicher Eigenformen entspricht.
Weit verbreitet ist auch die ‘lumped-mass-method’. Dabei wird auf die konsistente Berech-nung der Massenmatrix MMM verzichtet und die Masse mi des i-ten finiten Elements gleichmäßigauf seine Knotenpunkte verteilt. Dadurch ist die Massenmatrix stets diagonal, was bei einer ho-hen Zahl von Elementen einen rechentechnischen Vorteil darstellen kann. Im Übrigen sei daraufhingewiesen, dass die Aufstellung der Matrizen (6.41) und (6.42) sowie die Lösung der entstehen-den Gleichungen in der Praxis heute mit kommerziellen Programmsystemen erfolgt. Trotzdemsollte jedem Benutzer solcher Programme der theoretische Hintergrund geläufig sein, um dieErgebnisse richtig interpretieren zu können. Weitere Einzelheiten sind z. B. bei Bathe [5] oder
152 6 Finite-Elemente-Systeme
Wriggers [68] zu finden.Die Bewegungsgleichungen (6.40) enthalten auch die Elastostatik von Tragwerken. Mit yyy(t)=
yyy(t) = 000 kann man die statische Deformation einer Konstruktion berechnen,
yyystat =KKK−1 ·qqq. (6.45)
Die dafür erforderliche Matrixinversion kann unter Ausnutzung der Bandstruktur der Steifigkeits-matrix effizient ausgeführt werden.
Beispiel 6.1: Fachwerkschwingungen
Das in Bild 6.3 skizzierte elastische Fachwerk besteht aus zwei Stäben (Länge L, Quer-schnitt A, Elastizitätsmodul E) und einem Massenpunkt (Masse M), also insgesamt p = 3Elementen. Die Masse der Stäbe kann im Verhältnis zur Masse M des Punktes vernachläs-sigt werden. Damit lauten die lokalen Bewegungsgleichungen des freigeschnittenen Sys-tems, wenn auf das Anschreiben der Reaktionskräfte verzichtet wird,
AEL
[1 −1−1 1
]·[
u1lu1r
]= 000, (6.46)
AE√2L
[1 −1−1 1
]·[
u2lu2r
]= 000, (6.47)
M[
1 00 1
]·[
u31u32
]=
[0
−Mg
]. (6.48)
Die Bindungen sind gegeben durch
xxx =
⎡⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎣
u1lu1ru2lu2ru31u32
⎤⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎦=
⎡⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎣
0 01 00 0
1/√
2 −1/√
21 00 1
⎤⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎦ ·[
y1y2
]. (6.49)
u1l u1r
u31
u2r
u32
u2l
y1
y2
P3
K2
K1 45º
Bild 6.3: Elastisches Fachwerk
6.3 Flexible Mehrkörpersysteme 153
Damit findet man gemäß (6.41) bis (6.43) die Bewegungsgleichungen
M[
1 00 1
]·[
y1y2
]+
AE2√
2L
[2√
2+1 −1−1 1
]·[
y1y2
]=
[0
−Mg
]. (6.50)
Für die statische Auslenkung erhält man dann
yyystat =L
AE
[1 11 1+2
√2
]·[
0−Mg
]=−MgL
AE
[1
1+2√
2
]. (6.51)
Der Massenpunkt weicht also unter der Wirkung seines Gewichtes nach links unten aus.
Die Methode der finiten Elemente ist definitionsgemäß ein Näherungsverfahren. Man kann aberzeigen, dass die Methode gegen die exakte Lösung konvergiert, wenn nur die Zahl der finitenElemente genügend groß gewählt wird. Darüber hinaus ist eine monotone Konvergenz gewähr-leistet, wenn konforme Ansatzfunktionen verwendet werden, die einen stetigen Verschiebungs-verlauf über die Elementgrenzen hinweg gewähren. Die linearen Ansatzfunktionen des Tetraeder-elements und die Ansatzfunktion (6.19) für die Balkenbiegung entsprechen der Forderung nachder Konformität. Die Genauigkeit des Ergebnisses lässt sich also u. a. dadurch überprüfen, dassdie Modellierung mit einer unterschiedlichen Anzahl finiter Elemente durchgeführt wird.
6.3 Flexible Mehrkörpersysteme
In der Maschinendynamik findet man häufig Mehrkörpersysteme, die aus starren und elastischenKörpern aufgebaut sind. So können z. B. Industrieroboter als flexible Mehrkörpersysteme model-liert werden. Die Gelenke werden dabei als starre Körper und die Arme als elastische Balken be-trachtet. Im Gegensatz zur Strukturdynamik führen die Balken in der Maschinendynamik großeStarrkörperbewegungen aus, denen kleine elastische Verzerrungen überlagert sind. Es ist deshalbzweckmäßig, neben den Starrkörperkoordinaten zumindest für die Beschreibung der Verzerrun-gen elastische Koordinaten einzuführen.
Im Falle kleiner elastischer Verzerrungen bietet sich dazu die Methode des bewegten Bezugs-systems an. Dabei wird die Bewegung des elastischen Körpers in eine große nichtlineare Bewe-gung des Bezugssystems und eine linearisierte elastische Deformation bezüglich dieses Systemsaufgeteilt. Die typischerweise kleinen elastischen Verformungen können mit Hilfe der linearenFinite Elemente Methode (FEM) durch die relativen Knotenpunktskoordinaten im bewegten Be-zugssystems angenähert werden und somit durch eine lineare Differentialgleichung zweiter Ord-nung beschrieben werden. Aufgrund der resultierenden hohen Anzahl an elastischen Freiheits-graden kann die Modellreduktion ein entscheidender Schritt bei der effizienten Simulation sein.
Im Falle großer elastischer Verzerrungen hat sich die Methode der Absoluten Knotenpunktsko-ordinaten bewährt. Dabei werden keine finite Rotationen als Knotenkoordinaten genutzt, sondernabsolute Verschiebungen und materielle Ableitungen der Knotenkoordinaten eingeführt. Auf ei-ne Reduktion der Freiheitsgrade wird verzichtet. Somit lassen sich auch nichtlineare Effekte wiegroße Verformungen oder plastisches Materialverhalten berücksichtigen, was allerdings mit ei-nem sehr hohen zeitlichen Rechenaufwand einhergeht.
Mechanische Systeme mit elastischen Körpern werden allgemein als Flexible Mehrkörper-systeme (FMKS) oder auch als Elastische Mehrkörpersysteme (EMKS) bezeichnet. Die in Ab-
154 6 Finite-Elemente-Systeme
schnitt 6.1 eingeführten Finite Elemente Matrizen enthalten bei entsprechender Bindung nochStarrkörperbewegungen.
Die Deformation eines starren Balkenelements, Bild 6.4, erhält man aus (6.20) mit den zusätz-lichen inneren Bindungen
vr = vl +Lγl , γr = γl , γl � 1 (6.52)
oder
v(x, t) =[
1 xL] ·[ vl(t)
γl(t)
]. (6.53)
P
l
vl
Bild 6.4: Starres Balkenelement
Damit folgen aus (6.35) und (6.36) die Elementmatrizen
MMM =m6
[6 3L
3L 2L2 +6N2
], KKK = 000, (6.54)
mit der Abkürzung N2 = ρJ3L/m. Dabei ist m = ρAL die Masse des starren Balkens mit demQuerschnitt A und der Länge L. Weiterhin kennzeichnet N die Trägheit der lokalen Drehmasse,die auf eine Querschnittsfläche mit dem Flächenträgheitsmoment J3 zurückgeht. Weiterhin folgtfür die verallgemeinerten Kräfte
qqq(t) =[
Ql(t)+Qr(t) Ml(t)+Mr(t)+LQr(t)]. (6.55)
Diese Matrizen und Vektoren bestimmen die Gleichungen der ebenen Bewegung eines starrenBalkens, die auch aus Impuls- und Drallsatz bezüglich des Knotenpunktes Pl gewonnen werdenkönnen.
6.3.1 Relative Knotenpunktkoordinaten im bewegten Bzugssystem
Zur Untersuchung kleiner Strukturschwingungen in Flexiblen Mehrkörpersystemen hat die Me-thode des bewegten Bezugssystems im Ingenieurwesen eine weite Verbreitung gefunden, siehez. B. Schwertassek and Wallrapp [52], Geradin and Cardona [22], Bauchau [6], Seifried [53], andShabana [58]. In der englischen Literatur wird diese Methode als Floating Frame of ReferenceFormulation (FFRF) bezeichnet. Das Vorgehen im Einzelnen wird nun mit Bild 6.5 für ein ebenesBalkenelement erklärt.
6.3 Flexible Mehrkörpersysteme 155
Bild 6.5: Relative Koordinaten für ein flexibles Balkenelement
Die großen Starrkörperbewegungen werden durch ein körperfestes Koordinatensystem am lin-ken Balkenknoten Pl beschrieben während die elastischen Verformungen durch relative Koordi-naten gekennzeichnet sind. Damit lautet der 3× l-Lagevektor der großen Starrkörperbewegungenam linken Knoten Pl
xxxs = [ul vl γl ] (6.56)
und für die kleinen elastischen Verformungen definiert man den 3× l-Lagevektor
xxxe = [ue ve γe] , ue � L, ve � L, γe � 1. (6.57)
Diese beiden Lagevektoren beschreiben die f = 6 Knotenkoordinaten entsprechend den 6 Frei-heitsgraden eines ebenen Balkenelements bei ebenen Bewegungen. Damit erhält man die globa-len Bewegungsgleichungen in der Form⎡⎣ MMMs(xxxs) | MMMse(xxx)−−−− | −−−−MMMes(xxx) | MMMe
⎤⎦ ·⎡⎣ xxxs(t)−−−xxxe(t)
⎤⎦+⎡⎣ 000 | 000−−− | −−−
000 | KKKe
⎤⎦ ·⎡⎣ xxxs(t)−−−xxxe(t)
⎤⎦+kkk(xxx, xxx)=qqq(t). (6.58)
Im Besonderen ist die Steifigkeitsmatrix KKK in den Bewegungsgleichungen (6.58) konstant, undsie entspricht in der Regel der Steifigkeitsmatrix der Finite Elemente Modellierung des betrach-teten flexiblen Körpers. Als Folge der gewählten relativen Koordinaten und dem damit verbun-denen Bewegten Bezugssystem ist die Massenmatrix voll besetzt und hängt von mehreren oderallen Knotenpunktskoordinaten ab, welche in der FFRF als verallgemeinerte Koordinaten dienen.Für die Massenmatrix MMM(xxx) werden spezielle Ortsintegralmatrizen benötigt wie z. B. Schwertas-sek und Wallrapp [52] und Shabana [58] gezeigt haben. Die Ortsintegralmatrizen sind allerdingszeitinvariant und können vor der eigentlichen Simulation des FMKS berechnet werden, was einen
156 6 Finite-Elemente-Systeme
großen numerischen Vorteil bedeutet. Weiterhin repräsentiert der Vektor kkk(xxx, xxx) Coriolis- undKreiselkräfte infolge der großen Starrkörperbewegung und der Vektor qqq(t) fasst die verallgemei-nerten eingeprägten Kräfte zusammen.
6.3.2 Absolute Knotenpunktskoordinaten im Inertialsystem
Die Methode des bewegten Bezugssystems (FFRF) ist sehr wertvoll für Ingenieuraufgaben,bei denen die Starrkörperbewegung die eigentliche Arbeitsbewegung darstellt und die Struk-turschwingungen lediglich als Störung der Bewegungsablaufes auftreten. Durch eine geeigneteKonstruktion der Systems und die damit verträglichen Arbeitsabläufe bleiben die Strukturschwin-gungen in der Regel klein. Daneben gibt es aber auch Systeme mit hohen Anforderungen an denLeichtbau und geringer Steifigkeit wie z. B. die Rotorblätter eines Hubschraubers, siehe Bauchau,Bottasso and Nikishkov [7]. Für solche Systeme erlaubt die FFRF keine sinnvolle Modellierungund zwar nicht einmal für deren Starrkörperbewegung wie Shabana [55, 56] zeigte. Zur Lösungsolcher Aufgaben hat Shabana die Absolute Nodal Coordinate Formulation (ANCF) vorgeschla-gen, welche nun für die ebene Bewegung eines flexiblen Balkenelements nach Bild 6.6 vorgestelltwird.
Bild 6.6: Absolutkoordinaten eines ebenen flexiblen Balkenelelements
Die Gesamtbewegung eines flexiblen Balkens lässt sich durch zwei Knotenpunkte im Inerti-alsystem beschrieben, den linken Pl und den rechten Pr, um die inkrementelle Formulierung derDrehbewegung bei finiten Elementen mit großen Rotationen zu vermeiden. Diese kann bei derModellierung infolge der Linearisierung von Rotationen zu Fehlern und Instabilitäten führen. Da-mit umfasst die globale Bewegung die exakte Starrkörperbewegung und die großen elastischenDeformationen in einem 8×1-Vektor
eee(t) = [Ul Vl Θl1 Θl2 Ur Vr Θr1 Θr2] . (6.59)
Dabei wird die Drehung der Querschnitte an den Knotenpunkten durch die Einsvektoren eeel , und
6.3 Flexible Mehrkörpersysteme 157
eeer beschrieben, und sie ist nicht auf kleine Winkel beschränkt. Deshalb wird die Starrkörperbe-wegung immer richtig modelliert. Die Koordinaten des Lagevektors eeer sind nicht unabhängigvoneinander. Berücksichtigt man die beiden Zwangsbedingungen. z. B.,
Θ 2l1 +Θ 2
l2 = 1, Θ 2r1 +Θ 2
r2 = 1, (6.60)
dann beschreibt der Lagevektor (6.59) die f = 6 Freiheitsgrade eines ebenen flexiblen Balkenele-ments. Die erweiterten Bewegungsgleichungen lauten
MMM · eee(t)+KKK(eee) ·eee(t) =QQQ(t). (6.61)
Nunmehr ist die Massenmatrix MMM konstant während die Steifigkeitsmatrix KKK(eee) hochgradig nicht-linear ist. Für die Berechnung der Steifigkeitsmatrix werden kubische globale Ansatzfunktionenbenötigt, und die Steifigkeitsmatrix von der klassischen Finite Elemente Methode ist nicht mehrgültig. Die Berechnung der nichtlinearen Steifigkeitsmatrix wird von Shabana [58] im Einzelnenerläutert. Bei der Simulation der Bewegung ist die konstante Massenmatrix sehr wertvoll, da dielaufende Invertierung der Massenmatrix entfällt. Der Preis, der dafür zu bezahlen ist, entstehtdurch den zusätzlichen Aufwand mit der nichtlinearen Steifigkeitsmatrix.
Beide Formulierungen, FFRF und ANCF, wurden von Escalona et al. [19] für ein Kurbelge-triebe miteinander verglichen. Zunächst wurden kleine Strukturschwingungen betrachtet wie siekonstruktionsbedingt im Motorenbau vorliegen. Die Bewegung des Kolbens und die Verformungdes Kurbelmittelpunktes zeigten erwartungsgemäß nur geringe Abweichungen. Mit numerischenExperimenten konnten die Unterschiede zwischen FFRF and ANCF im Fall großer Verzerrungenaufgezeigt werden.
6.3.3 Ebene Balkensysteme
Für die Diskussion von Balkensystemen beschränken wir uns auf ein einseitig eingespanntes Bal-kenelement, Bild 6.7, mit verschwindender Längsdehnung und einer Bewegung in der vertikalenEbene e1, e2 unter dem Einfluss der Schwerkraft. Dann verbleiben die Starrkörperkoordinaten vIund γl sowie die elastischen Koordinaten ve und γe. Nach Bild 6.7 gilt für die Koordinaten amrechten Balkenende Pr
vr = vl +L sin γl + ve, γr = γl + γe. (6.62)
Weiterhin nehmen die inneren Bindungen (6.12) im Falle der ebenen Bewegung, d. h. u=w=α = β = 0 im Falle der ebenen Biegung, gemäß (2.134) mit (6.34) die folgende Form an
rrr(ρρρ, t) =
⎡⎣ 0
10
⎤⎦
︸ ︷︷ ︸eee2
vl +SSS(γl) ·
⎧⎪⎪⎪⎪⎪⎨⎪⎪⎪⎪⎪⎩
⎡⎣ ρ1
ρ2ρ3
⎤⎦
︸ ︷︷ ︸ρρρ
+ (6.63)
158 6 Finite-Elemente-Systeme
O
ue + L
vlPl
vr
ur
ul
e
ve
l
Pr
l
e1
e2
Bild 6.7: Einseitig gelagertes elastisches Balkenelement
+
⎡⎣ −6x(1− x)ρ2/L x(2−3x)ρ2
x2(3−2x) −x2(1− x)L0 0
⎤⎦
︸ ︷︷ ︸AAAe(x, ρ2)
·[
veγe
]︸ ︷︷ ︸
xxxe
⎫⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎬⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎭
, ρ1 = xL.
