Von Hans van der Geest im Himmelstürmer Verlag bisher … · 2016. 7. 27. · Mini steckt ihm zehn...

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  • Von Hans van der Geest im Himmelstürmer Verlag bisher erschienen: Wilde Treue Frühjahr 2015 ISBN 978-3-86361-548-2

    Himmelstürmer Verlag, part of Production House, Hamburg www.himmelstuermer.de E-Mail:[email protected] Originalausgabe, März 2015 © Production House GmbH Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages. Zuwiderhandeln wird strafrechtlich verfolgt Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage Coverfoto: ©dreamtime.de Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de ISBN print 978-3-86361-570-3 ISBN e-pub 978-3-86361-571-0 ISBN pdf 978-3-86361-572-7

    Alle hier beschriebenen Personen und alle Begebenheiten sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist nicht beabsichtigt.

  • Hans van der Geest

    Plötzlich Pflegeväter

  • Mit Dank an Peter Schär für die sprachlichen Korrekturen.

    Zürich, 2016

  • Inhalt Nur wer wagt, gewinnt Coming-out Neuer Start Auf der Suche In Wartestellung Wie ein Phönix aus der Asche … Alles wird anders Trauer Dreimal Liebkosen

  • Nur wer wagt, gewinnt „Straßenfeste sind nicht mein Ding!“, knurrt Adam seine Mutter an, als sie ihn auffordert, auf Bennis Bitte einzugehen.

    „Tu ihm doch den Gefallen! Ihr versteht euch doch gut! Und du bist schon genug allein!“ Mini Rohrbach spornt ihren Sohn dauernd zu Kontakten an. Der Siebzehnjährige ist zu sehr in sich gekehrt, fin-det sie.

    Adam gibt nach und brummt nur noch: „Okay, liebe deinen Nächsten wie – wie geht das auch wieder?“

    „Komm nicht allzu spät nach Hause! Zehn Uhr, einverstanden?“ Noch widerwillig zieht Adam seine Jacke an. „Alles kostet!“, me-

    ckert er. Mini steckt ihm zehn Franken zu. Draußen wartet der Nachbarsjunge Benni. „Hurra! Du kommst!

    Du wirst es nicht bereuen. In dem Quartier gibt es sehr, sehr, sehr schöne Frauen! Hui! Titten wirst du sehen!“

    Missbilligend schließt Adam die Augen. „Du mit deinen Titten!“ Benni ist noch mehr eine Bohnenstange als Adam. Mit Riesen-

    schritten gehen die zwei nebeneinander. „Schau!“, sagt Benni und streckt seine Muskelbündel am rechten

    Oberarm vor Adam aus. „Sie sind wieder größer geworden.“ „Wie neidisch machst du mich!“, spottet der. „Du bekommst sicher

    einen Job als Schienenverleger.“ „Dafür braucht man heute keine Muskeln mehr. Geht alles mit

    Maschinen.“ Bald sind sie am Platz, wo das Fest stattfindet. Es herrscht Lärm und nochmals Lärm, und es wimmelt von Leuten. Ein Kinderkarussel dreht seine Runden, beim Schießstand stehen Haufen Jungs und Männer, und der Duft von Bratwürsten weckt Appetit.

    Zuerst stehen sie beim Schießen an. Nach ein paar Minuten er-wischt Adam ein Gewehr. Er ist ein guter Schütze. Dreimal Schuss, dreimal im Ziel! Er gewinnt einen Teddybären. Benni wagt sich nicht einmal.

  • Mit dem Plüschding schlendern sie zum Wurststand. Anstehen und warten. Da erkennt Benni einen Schulkollegen. „Hey, Ingo!“, ruft er.

    Der schwarzhaarige junge Mann am Grill schaut auf. „Hoi, Benni! Ich schmeiße für dich einen extra dicken drauf!“ Während er die Würste wendet, schaut er ein paar Mal nach Adam, und Adam schaut auf ihn.

    Sie kommen dran. Auf einer Pappschüssel serviert Ingo ihnen zwei Würste. „Ehrlich teilen!“, mahnt er und schaut wiederum nach Adam. „Wer bist denn du?“, fragt er.

