Praktische Theologie und Kulturkirchbauinstitut.de/.../02/Thomas-Erne-Rhetorik-und... · und...

273

Transcript of Praktische Theologie und Kulturkirchbauinstitut.de/.../02/Thomas-Erne-Rhetorik-und... · und...

Praktische Theologie und KulturPThK 10

Herausgegeben von Wilhelm Gräb und Michael Meyer-Blanck

Thomas Erne

Rhetorik und Religion

Studien zur praktischen Theologie des Alltags

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Erne, Thomas:Rhetorik und Religion : Studien zur praktischen Theologie des Alltags /Thomas Erne. – Gütersloh: Kaiser : Gütersloher Verl.-Haus, 2002(Praktische Theologie und Kultur ; Bd. 10)ISBN 3-579-03489-8

Dieses Werk folgt der reformierten Rechtschreibung und Zeichensetzung. Ausnahmen bildenTexte, bei denen künstlerische, philologische oder lizenzrechtliche Gründe einer Änderungentgegenstehen.

Umwelthinweis:Dieses Buch wurde auf chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier gedruckt. Dievor Verschmutzung schützende Einschrumpffolie ist aus umweltschonender und recyc-lingfähiger PE-Folie.

ISBN 3-579-03489-8© Chr. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus GmbH, Gütersloh 2002

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung

außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages

unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro-

verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Umschlag: Init GmbH, Bielefeld

Satz: SatzWeise, Föhren

Druck und Bindung: Bertelmann Media on Demand, Pößneck

Printed in Germany

www.gtvh.de

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

I. Alltag als Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

1. Zur Analyse praktisch-theologischer Entwürfe im Blick auf ihrVerhältnis zu Alltag und Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

2. Alltag und die Vernunft der Religion bei Dietrich Rössler . . . . . . 262.1 Charakterisierung der Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . 262.2 Die Mehrdeutigkeit der gelebten Religion . . . . . . . . . . . 272.3 Gelebte Religion als Sinnüberschuss . . . . . . . . . . . . . . 292.4 Gelebte Religion als Mitgegebenes? . . . . . . . . . . . . . . . 322.5 Gelebte Religion als Ressource . . . . . . . . . . . . . . . . . 342.6 Die Horizonthaftigkeit gelebter Religion . . . . . . . . . . . . 36

3. Lebenswelt und die Einheit der Praktischen Theologie in derRechtfertigungslehre bei Wilhelm Gräb und Dietrich Korsch . . . . 383.1 Charakterisierung der Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . 383.2 Kritik an der Mehrdeutigkeit von Religion . . . . . . . . . . . 393.3 Konstitution von Subjektivität statt phänomenaler

Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413.4 Selbstauszehrung der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

4. Religion und Alltag in der Praktischen Theologie des Subjektsbei Henning Luther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454.1 Klärung des Interesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454.2 Kritische Reflexion des Alltags . . . . . . . . . . . . . . . . . 464.3 Religiöses Differenzbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . 484.4 Vertrautheit oder Kritik. Zur Dialektik der Grenze . . . . . . . 524.5 Das Verhältnis zur religiösen Tradition . . . . . . . . . . . . . 544.6 Eschatologische Kritik des Alltags . . . . . . . . . . . . . . . . 56

5. Praktische Theologie auf dem Wege zu einer phänomenologischenTheorie der gegenwärtigen Lebenswelt von Religion beiWolf-Eckart Failing und Hans-Günter Heimbrock . . . . . . . . . 585.1 Charakterisierung der Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . 585.2 Einordnung in die Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . . . 595.3 Die Eigenart des Lebensweltbegriffs bei Failing und Heimbrock. 625.4 Religiöse Implikationen der Lebenswelt . . . . . . . . . . . . 645.5 Revisionen praktisch-theologischer Leitbegriffe . . . . . . . . 65

6. Schlussreflexion: Die Bedeutung von Alltag und Lebenswelt für diePraktische Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

II. Rhetorik und Praktische Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . 75

1. Vorbemerkung zur Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 772. Das Rhetorische im Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

2.1 Der Verlust der Selbstverständlichkeit . . . . . . . . . . . . . 792.2 Die Rhetorik und das Rhetorische . . . . . . . . . . . . . . . 812.3 Rhetorik und Rhetorisches in der Praktischen Theologie . . . . 89

3. Predigt als Rede. Gert Ottos Überlegungen zur Bedeutung derRhetorik für die Praktische Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . 1003.1 Charakterisierung der Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . 1003.2 Eigenart des Rhetorikbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1013.3 Rhetorik als Welterfahrung und Weltveränderung . . . . . . . 1043.4 Theologie und Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1053.5 Schlussüberlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

4. Rhetorik als Kommunikation in der Predigt und alsSymbolbildung im Gottesdienst bei Manfred Josuttis . . . . . . . . 1114.1 Rhetorik in der Homiletik. Charakterisierung der Fragestellung 1114.2 Symbole in der Predigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1144.3 Gottesdienst auf verhaltenswissenschaftlicher Grundlage . . . . 1214.4 Gottesdienst als symbolische Form . . . . . . . . . . . . . . . 1234.5 Rhetorik und Ritual . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

5. Schlussreflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

III. Das Rhetorische als DistanzgewinnZur Bedeutung von Blumenbergs Rhetorikbegriff für diePraktische Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

0. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1391. Pragmatische Formen der Daseinsfürsorge . . . . . . . . . . . . . 143

1.1 Lebenswelt und Technisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

6 Inhalt

1.2 Die Doppeldeutigkeit im Begriff der Lebenswelt . . . . . . . . 1471.3 Verlangsamen und Beschleunigen. Zur Temporalstruktur

von Handlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1512. Das Rhetorische der Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