Man erkennt, dass (6.63) für γl � 1 mit (6.12), (6.13) und (6.20) übereinstimmt. Die Jacobi-Matrix für große Bewegungen vl , γl erhält man nun unter der Voraussetzung kleiner elastischerDeformationen
|ve| � L, |γe| � 1 (6.64)
in der Form
CCC(x, ρ2, γl) =
[eee2 | ∂SSS
∂γl·ρρρ | SSS ·AeAeAe
]. (6.65)
Nach längerer Zwischenrechnung findet man nun die Massenmatrix und die Steifigkeitsmatrixfür den Fall schlanker Balken |ρ2|, |ρ3| � ρ1 bzw. J3 � m/ρL3 mit dem Lagevektor
xxx(t) =[
vl γl | ve γe]
(6.66)
in der Form
MMM =m
420
⎡⎢⎢⎢⎢⎣
420 210L cos γl | 210 cos γl −35L cos γl210L cos γl 140L2 | 147L −21L2
−−− −−− | −−− −−−210L cos γl 147L | 156 −22L−35L cos γl −21L2 | −22L 4L2
⎤⎥⎥⎥⎥⎦ (6.67)
6.3 Flexible Mehrkörpersysteme 159
und
KKK =EJ3
L3
⎡⎢⎢⎢⎢⎣
0 0 | 0 00 0 | 0 0
−− −− | −− −−0 0 | 12 −6L0 0 | −6L 4L2
⎤⎥⎥⎥⎥⎦ . (6.68)
Daneben tritt noch eine Coriolis-Kraft auf
kkk =m12[(−6Lγl −6ve +Lγe) 0 | 0 0
]γl sin γl (6.69)
und die verallgemeinerte Gewichtskraft lautet
qqq =−mg12[
12 6L cos γl | 6 cos γl −L cos γl]. (6.70)
Man erkennt zunächst, dass die Starrkörperbewegungen mit den elastischen Bewegungen überdie Coriolis-Kraft nach (6.69) nichtlinear gekoppelt sind. Darüber hinaus ist durch die voll be-setzte Massenmatrix (6.67) eine lineare Kopplung der Trägheitskräfte gegeben. Lediglich dieSteifigkeitsmatrix (6.68) der elastischen Kräfte ist definitionsgemäß entkoppelt. Weiterhin wir-ken die Gewichtskräfte nach (6.70) auf sämtliche Bewegungen ein. Damit sind einige gegenüberder Strukturmechanik neue Erscheinungen aufgezeigt. Im Besonderen sei darauf hingewiesen,dass die Voraussetzung (6.64) durch eine genügend große Steifigkeit des Balkens erreicht werdenmuss, mg � EJ2/L3 bzw. mγ2 � EJ3/L3, da bei der vorliegenden, auf die 2-Richtung beschränk-ten Betrachtung sonst destabilisierende Zentrifugalkräfte ins Spiel kommen. Bei geringerer Bie-gesteifigkeit des Balkens muss die in der 1,2-Ebene gekoppelte Bewegung betrachtet werden.Die Kopplung geht dabei entweder auf eine kinematische Bindung infolge der als undehnbarangenommenen Balkenachse zurück oder sie hat ihre Ursache in der elastischen Kopplung zwi-schen Längsverschiebung und Biegung. Die richtige Modellierung eines elastischen Systems istalso wesentlich schwieriger als die Bildung eines starren Mehrkörpersystems.
Als Ergebnis erhält man somit die lokalen Bewegungsgleichungen eines nichtlinear bewegten,elastischen Balkenelements in einer gegenüber (5.2) und (6.7) erweiterten Form
MMM(xxx) · xxx(t)+KKK ·xxx(t)+kkk(xxx, xxx) = qqq(t). (6.71)
Der Vektor kkk der Coriolis- oder Kreiselkräfte geht dabei auf die großen Starrkörperbewegungenzurück, während die Steifigkeitsmatrix KKK die kleinen elastischen Verformungen kennzeichnet.
Die einzelnen starren Körper und die finiten Elemente eines Balkensystems müssen nun nochzum Gesamtsystem zusammengefasst werden. Zu diesem Zweck werden die lokalen ei × 1-Lagevektoren xxxi durch den e × 1-Lagevektor yyy(t) des Gesamtsystems beschrieben. Die dabeinach (6.39) auftretenden Jacobi-Matrizen IIIi sind im Allgemeinen nicht mehr konstant.
Unterteilt man weiterhin den f ×1-Lagevektor yyy(t) in einen Lagevektor yyys(t) der Starrkörper-bewegungen und einen Lagevektor yyye(t) der elastischen Schwingungen,
yyy(t) = [yyys yyye] , (6.72)
160 6 Finite-Elemente-Systeme
so erhält man unter Anwendung von (6.41) bis (6.43) die globalen Bewegungsgleichungen⎡⎣ MMMs(yyys) | MMMse(yyy)−−−− | −−−−MMMes(yyy) | MMMe
⎤⎦ ·⎡⎣ yyys(t)−−−yyye(t)
⎤⎦+⎡⎣ 000 | 000−−− | −−−
000 | KKKe
⎤⎦ ·⎡⎣ yyys(t)−−−yyye(t)
⎤⎦+kkk = qqq. (6.73)
Zur Lösung der globalen Bewegungsgleichungen (6.73) kann man in zwei Schritten eine Nähe-rung erhalten. Zuerst werden die großen, im Allgemeinen nichtlinearen Starrkörperbewegungenberechnet. Dann werden die linearen elastischen Schwingungen mit der Starrkörperbewegung alsgegebener Soll-Bewegung bestimmt. Es ist jedoch zu beachten, dass die linearen Differentialglei-chungen im Allgemeinen zeitvariante Koeffizienten haben und zusätzlichen äußeren Erregungeninfolge der Starrkörperbewegungen unterliegen.
Beispiel 6.2: Balkenpendel
Das in Bild 6.8 dargestellte Balkenpendel besteht aus zwei Körpern, einem gelenkig gelager-ten schlanken Balken (Masse m1, Länge L, Biegesteifigkeit EJ3), und einem Massenpunkt(Masse m2) am rechten Knotenpunkt.
ve
l
e
m2
g
e2
e1
m1, L
Bild 6.8: Elastisches Balkenpendel
Die lokalen Bewegungsgleichungen des Balkens sind durch (6.71) mit (6.66) bis (6.70)gegeben zusammen mit der Zwangsbedingung vl = 0. Damit lautet der lokale Lagevektor
xxx1(t) = [0 γl ve γe] . (6.74)
Der Massenpunkt bewegt sich auf einer Kreisbahn, da die Balkenlänge infolge der kleinenDurchbiegung als konstant angesehen werden kann. Für die Bewegung des Massenpunktsgilt daher die Gleichung
m2L2δ (t) =−m2gL cos δ (t)+LQr (6.75)
mit dem in Bild 6.8 eingeführten Winkel δ (t) und der unbekannten Reaktionskraft Qr. Fürdie skalare Lagegröße des Massenpunktes am rechten Balkenende verbleibt also die Bin-dung
x2(t) = δ (t) = γl(t)+1L
ve(t). (6.76)
6.3 Flexible Mehrkörpersysteme 161
Das Balkensystem hat f = 3 Freiheitsgrade, die durch den 3×1-Lagevektor
yyy(t) =[
γl ve γe]
(6.77)
beschrieben werden. Mit den durch Bild 6.8 gegebenen Bindungen lauten dann die Jacobi-Matrizen
III1 =
⎡⎢⎢⎣
0 0 01 0 00 1 00 0 1
⎤⎥⎥⎦ , III2 =
[1 1
L 0]. (6.78)
Die globalen Bewegungsgleichungen nehmen somit die Form (6.73) an. Im Einzelnen findetman die Bewegungsgleichung der Starrkörperbewegung für ve = γe = 0 zu
13(m1 +3m2)L2γl +
12(m1 +2m2)gL cos γl = 0. (6.79)
Die elastischen Schwingungen führen auf die Bewegungsgleichungen
m1
210
[78+210 m2
m1−11L
−11L 2L2
]·[
veγe
]+
EJ3
L3
[12 −6L−6L 4L2
]·[
veγe
]
=− m1g12
cos γl
[6+12 m2
m1−L
]− m1L
420
[147+420 m2
m1−21L
]γl
+m2g sin γl
L
[1 00 0
]·[
veγe
]. (6.80)
In diesen Bewegungsgleichungen ist der genaue Beschleunigungsverlauf γl(t) nicht be-kannt, er wird durch (6.79) angenähert. Man erkennt weiterhin in (6.80), dass elastischeStrukturschwingungen vor allem durch hohe Beschleunigungsspitzen angeregt werden.Wird die Starrkörperbewegung durch einen Servomotor gesteuert, so ist zur Vermeidungvon Schwingungen darauf zu achten, dass keine Beschleunigungsimpulse, z. B. durch plötz-liches Antreiben oder Abbremsen auftreten. Diese Erkenntnis entspricht der täglichen Er-fahrung.
Weiterhin beinhaltet (6.80) auch die statische Durchbiegung des Balkens. Setzt man in(6.80) alle Beschleunigungen gleich Null und nimmt den Massenpunkt weg, so erhält manunmittelbar die Durchbiegung eines durch Eigengewicht belasteten, horizontal fest einge-spannten Balkens,[
veγe
]=−m1gL2
24EJ3
[3L4
]. (6.81)
Für die statischen Durchbiegungen eines Balkens findet man aus den obigen Beziehungenstets die exakten Werte, da die Ansatzfunktion (6.20) die Differentialgleichung der Elasto-statik des Balkens exakt löst.
Für die Untersuchung großer Deformationen in flexiblen Mehrkörpersystemen hat die auf Shaba-
162 6 Finite-Elemente-Systeme
na [56] zurückgehende Methode der absoluten Knotenpunktsvariablen eine weite Verbreitung ge-funden. Bei einem elastischen Balkenelement nach Bild 6.7 werden dabei die verallgemeinertenrelativen Koordinaten ul , vl , γl , ue, ve, γe ersetzt durch die verallgemeinerten absoluten Koordina-ten ul , vl , γl , ur, vr, γr, wobei die Winkel an den Balkenenden durch die Steigung der Balkenach-se bestimmt werden und eine Ansatzfunktion dritter Ordnung für die Längsdehnung verwendetwird.
Flexible Mehrkörpersysteme mit relativen Knotenpunktskoordinaten im bewegten Bezugssys-tem zeichnen sich durch eine Trennung der Starrkörperbewegungen und der elastischen Struktur-schwingungen aus, die wie in Abschnitt 6.3.1 gezeigt durch Finite Elemente modelliert werden.Während die Zahl der Freiheitsgrade der Starrkörperbewegungen vergleichsweise klein ist, kanndie Zahl der Freiheitsgrade der elastischen Strukturschwingungen sehr groß werden. Durch diehohe Zahl der elastischen Freiheitsgrade können die Effizienz und die Genauigkeit der Simulatio-nen stark beeinträchtigt werden. Deshalb ist es sehr wichtig diejenigen elastischen Koordinatenauszuwählen, die in enger Wechselwirkung mit den Starrkörperbewegungen stehen und somitdie größte Bedeutung für das betrachtete Problem haben. Zu diesem Zweck stehen Methodenzur Modellreduktion zur Verfügung, die sich auch auf Mehrkörpersysteme anwenden lassen.
Unter traditionell eingesetzten Methoden zur Reduktion mechanischer Systeme sind modaleReduktionsverfahren, meist die Craig-Bampton Methode, die der Component-Mode-Synthesiszugeordnet wird. Die Qualität der reduzierten Modelle hängt dabei entscheidend von der Erfah-rung bei der Auswahl der Moden ab. Die Unterscheidung zwischen wichtigen und unwichtigenModen ist bei komplexen Strukturen nur schwer möglich und erfordert viel Erfahrung. Alternativkönnen moderne Verfahren eingesetzt werden, die sich in zwei Kategorien einteilen lassen: DieReduktion mit Hilfe von Moment-Matching, z. B. auf der Basis von Krylov-Unterräumen, unddie auf der Singular Value Decomposition (SVD) bzw. Gramschen Matrizen beruhenden Reduk-tionsverfahren. Die beiden modernen Verfahren werden erfolgreich für flexible Mehrkörpersyste-me eingesetzt. Lehner und Eberhard [33] verwenden Krylov-Unterräume mit Anpassung an dieMomente des Originalsystems um reduzierte Modelle flexibler Mehrkörpersysteme aufzubau-en. Fehr und Eberhard [21] beschreiben den Simulationsprozess für flexible Mehrkörpersystememit Gramschen Reduktionsverfahren. Diese neuen Reduktionsverfahren sowie modale Verfah-ren sind in Morembs1, einer am Institut für Technische und Numerische Mechanik entwickeltenSoftware, enthalten.
6.4 Festigkeitsberechnung
Während bei Mehrkörpersystemen nur eine Festigkeitsabschätzung über die Reaktionskräfte inSchnitten durch starre Körper möglich ist, kann bei Finite-Elemente-Systemen die Festigkeitgenauer berechnet werden.
Ausgangspunkt der Festigkeitsberechnung bei finiten Elementen ist das Hookesche Stoffge-setz
σσσ =HHH ·eee. (6.82)
Der 6×1-Verzerrungsvektor eee ist dabei nach (2.149) durch die Ansatzfunktionen festgelegt. Da-
1 www.itm.uni-stuttgart.de/research/model_reduction
6.4 Festigkeitsberechnung 163
mit gilt für den Spannungsvektor eines finiten Elements
σσσ i(ρρρ i, t) =HHH ·BBBi(ρρρ i) ·IIIi ·yyy(t), i = 1(1)p. (6.83)
Man sieht also, dass die Spannungsberechnung die Kenntnis der Bewegung yyy(t) des Gesamtsys-tems voraussetzt. Zur Festigkeitsberechnung müssen also die Spannungen σσσ i in den finiten Ele-menten ermittelt werden. Beim Übergang von einem Element zum benachbarten Element tretenSpannungssprünge auf. Dies kann durch Wahl einer geeigneten Ansatzfunktion verringert wer-den. Häufig hilft man sich jedoch dadurch, dass die Spannungen in den Knotenpunkten gemitteltwerden.
Die Methode der finiten Elemente ist in der Strukturdynamik in den letzten Jahrzehnten mitsehr großem Erfolg entwickelt und angewandt worden. Es stehen heute bewährte Programmsys-teme zur Verfügung, wie z. B. Nastran, Ansys, Permas, Abaqus, Patran, Marc. Die Programmsys-teme für finite Elemente übernehmen nicht nur die Aufstellung der globalen Bewegungsgleichun-gen, sondern auch deren Lösung. Die Ein- und Ausgabe erfolgt meist über graphische Benutzerin-terfaces, so dass der Nutzer nur noch wenige Kenntnisse über das verwendete Programmsystembenötigt und diese in der Regel auch nicht hat. Deshalb sind Ergänzungen oder Erweiterungender Programme durch den Nutzer oft nicht ohne Weiteres möglich. Zumindest für die Einar-beitung in die Methode ist es daher zweckmäßig, kleine Programme selbst zu entwerfen odereinzusetzen.