    Adam, verlegen wie immer, sagt: „Ich heiße Adam, Adam Rohr-bach.“

    Ingo schaut ihn fast zudringlich an. „Ich bin Ingo.“ „Ingo!“, wiederholt Adam. „Ingo Hartdorf“, ergänzt er und lacht Adam an. „Er hat leider nicht alle Tassen im Schrank“, spottet Benni über In-

    go, während er die Würste bezahlt. Adam steht unbeholfen dabei. Bis er weiß, wie er etwa reagieren könnte, ist der passende Moment längst vorbei. Er beißt in die Wurst. Heißer Saft spritzt heraus, wie beim Wichsen.

    Er vernimmt, dass Ingo und Benni in derselben Gymiklasse zur Schule gehen. „Er ist ein Streber“, sagt Benni, „und abonnierter Klas-senbester.“

    „Aber in Ordnung?“, fragt Adam. „Ja, ja, sicher zu mir. Nur weiß er immer alles besser.“ Benni geht auf Ingo zu. „Ist das deine Mutter?“, will er wissen und

    weist auf die übergewichtige Frau, die das Zepter im Wurststand zu schwingen scheint.

    „Meine Mutter liest ausschließlich Bücher, weißt du doch? Ich bin hier Aushilfe, weil der Griller krank ist.“

    „Du stinkst sicher nach Fett, wenn du ins Bett gehst“, scherzt Ben-ni.

    „Nicht doch! Ich gehe regelmäßig unter die Dusche. Solltest du auch mal ausprobieren! Dich riecht man sogar ohne Bratwurst!“

    Dann scheint Friede zu herrschen.

  • „Und du, was hast denn du für Hobbys?“, fragt Ingo Adam, wäh-rend er sich weiter um Würste bemüht.

    „Ich? Eh, willst du es wirklich wissen?“ „Wirklich!“, lacht er ihm kurz zu. Ingos Interesse macht ihn mutig. Er macht einen Gegenzug. „Rate

    mal!“ „Puppen aufreißen!“, wirft Benni kichernd ein. „Schnauze, Drecksack!“, ruft ihm Ingo zu. „Nun, rate!“, drängt Adam. „Eh, Fußball!“ „Hahaha!“ Benni bricht in schallendes Gelächter aus. „Fußball!

    Der ist gut! Adam und Fußball!“ Adam lässt sich nicht ablenken. Er bewegt sich noch ein bisschen

    näher an Ingo heran und schaut ihm in die Augen. „Botanik“, antwor-tet er ernsthaft. „Ich suche überall nach Pflanzen und Blumen, vor allem nach Bäumen. Lieber als Straßenfeste besuchen.“

    „Wow! Das ist etwas ganz Besonderes!“, findet Ingo. In dem Moment fällt ein kleines Mädchen, das auf einen Stuhl ge-

    klettert ist, hinunter. Es schreit laut auf. Sein Papi nimmt es hoch und schließt es in die Arme.

    Adam tritt auf sie zu und gibt dem Kind den Teddybären. „Hier, den habe ich für dich gewonnen. Bist du lieb zu ihm?“

    Die Kleine, mit Tränen noch auf den Backen, staunt, zögert zuerst, nimmt dann den Bären und drückt ihn fest an sich.

    Das Gedränge der hungrigen Leute wird stärker. Ingo hat alle Hände voll zu tun. Die Jungs merken, dass es Zeit ist weiterzuziehen. Sie werfen brav den Abfall weg und winken Ingo Tschüss.

    Viel Zeit verbringen sie nicht mehr auf dem Platz. Adam infor-miert sich noch bei seinem Kameraden, wo die Titten jetzt seien. Ben-ni schaut in die Runde, zuckt mit den Achseln und findet, sie seien wohl zu spät.

    Beim Weggehen steuert Adam ihre Schritte so, dass sie noch ein-mal bei Ingo vorbeikommen. Adam winkt ihm zu und Ingo schwingt beide Arme.

    Noch vor zehn Uhr ist Adam zuhause. Seine Mutter fragt, wie es war.