2.1 Zur rhetorischen Abschirmung des Selbstverständlichen . . . . 1572.2 Lebenswelt und rhetorische Distanz . . . . . . . . . . . . . . 1612.3 Bestimmtheit und Unbestimmtheit im Horizont des

weltoffenen Menschen. Blumenbergs anthropologischeAnnäherung an das Rhetorische . . . . . . . . . . . . . . . . 166

3. Tradition und Innovation. Zur Veränderbarkeit des rhetorischenAusdrucks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1733.1 Konstruktion und Destruktion der Lebenswelt . . . . . . . . . 1733.2 Variantenbildung. Zur Rezeption von Metaphern . . . . . . . 1763.3 Rhetorik als Stabilisierung und Überschreitung von Ausdruck . 181

4. Schlussreflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1844.1 Gelebte Religion. Zur Konjunktur eines Begriffs . . . . . . . . 1844.2 Das Interesse der Praktischen Theologie an gelebter Religion . 1874.3 Religion, Alltag und das Rhetorische . . . . . . . . . . . . . . 192

IV. Praktisch-theologische PerspektivenSeelsorge im Gespräch: Zum rhetorischen Distanzgewinnin den Horizonten der Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . 199

1. Das Rhetorische und die Seelsorge – eine Vorbemerkung . . . . . . 2011.1 Zur Sprache als Distanzgewinn in lebensweltlichen Horizonten . 2031.2 Formaufbau und Formzerstörung: Die Vorläufigkeit

menschlicher Ordnungen als Grundkonflikt der Seelsorge . . . 2082. Zum Begriff und geschichtlichen Hintergrund von Seelsorge . . . . 212

2.1 Kirchlicher und gesellschaftlicher Kontext . . . . . . . . . . . 2122.2 Ursprung der Seelsorge im Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . 2142.3 Seelsorge oder Alltagssorge? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216

2.3.1 Seelsorge als Kritik alltäglicher Sorge bei H. Luther . . . 2162.3.2 Seelsorge als Wahrnehmung von Transzendenz im

Alltagsgespräch bei E. Hauschildt . . . . . . . . . . . . 2192.3.3 J. Scharfenbergs Arbeit an Symbolen in der Seelsorge . . 221

3. Methoden der Erforschung von Seelsorge im Alltag . . . . . . . . . 2263.1 Quantitative Analyse von Handlungsmodellen . . . . . . . . . 2263.2 Sozialempirische Methoden der Gesprächsanalyse . . . . . . . 2293.3 Phänomenologie und Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . 234

Inhalt 7

4. Gesprächsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2404.1 Dokumentationsform des Gesprächs und Annäherung an die

Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2404.2 Interview Nr. 10: Herr und Frau K. . . . . . . . . . . . . . . . 2434.3 Kommentar zum Interview . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252

V. Ausblick: Kirche als Erzählgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . 259

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264

8 Inhalt

Vorwort

((folgt mit 1. AK – bitte 2 Seiten freischlagen))

10 Vorwort

Einleitung

»Es ist eine Art perspektivische Verkürzung des Verstandes,« sagte er sich »wasdiesen allabendlichen Frieden zustandebringt, der in seiner Erstreckung voneinem zum andern Tag, das dauernde Gefühl eines mit sich selbst einverstan-denen Lebens ergibt. Denn der Menge nach ist es ja bei weitem nicht dieHauptvoraussetzung des Glücks, Widerstände zu lösen, sondern sie ver-schwinden zu machen, und so, wie sich allenthalben die sichtbaren Verhält-nisse für das Auge verschieben, daß ein von ihm beherrschtes Bild entsteht,worin das Dringende und Nahe groß erscheint, weiter weg aber selbst dasUngeheuerliche klein, Lücken sich schließen und endlich das Ganze eine or-dentliche glatte Rundung erfährt, tun es eben auch die unsichtbaren Verhält-nisse und werden vom Verstand und Gefühl derart verschoben, daß unbewußtetwas entsteht, worin man sich Herr im Hause fühlt. Diese Leistung ist esalso,« sagte sich Ulrich »die ich nicht in wünschenswerter Weise vollbringe.«Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften

Alltagsthemen haben Konjunktur. Während große gesellschaftspolitische Aus-einandersetzungen an Reiz verlieren, entdecken die Medien in den Alltagssor-gen der Menschen ein unerschöpfliches Themenreservoir für ihre Unterhal-tungssendungen. Kritiker sehen in diesem Interesse am Alltag nicht nur eineBanalisierung der Kultur, sondern auch den selbstgenügsamen Rückzug ausder politischen Verantwortung ins Private. Eine Kritik, die in der Aufforderunggipfelt: »Schaltet die Talkshows ab!«1.Die Fokussierung des Interesses auf Themen des Alltags, die im allgemeinenTrend von der Gesellschafts- zur Kulturtheorie liegt, beleuchtet noch einen wei-teren Aspekt. Aufmerksamkeit erregt eine Sache in der Regel erst dann, wenn sieproblematisch geworden ist. Zwar ist Alltag der Inbegriff einer fraglosen Welt-vertrautheit, aber die Karriere des Begriffs in der wissenschaftlichen Reflexiondeutet eher darauf hin, dass hier etwas bedacht wird, weil und insofern es ver-loren geht. Die Aufmerksamkeit auf den Alltag scheint deshalb zugleich Symp-tom eines »Verlusts des Selbstverständlichen«2 zu sein und Ausdruck der Hoff-nung auf Therapie dieser Krise.

1. So äußerte sich die Präsidentin des Ev. Kirchentags Barbara Rinke beim Abschluss-gottesdienst in Stuttgart am 20. Juni 1999. Der Gottesdienst wurde vom Fernsehenübertragen.