7 Kontinuierliche Systeme
Die Bewegung eines elastischen Körpers kann sowohl mit der Methode der Mehrkörpersystemeals auch mit der Methode der finiten Elemente nur näherungsweise beschrieben werden. Daselastische Kontinuum hat bei einer verfeinerten Modellierung durch infinitesimale Teilkörperunendlich viele Freiheitsgrade, seine Bewegung wird lokal durch partielle Differentialgleichun-gen bestimmt. Es werden zuerst die lokalen Cauchyschen Bewegungsgleichungen für ein freiesKontinuum und für den elastischen Balken als Kontinuum mit inneren Bindungen angegeben,die beide durch die Randbedingungen zu ergänzen sind. Die globalen Bewegungsgleichungenerhält man dann mit den Eigenfunktionen, die den Randbedingungen genügen müssen. Dabeikommt wiederum das d’Alembertsche Prinzip zum Tragen. Die globalen Bewegungsgleichun-gen beschreiben nun die Bewegung eines elastischen Körpers exakt. Allerdings ist damit dieLösung eines unendlich-dimensionalen Eigenwertproblems verbunden, die nur bei geometrischeinfachen Körpern gelingt. Deshalb haben kontinuierliche Systeme für die technische Praxis kei-ne so große Bedeutung wie die bisher genannten Näherungsverfahren. Beschränkt man sich aufeine endliche Anzahl von Eigenfunktionen, wie dies bei der technischen Modalanalyse der Fallist, dann stellen auch die kontinuierliche Systeme eine Näherung dar.
7.1 Lokale Bewegungsgleichungen
Schneidet man aus einem Kontinuum ein infinitesimales Volumenelement heraus, so gelten dafürdie Cauchyschen Bewegungsgleichungen (3.64), (3.65), dargestellt mit der Differentialoperato-renmatrix V in der kompakten Form (3.67)
ρaaa = ρ fff +V T ·σσσ . (7.1)
Beachtet man weiterhin das Stoffgesetz (3.68) und setzt man kleine Bewegungen gegenüber demInertialsystem voraus, rrr(t) = 000, SSS(t) = 000, so folgen aus (7.1) mit (2.143) die lokalen Bewegungs-gleichungen eines freien Kontinuums zu
ρwww(ρρρ, t) = V T ·HHH ·V ·www(ρρρ, t)+ρ fff . (7.2)
Zur Lösung der Bewegungsgleichungen sind weiterhin die Randbedingungen an der Oberflächedes freien Kontinuums erforderlich, sie können entweder geometrisch als Zwangsbedingungen
www(ρρρ, t) =wwwr(ρρρ, t), ρρρ ∈ Ar, (7.3)
und/ oder dynamisch als eingeprägte Oberflächenkräfte
ttt(ρρρ, t) = ttte(ρρρ, t), ρρρ ∈ Ae (7.4)
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014 W. Schiehlen, P. Eberhard, Technische Dynamik, DOI 10.1007/978-3-658-06185-2_7
166 7 Kontinuierliche Systeme
gegeben sein, siehe Bild 7.1. Eine strenge Lösung der Bewegungsgleichungen ist nur in einfachenFällen möglich.
teAr
K
Bild 7.1: Randbedingungen eines Kontinuums
Man kann jedoch innere Bindungen vorgeben, wodurch sich häufig nützliche Näherungenfinden lassen. Dieses Vorgehen ist z. B. beim Balken üblich.
Für einen kontinuierlichen Balken mit starren Querschnitten lautet nach (6.12) und (6.13) der3×1-Verschiebungsvektor
www(ρρρ, t) =
⎡⎣ 1 0 0 0 | ρ2
∂∂ρ1
ρ3∂
∂ρ10 1 0 ρ3 | 0 00 0 1 −ρ2 | 0 0
⎤⎦
︸ ︷︷ ︸W
·
⎡⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎢⎣
uvwα
−−−(−v)(−w)
⎤⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎥⎦
︸ ︷︷ ︸ζζζ (ρ1, t)
, (7.5)
wobei W eine 3×6-Differentialoperatorenmatrix und ζζζ (ρ1, t) ein 6×1-Vektor von verallgemei-nerten Funktionen ist. Die sechs verallgemeinerten Funktionen müssen einerseits voneinanderunabhängig sein, andererseits sind sie aber durch Differentiationen miteinander verknüpft. Des-halb werden in (7.5) die negativen Funktionen (−v), (−w) gesondert mitgeführt. Setzt man nun(7.5) in (7.2) ein und wendet das d’Alembertsche Prinzip in der Form (4.33) an, so findet manfür ein infinitesimales Balkenelement∫
A
W T ·ρW · ζζζ dA =∫A
W T ·ρ fff dA+∫A
W T ·V T ·HHH ·V ·W ·ζζζ dA, (7.6)
wobei wegen der infinitesimalen Länge dρ1 des Elements nur über die Schnittebene A zu integrie-ren ist. Wählt man nun ein Hauptachsensystem mit dem Flächenmittelpunkt der Schnittebene alsUrsprung, so erhält man entkoppelte Bewegungsgleichungen für die verallgemeinerten Funktio-nen u, v,w und α . Die resultierende Gleichung für die Längsverschiebung lautet
ρAu(x, t) =EAL2 u′′(x, t)+n(x, t), x =
ρ1
L, u′′ =
∂ 2u∂x2 , (7.7)
7.2 Eigenfunktionen von Stäben 167
mit der Streckenlast n(x, t) und den geometrischen Randbedingungen
u(xi, t) = ur(xi, t), xi ∈ {0,1} (7.8)
und/ oder den Normalkräften an den Balkenenden als den dynamischen Randbedingungen
Ni(t) =∫A
σ11idA =EAL
u′(xi, t), x ∈ {0,1}. (7.9)
Dabei wurde eine Normierung der Koordinate ρ1 bezüglich der Balkenlänge L vorgenommen.Die Bewegungsgleichung (7.7) ist eine hyperbolische partielle Differentialgleichung. Für denTorsionswinkel α(x, t) erhält man eine (7.7) entsprechende Differentialgleichung, wobei dieSchnittfläche A durch das polare Flächenträgheitsmoment JP und der Elastizitätsmodul E durchden Schubmodul G zu ersetzen sind. Die Durchbiegungen führen im Fall schlanker Balkenρ2 � L, ρ3 � L dagegen auf parabolische partielle Differentialgleichungen. Für die Durchbie-gung in 2-Richtung gilt
ρAv(x, t) =−EJ3
L4 vIV (x, t)+q(x, t), (7.10)
wobei q(x, t) eine Streckenlast darstellt und die Randbedingungen
v(x, t) = vr(x, t), v′(x, t) = v′(x, t), x ∈ {0,1} (7.11)
und/ oder die Biegemomente und Querkräfte an den Balkenenden
M(t) =∫A
ρ2σ11dA =EJ3
L2 v′′(x, t), (7.12)
Q(t) =∫A
τ12dA =EJ3
L3 v′′′(x, t), x ∈ {0,1}, (7.13)
zu beachten sind. Entsprechende Beziehungen gelten für die Durchbiegung in 3-Richtung.Die lokalen Bewegungsgleichungen können noch in zahlreichen anderen Varianten angege-
ben werden. So lassen sich z. B. ohne Schwierigkeiten veränderliche Querschnitte und/oder dieMassenträgheitsmomente des infinitesimalen Balkenelements berücksichtigen. Darüber hinaussind auch Kopplungen zwischen den hier dargestellten elementaren Stabschwingungen möglich.
7.2 Eigenfunktionen von Stäben
Als erster Schritt zur Lösung der partiellen Differentialgleichungen der Bewegung eines Stabeswerden die homogenen Differentialgleichungen betrachtet. So erhält man z. B. für die Längsver-schiebung aus (7.7) mit n(x, t) = 0 die homogene Differentialgleichung
ρAu(x, t) =EAL2 u′′(x, t), (7.14)
168 7 Kontinuierliche Systeme
die ebenfalls den Randbedingungen (7.8) oder (7.9) genügen muss. Mit dem Produktansatz
u(x, t) =U(x)y(t) (7.15)
findet man an Stelle von (7.14) die beiden gewöhnlichen Differentialgleichungen
y(t)+ω2y(t) = 0, (7.16)
U ′′(t)+β 2U(x) = 0, β 2 =ρL2
Eω2. (7.17)
Da die orts- und zeitabhängigen Größen nun getrennt auftreten, bezeichnet man (7.15) oft auchals Separationsansatz.
Durch (7.17) ist ein Eigenwertproblem mit der allgemeinen Lösung
U(x) =C1 sin βx+C2 cos βx (7.18)
gegeben. Die Integrationskonstanten C1,C2 werden dabei durch die Randbedingungen (7.8) und/oder (7.9) bestimmt. Aus der sich dabei ergebenden charakteristischen Gleichung folgen dannf Eigenfrequenzen und f Eigenfunktionen, f = 1(1)∞, welche die Lösung des Problems kenn-zeichnen. Mit den f Eigenfunktionen kann dann im Besonderen die allgemeine Lösung aufge-baut werden.
Beispiel 7.1: Beidseitig eingespannter Stab
Die Randbedingungen werden ausschließlich durch (7.8) bestimmt,
u(0, t) = 0, u(1, t) = 0. (7.19)
Die charakteristische Gleichung lautet somit
sin βL = 0. (7.20)
Die Nullstellen der charakteristischen Gleichung führen auf die Eigenwerte
β f = f π, f = 1(1)∞, (7.21)
die Eigenfrequenzen
ω f = fπL
√Eρ, f = 1(1)∞ (7.22)
und die Eigenfunktionen
Uf (x) =C1 sin( f πx), f = 1(1)∞. (7.23)
Die ersten drei Eigenfunktionen sind in Bild 7.2 dargestellt. Die Eigenfunktionen sind stetsvon einem skalaren Faktor abhängig und können normiert werden.
7.2 Eigenfunktionen von Stäben 169
1
1
1
1
1
1
f
1
2
3
U3 (x)
U2 (x)
x
U1 (x)
x
U1 (x)
U2 (x)
U3 (x)
xx
beidseitig eingespannt frei
x x
—2–
—2–
—2–
—2–
—2–
—1–
Bild 7.2: Normierte Eigenfunktionen eines Stabes
Beispiel 7.2: Freier Stab
Die Randbedingungen werden nun durch (7.9) festgelegt, die charakteristische Gleichungist durch
β = 0 oder sin βL = 0 (7.24)
gegeben. Die Eigenwerte lauten
β f = ( f −1)π, f = 1(1)∞ (7.25)
und die Eigenfunktionen haben die Form
Uf (x) =C2 cos[( f −1)πx
], f = 1(1)∞. (7.26)
Der erste Eigenwert β = 0 kennzeichnet die Starrkörperbewegung des freien Stabes, diehöheren Eigenwerte beschreiben die elastischen Schwingungen. Die ersten drei Eigenfunk-tionen sind in Bild 7.2 dargestellt.
Das Eigenwertproblem hat im Falle zweier zeitinvarianter geometrischer Randbedingungen
u(xi, t) = ur(xi), xi ∈ {0,1}, (7.27)
immer eine besonders einfache Form, da die charakteristische Gleichung unmittelbar aus (7.18)gefunden werden kann. Liegen dagegen eine oder zwei dynamische Randbedingungen vor, somuss (7.18) noch zusätzlich differenziert werden. Dies lässt sich vermeiden, wenn die dynami-schen Randbedingungen durch diskrete, an den Balkenenden angreifende Volumenkräfte ersetzt
170 7 Kontinuierliche Systeme
werden. Dazu führt man die Dirac-Funktion bezüglich der Balkenachse ein,
δ (x− xi) = 0 für x �= xi,
1∫0
δ (x− xi)dx = 1. (7.28)
Für die Bewegungsgleichung der Längsbewegung des Balkens bleibt somit
ρAu(x, t) =EAL2 u′′(x, t)+
Ni(t)L
δ (x− xi)+n(x, t), xi ∈ {0,1} (7.29)
mit den Randbedingungen (7.27). Durch die Darstellung (7.29) werden also die Auswirkungender dynamischen Randbedingungen vom homogenen auf den inhomogenen Lösungsanteil ver-schoben, was numerisch günstig sein kann. Weiterhin lassen sich mit (7.29) die globalen Bewe-gungsgleichungen elegant formulieren.
Auch für die Durchbiegung eines Balkens lässt sich das oben geschilderte Verfahren anwen-den. Dabei bleibt (7.16) unverändert erhalten, während das Eigenwertproblem die Form
UIV (x)− γ4U(x) = 0, γ4 =ρAL4
EJ3ω2 (7.30)
annimmt. Seine allgemeine Lösung lautet
U(x) =C1 cos(γx)+C2 sin(γx)+C3 cosh(γx)+C4 sinh(γx), (7.31)
wobei die Integrationskonstanten durch vier Randbedingungen bestimmt werden. Eine Tabellemit Eigenwerten und Eigenfunktionen unterschiedlich gelagerter Balken ist z. B. bei Holzweißigund Dresig [16] oder Demeter [15] zu finden.
7.3 Globale Bewegungsgleichungen
Ein kontinuierliches System hat unendlich viele Freiheitsgrade. Dies kommt bei der Lösung desEigenwertproblems, z. B. in (7.21), auch unmittelbar zum Ausdruck. Verwendet man die Zeit-funktionen y f (t), f = 1(1)∞, als verallgemeinerte Koordinaten und die Eigenfunktionen Uf (t),f = 1(1)∞, als Ansatzfunktion, so lässt sich die allgemeine Lösung für die Längsverschiebungdurch
u(x, t) = JJJ(x) ·yyy(t) (7.32)
darstellen, wobei
yyy(t) =[
y1 y2 ... y f], f → ∞, (7.33)
den f ×1-Lagevektor darstellt und
JJJ(x) =[
U1 U2 ... Uf], f → ∞, (7.34)
7.3 Globale Bewegungsgleichungen 171
die f ×1 Jacobi-Matrix beschreibt.Setzt man nun (7.32) in die lokale Bewegungsgleichung (7.29) ein und wendet man das
d’Alembertsche Prinzip (4.33) auf den gesamten Balken an, so bleibt für normierte Eigenfunk-tionen als Ergebnis
yyy(t)+ΩΩΩ 2 ·yyy(t) = qqq(t). (7.35)
Durch die Normierung wird nämlich die f × f -Massenmatrix gerade zur Einheitsmatrix,
MMM =EEE =
1∫0
JJJT (x) ·ρJJJ(x)dx, (7.36)
was für alle positiv definiten selbstadjungierten Differentialgleichungs-Eigenwertprobleme gilt.Man sagt auch, dass die Eigenfunktionen zueinander orthogonal sind. Die f × f -Frequenzmatrix
ΩΩΩ 2 = diagdiagdiag{ω21 ω2
2 ... ω2f }=−
1∫0
JJJ(x)EL2 ·JJJ′′(x)dx, f → ∞, (7.37)
entspricht der positiv definiten Steifigkeitsmatrix für die jeweiligen Randbedingungen (7.27).Weiterhin ist der f ×1-Vektor der verallgemeinerten Kräfte gegeben als
qqq(t) =1A
1∫0
JJJ(x)n(x, t)dx+∑i
JJJ(xi)Ni(t)AL
, xi ∈ {0,1}. (7.38)
Der letzte Term in (7.38) tritt nur auf, wenn eine oder zwei dynamische Randbedingungen (7.9)gegeben sind. Er verschwindet, wenn lediglich geometrische Randbedingungen vorliegen, dieauf Reaktionskräfte führen. Im Übrigen gilt (7.38) auch für Einzelkräfte, die an jeder beliebigenStelle des Balkens angreifen.
Die globalen Bewegungsgleichungen (7.35) müssen noch durch die Anfangsbedingungen er-gänzt werden,
u(x, t0) = JJJ(x) ·yyy(t0), (7.39)u(x, t0) = JJJ(x) · yyy(t0). (7.40)
Mit Hilfe von (7.36) folgt daraus
yyy(t0) =1∫
0
JJJ(x)ρu(x, t0)dx, (7.41)
yyy(t0) =1∫
0
JJJ(x)ρ u(x, t0)dx. (7.42)
Damit ist die globale Lösung vollständig bekannt. Die Tatsache, dass die Eigenfunktionen (Ei-
172 7 Kontinuierliche Systeme
genformen, Eigenmoden) dabei die entscheidende Rolle spielen, hat auch zu der BezeichnungModalanalyse geführt.
Die Modalanalyse ist ebenso für die Durchbiegung von Balken gültig. Sie ist darüber hinausauch auf beliebige kontinuierliche Systeme übertragbar, jedoch gelingt die allgemeine Lösungdes Eigenwertproblems nur selten.