  • „Langweilig!“, schnödet er. Das stimmt nicht ganz. Die Begegnung mit dem Wurstmann ist aufregend gewesen. Sein offener Blick und seine Aufmerksamkeit sind Adam noch gegenwärtig. Aber das behält er für sich. Als Adam im Lauf der nächsten Woche im Treppenhaus Benni trifft, hört er, dass Ingo nach Adams Telefonnummer gefragt hat.

    „Hast du sie ihm gegeben?“ „Klar, wieso nicht? Er hat mich gefragt, ob ich im Wurststand mit-

    helfen will. Die stehen jedes Wochenende irgendwo anders. Vielleicht will er dich auch fragen.“

    Von da an wartet Adam mit Spannung, ob Ingo tatsächlich anrufen wird.

    Es dauert noch einige Tage. Endlich: „Adam, jemand für dich!“, ruft seine Mutter vom Telefon her.

    „Hallo, Adam, hier ist Ingo, der Griller. Erinnerst du dich?“ „Klar, Ingo! Was ist?“ „Hey, ich wollte dich fragen, ob du mich einmal mitnimmst, wenn

    du auf Blumensuche gehst. Mich würde das interessieren! Kann ich mal mitkommen?“

    „Oh ja, gern! Das würde mich echt freuen.“ „Machen wir das schon bald?“ „Von mir aus ja. Samstagnachmittag?“ „Das wäre super.“ „Komm mit dem Fahrrad!“ Sie vereinbaren Zeit und Ort. Es fällt Adam auf, dass Ingo ihn nicht

    zur Beihilfe in der Wurstbude einlädt, sondern mit ihm allein sein will. Er stellt sich vor, dass Ingo und er Freunde werden. Es lässt ihn fast zittern vor Aufregung. Sein Herz schlägt wie verrückt. Aber er ist auch nervös. Was, wenn Ingo ihn langweilig findet? Ingo kommt.

    Während sie durch die Stadt fahren, erzählt ihm Adam, dass er in die letzte Klasse der Sekundarschule geht und Mühe mit den Sprachen hat. Ingo geht in die vorletzte Klasse ins Gymnasium, aber ohne Mühe

  • mit den Sprachen. „Du bist gescheiter als ich“, schließt Adam. „Möglich. Aber ich habe nicht so schöne Augen wie du, da bin ich

    echt neidisch!“ Darauf weiß Adam nichts zu sagen. Er errötet nur. Schließlich sagt

    er doch noch: „Ach, nicht wichtig!“ „Was? Nicht wichtig?“ Ingo packt ihn beim Arm, schaut ihn an

    und sagt: „Sprachen kann man lernen, aber Augen, die kann man nicht ändern!“

    „Du hast auch schöne Augen!“ „Echt? Findest du?“ Wieder schaut Ingo ihn eindringlich an. Adam

    errötet erneut. An einem kleinen Platz halten sie. Dort stehen mächtige Bäume.

    Adam erklärt, dass der größte eine Bergulme sei, dass Ulmen sich breit verzweigten, ihre Staubgefäße weit aus der Blüte hinausragten und noch andere Besonderheiten.

    Wenn er über diese Sachen spricht, kann er seine Verlegenheit gut überspielen. Er kennt sich aus. Während er redet und Ingo zuhört, sieht er, wie aufmerksam Ingo ihn anschaut.

    Nachher schauen sie sich die Platanen in der Umgebung an. Adam zeigt unten am Fluss noch andere Platanen mit Blättern wie bei Ahor-nen.

    „Ich verstehe alles nur halb“, sagt Ingo. „Was du alles weißt!“ Er klopft Adam auf die Schulter.

    Es wird dunkel, und sie treten den Rückweg an. Bei seiner Woh-nung fragt Adam: „Soll ich dir noch Bilder zeigen, die ich gemalt ha-be?“

    „Oh ja, gern!“ Sie gehen im Haus die Treppe hoch und treten in die Wohnung. Dort erscheint Adams Mutter. Mit einem klaren „Grüezi, Frau Rohrbach!“ geht Ingo auf sie zu

    und reicht ihr die Hand. „Ich bin Ingo Hartdorf.“ Mini schaut Ingo wie verzaubert an und grüßt ihn. „Sind Sie von

    Adams Schule?“ „Nein, wir haben uns auf dem Straßenfest kennengelernt.“

  • „Ja was? Und du wolltest gar nicht hingehen, Adam!“ ruft sie tri-umphierend aus.