2. P. Berger/Th. Luckmann, Modernität, Pluralismus und Sinnkrise, 1995, 44.

Auch die praktisch-theologischen Diskurse partizipieren an dieser Aufmerk-samkeit auf den Alltag3. Das Themenspektrum reicht dabei von Witz und Sati-re, über TV-Serien, Graffiti und Internet bis zur religiösen Bedeutung des Fuß-balls4. Die Diskussion etwa um die »Happening-Wallfahrt«5 zum verhülltenReichstag hat ebenso wie die Auseinandersetzung um die religiöse Funktiondes Fernsehens6 eines deutlich werden lassen: Es besteht ein gesellschaftlichesBedürfnis nach Verklärung alltäglicher Phänomene, gerade weil der Alltag nichtmehr den selbstverständlichen Hintergrund an Gewohnheiten und Überein-künften darstellt, auf die sich die Einzelnen in einer pluralen Gesellschaft ver-lassen können. Die Vielzahl neuer Allianzen und irritierender Familienähnlich-keiten zwischen Religion und Alltagskultur, die sich aus diesem Umstandergeben, sind jedenfalls klärungsbedürftig und mit dem Begriff des »Kulturpro-testantismus«7 noch nicht abgegolten.Die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Alltag wird jedoch nicht nurvon außen an die Praktische Theologie und Kirche herangetragen. Die Arbeitder Evangelischen Akademien, die Kirchentage, auch die breite Resonanz derKirchenmusik sind im Innenverhältnis ein Indiz dafür, dass die kirchlich ge-prägte und die private Frömmigkeit auseinandergetreten sind. Es handelt sichbei diesen privaten Formen der Frömmigkeit um eine Religionspraxis, die anAlltagsbedürfnissen orientiert ist, diesseits dogmatischer Formeln und kirchli-cher Traditionen. In ihr geht es um Vergewisserung angesichts von biogra-fischen Umbrüchen, um eine spirituelle Tiefendimension der eigenen Leib-erfahrung, um Rituale und Symbole, die den alltäglichen Lebensvollzugorientieren.Dass der Alltag und die im Alltag gelebte Religion, dass Familienreligiosität8

und Alltagsseelsorge9, magisches Denken in der Adoleszenz10 und die Konturendes modernen Synkretismus11 deshalb die Aufmerksamkeit auch der wissen-schaftlichen Theologie binden, ist angesichts dieser Sachlage verständlich. Al-lerdings bleibt das Interesse an Alltag und gelebter Religion nicht ohne Vor-behalte. Die Hinwendung zu solchen »weichen« Themen mobilisiert einUnbehagen, das an den Widerstand erinnert, den eine Theologie, die zu ihrer

12 Einleitung

3. Vgl. H. Streib, Alltagsreligion, 1998, 23 Anm. 1.4. Vgl. W.-E. Failing u. H.-G. Heimbrock, Gelebte Religion wahrnehmen, 1998, 170.5. V. Drehsen, Bürger-Eucharistie, 1996, 6.6. Vgl. G. Thomas, Medien, Ritual, Religion, 1998.7. Vgl. F. W. Graf, Art. Kulturprotestantismus, 1990, 230-243.8. Vgl. U. Schwab, Familienreligiosität, 1995.9. Vgl. E. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 1996.

10. Vgl. H. Streib, Entzauberung der Okkultfaszination, 1996.11. Vgl. V. Drehsen/W. Sparn (Hg.), Im Schmelztiegel der Religionen, 1996.

Sache gekommen zu sein glaubte, gegen die enge Verflechtung von Theologieund Kultur entwickelte.Karl Barths Einspruch gegen die Versuchungen einer Kulturtheologie lässt sichvon einer ganz anderen Seite her ergänzen. Als prominentester Vertreter einerkritischen Gesellschaftstheorie hat Jürgen Habermas das neokonservative Bildeiner »kompensatorisch befriedeten Moderne«12 kritisiert. Vor allem der Reli-gion im Alltag komme in dieser neokonservativen Kulturrevolution die Auf-gabe zu, die »explosiven Gehalte der kulturellen Moderne … zu entschärfen«13.. Sie stelle einen Schutzraum an Traditionsbeständen und Gewohnheiten dar,wohin der Zeitgenosse flüchten kann, der von der Dynamik der modernen Dif-ferenzierungsprozesse ermattet ist. Der Religion wird die Rolle zugetraut undzugemutet, einer Auszehrung des Wertkonsenses entgegenzutreten und ange-sichts einer Pluralisierung von Lebensformen für soziale Stimmigkeit zu sor-gen.Solche Vorbehalte sind nicht ohne weiteres auszuräumen. Aber die Unmöglich-keit, deshalb auf die Thematisierung des Alltag und seiner Bedeutung für diegelebte Religion zu verzichten, zeigt sich gerade in der kritischen Gesellschafts-theorie. Welche Bedeutung die Dimension eines vorbereiteten Einverständnis-ses von lebensweltlicher Gewohnheit und eingespielter Handlungsroutine füreine kritische Theorie der Gesellschaft hat, machen die eingehenden Unter-suchungen deutlich, die J. Habermas der Lebenswelt widmet14. In Habermas’Analyse erscheint der Alltag als Ressource, die im Zuge ihrer kritischen Rekons-truktion in kommunikative Tatbestände überführt wird. Ob der Alltag in die-sem Sinn ein Reservoir an Gewohnheiten darstellt, das auf Verbrauch berechnetist, oder ein unveräußerliches Fundament, ob die Religion folglich innovativoder kompensatorisch im Alltag fungiert, das sind wichtige Klärungen für einePraktische Theologie, die sich als Theorie gelebter Religion begreift: »Für diegenerelle Aufgabe der Praktischen Theologie aber bildet das Verständnis desreligiösen Alltags eine wichtige Grundlage, die für alle Hinsichten des kirchli-chen Handelns von Bedeutung ist«15.Vor diesem Hintergrund lässt sich erläutern, wie das Problem des religiösenAlltags bearbeitet werden soll, nämlich im Ausgang von einer Problemlage, diesich in Entwürfen der Praktischen Theologie am Ausgang des 20. Jahrhundertsabzeichnet. Diese Entwürfe bewegen sich im Horizont der Ausdifferenzierungdes neuzeitlichen Christentums in öffentliche, institutionelle und private

Einleitung 13

12. J. Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, 1985, 45.13. Ebenda.14. Vgl. J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, (1981)1995, 449-

488; außerdem: Nachmetaphysisches Denken, 1988, 82-104.15. D. Rössler, Grundriss der Praktischen Theologie, 1986, 69 [= GPT].