Die Modalanalyse beschreibt eindimensionale kontinuierliche Systeme exakt. Die erreichteGenauigkeit muss jedoch mit einer unendlichen Systemordnung erkauft werden. Da andererseitsaus der Schwingungslehre bekannt ist, dass die hohen Eigenfrequenzen nur einen geringen Bei-trag zur tatsächlichen Bewegung leisten, wird in der Praxis die Modalanalyse auf eine endlicheAnzahl von Freiheitsgraden beschränkt. Damit ist die Modalanalyse ebenfalls zu einem techni-schen Näherungsverfahren geworden, wobei als Ansatzfunktionen gerade die EigenfunktionenVerwendung finden. Somit zeichnet sich die technische Modalanalyse dadurch aus, dass ihre An-satzfunktionen wenigstens exakte partikuläre Lösungen darstellen. Im Besonderen eignen sichsolche partikuläre Lösungen zum Vergleich mit Ergebnissen der Methode der Mehrkörpersyste-me und der Methode der finiten Elemente.
Beispiel 7.3: Harmonisch angeregter Stab
N
e1
Bild 7.3: Harmonisch angeregter Stab
Ein beiderseitig eingespannter Stab, Bild 7.3, wird durch die Einzelkraft N(t) = N cos Ω tan der Stelle ρN = LxN harmonisch angeregt. Dann gilt für die verallgemeinerte Kraft nach(7.38)
q f (t) =NAL
Uf (xN) cos Ω t. (7.43)
Die globalen Bewegungsgleichungen (7.35) lauten somit
y f (t)+ω2f y(t) =Uf (xN)
NAL
cos Ω t, f = 1(1)∞ (7.44)
und für die partikuläre Lösung findet man
y f (t) =Uf (xN)
ω2f −Ω 2
NAL
cos Ω t, f = 1(1)∞. (7.45)
Die Verschiebung des Stabes ist nach (7.32) also
u(x, t) =∞
∑f=1
Uf (x)Uf (xN)
ω2f −Ω 2
NAL
cos Ω t. (7.46)
7.3 Globale Bewegungsgleichungen 173
Für Ω → ω f und N → 0 folgt daraus
u(x, t) = αUf (x) cos Ω t (7.47)
mit einem konstanten Faktor α . Dieses Ergebnis entspricht der bekannten Tatsache, dasssich bei einer kleinen Erregung eines kontinuierlichen Systems mit der f -ten Eigenfrequenzgenau die f -te Eigenform ausbildet.
Kontinuierliche Systeme können ebenso wie Finite Elemente Systeme mit Mehrkörpersystemenkombiniert werden. Solange die zusätzlichen starren Körper den Balkenbewegungen reibungs-frei folgen, kann man entweder das Eigenwertproblem (7.17) neu formulieren oder die globalenBewegungsgleichungen (7.35) werden entsprechend erweitert. Kommen dagegen auch mehrdi-mensionale Kopplungen und/ oder Dämpfungskräfte ins Spiel, so bleibt nur noch die zweiteMöglichkeit. Damit sind noch einmal die Grenzen der Modalanalyse aufgezeigt.
8 Zustandsgleichungen mechanischer Systeme
In den vorangegangenen Kapiteln wurden die Bewegungsgleichungen mechanischer Systemehergeleitet. Diese Bewegungsgleichungen sollen nun einheitlich in der Form von Zustandsglei-chungen dargestellt werden. Der Begriff der Zustandsgleichungen ist vor allem in der System-dynamik und der Systemtheorie gebräuchlich, doch auch in der Technischen Dynamik ist esnützlich mit Eingangs-, Zustands- und Ausgangsgrößen zu arbeiten. Die Zustandsgrößen, zu de-nen z. B. die verallgemeinerten Koordinaten gehören, können in unterschiedlicher Weise gewähltwerden. Es bestehen jedoch Transformationsgesetze zwischen den einzelnen Darstellungen. Indiesem Kapitel werden im Besonderen die linearen Systeme betrachtet, die durch Ähnlichkeits-bzw. Kongruenztransformationen in eine Normalform gebracht werden können.
8.1 Nichtlineare Zustandsgleichungen
In mechanischen Systemen werden Kräfte und Bewegungen verknüpft, die sowohl Eingangs- alsauch Ausgangsgrößen darstellen können, Bild 8.1. Sind alle Kräfte vorgegeben, so lassen sich alsAusgangsgrößen des Systems die freien Bewegungen bestimmen. Dies entspricht dem direktenProblem der Dynamik. Werden umgekehrt alle gebundenen Bewegungen als Eingangsgrößenaufgefasst, so bleiben als unbekannte Ausgangsgrößen die Reaktionskräfte. Deren Bestimmungwird als indirektes oder inverses Problem der Dynamik bezeichnet. Neben diesen Grenzfällengibt es noch zahlreiche Mischformen. Im Weiteren werden nur das direkte Problem und dieBewegungsdifferentialgleichungen des gemischten Problems dargestellt.
eingeprägteKräfte
gebundeneBewegungen
freieBewegungen
Reaktionskräfte
mechanischesSystem
Bild 8.1: Ein- und Ausgangsgrößen eines mechanischen Systems
Die Zustandsgrößen mechanischer Ersatzsysteme sind durch die Lagegrößen yi(t), i = 1(1) f ,die Geschwindigkeitsgrößen zi(t), i= 1(1)g, und die Kraftgrößen wi(t), i= 1(1)h, gegeben. Fasstman alle Zustandsgrößen zu einem n×1-Zustandsvektor xxx(t) zusammen, so gilt für gewöhnlicheMehrkörpersysteme, Finite-Elemente-Systeme und kontinuierliche Systeme
xxx(t) =[
yyy(t) yyy(t)], n = 2 f , (8.1)
während sich für allgemeine Mehrkörpersysteme
xxx(t) =[
yyy(t) zzz(t) www(t)], n = f +g+h (8.2)
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014 W. Schiehlen, P. Eberhard, Technische Dynamik, DOI 10.1007/978-3-658-06185-2_8
176 8 Zustandsgleichungen mechanischer Systeme
ergibt. Die Eingangsgrößen sind durch die frei verfügbaren Stellkräfte und sonstige, im Allge-meinen als Störungen bezeichnete Kräfte bestimmt. Die r Eingangsgrößen werden zu einemr×1-Eingangsvektor
uuu = uuu(t), r ≤ n, (8.3)
zusammengefasst. Die Ausgangsgrößen entsprechen in der Technischen Dynamik häufig einzel-nen Zustandsgrößen, doch es sind auch Linearkombinationen von Eingangs- und Ausgangsgrö-ßen möglich.
Die globalen Bewegungsgleichungen (5.28), (5.35), (5.74), (6.40) und (7.35) lassen sich je-weils mit (8.1) bis (8.3) durch die nichtlinearen Zustandsgleichungen
xxx(t) = aaa(xxx,uuu, t), xxx(t0) = xxx0, (8.4)
darstellen, wobei aaa eine n×1-Vektorfunktion und xxx0 den n×1-Vektor der Anfangsbedingungenbeschreibt. Damit ist eine Vektordifferentialgleichung erster Ordnung gegeben, die sich unmittel-bar für die numerische Lösung eignet.
8.2 Lineare Zustandsgleichungen
Aus den nichtlinearen Zustandsgleichungen (8.4) erhält man durch Linearisierung, soweit diesphysikalisch zulässig ist, die für die technische Praxis außerordentlich wichtigen linearen Zu-standsgleichungen
xxx(t) =AAA(t) ·xxx(t)+BBB(t) ·uuu(t), xxx(t0) = xxx0. (8.5)
Dabei ist AAA(t) die n×n-Systemmatrix und BBB(t) die n× r-Eingangsmatrix. Die Zustandsgleichun-gen (8.5) kennzeichnen ein zeitvariantes System, während für konstante Matrizen AAA und BBB einzeitinvariantes System gegeben ist.
Für gewöhnliche lineare Mehrkörpersysteme haben die Matrizen eine charakteristische Struk-tur. Aus (5.59) erhält man mit (8.1) und uuu(t) = hhh(t) die Matrizen
AAA =
⎡⎣ 000 | EEE
−−−− | −−−−−MMM−1 ·QQQ | −MMM−1 ·PPP
⎤⎦ , BBB =
⎡⎣ 000
−−−MMM−1
⎤⎦ , (8.6)
die auch für Finite-Elemente-Systeme und kontinuierliche Systeme gelten. Zur Bildung der Ma-trizen AAA und BBB wird bei mechanischen Systemen stets die Inverse MMM−1 der Massenmatrix benö-tigt. Da die Massenmatrix linearer Systeme positiv definit ist, kann deren Inverse immer gebildetwerden.
8.3 Transformation linearer Gleichungen
Die Wahl der Zustandsgrößen beeinflusst die Matrizen der Zustandsgleichungen (8.5). Da derVerlauf einer mechanischen Bewegung aber nicht von der Wahl der Zustandsgrößen abhängen
8.3 Transformation linearer Gleichungen 177
kann, muss zwischen verschiedenen Beschreibungen ein mathematischer Zusammenhang beste-hen. Dieser wird durch Transformationsgesetze vermittelt.
Die Beziehung zwischen zwei unterschiedlichen n× 1-Zustandsvektoren xxx(t) und xxx(t) wirdbei linearen, zeitinvarianten Systemen durch eine konstante und reguläre n×n-Transformations-matrix TTT vermittelt
xxx(t) = TTT · xxx(t). (8.7)
Setzt man (8.7) in die Zustandsgleichungen (8.5) ein, so bleibt
TTT · ˙xxx(t) =AAA ·TTT · xxx(t)+BBB ·uuu(t) (8.8)
oder
˙xxx(t) = AAA · xxx(t)+ BBB ·uuu(t) (8.9)
mit dem Transformationsgesetz für die Systemmatrix
AAA = TTT−1 ·AAA ·TTT (8.10)
und der Eingangsmatrix
BBB = TTT−1 ·BBB. (8.11)
Das Transformationsgesetz (8.10) beschreibt eine Ähnlichkeitstransformation. Dadurch wird diebesondere Struktur der Matrizen (8.6) im Allgemeinen zerstört. Es gibt jedoch spezielle Trans-formationsmatrizen, welche die Struktur der Matrizen (8.6) nicht verändern. Eine solche Trans-formationsmatrix ist durch
TTT =
⎡⎣ UUU | 000
−− | −−000 | UUU
⎤⎦ (8.12)
gegeben, wobei UUU eine konstante, reguläre f × f -Matrix ist.Ebenso wie die Zustandsgrößen kann man auch die Lagegrößen beliebig wählen. Dann besteht
zwischen zwei verschiedenen Lagevektoren yyy(t) und yyy(t) der Zusammenhang
yyy(t) =UUU · yyy(t). (8.13)
Setzt man (8.13) in (5.60) ein, so findet man für lineare, zeitinvariante Systeme
MMM ·UUU · ¨yyy(t)+(DDD+GGG) ·UUU · ˙yyy(t)+(KKK +NNN) ·UUU · yyy(t) = hhh(t) (8.14)
wobei MMM ·UUU eine unsymmetrische Matrix darstellt. Verlangt man nun wieder die ursprünglichvorhandene Symmetrie der Massenmatrix, so muss (8.14) von links mit UUUT multipliziert werden.Dann bleibt
MMM · ¨yyy(t)+(DDD+GGG) · ˙yyy(t)+(KKK +NNN) · yyy(t) = hhh(t), (8.15)
178 8 Zustandsgleichungen mechanischer Systeme
woraus man das Transformationsgesetz für alle Matrizen in der Form
MMM =UUUT ·MMM ·UUU (8.16)
und für den Erregervektor als
hhh(t) =UUUT ·hhh(t) (8.17)
abliest. Das Transformationsgesetz (8.16) heißt Kongruenztransformation.
Bei der Aufstellung der Bewegungsgleichungen nach dem d’Alembertschen Prinzip sind im-mer wieder Kongruenztransformationen aufgetreten, wobei neben den quadratischen Transfor-mationsmatrizen, wie z. B. in (5.29), auch rechteckige Transformationsmatrizen, wie in (5.36),(6.41) oder (7.36) zu finden waren. Das d’Alembertsche Prinzip kann deshalb auch als eineKongruenztransformation im erweiterten Sinne aufgefasst werden. Kennzeichen ist dabei die Er-haltung der Symmetrie der Massenmatrix.
Beispiel 8.1: Doppelpendel
L
L
u (t)
u (t)
mu (t)
m
y1
y2
1
2
Bild 8.2: Doppelpendel mit Kraftsteuerung
Die linearisierten Bewegungsgleichungen eines angetriebenen Doppelpendels, sieheBild 8.2, lauten für kleine Winkel
mL2[
2 11 1
]·[
α1α2
]+mgL
[2 00 1
]·[
α1α2
]=
[ −LL
]u(t). (8.18)
Der Antrieb erfolgt durch drei gleich große Stellkräfte u(t), die senkrecht auf den beidenStäben des Doppelpendels stehen.
Verwendet man anstelle der Winkel die horizontalen Auslenkungen als verallgemeinerteKoordinaten, so erhält man für kleine Winkel die Transformationsmatrix
UUU =1L
[1 0−1 1
]. (8.19)
8.4 Normalformen 179
Damit folgen nach (8.15), (8.16) die kongruent transformierten Bewegungsgleichungen
m[
1 00 1
]·[
y1y2
]+
mgL
[3 −1−1 1
]·[
y1y2
]=
[ −21
]u(t). (8.20)
Man erkennt, dass in (8.18) die Massenkräfte gekoppelt sind, während in (8.20) die Ge-wichtskräfte eine Kopplung aufweisen. Die Art der Kopplung hängt daher von der Wahlder Koordinaten ab. Es ist also nicht möglich, aus der Art der Kopplung Aussagen über dasmechanische Verhalten eines linearen Systems zu gewinnen. Dagegen kann die Erklärungder Terme durch eine geeignete Wahl der Koordinaten erleichtert werden. So entsprechenz. B. die verallgemeinerten Kräfte in der Darstellung (8.20) unmittelbar den wirkenden me-chanischen Kräften, siehe Bild 8.2.
Weiterhin sollen die Bewegungsgleichungen (8.18) noch in die Zustandsgleichungen über-führt werden. Nach (8.1) lautet der 4×1-Zustandsvektor
xxx(t) =[
α1 α2 α1 α2]
(8.21)
und die Matrizen der Zustandsgleichungen haben die Form
AAA =
⎡⎢⎢⎢⎢⎣
0 0 | 1 00 0 | 0 1
−−− −−− | −−− −−−−2 g
LgL | 0 0
2 gL −2 g
L | 0 0
⎤⎥⎥⎥⎥⎦ , BBB =
⎡⎢⎢⎢⎢⎣
00
−−−− 2
mL3
mL
⎤⎥⎥⎥⎥⎦ . (8.22)
Man sieht, dass die Submatrizen der Systemmatrix AAA im Allgemeinen ihre Symmetrieeigen-schaften verlieren.
8.4 Normalformen
Die Wahl der Zustandsgrößen beeinflusst die Koeffizientenmatrizen der Zustandsgleichungen.Es stellt sich deshalb die Frage, ob Zustandsgrößen existieren, welche der Systemmatrix einemöglichst einfache Form geben. Diese Frage wird für das homogene System
xxx(t) =AAA ·xxx(t) (8.23)
untersucht, dessen Lösung auch dem entkoppelten System
xxx(t) = λEEE ·xxx(t) (8.24)
genügen soll. Aus (8.24) folgt zunächst die partikuläre Lösung
xxx(t) = eλ txxx (8.25)
180 8 Zustandsgleichungen mechanischer Systeme
mit dem konstanten n× 1-Vektor xxx der Anfangsbedingungen. Eingesetzt in (8.23) erhält mandann die zugehörige Eigenwertaufgabe
(λEEE −AAA) · xxx = 000. (8.26)
Die Eigenwertaufgabe stellt also ein homogenes algebraisches Gleichungssystem dar, das nurdann eine nichttriviale Lösung aufweist, wenn die charakteristische Matrix (λEEE −AAA) singulär ist.Die Forderung
det(λEEE −AAA) = 0 (8.27)
liefert die Eigenwerte λi, i = 1(1)n, die für die folgenden Beschreibungen alle verschieden seinsollen. Zu jedem Eigenwert λi gehört nach (8.26) ein Eigenvektor xxxi, i = 1(1)n. Fasst man dieseEigenvektoren zur n×n-Modalmatrix
XXX =[
xxx1 | xxx2 | ... | xxxn]
(8.28)
zusammen, so hat man eine Transformationsmatrix, welche die Zustandsgleichungen (8.23) inihre Normalform überführt
˙xxx(t) =ΛΛΛ · xxx(t). (8.29)
Dabei ist
ΛΛΛ = diagdiagdiag{λi}, i = 1(1)n, (8.30)
die n×n-Diagonalmatrix der Eigenwerte. Die ausgezeichneten Zustandsgrößen xxxi(t), i = 1(1)n,heißen Haupt- oder Normalkoordinaten. Sie sind zwar aufgrund der Entkopplung mathematischschön, doch sie haben wegen (8.28) im Allgemeinen keine mechanisch anschauliche Bedeutung.Die Eigenvektoren xxxi stellen die Eigen- oder Schwingungsformen dar, die sich z. B. im Resonanz-fall als Bewegung einstellen.