    „Jetzt siehst du, was das für Konsequenzen hat!“, scherzt Adam. Ingo sagt: „Wenn ich ehrlich bin, habe ich solche Feste auch nicht

    gern, Frau Rohrbach. Ich musste nur einspringen!“ „Komm“, drängt Adam, „ich zeige dir meine Bilder!“ und nimmt

    Ingo mit auf sein Zimmer. Dort fallen sofort die vielen Bilder auf, die an der Wand hängen.

    Da staunt Ingo. „Sind das Gemälde?“ „Nein, Aquarelle. Schau, das Papier ist leicht gewellt.“ „Kauft man das so?“ „Nein, bevor man es bemalt, muss man es leicht anfeuchten, das

    macht die kleinen Unebenheiten.“ „Und du hast die alle gemalt? Mann, du bist ein Künstler!“ „Geht so. Ich bin noch nicht zufrieden. Das Blau ist noch zu hell,

    siehst du?“ Die Mutter ruft, dass Essenszeit sei. Die Jungs verabreden sich für

    den nächsten Samstag. Als sie sich bei der Wohnungstür verabschieden, kommt gerade

    Benni die Treppe hoch. „Hey! Was machst denn du hier?“, fragt er Ingo. „Adam hat mir hochinteressante Bäume gezeigt. Und seine Aqua-

    relle!“ „Oh, schade, dass ich nicht dabei war. Macht ihr das wieder?“ Ingo schaut nach Adam. Der bewegt sich nicht. „Ja, möglich“, sagt Ingo. „Dann komme ich mit!“ „Okay, wir sagen es dir!“ Ingo winkt nochmals nach Adam und verschwindet. „Wir!“, denkt Adam. „Ingo sagte Wir!“ Es gefällt ihm, dass Ingo ei-

    ne Art Freundschaft mit ihm begonnen hat. Er hat noch nie einen echten Freund gehabt. Ingos zupackende Art tut ihm gut. Er freut sich riesig auf den nächsten Samstag. Ingo sagt Benni in der Schule, dass sie am Samstag losziehen. So gehen

  • sie zu dritt. Benni hat eine Trillerpfeife bei sich und einen lustigen Hut auf dem Kopf. Die Pfeife lässt er ab und zu lärmen. Das ärgert Adam, aber er lässt es sich nicht anmerken. Er führt sie zu neuen inte-ressanten Bäumen in der Stadt. Blumen gibt es in dieser Jahreszeit nur wenige. Sie machen einen Rundgang durch den botanischen Garten.

    Benni jubelt, als sie auf einer Parkbank drei Mädchen entdecken. Obwohl dort kaum Platz ist, will Benni sich zu ihnen setzen. Ingo und Adam schauen sich an und teilen ihren Ärger. „Komm“, ruft Ingo. „Dafür haben wir keine Zeit!“

    „Sind dir die toten Bäume wichtiger als lebendige …“ „Bäume sind gar nicht tot, Dummkopf!“, weist ihn Ingo zurecht. Bennis Geschwätz passt gar nicht zu der Stimmung zwischen Ingo

    und Adam. Es nervt. Schon ziemlich früh kehren sie zurück. Als Benni sich entfernt, bleiben Ingo und Adam noch beisammen.