Frömmigkeit. Lässt sich das Interesse am religiösen Alltag als Folge der eigenenChristentumsgeschichte plausibel machen, so stößt die Praktische Theologie alsTheorie gelebter Religion mit diesem Interesse auf viele Uneindeutigkeiten derReligionspraxis. Der religiöse Alltag zeigt sich in einer Spannung von Sagbaremund Unsagbarem, von verdecktem und manifestem Sinn. Um diese Spannungnicht reduktiv zu unterschreiten, wird im Folgenden eine phänomenologischePerspektive erprobt, die den Alltag als Lebenswelt, als Horizonte des Selbstver-ständlichen wahrnimmt. Der Alltag der Religion stellt sich in dieser Perspektiveals ein Netzwerk dar, ein Zusammenhang von Verweisungen, von Sinndarstel-lungen in einer Pluralität von Horizonten, die nicht mehr in einem Letzthori-zont aufgehoben sind.Blickt man in dieser phänomenologischen Perspektive auf die Religion in denHorizonten des Alltags, dann stellt sich das Problem ihrer Funktion in einemanderen Licht dar. Während die Alternative von Religion als Kompensationoder als Destruktion alltäglicher Vertrautheiten die Religion in ein einseitigesVerhältnis zum Alltag setzt, zeigt gerade die Sinnkrise der Moderne, dass der»Verlust des Selbstverständlichen« nicht die dramatischen Formen annimmt,die er nach dieser Diagnose annehmen müsste. Offensichtlich gehört zum Ver-lust auch ein Gewinn und zum Gewinn auch ein Verlust an Selbstverständli-chem. Symbolische Darstellung von Sinn stabilisiert zwar einen Horizont all-täglicher Vertrautheiten, aber zugleich wird an diesen Stabilisierungen einSinnüberschuss virulent, der die erreichte Bestimmtheit irritiert. Diese Bewe-gung von Formaufbau zu Formzerstörung zu neuem Formaufbau und neuerFormzerstörung etc., die Symbole und Metaphern in den Horizonten des All-tags provozieren, hat Hans Blumenberg als Phänomene des Rhetorischen ana-lysiert16. Rhetorische Abschirmung von Horizonten des Alltags wie die Wahr-nehmung des mitgegebenen Sinnüberschusses ist auch für die religiösenSymbole im Alltag signifikant, wenn auch auf eine, von anderen Symbolweltenspezifisch unterschiedene Weise. Im Blick auf diese rhetorische Dimension desreligiösen Alltags schlage ich vor, im Anschluss an Blumenberg »die Phänome-nologie des Rhetorischen« für eine praktisch-theologische Theorie gelebter Re-ligion in Anspruch zu nehmen.Die Differenz von Rhetorik und dem Rhetorischen17, mit der ich im Folgendenarbeite, behauptet keinen Gegensatz. Sie besagt aber, dass man von Rhetorik alseiner Form der kommunikativen Vernunft nur reden kann, wenn das Rhetori-sche als elementare Distanznahme und Abschirmung alltäglicher Vertrautheit

14 Einleitung

16. Vgl. H. Blumenberg, Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik,1981 [= AAR].

17. Zur terminologischen Differenzierung von Rhetorik und dem Rhetorischen bzw. Rhe-torizität siehe unten Kap. III.2.2.

immer schon in Anspruch genommen wird. Lässt sich die Rhetorik als klarumgrenzter Bereich in Differenz etwa zu Logik oder Grammatik bestimmen,so ist das Rhetorische auf eine Pluralität von Sinnhorizonten in unterschiedli-chen Symbolwelten bezogen. Phänomene des Rhetorischen, die mit den rück-wärtigen Verbindungen symbolischer Sinndarstellungen zum Alltag und zurLebenswelt zu tun haben, finden sich in jeder symbolischen Form, in der Poli-tik, der Kunst und auch der Religion. Die Religion aber stößt auf diese rhetori-sche Dimension religiöser Symbole aus innerem Antrieb. Sie hat es nicht nurmit elementaren Vertrautheiten zu tun, sondern auch mit der Erfahrung, dassjede Darstellung von Sinn, die auf das Unbedingte zielt, zugleich den Mangel anUnbedingtheit dieser Darstellung zum Ausdruck bringen muss. Wird so im Re-ligiösen in einem geistigen Akt die Bindung an eine Form eingegangen undüberwunden18, so ist die Phänomenologie des Rhetorischen darin Theorie ge-lebter Religion, dass sie Religion durch das Bewusstsein dieser Differenz vonanderen symbolischen Darstellungen – etwa der Kunst – unterschieden weiß.Durch dieses Differenzbewusstsein ist Religion auf andere Symbolwelten bezo-gen und zugleich spezifisch von ihnen unterschieden.Phänomenologie des Rhetorischen als Theorie gelebter Religion will zum Aus-druck bringen, dass hier nicht der Versuch unternommen wird, mögliche De-finitionen von gelebter Religion um einen weiteren Versuch zu vermehren. Stattum Definitionen geht es darum, eine bestimmte Hinsicht, eine Perspektive aufdie Religionspraxis zu erproben und Ähnlichkeiten und Verwandtschaftsver-hältnisse zu anderen Theorien gelebter Religion zu untersuchen.Mit der Perspektive auf gelebte Religion als Phänomenologie des Rhetorischenwird auch kein weiteres Handlungsfeld zur Praktischen Theologie hinzugefügt.Fokussiert man das Religiöse im Ineinander von Sagbarem und Unsagbarem,von verdecktem im manifesten Sinn, dann sind Phänomene des Rhetorischenin allen Handlungsfeldern der Christentumspraxis zu vermuten. In diesem Sinnist der Versuch zu verstehen, das Programm dieser Arbeit am Beispiel der Seel-sorge durchzuführen.Schließlich zeigt sich im Horizont einer Phänomenologie des Rhetorischen alsTheorie gelebter Religion immer wieder die sachliche Nähe zum Thema derInstitution. Da dieses Thema den Rahmen dieser Arbeit sprengt, steht am Endenur ein Ausblick auf die Kirche als Erzählgemeinschaft.Am Ende eines jeden Kapitels werden die Ergebnisse resümiert. Diese Schluss-reflexionen stehen an Stelle einer ausführlichen Gesamtzusammenfassung.