Im Falle mehrfacher Eigenwerte ist die Diagonalmatrix gegebenenfalls durch die Jordan-Matrix zu ersetzen. Für Definition und Berechnung der Jordan-Matrix sei auf die Literatur, z. B.Müller und Schiehlen [38], verwiesen.
Durch geeignete Wahl der Lagegrößen kann man auch die Koeffizientenmatrizen der Bewe-gungsgleichungen weiter vereinfachen. Die Lösung des konservativen Systems
MMM · yyy(t)+KKK ·yyy(t) = 000 (8.31)
soll auch dem vereinfachten System
yyy(t)+ω2EEE ·yyy(t) = 000 (8.32)
genügen. Mit der partikulären Lösung
yyy(t) = sin ωt yyy (8.33)
8.4 Normalformen 181
von (8.32) folgt aus (8.31) die Eigenwertaufgabe
(−MMMω2 +KKK) · yyy = 000. (8.34)
Die charakteristische Gleichung
det(−MMMω2 +KKK) = 0 (8.35)
liefert nun die Eigenfrequenzen ω j, j = 1(1) f , die wieder alle als verschieden angenommenwerden. Mit der normierten f × f -Modalmatrix
YYY =YYY · (YYY T ·MMM ·YYY )− 12 , YYY =
[yyy1 | yyy2 | ... | yyy f
], (8.36)
werden die Bewegungsgleichungen (8.31) nach (8.16) auf ihre Normalform transformiert
¨yyy(t)+ΩΩΩ 2 · yyy(t) = 000. (8.37)
Dabei findet man die f × f -Diagonalmatrix
ΩΩΩ 2 =ΩΩΩ ·ΩΩΩ = diagdiagdiag{ω2j }, j = 1(1) f . (8.38)
Wendet man nun die Modaltransformation, (8.16) mit (8.36), auf die Bewegungsgleichungengewöhnlicher Mehrkörpersysteme (5.60) an, so bleibt
¨yyy(t)+(DDD+GGG) · ˙yyy(t)+ΩΩΩ 2 · yyy(t)+NNN · yyy(t) = hhh(t). (8.39)
Dabei ist anzumerken, dass die Matrizen DDD, GGG, NNN im Allgemeinen keine Diagonalgestalt auf-weisen. Dies bedeutet, dass die Kongruenztransformation nur die Entkoppelung konservativer,nichtgyroskopischer Systeme erlaubt. Auf diesen Sachverhalt wurde bereits in Kapitel 7 bei derModalanalyse kontinuierlicher Systeme hingewiesen.
Auch die verallgemeinerten Koordinaten y j(t), j = 1(1) f , heißen Haupt- oder Normalkoordi-naten. Diese Koordinaten beschreiben nicht mehr die Bewegung einzelner Punkte oder Körpereines mechanischen Systems, sondern sie stellen eine Linearkombination der mechanischen Ko-ordinaten dar. Dies bedeutet, dass einzelne Normal- oder Hauptkoordinaten auch nicht durch dieMessung der Bewegung einzelner Punkte oder Körper ermittelt werden können. Andererseitssind der Vektor yyy(t) der Normalkoordinaten und der Vektor hhh(t) der verallgemeinerten Kräfteeng verknüpft. Im Besonderen entsprechen die verallgemeinerten Kräfte h j, j = 1(1) f , nicht ein-zelnen mechanischen Kräften und Momenten, sondern sie sind Linearkombinationen derselben.
Damit kann noch einmal ein Unterschied zwischen der Methode der finiten Elemente undden kontinuierlichen Systemen verdeutlicht werden. In Finite-Elemente-Systemen werden alsLagegrößen meist die mechanischen Absolut- oder Relativkoordinaten verwendet, die damit ver-bundenen verallgemeinerten Kräfte sind mechanische Kräfte und Momente. Die Bewegungsglei-chungen von kontinuierlichen Systemen sind dagegen oft auf den Normal- und Hauptkoordinatenaufgebaut, die verallgemeinerten Kräfte sind unendlichdimensionale Linearkombinationen dermechanischen Kräfte. Deshalb eignen sich die kontinuierlichen Systeme weniger zum Aufbauanschaulich gegliederter Berechnungsverfahren und computergerechter Programmsysteme.
182 8 Zustandsgleichungen mechanischer Systeme
Beispiel 8.2: Doppelpendel
Die Normalform der Bewegungsgleichungen (8.20) des Doppelpendels, Bild 8.2, lässt sichmit der normierten Modalmatrix
YYY =1√m
⎡⎣ 1√
4+2√
21√
4−2√
21+
√2√
4+2√
21−√
2√4−2
√2
⎤⎦ (8.40)
aus (8.20) gewinnen. Die Kongruenztransformation ergibt unmittelbar
[ ¨y1¨y2
]+
gL
[2−√
2 00 2+
√2
]·[
y1y2
]=
⎡⎣ −1+
√2√
4+2√
2−1−√
2√4−2
√2
⎤⎦ 1√
mu(t). (8.41)
Die Normalform (8.41) lässt sich ebenso aus (8.18) gewinnen. Die Eigenvektoren, und da-mit die Modalmatrix YYY , hängen von der Wahl der Lagegrößen ab. Dagegen bleiben dieEigenfrequenzen bei Kongruenztransformationen invariant. Die verallgemeinerten Kräftehhh(t) in (8.41) haben nichts mehr mit den mechanischen Kräften bzw. Momenten u(t) in(8.20) zu tun. Sogar ihre Dimension wurde durch die Modaltransformation verändert.
Nichtlineare Mehrkörpersysteme können bezüglich der Massenmatrix ebenfalls in eine Normal-form gebracht werden, wie in Abschnitt 5.3.2 nachzulesen ist. Da jedoch die Transformations-matrix im nichtlinearen Fall von den Lagegrößen abhängt, erhält man ein lageabhängiges Ei-genwertproblem. Wegen des damit verbundenen Aufwands hat das Konzept der Normalform fürnichtlineare Systeme keine Bedeutung erlangt.
9 Numerische Verfahren
Große Bewegungen führen in der Technischen Dynamik auf gekoppelte, nichtlineare Systeme ge-wöhnlicher Differentialgleichungen, kleine Bewegungen ergeben lineare Differentialgleichungs-systeme und die Reaktions- oder Zwangskräfte werden schließlich aus algebraischen Gleichungs-systemen bestimmt. Zur Lösung dieser Aufgaben stellt die Numerische Mathematik zahlreichebewährte Verfahren zur Verfügung, auf welche die Technische Dynamik zurückgreifen kann.Dies war jedoch nicht immer der Fall. So enthält z. B. das klassische Werk von Biezeno undGrammel [9] noch ein ausführliches Kapitel über Lösungsmethoden für Eigenwert- und Rand-wertprobleme. Im Besonderen hat die Numerische Mathematik durch die Technische Dynamikauch immer wieder starke Impulse für ihre Weiterentwicklung erhalten.
Viele Verfahren der numerischen Mathematik stehen heute in sehr anwenderfreundlicherForm in der Software Matlab zur Verfügung. Zur Lösung der numerischen Aufgaben der Tech-nischen Dynamik lassen sich Matlab-Programme mit großem Nutzen einsetzen. Trotzdem ist esempfehlenswert, sich mit den Grundgedanken der Lösungsmethoden vertraut zu machen.
In diesem Kapitel werden einige für die Technische Dynamik wichtige numerische Verfahrenbesprochen. Dazu zählen die Integrationsverfahren gewöhnlicher Differentialgleichungssystemeund die lineare Algebra für zeitinvariante Systeme. Abschließend werden noch die behandeltenmechanischen Modelle der Mechanik an Hand numerischer Ergebnisse verglichen.
9.1 Integration nichtlinearer Differentialgleichungen
Zur numerischen Integration wird in die Zustandsgleichungen (8.4) zunächst die Zeitfunktionder Eingangsgrößen (8.3) eingesetzt, so dass die n×1-Vektordifferentialgleichung
xxx(t) = aaa(xxx, t), xxx(t0) = xxx0 (9.1)
gegeben ist. Dafür stehen dann zahlreiche numerische Integrationsverfahren zur Verfügung, diez. B. von Grigorieff [24] oder Butcher [14] ausführlich beschrieben worden sind. Die Lösungvon (9.1) wird durch den Anfangszustand xxx(t0) bestimmt, weshalb man auch von einem Anfangs-wertproblem spricht. Man kann die Verfahren zur Lösung von Anfangswertproblemen einteilenin Einschrittverfahren, Mehrschrittverfahren und Extrapolationsverfahren. Diese Verfahren, vondenen es jeweils mehrere Varianten gibt, sollen nun kurz besprochen werden. Von den Einschritt-verfahren sind vor allem die Runge-Kutta-Verfahren bekannt. Dabei wird (9.1) ausgehend vomAnfangszustand schrittweise gelöst. Der Zustand
xxx(tk+1) = xxx(tk +h) (9.2)
an den diskreten Zeitpunkten tk = t0 + kh, k = 1,2,3, ... wird für die Zeitschrittweite h bei denEinschrittverfahren nach einer Näherungsformel bestimmt. Diese lautet z. B. für das bekannte
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014 W. Schiehlen, P. Eberhard, Technische Dynamik, DOI 10.1007/978-3-658-06185-2_9
184 9 Numerische Verfahren
Runge-Kutta-Verfahren 4. Ordnung
xxx(tk+1)≈ xxx(tk)+h6[ΔΔΔxxx(1)k +2ΔΔΔxxx(2)k +2ΔΔΔxxx(3)k +ΔΔΔxxx(4)k ] (9.3)
mit den n×1-Hilfsvektoren
ΔΔΔxxx(1)k = aaa(xxx(tk), tk), (9.4)
ΔΔΔxxx(2)k = aaa(xxx(tk)+12
ΔΔΔxxx(1)k , tk +12
h), (9.5)
ΔΔΔxxx(3)k = aaa(xxx(tk)+12
ΔΔΔxxx(2)k , tk +12
h), (9.6)
ΔΔΔxxx(4)k = aaa(xxx(tk)+ΔΔΔxxx(3)k , tk +h). (9.7)
Zum besseren Verständnis dieser Formeln kann man (9.3) und (9.4) auf ein homogenes zeitinva-riantes System
xxx(t) =AAA ·xxx(t) (9.8)
anwenden. Dann findet man
xxx(tk+1)≈ φφφ(h) ·xxx(tk) (9.9)
mit
φφφ(h) =EEE +AAAh+12
AAA ·AAAh2 +16
AAA ·AAA ·AAAh3 +1
24AAA ·AAA ·AAA ·AAAh4. (9.10)
Der Fehler eines Integrationsschrittes liegt in der Größenordnung von h5.Die wichtigste Größe bei Einschrittverfahren ist die Schrittweite h. Sie hat einen unmittel-
baren Einfluss auf den Integrationsfehler. Man kann im Besonderen die Genauigkeit des Ergeb-nisses durch Rechnen mit kleinerer Schrittweite verbessern, wobei allerdings durch die Run-dungsfehler Grenzen gesetzt sind. Die Durchführung solcher Kontrollrechnungen kann durcheine Schrittweitensteuerung automatisiert werden. Bei den automatisierten Verfahren wird dannnicht mehr die Schrittweite, sondern ein zulässiger Diskretisierungsfehler vorgegeben.
Weiterhin kann man die Ordnung des Verfahrens erhöhen. Mit zunehmender Ordnung desVerfahrens nimmt der Fehler ebenfalls ab, doch erhöht sich der Rechenaufwand durch zusätzlicheGlieder in den Näherungsformeln. Man kann in einem Verfahren neben der Schrittweite auch dieOrdnung während der Rechnung steuern. Als Beispiel sei das Runge-Kutta-Fehlberg-Verfahren5./6. Ordnung mit Schrittweitensteuerung genannt.
Die Vorteile der Einschrittverfahren liegen in einer einfachen Programmierung und einem un-mittelbaren Start der Rechnung vom Anfangszustand aus. Nachteilig ist, dass die Informationenüber den bereits berechneten Lösungsverlauf nicht für die weitere Rechnung ausgenutzt werden.Dies führt auf sehr viele Funktionsauswertungen von (9.1). Darüber hinaus ist für genaue Er-gebnisse eine Schrittweitensteuerung unabdingbar. Trotzdem hat die Erfahrung gezeigt, dass inder Technischen Dynamik oft schon mit den genannten Runge-Kutta-Fehlberg-Verfahren 5./6.Ordnung gute und sichere Ergebnisse erzielt werden.
9.2 Lineare Algebra zeitinvarianter Systeme 185
Von den Mehrschrittverfahren sind vor allem die Prädiktor-Korrektur-Verfahren zu erwähnen,die auch Informationen aus dem bereits berechneten Lösungsverlauf ausnutzen. Es ist unmittel-bar einleuchtend, dass damit der Programmieraufwand erheblich ansteigt. Darüber hinaus kön-nen bei Mehrschrittverfahren wie auch bereits bei Einschrittverfahren Instabilitäten auftreten undeine Verkleinerung der Schrittweite muss nicht bei jedem Mehrschrittverfahren zu einer besse-ren Genauigkeit führen. Ein weiteres Problem liegt im Start der Rechnung, da zum Anfangszeit-punkt nur der Anfangszustand und keine zusätzlichen Informationen vorliegen. Die geschildertenNachteile von Mehrschrittverfahren können jedoch weitgehend verringert werden, wie z. B. dasShampine-Gordon-Verfahren zeigt. Es verbleibt dann der Vorteil kurzer Rechenzeiten bei hohenGenauigkeiten.
Das Verfahren nach Shampine und Gordon [59] ist ein Mehrschrittverfahren mit Ordnungs-und Schrittweitensteuerung. Es ist selbststartend und zeichnet sich durch sehr wenige Funkti-onsauswertungen von (9.1) aus. Das Verfahren entdeckt und beherrscht Unstetigkeiten, es kon-trolliert bei hohen Genauigkeitsforderungen auch die Rundungsfehler, es meldet überzogene Ge-nauigkeitswünsche und es beherrscht bis zu einem gewissen Grade auch größere Frequenzun-terschiede in Differentialgleichungssystemen. Das Shampine-Gordon-Verfahren ist komfortabelund liefert unabhängig von der internen Schrittweite beliebig viele Zwischenwerte für die graphi-sche Darstellung von Lösungskurven, es ist hervorragend begründet, dokumentiert und getestet.Für die Aufgaben der Technischen Dynamik ist das Shampine-Gordon-Verfahren sehr gut geeig-net und hat sich ausgezeichnet bewährt.
Die Extrapolationsverfahren arbeiten mit einer Folge von Schrittweiten, die eine Extrapola-tion auf einen Grenzwert zulassen. Dazu werden Polynomansätze oder rationale Funktionen inVerbindung mit Rekursionsformeln verwendet, woraus sich wieder verhältnismäßig viele Funkti-onsauswertungen von (9.1) ergeben. Die Vorteile der Extrapolationsverfahren liegen bei sehr gu-ten Genauigkeiten mit vergleichsweise großen Schrittweiten. Ist man an dieser Eigenschaft nichtvorrangig interessiert, so lohnt sich der höhere Rechenzeitaufwand nicht. Ein weit verbreitetesExtrapolationsverfahren ist das Gragg-Bulirsch-Stoer-Verfahren. Es hat sich für Anwendungenin der Himmelsmechanik außerordentlich gut bewährt, wo große Schrittweiten entscheidend sind.Für die Technische Dynamik eignen sich Extrapolationsverfahren meist weniger gut.