    „Schade, das machen wir nie wieder, nicht wahr?“, sagt Ingo. „Nein. Mit dir allein ist es angenehmer.“ „Finde ich auch. Soll ich noch zu dir mitkommen?“ „Ja, hast du noch Zeit?“ „Meine Mutter kommt heute erst spät nach Hause“, sagt Ingo. „Meine Mutter übrigens auch.“ „Dann haben wir die ganze Bude für uns allein?“, will Ingo wissen. Sie gehen die Treppe hoch. „Hast du noch Geschwister?“, fragt Ingo, als sie die Wohnung be-

    treten. „Ich habe eine Schwester, aber die kommt auch erst später.“ „Ist sie hübsch?“, fragt Ingo lachend. „Eh, ja, ordentlich. Sie hat einen Freund.“ „Ist sie älter als du?“ „Ja, zwei Jahre.“ „Wenn sie so hübsch ist wie du, ist sie sehr hübsch!“ „Aha! Und du, hast du …?“ Ingos Kompliment macht ihn völlig

    verlegen. „Ja, zwei Halbschwestern“, sagt Ingo. „Meine Eltern sind nicht

    mehr zusammen. Von meiner Mutter bin ich der Einzige.“ In seinem Zimmer steht Adam unschlüssig herum. Der initiative

  • Ingo setzt sich auf sein Bett. „Komm doch, setz dich neben mich!“, fordert Ingo ihn auf.

    Doch Adam setzt sich auf den Bürostuhl. Ingos Nähe gefällt ihm zwar, macht ihm aber auch Angst.

    Sie reden und reden, während etwas Undefinierbares in der Luft liegt. Adam spürt es, und Ingo scheint es noch anzustacheln. Es faszi-niert ihn, macht ihn aber auch hilflos. Er ist der Wucht, die von Ingo ausgeht, nicht gewachsen.

    Ingo sagt: „Komm doch, ich will dir noch etwas sagen, aber dafür musst du neben mir sitzen.“

    Adam wagt sich nicht zu wehren, steht auf und setzt sich zu Ingo. „Ich mag dich, Adam“, sagt Ingo in leisem Ton, während er seine

    Hand auf dessen Schulter legt. „Ich möchte dein Freund sein!“ Das Geständnis ist Adam peinlich. „Gut“, reagiert er verlegen. „Willst du es auch?“ „Doch, ja!“ Ingo nimmt Adams Hände, schaut ihn an und sagt: „Ich finde dich

    schön, Adam. Ich könnte dich, glaube ich, sehr gern haben! Weißt du, was ich möchte? Ich möchte dich küssen! Darf ich das?“

    Schockartig zieht Adam die Hände zurück und bewegt sich von In-go weg. „Nein, nein, das geht nicht!“

    Sofort ändert sich die Stimmung. Adam ist es höchst unangenehm geworden. Er steht auf und putzt sich überflüssigerweise die Nase. Ingo ist erschrocken von der Reaktion auf seinen Vorstoß. Er steht auch auf. „Entschuldigung, Adam, ich wollte dir nicht zu nahe treten. Ich will nichts tun, was du nicht willst.“

    „Ich sollte langsam das Essen vorbereiten, die Eltern kommen bald.“

    Ingo versteht die Botschaft. Er muss verschwinden. „Nochmals herzlichen Dank für die schöne Führung! Wir machen

    das doch wieder?“ „Jetzt kommt zuerst die Schule. Ich muss einiges nachholen.“ Unbeholfen gestaltet sich der Abschied. Adam zittert. Er ist froh,

    als Ingo endlich verschwunden ist. Ingo hat ihn schockiert.

  • Als Ingo sein Fahrrad losmachen will, bricht er in Tränen aus. Adams Abweisung hat ihm bis in die Seele wehgetan. Traurig steht er bei seinem Rad und weint. Dann fasst er sich, fürchtet, dass irgendeine Passantin ihn fragen könnte, ob alles in Ordnung sei. Er löst die Kette und wimmernd fährt er nach Hause. Er wirft sich vor, zu weit gegan-gen zu sein. Immer wenn ich Angst habe, wage ich mich zu schnell hinaus, sagt er sich.

    Schon lange sehnt er sich nach einem Freund. Er weiß, dass er mit Mädchen in dieser Hinsicht nichts anfangen kann. Er steht auf Män-ner. Nein, auf Adam. Vom ersten Moment an, als er ihn gesehen hat. Diesen schönen Jungen! Seine helle Haut, seine dunkelblonden Haare, seinen geheimnisvollen Blick! Außerdem hat er festgestellt, dass Adam gern mit ihm zusammen ist. Deshalb hat er gehofft, gehofft. Und nun das!