Einleitung 15

18. Für Ernst Cassirer charakterisiert diese Formel die reflektierte Religion als symboli-sche Form in ihrer höchsten Entwicklungsstufe (vgl. E. Cassirer, Nachgelassene Ma-nuskripte und Texte, 1995, 19).

I. Alltag als Lebenswelt

1. Zur Analyse praktisch-theologischer Entwürfe imBlick auf ihr Verhältnis zu Alltag und Lebenswelt

Der Alltag, die Welt des Selbstverständlichen und der vertrauten Gewohnhei-ten, ist für die Theologie kein neues Thema. In der protestantischen Traditionhat der Pietismus den Zusammenhang zwischen Schriftauslegung und alltägli-cher Lebenspraxis hergestellt. Der hermeneutische Dreischritt von intelligere,explicare und applicare, von Verstehen, Erklären und Anwenden, zielt auf einenengen Zusammenhang von Auslegung und Anwendung der Heiligen Schrift aufdie eigene Lebenspraxis1. Der Alltag ist für den Pietismus der Anwendungs-bereich für Einsichten, die aus dem Verstehen der biblischen Texte gewonnenwerden. Das Verstehen der biblischen Texte kommt erst dann an sein Ziel, wennes den Alltag der Christen in einem spezifisch christlichen Sinn prägen undformen kann.Welchen Intentionen folgt das Interesse an Themen des Alltags in der gegen-wärtigen praktisch-theologischen Debatte? Es geht wohl kaum um eine Neu-auflage des pietistischen Programms, den Alltag unter der Regie der Schriftaus-legung zu formieren. Diese Vermutung liegt angesichts der so genannten»empirischen Wende«2 der Praktischen Theologie nahe. Wenn sich die Prakti-sche Theologie mit dieser Umorientierung nicht mehr als eine Anwendungs-wissenschaft versteht, so deckt sich ihr Interesse am Alltag auch kaum mit derpietistischen Intention, die Bibel auf die Alltagswelt anzuwenden.Das Interesse an Themen des Alltags ließe sich auch als Wiederkehr einer Pro-blemstellung interpretieren, die unter dem Titel des Kulturprotestantismus3

1. Der Pietismus stellt nach Henning Schröer das Modell einer theologia applicata,einer christlichen Lebenspraxis dar, die viele Motive der »empirischen Wende« in derPraktischen Theologie vorwegnimmt (vgl. H. Schröer, Art. Hermeneutik, 1986,150 f.).

2. Eine ausführliche Studie widmet J. van der Veen der weit verbreiteten Formel von der»empirischen Wende« in der Praktischen Theologie (vgl. J. van der Veen, Entwurfeiner empirischen Theologie, 1990; einschlägig ist außerdem H.-G. Heimbrock, Em-pirische Hermeneutik, 1993, 49-67).

3. Friedrich Wilhelm Graf hat die Genese und die historischen Hintergründe des Be-griffs »Kulturprotestantismus« sorgfältig analysiert und ausgeleuchtet (vgl. F. W. Graf,Art. Kulturprotestantismus, 1990, 230-243; einschlägig ist außerdem Ders., Theo-nomie, 1987, 206-212).

einschlägig bekannt geworden ist. Danach hätte sich nicht das kulturprotestan-tische Schema, sondern nur die Inhalte geändert. An die Stelle der hohen Kulturdes Bildungsbürgertums tritt nun die Laienperspektive, die niedere Kultur desalltäglichen Lebens, das in seiner Kulturbedeutung erst noch entdeckt werdenmuss. In dieser Lesart verdankt sich die Debatte um Alltag dem kulturprotes-tantischen Interesse, Religion und Alltagskultur zu vermitteln und Religion alsOrt der Einheit und Letztbegründung von alltäglichen Ritualen, Gebräuchenund Lebensstilen fruchtbar zu machen. Das Interesse an Themen des Alltagswäre dann gleichzusetzen mit der Wiederkehr des alten Gegensatzes von Kulturund Religion und mit seiner kulturprotestantischen Überwindung4, nachdemdie Kritik der dialektischen Theologie am Kulturprotestantismus die Geltungder Kultursphäre für die Theologie nicht außer Kraft setzen konnte.Die Annahme, welche die folgende Rekonstruktion praktisch-theologischerEntwürfe unter dem Gesichtspunkt der Bedeutung von Alltag leitet, ist eineandere. Sie geht davon aus, dass das gegenwärtige Interesse am Alltag an einerwesentlichen Uneindeutigkeit des Gegenstandsbereichs der Praktischen Theo-logie entsteht. Was gelebte Religion im Alltag darstellt, die religiösen Phänome-ne in ihrer Eigenart, die durch ein Ineinander von Ausdrücklichem und Unaus-drücklichem, Sagbarem und Unsagbarem charakterisiert sind, das kann wedereinfach empirisch erhoben noch ohne weiteres theoretisch auf den Begriff ge-bracht werden. Das Interesse am Alltag und an den darin eingelagerten religiö-sen Erfahrungen entsteht gerade aus der »Einsicht in den prinzipiellen Charak-ter der Mehrdeutigkeit [von Religion]«5, die als gelebte Religion in ihrenManifestationen nicht aufgeht.Die Mehrdeutigkeit religiöser Phänomene könnte allerdings ein theologischesGegenprogramm6 motivieren, das die undurchschauten lebensweltlichen Vor-gängigkeiten nur als einen Ausgangspunkt begreift, den es zu überwinden gilt.In der Fortschreibung eines begründungstheoretischen Interesses würde dann