9.2 Lineare Algebra zeitinvarianter Systeme
Während sich die nichtlinearen Zustandsgleichungen (9.1) praktisch nur als Anfangswertproblemlösen lassen, können die linearen, zeitinvarianten Zustandsgleichungen
xxx(t) =AAA ·xxx(t)+bbb(t), xxx(t0) = xxx0 (9.11)
auch rein algebraisch untersucht werden. Die entsprechenden Lösungsmethoden, die auch fürlineare Schwingungssysteme Anwendung finden, sind z. B. in Müller und Schiehlen [38] darge-stellt. Hier sollen nur einige Grundgedanken dargestellt werden.
Die allgemeine Lösung von (9.11) lautet
xxx(t) = φφφ(t) ·xxx0 +
t∫0
φφφ(t − τ) ·bbb(τ)dτ, (9.12)
186 9 Numerische Verfahren
wobei φφφ(t) die n× n-Fundamentalmatrix ist, die über die Eigenwertaufgabe ermittelt werdenkann. Mit (8.28) und (8.30) gilt
φφφ(t) =XXX · eΛΛΛ t ·XXX−1, (9.13)
d. h. die Fundamentalmatrix hängt nur von den Eigenwerten und der Modalmatrix ab, sie kannohne numerische Integration bestimmt werden.
Weiterhin findet man in (9.12) das Integral der partikulären Lösung. Dieses Integral kann ana-lytisch gelöst werden, wenn der n×1-Erregervektor bbb(t) entweder zeitlich begrenzt, periodischoder stochastisch ist. Der Erregervektor bbb(t) wird nach (8.5) durch die Eingangsmatrix BBB(t) undden Eingangsvektor uuu(t) festgelegt.
Eine zeitlich begrenzte Erregung kann durch ein Polynom l-ten Grades approximiert werden,
bbb(t) =l
∑k=0
bbbk{t − tA, tE}k, (9.14)
wobei die n×1-Koeffizientenvektoren bbbk und die skalare Fensterfunktion
{t − tA, tE}k =
⎧⎨⎩
0 für t ≤ tA,(t − tA)k für tA < t < tE ,
0 für tE ≤ t(9.15)
verwendet werden. Dann lautet die allgemeine Lösung
xxx(t) =φφφ(t) ·[
xxx0 +φφφ(−tA) · f0{t − tA,∞}0 (9.16)
−φφφ(−tE) ·l
∑k=0
fff k(tE − tA)k{t − tE ,∞}0
]−
l
∑k=0
fff k{tE − tA, tE}k
mit der Abkürzung
fff k =l
∑m=k
m!k!
AAA(k−m−1) ·bbbm. (9.17)
Die Antwort (9.16) ist durch drei charakteristische Zeitabschnitte gekennzeichnet. Im ersten In-tervall 0 < t < tA findet eine freie Schwingung mit der Anfangsbedingung xxx0 statt. Im zweitenIntervall tA < t < tE überlagern sich eine freie und eine erzwungene Schwingung, während imdritten Intervall tE < t eine freie Schwingung mit geänderter Anfangsbedingung auftritt.
Eine periodische Erregung lässt sich durch eine Fourier-Reihe l-ter Ordnung
bbb(t) =l
∑k=1
(bbb(1)k cos kΩ t +bbb(2)k sin kΩ t) (9.18)
approximieren mit den n×1-Vektoren bbb(1)k ,bbb(2)k der Fourier-Koeffizienten. Die allgemeine Lö-
9.2 Lineare Algebra zeitinvarianter Systeme 187
sung hat nun die Form
xxx(t) = φφφ(t) · [xxx0 −l
∑k=1
ggg(1)k ]+l
∑k=1
(ggg(1)k cos kΩ t +ggg2k sin kΩ t) (9.19)
mit dem komplexen n×1-Frequenzgangvektor
ggg(1)k − iggg(2)k = (ikΩEEE −AAA)−1 · (bbb(1)k − ibbb(2)k ). (9.20)
Die Antwort (9.19) stellt die Überlagerung einer freien Schwingung, die den Einschwingvorgangbeschreibt, und einer erzwungenen Schwingung dar.
Für die stochastische Erregung asymptotisch stabiler Systeme wird ein Gaußscher n × 1-Vektorprozess
bbb(t, τ)∼ (mmm(t),NNNb(t, τ)) (9.21)
mit den Eigenschaften des weißen Rauschens vorausgesetzt. Dann gilt für den n×1-Mittelwert-vektor mmmb(t) = 000 und für die n× n-Korrelationsmatrix NNNb(t, τ) = QQQδ (t − τ). Dabei ist QQQ dien × n-Intensitätsmatrix des weißen Rauschens und δ beschreibt die durch (7.28) eingeführteDirac-Funktion. Beachtet man noch, dass bei stochastischen Systemen auch der Anfangszustanddurch einen Gaußschen n×1-Zufallsvektor
xxx0 ∼ (mmm0,PPP0) (9.22)
mit dem n×1-Mittelwertvektor mmm0 und der n×n-Kovarianzmatrix PPP0 beschrieben wird, so findetman die allgemeine Lösung ebenfalls als Gaußschen Vektorprozess
xxx(t, τ)∼ (mmmx(t),NNNx(t, τ)). (9.23)
Es ist nun äußerst bemerkenswert, dass für den n× 1-Mittelwertvektor mmmx(t) und die aus dern× n-Korrelationsmatrix NNNx(t, τ) folgende n× n-Kovarianzmatrix PPPx(t) die deterministischenLösungen
mmmx(t) = φφφ(t) ·mmm0, (9.24)
PPPx(t) = φφφ(t) · (PPP0 −PPP) ·φφφ T (t)+PPP (9.25)
gefunden werden können, die sich auf die Fundamentalmatrix (9.13) und die algebraische Ljapu-novsche Matrizengleichung
AAA ·PPP+PPP ·AAAT +QQQ = 000 (9.26)
zurückführen lassen. Die Antwort (9.24) beschreibt einen reinen Einschwingvorgang auf denverschwindenden Mittelwert, während die Kovarianzmatrix (9.25) auf einen stationären Werteinschwingt. Für weitere Einzelheiten sei auf Müller und Schiehlen [38] verwiesen.
Die obige Einschränkung auf die Erregung durch weißes Rauschen ist nicht sehr schwerwie-gend, da sich farbige Rauschprozesse über so genannte lineare Formfilter erzeugen lassen. Zu
188 9 Numerische Verfahren
diesem Zweck muss gegebenenfalls die Systemordnung der Zustandsgleichung (9.11) geringfü-gig erhöht werden.
Damit ist gezeigt, dass die Technische Dynamik linearer zeitinvarianter Systeme auf rein al-gebraische Probleme zurückgeführt werden kann. Es verbleibt noch die Frage, welche Verfahrender linearen Algebra dabei zweckmäßig zum Einsatz kommen.
Die numerische Lösung der Eigenwertaufgabe macht im großen Umfang von wiederholtenÄhnlichkeitstransformationen Gebrauch. Zunächst empfiehlt es sich, die gegebene SystemmatrixAAA zu balancieren, um ihre Kondition zu verbessern. Dann wird die Reduktion durch Eliminations-oder Householder-Transformationen auf die obere Hessenberg-Form vorgenommen, wodurch ei-ne einfache Gestalt der Matrix erreicht wird. Der nächste, entscheidende Schritt umfasst dieeigentliche Lösung, die iterativ gefunden wird, da es sich im Prinzip um die Nullstellenbestim-mung handelt. Ein hervorzuhebendes Verfahren zur Bestimmung aller Eigenwerte und Eigenvek-toren ist das von Wilkinson [65] ausführlich beschriebene QR-Verfahren, das auch bei mehrfa-chen Eigenwerten nicht versagt. Werden alle während der Rechnung durchgeführten Ähnlich-keitstransformationen gespeichert und dann wieder rückgängig gemacht, so erhält man auch dieEigenvektoren des Problems.
Die numerische Berechnung von (9.17) erfolgt einfach durch Matrizenmultiplikationen und-additionen. Der komplexe Frequenzgangvektor (9.19) wird durch das lineare Gleichungssystem
(ikΩEEE −AAA) · (ggg(1)k − iggg(2)k ) = bbb(1)k − ibbb(2)k , k = 1(1)n (9.27)
bestimmt. Als numerisches Verfahren sei hier z. B. die Gauß-Elimination mit Spaltenpivotsucheerwähnt. Die Lösung von (9.27) ist aber nur dann empfehlenswert, wenn eine feste Erregerfre-quenz Ω gegeben ist. Wird bei einer harmonischen Erregung, l = 1, der Frequenzgangvektor alsFunktion der Erregerfrequenz gesucht, so ist es zweckmäßiger, auf die Elementarfrequenzgängemit bekannter Lösung zurückzugreifen, wie dies in Müller und Schiehlen [38] dargestellt ist. DieElementarfrequenzgänge erfordern wiederum die Lösung der Eigenwertaufgabe.
Die Ljapunovsche Matrizengleichung (9.26) kann entweder durch Umschreiben in ein linea-res Gleichungssystem erhöhter Ordnung oder iterativ nach dem Smithschen Verfahren [61] gelöstwerden. Das Smithsche Verfahren ist wegen der unveränderten Ordnung numerisch günstiger.Die Konvergenz der Iteration ist wegen der vorausgesetzten asymptotischen Stabilität des Sys-tems stets gegeben.
Die Existenz der algebraischen Lösungen der zeitinvarianten Zustandsgleichung (9.11)schließt natürlich nicht aus, auch numerische Integrationsverfahren für lineare Systeme einzu-setzen. Dieser Weg wird in der Praxis aus Bequemlichkeit sogar sehr häufig gewählt. Man musssich dabei aber im Klaren sein, dass das Anfangswertproblem das dynamische Verhalten nur füreinen einzigen Anfangszustand beschreiben kann, während das Eigenwertproblem die gesamteLösungsvielfalt für beliebige Anfangsbedingungen beinhaltet.
9.3 Vergleich der mechanischen Modelle
Zum numerischen Vergleich der Methode der Mehrkörpersysteme, der Finite-Elemente-Systemeund der kontinuierlichen Systeme eignen sich nur einfache Konstruktionen, die einer geschlosse-nen Lösung zugänglich sind. Es werden deshalb die Längsschwingungen eines Stabes, Bild 9.1,
9.3 Vergleich der mechanischen Modelle 189
als Beispiel herangezogen. Die Parameter eines einseitig eingespannten, homogenen Stabes sinddie Dichte ρ , die Querschnittsfläche A, der Elastizitätsmodul E und die Länge L.
u1 u2 u3 u4
u (x)x
Mehrkörpersystem
Bild 9.1: Ersatzsysteme für die Längsschwingungen eines Stabes
Nach der Methode der Mehrkörpersysteme wird der Stab im Folgenden durch f Massenpunk-te beschrieben, wobei f die Zahl der Freiheitsgrade kennzeichnet. Dann lauten die Bewegungs-gleichungen nach (5.60) z. B. für f = 4 Massenpunkte
ρAL8
⎡⎢⎢⎣
2 0 0 00 2 0 00 0 2 00 0 0 1
⎤⎥⎥⎦ ·⎡⎢⎢⎣
u1u2u3u4
⎤⎥⎥⎦+ 4AE
L
⎡⎢⎢⎣
2 −1 0 0−1 2 −1 00 −1 2 −10 0 −1 1
⎤⎥⎥⎦ ·⎡⎢⎢⎣
u1u2u3u4
⎤⎥⎥⎦= 000. (9.28)
Die stetig verteilte Masse des Stabes wird dabei jedem Massenpunkt zur Hälfte zugeschlagenund die Federkonstanten werden nach dem Hookeschen Gesetz bestimmt.
Die Methode der finiten Elemente liefert entsprechend (6.23) und (6.28) für vier Elemente
ρAL24
⎡⎢⎢⎣
4 1 0 01 4 1 00 1 4 10 0 1 2
⎤⎥⎥⎦ ·⎡⎢⎢⎣
u1u2u3u4
⎤⎥⎥⎦+ 4AE
L
⎡⎢⎢⎣
2 −1 0 0−1 2 −1 00 −1 2 −10 0 −1 1
⎤⎥⎥⎦ ·⎡⎢⎢⎣
u1u2u3u4
⎤⎥⎥⎦= 000. (9.29)
Die kontinuierlichen Systeme führen mit (7.18) bei den gegebenen Randbedingungen auf dasEigenwertproblem
cos βL = 0 (9.30)
190 9 Numerische Verfahren
mit den Eigenfrequenzen
ω f =(2 f −1)π
2
√E
ρL2 , f = 1(1)∞. (9.31)
Als erster, gröbster Vergleich sollen die Eigenfrequenzen für f = 1 verglichen werden. Der exakteWert folgt aus (9.31) zu
ω1 = 1.570
√E
ρL2 . (9.32)
Die Methode der Mehrkörpersysteme liefert für einen Massenpunkt
ω1 = 1.414
√E
ρL2 (9.33)
und die Methode der finiten Elemente ergibt für ein finites Element
ω1 = 1.732
√E
ρL2 . (9.34)
Zunächst erkennt man, dass alle Methoden die richtige Abhängigkeit von den Parametern desStabes zeigen. Lediglich der Zahlenfaktor ist unterschiedlich. Der Frequenzfehler der Methodeder Mehrkörpersysteme beträgt −10%, die Methode der finiten Elemente ergibt einen Frequenz-fehler von +10%. Für die grobe Näherung f = 1 bereits ein erstaunlich gutes Ergebnis!
Man kann nun die Zahl der Freiheitsgrade erhöhen und den jeweils auf die exakten Frequen-zen (9.31) bezogenen Frequenzfehler auftragen, Bild 9.2. Die Methode der Mehrkörpersystemeliefert hier grundsätzlich zu kleine, die Methode der finiten Elemente dagegen zu große Frequen-zen. Dieser Sachverhalt lässt sich leicht erklären. Durch die Konzentration der verteilten Massein den Massenpunkten werden die Trägheitswirkungen vergrößert, wodurch die Frequenz sinkenmuss. Andererseits verringert die lineare Verteilung der Masse nach der Methode der finiten Ele-mente die Trägheitswirkungen, was zu höheren Frequenzen führt. Weiterhin zeigt Bild 9.2, dassder Fehler mit zunehmender Zahl von Freiheitsgraden abnimmt. Bereits bei drei Freiheitsgradenbeträgt der Fehler der ersten Eigenfrequenz nur noch ±1%. Diese Tatsache begründet neben an-deren Aspekten den großen Erfolg, den die Methode der Mehrkörpersysteme und die Methodeder finiten Elemente errungen haben. Allgemein lässt sich feststellen, dass bei linearen Systemendie Methode der finiten Elemente zu genaueren Ergebnissen führt, wie auch Bild 9.2 zeigt. Beieiner hinreichenden Anzahl von Freiheitsgraden lässt sich mit der Methode der Mehrkörpersyste-me hier auch die Genauigkeit der Methode der finiten Elemente erreichen. Sie ist darüber hinausauch für große, nichtlineare Bewegungen hervorragend geeignet.
Die wesentlichen Anwendungsgebiete der Methode der finiten Elemente liegen in der Struk-turdynamik, während die Methode der Mehrkörpersysteme in der Maschinendynamik bevorzugteingesetzt wird. Die kontinuierlichen Systeme finden in der theoretischen Dynamik breite An-wendung.
9.3 Vergleich der mechanischen Modelle 191
-30%
-20%
-10%
0%
10%
20%
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
FEM
MKS
1
2
1
2
5
7 8 965
6 7 8 9
43
3 4
Zahl der Elemente
Fehler
Bild 9.2: Frequenzfehler als Funktion der Elementanzahl
Anhang
A Mathematische Hilfsmittel
In diesem Anhang werden einige häufig verwendete Beziehungen und Definitionen zusammen-gestellt.