    Adam hat noch nie etwas Erotisches mit einem anderen Menschen erlebt. Vage hat er schon eine Zeit lang gehofft, eine Freundin zu fin-den, wie viele andere bei ihm in der Klasse. Dann war Ingo erschienen, dieser leicht gebräunte Schwarzhaarige mit seinen lebendigen Augen! Mit ihm war er zufrieden, ja echt glücklich gewesen, als Freund. Da entpuppt sich Ingo plötzlich als Liebhaber! Ein schwuler Kerl! Es war wie ein Bombenangriff.

    Wie schade! Wie hat er die Stunden, die Mittage mit Ingo genos-sen! Wie hat er sich auf die neuen Treffs gefreut! Ingo hat ihn stets so freudig angeschaut! Und dann kommt er mit solchem Blödsinn! Jetzt hat er richtig Angst vor ihm. Hoffentlich bleibt er ihm aus dem Weg!

    Er nimmt es Ingo übel. Alles mit einem Schlag zu verderben! Noch größer als sein Ärger ist die Enttäuschung. Endlich hatte er

    einen Freund, und schon ist alles im Eimer. Nein, er kann unmöglich weiter mit Ingo verkehren! Wie dieser ihn angeschaut hat, neben ihm auf dem Bett, richtig voller Begehren, nein, diese Angst will er nicht nochmals erleben.

    Seine Mutter merkt, dass er Besuch gehabt hat. „Ach, Ingo? Der nette Gymischüler!“

    Wenn du wüsstest, denkt Adam.

  • Eine trübe Zeit bricht an, Zeit ohne Ingo. Tage. Wochen. In der Schule muss er sich anstrengen. Es ist nicht sicher, dass er es

    schafft. Die Treffen mit Ingo wollen ihm nicht aus dem Sinn. Wie schön

    war es mit ihm! Und wie schrecklich dieser unerwartete Moment! Wie kann jemand so geschmacklos sein!

    Manchmal fürchtet er, dass Ingo ihn besuchen könnte. Oder ihn irgendwo aufwarten. Oder telefonieren.

    Dauernd kommt ihm alles wieder zum Bewusstsein. Noch nie hat er dermaßen mit zwiespältigen Gedanken gekämpft. Die schönen Er-innerungen. Und dann diese verstörenden Worte: ‚Darf ich dich küs-sen?‘

    Langsam beruhigt sich seine Stimmung. Die verheerenden Worte erschrecken ihn nicht mehr, wenn er an sie denkt. Sie haben ihn so oft in seinen Gedanken bewegt, dass sie an Schärfe eingebüßt haben.

    Als ob sich ein Schleier lüftete, ist er auf einmal in der Lage, Ingos abstoßende Worte neu zu hören. Er stellt fest, wie respektvoll Ingo eigentlich gewesen ist. Er hat Adams Nein sofort akzeptiert. Er hat nicht gedrängt oder als Munition Argumente vorgebracht, wie seine Mutter das tut, wenn sie eine Auseinandersetzung haben. Er hat nach-her weder telefoniert noch ihm nachgestellt. Er lässt ihn in Ruhe.

    Jetzt kann Adam genauer hinhören. Was hat Ingo gesagt? Er wolle ihm nahe sein und küssen. Er hat es nicht einfach getan. Er hat bloß darum gebeten und ihn nicht überfallen. Es war kein Angriff, schon gar kein Bombenangriff, es war eine ordentlich vorgebrachte Bitte.

    Er versucht sich vorzustellen, was Ingo gewollt hat: einen Kuss, In-gos Gesicht an seinem Gesicht, seine Lippen auf den seinen. Noch zögernd lässt er die Vorstellung in sich aufleben, langsam, wie wenn er vorsichtig eine Schutzschicht von etwas ablösen müsste.

    Wäre ein Kuss nicht schwul? Zum ersten Mal in seinem Leben überlegt sich Adam, ob er Freude

    bei einer schwulen Begegnung erleben könnte. Doch nein, er stößt es von sich. Das wäre ja schrecklich! Wenn eine

    solche Tendenz in ihm vorhanden sein könnte, will er die bekämpfen, mit aller Macht.