20 Alltag als Lebenswelt

4. Das kulturprotestantische Motiv des Übergangs von einem intramuralen Kirchentumzu einem weltoffenen Christentum, das, unter Verzicht auf kirchliche Gebundenheit,Anschluss an die moderne Kultur gewinnt, findet seine klassische Ausprägung im WerkR. Rothes. Heike Krötke hat die Abtrennung der bekannten Kirchenthese Rothes vonseinem spekulativen Kontext analysiert (vgl. H. Krötke, Selbstbewusstsein und Sünde,1997, 6).

5. D. Rössler, Die Vernunft der Religion [= VdR], 1976, 121 (In Zitaten stammt derZusatz in eckiger Klammer immer von mir).

6. Dass die Vieldeutigkeit des Wortes auch verwerflich sein kann, diese Kritik ist lautWolfram Groddeck bereits ein Motiv der antiken Rhetorik. Platons Rhetorikfeind-lichkeit beruhte nicht zuletzt darauf, dass die »Unberechenbarkeit des Wortwörtlichen«(W. Groddeck, Reden über Rhetorik, 1995, 40) kein stabiles Fundament der Wahrheitliefert und deshalb in einem »Jenseits der Sprache« (ebenda) fundiert werden muss.

die gelebte Religion in einem umfassenden systematischen Zusammenhang re-konstruiert, mit dem Ziel, die Unbestimmtheit der gelebten Religion in die Be-stimmtheit eines – auf Generalisierung und Gesetzmäßigkeiten angelegten –theologischen Begriffs zu überführen7. Dieses Programm, den Alltag als einFundament kultureller Vorgängigkeiten zu begreifen, das in einer Letztbegrün-dung von empirischer Erfahrung vollständig ausgeleuchtet und definitiv begrif-fen werden könnte, scheitert aber schon nach Husserl an dem Umstand, dassder Alltag in phänomenologischer Perspektive nicht nur den Ausgangspunktdarstellt, den wir verlassen müssen, sondern auch ein Mitgegebenes8 ist, aufdas wir beständig rekurrieren. Auch religiöse Deutungen lebensweltlicher Phä-nomene vollziehen sich in einem Horizont selbstverständlicher Sinnvorausset-zungen, die auch noch das vorzeichnen, was die religiöse Perspektive an derImmanenz alltäglicher Selbstverständlichkeiten kritisiert9.Mit der Mehrdeutigkeit der Religion entsteht für die Praktische Theologie, diesich als Theorie einer alltäglichen Religionspraxis begreift, in der Tat ein Pro-blem. Wenn jede praktisch-theologische Thematisierung der Religion im All-tags beständig neue undurchschaute Sedimentierungen von Sinn erzeugt, dannstellt sich die Frage, wie die Praktische Theologie mit dieser Ambiguität derreligiösen Phänomene umgeht. Kann denn die gelebte Religion überhaupt ver-lustfrei aus ihren alltäglichen Horizonten abgelöst werden? Wenn an jeder Be-stimmtheit neue Unbestimmtheit entsteht, an jedem Wissen das Hintergrund-wissen der Lebenswelt erneut in Kraft gesetzt wird, dann könnte gerade diesernie vollständig ausgeleuchtete Hintergrund, das ständig reproduzierte Dunkelungeklärter Fragen, den produktiven Sinnüberschuss darstellen, auf den eineSymbolwelt nur um den Preis ihrer endgültigen Erstarrung verzichten kann10.Die Entdeckung einer untilgbaren Mehrdeutigkeit von religiösen Phänomenen

Zur Analyse praktisch-theologischer Entwürfe 21

7. Ingolf Dalferth hat die Differenz eines auf Gesetzmäßigkeiten und Generalisierun-gen abgestellten naturwissenschaftlichen Denkens und einer auf partikulare und lokaleGewohnheiten bezogene Verfahrensrationalität herausgearbeitet (vgl. I. U. Dalferth,Kombinatorische Theologie, 1991, 15-18).

8. Hans Blumenberg analysiert diese Doppeldeutigkeit im Lebensweltbegriff beiEdmund Husserl, einerseits Ausgangspunkt und andererseits ein beständig Mitgege-benes zu sein (vgl. H. Blumenberg, Lebenswelt und Technisierung (= LuT), 1981, 7-54; vgl. unten Kapitel III.1.2).