A.1 Darstellung von Funktionen
Zur Darstellung von Funktionen wird eine vereinfachte Schreibweise benutzt. Diese wird imFolgenden am Beispiel des Ortsvektors eines Massenpunktes erläutert. Die freie Bewegung ei-nes Massenpunktes erfolgt im dreidimensionalen Euklidischen Raum R3. Seine Lage wird danndurch einen 3×1-Ortsvektor rrr beschrieben,
rrr ∈ R3. (A.1)
Wird die Bewegung durch eine holonome Bindung an eine Fläche eingeschränkt, so reicht ein La-gevektor yyy ∈ R2 der verallgemeinerten Koordinaten aus, um seine Lage eindeutig zu beschreiben.Damit kann der Ortsvektor als Funktion des Vektors yyy aufgefasst werden
rrr = fff (yyy), fff : R2 → R3. (A.2)
Dies bedeutet, dass jedem Element yyy des Konfigurationsraumes R f durch die Abbildung fff genauein Element rrr des Anschauungsraumes R3 zugeordnet wird.
Aus den Grundgleichungen der Kinetik ergibt sich zusammen mit einer Anfangsbedingung
yyy0 ∈ R f , yyy0 ∈ R f (A.3)
der Lagevektor yyy als Funktion der Zeit t
yyy = ggg(t), ggg : R → R f . (A.4)
Damit folgt aus (A.2) die Abhängigkeit des Ortsvektors von der Zeit
rrr = fff (yyy) = fff (ggg(t)) = hhh(t). (A.5)
Wie man sieht, sind also bereits zur exakten Beschreibung des einfachsten mechanischen Mo-dells mehrere Abbildungsschritte notwendig. Die daraus resultierende aufwendige Schreibweisewird deshalb durch eine vereinfachte Beschreibung ersetzt. Dazu werden (A.1) bis (A.5) in einereinzigen Beziehung zusammengefasst
rrr(t) = rrr(yyy(t)) = rrr(yyy). (A.6)
Zugunsten einer knappen Schreibweise wird also die Tatsache, dass fff und hhh zwei verschiede-ne Abbildungen sind, bewusst außer Acht gelassen. Die dadurch erzielte Entlastung des Textes
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014 W. Schiehlen, P. Eberhard, Technische Dynamik, DOI 10.1007/978-3-658-06185-2
196 A Mathematische Hilfsmittel
rechtfertigt die Ungenauigkeiten, die durch die verkürzte Schreibweise entstehen.
A.2 Matrizenalgebra
Die rechteckige m×n-Matrix AAA wird durch das Schema ihrer Elemente Aαβ gebildet
AAA =[
Aαβ], α = 1(1)m, β = 1(1)n. (A.7)
Die Matrizenaddition zweier m×n-Matrizen AAA und BBB erfolgt elementweise
AAA+BBB =[
Aαβ +Bαβ]=[
Cαβ]=CCC. (A.8)
Die Matrizenmultiplikation einer m× p-Matrix AAA und einer p×n-Matrix BBB ist
AAA ·BBB = [p
∑γ=1
Aαγ Bγβ ] = [Cαβ ] =CCC. (A.9)
Nach der Einsteinschen Summationskonvention kann das Summenzeichen entfallen. Es ist dannstets über die in einem Term doppelt auftretenden Indizes zu summieren.
Die transponierte n×m-Matrix
AAAT =[
Aβα]
(A.10)
erhält man durch Vertauschung von Spalten und Zeilen. Die quadratische n× n-Matrix AAA kannregulär
detAAA �= 0 (A.11)
oder singulär
detAAA = 0 (A.12)
sein. Zu jeder regulären Matrix existiert die n×n-Kehrmatrix AAA−1, die der Bedingung
AAA ·AAA−1 =EEE (A.13)
genügt. Die reguläre n×n-Matrix AAA heißt orthogonal, wenn sie die Bedingung
AAAT =AAA−1, detAAA =±1, (A.14)
erfüllt. Für
detAAA = 1 (A.15)
ist die n×n-Matrix AAA darüber hinaus eigentlich orthogonal.Jede quadratische n× n-Matrix lässt sich in eindeutiger Weise additiv in eine symmetrische
A.2 Matrizenalgebra 197
und eine schiefsymmetrische Matrix zerlegen
AAA =12(AAA+AAAT )+
12(AAA−AAAT ) =BBB+CCC. (A.16)
Die symmetrische n×n-Matrix BBB erfüllt die Bedingung
BBB =BBBT (A.17)
und die schiefsymmetrische n×n-Matrix CCC ist durch die Beziehungen
CCC =−CCCT , Cαα = 0, α = 1(1)n (A.18)
gekennzeichnet. Eine symmetrische Matrix hat n2 (n+ 1) wesentliche Elemente, während eine
schiefsymmetrische Matrix nur n2 (n−1) wesentliche Elemente aufweist. Es ist manchmal zweck-
mäßig, die wesentlichen Elemente in einem Vektor entsprechender Dimension zusammenzufas-sen.
Die symmetrische n×n-Matrix AAA heißt positiv definit, wenn
xxx ·AAA ·xxx > 0 ∀xxx �= 000 (A.19)
und sie heißt positiv semidefinit für
xxx ·AAA ·xxx ≥ 0 ∀xxx. (A.20)
Zur rechnerischen Überprüfung der Definitheit eignen sich auch die Hauptabschnittsdeterminan-ten Hα . Die Matrix AAA ist positiv definit für Hα > 0 und positiv semidefinit für Hα ≥ 0,α = 1(1)n.
Die n×n-Diagonalmatrix
AAA = diagdiagdiag{Aαα}, Aαβ = 0 für α �= β (A.21)
ist nur auf der Hauptdiagonalen besetzt. Die wesentlichen Elemente einer n×n-Diagonalmatrixkönnen leicht in einem n×1-Vektor angeschrieben werden.
Die n×n-Einheitsmatrix
EEE = diagdiagdiag{Eαα}, Eαβ =
{1 für α = β0 sonst (A.22)
ist eine eigentlich orthogonale, positiv definite Diagonalmatrix.
Jede quadratische 3×3-Matrix AAA lässt sich polar in eine eigentlich orthogonale Matrix BBB undpositiv definite Matrizen CCC, DDD zerlegen
AAA =BBB ·CCC =DDD ·BBB (A.23)
mit
CCC = (AAAT ·AAA) 12 , DDD = (AAA ·AAAT )
12 (A.24)
198 A Mathematische Hilfsmittel
und
BBB =AAA ·CCC−1 =DDD−1 ·AAA. (A.25)
Es soll angemerkt werden, dass zu jeder positiv definiten 3× 3-Matrix CCC eine ebenfalls positivdefinite 3×3-Matrix CCC1/2 gefunden werden kann. Ihre Berechnung erfolgt durch eine Hauptach-sentransformation, siehe Zurmühl und Falk [70] oder Golub und van Loan [23].
Die schiefsymmetrische 3×3-Matrix
aaa =3
∑β=1
εαβγ aβ , α, γ = 1(1)3 (A.26)
ist durch den 3×1-Vektor
aaa =[
aα], α = 1(1)3 (A.27)
eindeutig bestimmt. Das Permutationssymbol εαβγ hat die Eigenschaften
εαβγ = εβγα = εγαβ = 1,
εβαγ = εγβα = εαγβ =−1,
εαβγ = 0 für α = β , β = γ oder γ = α. (A.28)
Die schiefsymmetrische 3×3-Matrix vermittelt im Besonderen das Vektorprodukt zweier Vekto-ren
aaa×bbb = aaa ·bbb = [3
∑β ,γ=1
εαβγ aβ bγ ] = [cα ] = ccc. (A.29)
Weiterhin gelten die Beziehungen
aaa · bbb = bbbaaa− (aaa ·bbb)EEE, (A.30)
˜(aaa ·bbb) = bbbaaa−aaabbb, (A.31)
welche die mehrfachen Vektorprodukte in Matrizenschreibweise ausdrücken.
Dabei ist bbbaaa das dyadische Produkt zweier Vektoren, welches auf die symmetrische Matrix CCCführt
CCC = [Cαβ ] = [bα aβ ] = [aβ bα ] = [Cβα ] =CCCT . (A.32)
Weiterhin gilt das Skalarprodukt zweier 3×1-Vektoren
aaa ·bbb =3
∑i=1
aibi = c. (A.33)
Das Symbol ’·’ vermittelt also sowohl das Matrizenprodukt (A.9) als auch das Skalarprodukt.
A.3 Matrizenanalysis 199
Grundsätzlich werden in diesem Buch Spalten- und Zeilenvektoren nicht unterschieden. Beider Verwendung von Subvektoren wird meist die Zeilenschreibweise verwendet, z. B.
aaa = [bbb ccc] = [b1 b2 b3 . . . c1 c2 c3 . . .]. (A.34)
Die für 3× 1-Vektoren und 3× 3-Matrizen geltenden Beziehungen können direkt auf Tensoren1. und 2. Stufe übertragen werden.
A.3 Matrizenanalysis
Die Differentiation und Integration einer rechteckigen m×n-Matrix AAA nach einer skalaren Größet wird elementweise durchgeführt
dAAAdt
= [dAαβ
dt], α = 1(1)m, β = 1(1)n. (A.35)
Die partielle Differentiation eines m× 1-Vektors aaa(bbb) nach einem n× 1-Vektor bbb führt auf einem×n-Funktional- oder Jacobi-Matrix
∂aaa∂bbb
= [∂aα
∂bβ] = [Cαβ ] =CCC, α = 1(1)m, β = 1(1)n. (A.36)
In Matrizenschreibweise wird der m×1-Vektor aaa der abhängigen Veränderlichen nach dem n×1-Vektor bbb der unabhängigen Veränderlichen differenziert wie in (A.36) dargestellt. Einige Beispie-le für die obige Definition sind in (2.9) zu finden.
Nach der Kettenregel können die Differentiationen auch mehrfach angewandt werden, was zueiner entsprechenden Multiplikation der Jacobi-Matrizen führt, siehe (2.10) und (2.11).
Mit einem 3×1-Ortsvektor xxx lassen sich nach (A.36) auch die Notationen der Vektoranalysisausschreiben
gradaaa =∂aaa∂xxx
, divaaa = Sp∂aaa∂xxx
. (A.37)
Damit sind die für die Technische Dynamik wesentlichen Definitionen der Matrizenanalysis zu-sammengestellt.
200 A Mathematische Hilfsmittel
A.4 Liste wichtiger Formelzeichen
Viele Formelzeichen haben in den einzelnen Kapiteln unterschiedliche Bedeutungen, was aufdem interdisziplinären Charakter der Technischen Dynamik beruht. Deshalb wird in der Klam-mer stets die Formelnummer hinzugefügt, in der das Formelzeichen zum ersten Mal erscheint.a Konstante (6.44)aaa 3×1-Beschleunigungsvektor (2.12)aaa n×1-Vektorfunktion (8.4)b Konstante (6.44)b Abstand (2.22)bbb n×1-Erregerfunktion (9.11)bbb 6×1-Vektor der Beschleunigungsgrößen (5.167)c Federkonstante (4.22)d Dämpferkonstante (5.92)ddd 3×1-Vektor der Drehachse (2.36)e Zahl der Freiheitsgrade (1.1)eee Einsvektor (2.1)eee 6×1-Verzerrungsvektor (2.141)eee 8×1-Positionsvektor elastischer Balken (6.59)f Zahl der Lagefreiheitsgrade (2.174)fff 3×1-Kraftvektor (3.1)fff 3×1-Vektor der Massenkraftdichte (3.61)fff f ×1-Vektorfunktion (5.39)g Zahl der Geschwindigkeitsfreiheitsgrade (2.218)g Erdbeschleunigung (3.17)ggg q×1-Vektor der verallgemeinerten Reaktionskräfte (3.8)ggg n×1-Frequenzgangvektor (9.20)h Zahl der Kraftgrößen (3.12)hhh f ×1-Erregervektor (5.59)k Trägheitsparameter (3.54)kkk f ×1-Vektor der verallg. Coriolis-, Zentrifugal- bzw. Kreiselkräfte (5.28)l Ordnung einer Reihenentwicklung (9.14)lll 3×1-Momentenvektor (3.23)m Masse (3.1)mmm n×1-Mittelwertvektor (9.21)n Streckenlast auf Stab (7.7)nnn 3×1-Normalenvektor (3.62)p Zahl der Punkte, Elemente, Körper (2.24)q Quaternionen (2.44)q Zahl der holonomen Bindungen (2.174)q Streckenlast auf Balken (7.10)qqq f ×1-Vektor der verallgemeinerten eingeprägten Kräfte (5.28)qqq globaler e×1-Kraftvektor (5.23)R Kugelkoordinate (2.14)r Zahl der nichtholonomen Bindungen (2.218)
A.4 Liste wichtiger Formelzeichen 201
r Zahl der Eingangsgrößen (8.3)rrr 3×1-Ortsvektor (2.1)dsss 3×1-Vektor der infinitesimalen Drehung (2.85)t Zeit (2.1)ttt 3×1-Spannungsvektor (3.33)u Längsverschiebung des Balken (6.12)u eingeprägte Stellkraft (8.18)uuu 3×1-Abstandsvektor (3.34)uuu r×1-Eingangsvektor (8.3)v Durchbiegung des Balkens in 2-Richtung (6.12)vvv 3×1-Geschwindigkeitsvektor (2.5)w Durchbiegung des Balkens in 3-Richtung (6.12)www 3×1-Verschiebungsvektor (2.134)www h×1-Vektor der Kraftgrößen (3.12)www 6×1-Bewegungswinder (5.166)x Koordinate der Balkenachse (6.20)xxx e×1-Lagevektor des freien Systems (2.3)xxx n×1-Zustandsvektor (8.1)yyy f ×1-Lagevektor des holonomen Systems (2.177)zzz g×1-Geschwindigkeitsvektor des nichtholonomen Systems (2.221)A Fläche, Oberfläche, Querschnittsfläche (3.33), (6.23)AAA 3× f -Matrix der relativen Ansatzfunktionen (2.148)AAA n×n-Systemmatrix (8.5)BBB 6× f -Matrix der Verzerrungsfunktionen (2.149)BBB n× r-Eingangsmatrix (8.5)CCC 3× f -Matrix der absoluten Ansatzfunktionen (2.151)DDD 3×3-Verzerrungsgeschwindigkeitstensor (2.156)DDD f × f -Dämpfungsmatrix (5.60)D 3×3-Differentialoperatorenmatrix der Drehung (2.146)E Elastizitätsmodul (3.69)EEE Einheitsmatrix (2.9)FFF 3×3-Deformationsgradient (2.28)FFF 3×q-Verteilungsmatrix der Reaktionskräfte (3.9)G Schubmodul (6.32)GGG Greenscher 3×3-Verzerrungstensor (2.126)GGG f × f -Matrix der gyroskopischen Kräfte (5.60)GGG e×q-Funktionalmatrix (4.13)GGG 6×6p-Summationsmatrix (5.141)HHH Hookesche 6×6-Matrix (3.68)HHH globale e× e-Jacobi-Matrix (5.21)HHHT,R 3× e-Jacobi-Matrix (2.6)III e× f -Funktionalmatrix (2.189)III 3×3-Trägheitstensor (3.29)J Flächenträgheitsmoment (5.128)JJJ globale e× f -Jacobi-Matrix (5.18)
202 A Mathematische Hilfsmittel
JJJT,R 3× f -Jacobi-Matrix (2.184)KKK f ×g-Funktionalmatrix (2.233)KKK f × f -Steifigkeitsmatrix (5.60)L Länge (6.23)L Lagrange-Funktion (4.50)LLL 3×3-Geschwindigkeitsgradient (2.155)LLL 3×q-Verteilungsmatrix der Reaktionsmomente (3.41)LLL globale e×g-Jacobi-Matrix (5.21)LLLT,R 3×g-Jacobi-Matrix (2.229)M Biegemoment (6.37)MMM Massenmatrix (5.29)N Normalkraft am Stab (7.9)NNN 6×3-Matrix zum Normalenvektor(4.35)NNN f × f -Matrix der zirkulatorischen Kräfte (5.60)NNN Reaktionsmatrix (5.107)NNN n×n-Korrelationsmatrix (9.23)OOO Nullmatrix (2.178)PPP f × f -Matrix der Geschwindigkeitskräfte (5.59)PPP n×n-Kovarianzmatrix (9.25)Q Querkraft (6.37)QQQ 4×4-Koeffizientenmatrix (2.92)QQQ f × f -Matrix der Lagekräfte (5.59)QQQ n×n-Intensitätsmatrix (9.21)QQQ globale e×q-Verteilungsmatrix (5.18)R Rayleigh-Funktion (5.61)SSS 3×3-Drehtensor (2.33)SSS 3×3-Drehtensor (2.123)T kinetische Energie (4.50)TTT 3×3-Spannungstensor (3.62)TTT n×n-Transformationsmatrix (8.7)U potentielle Energie (4.37)U Eigenfunktion eines Stabes (7.18)UUU 3×3-Rechts-Streck-Tensor (2.123)UUU f × f -Transformationsmatrix (8.13)V Volumen (3.18)V 6×3-Verzerrungsoperatorenmatrix (2.142)W Arbeit (4.1)WWW 3×3-Drehgeschwindigkeitstensor (2.156)W 3×6-Differentialoperatorenmatrix (7.5)XXX n×n-Modalmatrix (8.28)YYY f × f -Modalmatrix (8.36)α Kardan-Winkel (2.55)ααα 3×1-Drehbeschleunigungsvektor (2.118)β Kardan-Winkel (2.56)β Frequenz (7.20)