9. Zur Kritik am Alltag, vgl. unten Kapitel I.4.10. Äußerliche Veränderungen an gottesdienstlichen Ritualen und Symbolen genügen in

der Tat nicht. Darin ist Werner Jetter zuzustimmen: »Man kann einer kraftlos ge-wordenen Symbolik künstlich kaum aufhelfen« (W. Jetter, Symbol und Ritual,21986, 7). Aussichtsreicher scheint es da zu sein – im Anschluss an Blumenberg –den Vorschlag aufzugreifen, an den Symbolen zu arbeiten, und zwar im Blick auf denSinnüberschuss, den verdeckten im manifesten Sinn, der in den Symbolen mitgegebenist.

im Alltag markiert den blinden Fleck einer auf Bestimmtheit und Allgemeinheitausgerichteten Religionstheorie. Für jedes praktisch-theologische Programm,das sich auf den Alltag bezieht, stellt sich die Frage, wie mit dem Sachverhaltmethodisch zu verfahren ist, dass sich die religiösen Phänomene einer begriff-lichen Eindeutigkeit entziehen, und gleichsam im Rücken der eigenen Deu-tungsanstrengung beständig aufs Neue Uneindeutigkeit mitgegeben wird. Stößtdie Praktische Theologie mit ihrem Interesse an Themen des Alltags unweiger-lich auf diese prinzipielle Mehrdeutigkeit von Religion, so bedeutet dies, unddas wäre die These für die Rekonstruktion praktisch-theologischer Entwürfehinsichtlich ihrer Wahrnehmung des Alltags, dass sich mit dem gegenwärtigenInteresse an gelebter Religion auch ein Wandel im Verständnis von Alltag ver-binden muss.Will man die Mehrdeutigkeit religiöser Phänomene nicht überspringen, kannAlltag nicht mehr als einheitlicher Sinnzusammenhang begriffen werden, dersich widerstandslos dem theoretischen Zugriff fügt. Näher liegt vielmehr einphänomenologisches Verständnis von »Alltag als Lebenswelt«, das sich mitden Analysen von Blumenberg11, Husserl und anderen verbinden lässt. FürHusserl ist der Alltag die vortheoretische Welt »ursprünglicher Evidenzen«12,ein »gründender Boden«13 und Basis aller weiteren theoretischen Bestimmun-gen. Die undurchschauten Selbstverständlichkeiten dieser »Unterwelt« zeich-nen bereits vor, was an bewusster Wahrnehmung und Deutung in den Blickkommt. Es sind Horizonte der Wahrnehmung, die aber selber nicht wahr-genommen werden.Sollte diese These zutreffen, dass die Mehrdeutigkeit gelebter Religion Aus-druck der Horizonthaftigkeit des Alltags ist, dann lässt sich mit diesem Wandelim Verständnis von Alltag auch die spezifische Differenz zum Kulturbegriff desKulturprotestantismus und seiner dialektischen Kritik bestimmen. Währendder Kulturprotestantismus einem starken Begriff von Kultur verpflichtet ist

22 Alltag als Lebenswelt

11. Der Titel »Alltag als Lebenswelt« greift auf eine Formel von Hans Blumenberg zu-rück: »Daher ist es keineswegs abwegig, ›Alltäglichkeit‹ als fortgeführte, mitgeführte,unterlaufende Lebensweltlichkeit zu beschreiben« (H. Blumenberg, Lebenszeit undWeltzeit [= LzWz], 1986, 64). M. Moxter sieht einen Zusammenhang zwischen derLebensweltauffassung Blumenbergs und der alltagstheoretischen These der Sozialphä-nomenologie (M. Moxter, Kultur als Lebenswelt [= KaL], 2000, 330).

12. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, 1992, 130.13. A. a. O., 134. Es gehört nach M. Moxter zur Aporie des Spätwerks von Edmund Hus-

serl, dass sich zwischen der Entdeckung der Lebenswelt als Basis und Unterwelt, zu derein untilgbares Dunkel von Fragen gehört, die nicht geklärt werden können, und derFortschreibung eines begründungstheoretischen Interesses, das auf uneingeschränkteEvidenz abzielt, eine innere Spannung auftut, vor der nicht zurückzuweichen die Ent-wicklung der Husserl’schen Philosophie charakterisiert (vgl. M. Moxter, KaL, 281f.).

und diese als eine einheitliche Sphäre begreift, entweder als Sinnganzheit oderals Handlungsganzheit, so kommt mit dem Alltag als Lebenswelt die Kultur alseine offene Struktur von Sinnhorizonten in den Blick, die selbst noch diegrundlegenden Differenzen eines starken Kulturbegriffs präfiguriert. Man kannzwischen Humanität und Barbarei nur vor dem Hintergrund einer bereits ge-leisteten elementaren Abwehr einer chaotischen Unbestimmtheit unterschei-den.Als solche elementaren Codierungen, die selbst noch die Wahrnehmung dessenvorzeichnet, was wir Kultur zu nennen pflegen, ist der Alltag als Lebenswelt einHintergrund von je spezifischen Horizonten. Alltäglich leben wir in einer Man-nigfaltigkeit von Welten, ohne dass diese noch von einer »durchgängigen Ver-nunftteleologie zusammengehalten werden«14. Die Pluralisierung des Alltags inAlltagswelten, die Tatsache also, »dass wir in mehr als einer Welt leben«, die HansBlumenberg »die philosophische Erregung dieses Jahrhunderts«15 genannt hat,nötigt dazu, auch die Phänomene der gelebten Religion in einer Pluralität spe-zifischer Horizonte wahrzunehmen. Religiöse Symbole sind Sinnbildungen intypischen und höchst individuellen Sinnhorizonten. Die Sinnhorizonte bildenein Netzwerk von Verweisen, das durch keine übergeordnete Instanz, auch nichtmehr durch die Unbedingtheit eines religiösen Sinns, integriert werden kann.Unbedingt ist zwar die Horizonthaftigkeit der Alltagswelten, aber kein Sinn inihr ist unbedingt16. Jeder Sinn wird zwar in spezifischen Horizonten erfahren,aber kein Horizont ist der letzte, der allen anderen zugrunde liegt17. In diesemVerständnis ist der moderne Alltag charakterisiert durch einen »Polytheismuskonkurrierender Werte«18, wie dies schon Max Weber mit dem ihm eigenenPathos der Nüchternheit diagnostizierte. Schon wegen dieser ungeschlichtetenPluralität konkurrierender Sinnbildungen kann weder die Religion die moder-ne Kultur fundieren, noch umgekehrt die moderne Kultur die Religion.Wird der Alltag als Lebenswelt, als vortheoretischer Hintergrund und Hori-zont19 von Sinnbildungen in den Blick genommen, bedeutet dies für die