A.4 Liste wichtiger Formelzeichen 203
γ Kardan-Winkel (2.57)γ Gleitung (2.140)γ Neigung des Balkens (6.56)γ Frequenz (7.30)δ virtuelle Größe (2.186)δ Drehwinkel (6.75)δ Dirac-Funktion (7.28)ε Integrationsfehler (2.106)ε Dehnung (2.140)ε Permutationssymbol (A.28)ζ 6×1-Vektor verallgemeinerter Funktionen (7.5)ηηη kleiner f ×1-Lagevektor (2.278)ϑ Kugelkoordinate, Euler-Winkel (2.14), (2.58)λ Eigenwert (2.50)ν Querdehnzahl (3.69)ν Eigenfrequenz (5.49)ρ Dichte (3.18)ρρρ 3×1-Ortsvektor (2.25)σ Winkel zwischen Achsen (2.34)σ Normalspannung (3.65)σσσ 6×1-Spannungsvektor (3.66)τ Schubspannung (3.65)ϕ Drehwinkel (2.36)ϕ Euler-Winkel (2.58)φφφ q×1-Vektor holonomer Bindungen (2.175)ψ Kugelkoordinate, Euler-Winkel (2.14), (2.58)ψψψ r×1-Vektor nichtholonomer Bindungen (2.219)ωωω, ωωω 3×1-Drehgeschwindigkeitsvektor, -tensor (2.85)φφφ n×n-Fundamentalmatrix (9.12)Ω Drehgeschwindigkeit (2.270)Ω Erregerfrequenz (5.134)ΩΩΩ f × f -Frequenzmatrix (7.37)
Die Formelzeichen sind mit folgenden häufig wiederkehrenden Indizes versehen.a äußere Kraft (3.5)c Coriolis-Kraft (5.1)e eingeprägte Kraft (3.5)e elastische Verschiebung (6.72)i innere Kraft (3.5)i Nummer des Elements, i = 1(1)p, (2.24)j Nummer des Elements, Referenzsystems, j = 1(1)n (2.260)n Nummer des Quaternions, n = 0(1)3, (2.44)p partikuläre Lösung (5.50)r Reaktionskraft (3.5)s Starrkörperverschiebung (6.72)
204 A Mathematische Hilfsmittel
w lineare Verschiebung (2.136)H Hauptachsensystem (3.51)I Inertialsystem (2.248)K starrer Körper (2.249)O Referenzkonfiguration (2.25)P materieller Punkt (2.79)P polares Flächenträgheitsmoment (5.128)R Referenzsystem (2.247)R Rotation (2.100)S Soll-Bewegung (2.278)T transponierte Matrix (2.79)T Translation (2.7)α Richtung des Basisvektors, α = 1(1)3, (2.1)β Richtung des Basisvektors, β = 1(1)3, (2.34)γ Nummer der verallgemeinerten Koordinate, γ = 1(1)3, (2.3)
Einige mehrfach auftretende Abkürzungen werden im Folgenden aufgeführt.ACNF Absolute Nodal Coordinate FormulationEMKS Elastisches MehrkörpersystemFEM Finite Elemente MethodeFMKS Flexibles MehrkörpersystemFFRF Floating Frame of Reference FormulationMKS MehrkörpersystemMorembs Software: Model Reduction for Multibody SystemsNeweul-M2 Software: Newton-Eulersche Gleichungen mit Maple und MatlabSVD Singular Value Decomposition
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Stichwortverzeichnis
A
Absolute Nodal Coordinate Formulation, 156Ähnlichkeitstransformation, 177Anfangswertproblem, 183Ansatzfunktion, 39, 145–147, 170Arbeit
– virtuell, 83, 89Ausgangsgröße, 176
B
Bahnbewegung, 129Bahnkurve, 11Balken
– kontinuierlich, 145Balkenachse, 145Balkenelement
– finites, 146– räumlich, 143, 145– starr, 154
Balkenquerschnitt, 145Beispiel
– Auswuchten Rotor, 126– Balkenpendel, 160– Dämpfer, 114– Doppelpendel, 44, 59, 62, 68, 178, 182– Drehachse und Drehwinkel, 22– Drehgeschwindigkeit, 28– Ebene Punktbewegung, 99– Einzylindermotor, 7– Fachwerkschwingungen, 152– Integration Kardan-Winkel, 32– Kardan-Lagerung, 49– Körperpendel, 106, 110, 119– Kreisel, 116– Kugelkoordinaten, 14– Normalform Massenmatrix, 118– Punktbewegung Kugelkoordinaten, 55– Punktsystem, 121– Raumpendel, 43– Richtungskosinusse, 31– rollende Kugel, 52– Rundstab, 35, 41, 123– Schwerependel, 47– Seiltrommel, 127– Stab eingespannt, 168– Stab frei, 169– Stab harmonisch angeregt, 172
– Torsion Rundstab, 50– Trägheitstensor, 76– Transportkarren, 53, 111, 121– Vorrichtung, 88, 92– Zugstab, 80
Bequemlichkeitshypothese, 151Bernoullische Hypothese, 50, 143Beschleunigung, 14, 33, 40, 57
– Coriolis, 57– Gesamtschwerpunkt, 126– verallgemeinert, 140
Bestimmtheit– kinetisch, 70– statisch, 70, 102
Bewegung– allgemein, 25– virtuell, 46, 48, 86
Bewegungsgesetz, 65Bewegungsgleichungen, 95, 151, 175
– Cauchysche, 165– global, 104, 150, 160, 170– Invarianz, 99– lokal, 98, 103, 159
Bilanzgleichung– mechanische, 65
Bindung– äußere, 50, 150– einseitig, 44– geometrisch, 44– holonom, 41– innere, 50, 143– kinematisch, 44– Kontinuum, 50– nichtholonom, 51, 55, 111– rheonom, 44– skleronom, 44
Bindungselemente, 4Bindungsgleichungen, 105
C
Cauchysche Gleichungen, 78charakteristische Matrix, 180Coriolis-Beschleunigung, 78Cosserat-Kontinuum, 9, 39
D
Dämpfung, modal, 151
210 Stichwortverzeichnis
Dämpfungsmatrix, 109, 151Deformationsgradient, 18, 34Dehnung, 38
– konstant, 143, 145Differential-algebraische Gleichungen, 94, 102Differentialgleichung
– gewöhnlich, 168– Stab, 167
Differentialoperatorenmatrix, 38, 166Dirac-Funktion, 170, 187Doppelpendel, 62, 68, 118Drehbewegung, 129Drehgeschwindigkeitsvektor, 28Drehparameter, 19, 28Drehtensor, 19, 34Drehung, 19
– infinitesimal, 28– momentan, 27– ungleichförmig, 126– virtuell, 86
Drehwinkel, 23– singulär, 24
Dreiecksungleichung, 75Durchbiegung, 146, 150, 167, 170, 172Dynamik
– Technische, 1
E
Eigenfrequenz, 181Eigenvektor, 180Eigenwert, 75, 180
– mehrfach, 180Eigenwertaufgabe, 180, 181, 186Eigenwertproblem, 168Eingangsgröße, 176Eingangsmatrix, 176Eingangsvektor, 176Elastostatik, 152Element
– frei, 143Elementardrehgeschwindigkeit, 29Elementardrehung, 23Erregerkraft, 109Euler-Winkel, 23, 29Eulersche Gleichung, 70Eulersche Gleichungen, 71
F
Fachwerk, 152– elastisch, 6
Festigkeitsabschätzung, 122, 162Finite-Elemente-System, 5, 39, 143, 188Flächenmittelpunkt, 122Flächenträgheitsmoment
– axial, 150– polar, 149
Formalismus– nichtrekursiv, 131– numerisch, 131– rekursiv, 137– symbolisch, 131
Formelzeichen, 200Freiheitsgrad, 8, 44, 48, 58
– Geschwindigkeit, 51– Lage, 51
Freischneiden, 66Frequenzfehler, 190Frequenzgangvektor, 187Fundamentalmatrix, 186Funktion
– verallgemeinerte, 166Funktionalmatrix, 13, 199Funktionendarstellung, 195
G
Gaußscher Prozess, 187Gegenwirkungsgesetz, 66, 72Geschwindigkeit, 12, 27, 40, 57
– virtuelle, 53Geschwindigkeitsgradient, 40Geschwindigkeitskoordinaten
– verallgemeinert, 51Gewichtskraft, 159Gleichgewicht, 88Gleichgewichtsbedingung, 121Gleichung
– charakteristisch, 168Gleitung, 38Greenscher Verzerrungstensor, 35Gyrostat, 130
H
Hamiltonsches Prinzip, 93Haupt- oder Normalkoordinaten, 180, 181Hauptachsensystem, 76, 78, 122, 166Hauptträgheitsmoment, 75Hookesches Materialgesetz, 80, 144
I
Inertialsystem, 77Integrationsverfahren, 183
– Einschritt-, 183– Extrapolation-, 185– Mehrschritt-, 185– Runge-Kutta, 183– Shampine-Gordon, 185
Ist-Bewegung, 60
J
Jacobi-Matrix, 13, 30, 46, 59–61, 199Jordan-Matrix, 180
Stichwortverzeichnis 211
K
Kardan-Gelenk, 47Kardan-Winkel, 23, 24, 29, 32Kinematik, 11Kinetik, 65kinetische Energie, 109Knotenpunkt, 4, 5, 145Knotenpunktskoordinaten, 150Körper
– elastisch, 6– starr, 4, 6, 17
Körperpendel, 106, 110Konfiguration, 34, 56
– aktuell, 17– Referenz-, 17
Kongruenztransformation, 117, 178konservative Lagekräfte, 109Kontinuum, 34, 90
– nichtpolar, 8, 85– polares, 39, 86
Koordinaten– elastisch, 157– kartesisch, 12– materiell, 18– räumlich, 18– verallgemeinert, 12–14– verallgemeinerte, 32, 33, 39, 170
Koppelelement, 4– linienflüchtig, 104
Kopplung, 179Kraft, 65
– äußere, 66, 74– äußere Reaktions-, 125– Coriolis-, 103, 159– eingeprägte, 66, 74– gyroskopische, 109– ideal, 68– innere, 66, 74– Kreisel-, 159– Massen-, 125– nichtideal, 68– Oberflächen-, 79– proportional, 68– proportional-differential, 68– proportional-integral, 68, 111– Reaktions-, 66, 74, 83– Reibungs-, 68– verallgemeinerte, 98, 145, 149–151, 171– Volumen-, 79– zentralsymmetrisch, 14– zirkulatorisch, 109
Kraftfeld, 78Kraftwinder, 98Kreiselgleichung, 130Kreiselmatrix, 109Kugelkoordinate, 14
L
Längsschwingung, 188Längsverschiebung, 145, 147, 166, 167, 170Lage
– aktuell, 11Lagevektor, 12, 25, 27, 44, 151Lagrange-Funktion, 94Lagrangesche Gleichungen erster Art, 94Lagrangesche Gleichungen zweiter Art, 95Leistung
– virtuell, 89Lineare Algebra, 185Linearisierung, 60, 107Ljapunovsche Matrizengleichung, 187Lösung
– partikuläre, 172
M
Magnussches Formdreieck, 76Maschinendynamik, 1, 11, 190Masse, 70Massenausgleich, 124Massenmatrix, 100, 109, 145, 147, 149–151, 158, 171
– konstant, 157Massenpunktsystem, 5, 97Matrix
– positiv definit, 197Matrizenalgebra, 196Matrizenanalysis, 199Matrizenschreibweise, 13Mechanik
– analytische, 2Mechanismus, 88, 92Mehrkörpersystem, 4, 58, 74, 86, 90, 188
– allgemein, 103, 111– eben, 97– flexibel, 6, 153, 161– frei, 103– gewöhnlich, 103, 105, 176, 181– holonom, 48, 104– konservativ, 109– nichtholonom, 53, 111– räumlich, 97
Modalanalyse, 165, 172Modalmatrix, 180, 181Modellbildung, 1, 3Modellreduktion, 162Momente
– siehe Kräfte, 74
N
Nachbarbewegung, 108Newton-Eulersche Gleichungen, 74, 97, 101, 118Newtonsche Gleichung, 65, 70Normalenbedingung, 83Normalform, 117, 181
212 Stichwortverzeichnis
Normalspannung, 79Normierung, 146, 167
O
Orthogonalitätsbeziehung, 87, 118Ortsvektor, 11, 17, 26
P
potentielle Energie, 109Prinzip
– D’Alembert, 89– De Saint-Venant, 122– Gauß, 90– Geschichte, 2– Hamilton, 93– Jourdain, 89– minimale potentielle Energie, 91– virtuelle Arbeit, 83, 88– virtuelle Verschiebung, 88
Problem– direkt, 102, 175– gemischt, 102, 175– inverses, 102
Produktansatz, 168Punkt
– materiell, 11– singulär, 15
Punktsystem, 16, 44, 66, 83, 86, 89, 97– holonom, 45, 94, 95
Q
Quaternionen, 21, 28
R
Randbedingung, 50, 91, 165– dynamisch, 169– geometrisch, 167
Rayleigh Hypothese, 151Rayleighsche Dissipationsfunktion, 109Reaktionsgleichung, 118, 122Reaktionskraftwinder, 122Reaktionsspannung, 81Rechts-Streck-Tensor, 35Referenzsystem, 56, 77, 98Relativbewegung, 56, 77Richtungskosinus, 19, 31Rodrigues-Parameter, 21Rotation, 19, 26, 27Rundstab, 123
S
Satellit, 129Schnittprinzip, 65, 66Schubspannung, 79Schwingung
– elastisch, 159
Schwingungsform, 180Separationsprinzip, 39Singularität, 24, 31, 32Soll-Bewegung, 60, 107Spannung, 34Spannungs-
– abschätzung, 123– tensor, 79– vektor, 73, 80– verteilung linear, 122– zustand, 148
Starrheit, 50Starrkörperbewegung, 159Steifigkeitsmatrix, 109, 145, 149–151, 158, 159, 171
– konstant, 155Stellglied
– Kraft/Lage, 4Strukturdynamik, 143, 190Superpositionsprinzip, 39System
– frei, 11, 16, 34, 101– gebundenes, 11– holonom, 41, 60, 101– ideal, 103– konservativ, 91, 180– kontinuierlich, 6, 165, 188– mechanisches, 1– nichtholonom, 62, 101– nichtideal, 127
Systemdynamik, 175Systemgleichung
– global, 101Systemmatrix, 176Systemtheorie, 175
T
Teilkörper– frei, 97– infinitesimal, 165
Tetraederelement, 144Torsion, 149Torsionswinkel, 146, 167Trägheitstensor, 72, 75Transformationsgesetz, 56, 177Translation, 11, 26
U
Unwucht, 126
V
Vektordifferentialgleichung, 105Vektorprodukt, 21Verteilungsmatrizen, 67Vergleich der Modelle, 188Verschiebung, 11
– virtuell, 83
Stichwortverzeichnis 213
Verschiebungsgradient, 37Verteilungsmatrix, 75, 119Verzerrung, 34
– virtuell, 86Verzerrungs-
– vektor, 38– zustand, 148
Volumenelement, 6– infinitesimal, 165
Z
Zustands-– gleichung, 175– größe, 175– vektor, 175
Zwangsbedingung, 41– implizit, 119
Zwangskraft– verallgemeinerte, 67, 75, 118
Zwangsspannungsverteilung– verallgemeinerte, 81