Zur Analyse praktisch-theologischer Entwürfe 23

14. B. Waldenfels, In den Netzen der Lebenswelt, 21994, 158.15. H. Blumenberg, Wirklichkeiten in denen wir leben, 1981, 3. Auf diese Formel bezieht

sich Ingolf Dalferth in seiner kritischen Würdigung Blumenbergs (vgl. I. U. Dal-ferth, Weder Seinsgrund noch Armutszeugnis, 1997, 160-192).

16. Die Differenz von unbedingtem Sinn und der Unbedingtheit von Sinn ist die Pointe derKritik Jürgen Habermas’ an der These von Max Horkheimer: »Einen unbedingtenSinn zu retten ohne Gott, ist eitel« (J. Habermas, Texte und Kontexte, 21992, 125)

17. Die Pluralisierung von Welten bedeutet allerdings nicht die sukzessive Monogamie ei-nander folgenden Einheitswelten, wie in der Anekdote von Henry Thoreau: »What doyou think of the world to come?« – »One world at a time.« Pluralisierung meint einekoexistente Vielfalt von Welten.

18. M. Weber, Wissenschaft als Beruf, 71988, 603.

Praktische Theologie, dass auch gelebte Religion als ein bestimmter Fall lebens-weltlicher Sinnorientierung begriffen werden muss, der seine spezifische Be-stimmtheit darin erfährt, dass im Religiösen die Horizonthaftigkeit konkreterErfahrung selber zur Darstellung gebracht wird. Die eigentümliche Gebrochen-heit religiöser Symbole, die in der Darstellung eines Unbedingten diese zugleichnegiert, ist der indirekte Verweis auf das, was in jeder Darstellung mitgegebenist, aber nicht thematisiert wird, damit überhaupt etwas als etwas Bestimmteserscheint. Religiös angemessen ist folglich nur die Darstellung, die zugleich die-sen Mangel an Darstellbarkeit zum Ausdruck bringt20, also nicht nur einen re-ligiösen Gehalt darstellt, sondern zugleich die Differenz von Darstellung undDargestelltem.Dass solche Gebrochenheit auch das Merkmal der modernen Kunst ist, die inder Folge von Hegels These vom Ende der Kunst geradezu die Negation desBildes zum Prinzip ihrer Darstellung macht21, besagt nur, dass die Religion,indem sie bei ihrem Thema bleibt, zugleich auf andere kulturelle Prozessebezogen ist. Zwischen der Religion, die in der Differenz von Darstellung undDargestelltem das Religiöse fokussiert, und der modernen Kunst, welche dieAufhebung des Bildes ins Bild setzt22, gibt es offensichtlich »Familienähnlich-

24 Alltag als Lebenswelt

19. Ph. Stoellger differenziert den Horizontbegriff als Grundmetapher für Welt in retro-spektive Horizontrückgriffe (Hintergrund) und prospektive Horizontvorgriffe. (Ph.Stoellger, Metapher und Lebenswelt, 2000, 194-196).

20. An dieser zeichentheoretischen Einsicht Paul Tillichs ist festzuhalten, dass im Aus-drucksbereich der Religion »that symbol is most adequate, which expresses not onlythe ultimate, but also the lack of ultimacy« (P. Tillich, Dynamics of Faith, 1957, 276).

21. Auf das »negativitätsdurchsetzte« Ideal von Schönheit und seinen christlichen Hinter-grund macht Joachim Ringleben aufmerksam (vgl. J. Ringleben, Dornenkrone undPurpurmantel, 1996, 7-20).

22. Albrecht Grözingers überzeugender Vorschlag, das Bilderverbot zum Ausgangs-punkt des Dialogs von Kirche und Kunst zu machen, reagiert auf diese gebrocheneDarstellungsform der modernen Kunst (vgl. A. Grözinger, Praktische Theologie undÄsthetik, 1987, 103). Inken Mädler greift die Nähe von Bilderverbot und abstrakterDarstellung in der modernen Kunst unter rezeptionsästhetischen Gesichtspunkten auf:»Und gerade die bildende Kunst der Moderne vermag, so paradox es klingt, dem Bil-derverbot auf bildliche Weise gerecht zu werden, indem sie dem Betrachter die visuelleFixierung auf gewohnte Gottesbilder verweigert« (I. Mädler, Kirche und bildendeKunst, 1997, 99). Auf die Verwandtschaft von Kunst und Religion im Zeichen des Bil-derverbots macht schon Theodor Wiesengrund Adorno aufmerksam. Allerdingsverbindet Adorno diese Beobachtung mit der Pointe, dass die Gebrochenheit der chris-tologisch inspirierten Darstellung von Religion am Bild haften bleibt, und deshalb ander Christologie der verborgene, negativ-theologische Kern der Ästhetik abzulesen ist(Th. W. Adorno, Kierkegaard, Konstruktion des Ästhetischen, 1962, 238; zum theo-logischen Kern von Adornos negativer Ästhetik vgl. Th. Erne, Die Kunst der Aneig-nung in der Aneignung der Kunst, 1993, 570f.).

keiten«23, um eine Kategorie Wittgensteins auf kulturtheoretische Befunde an-zuwenden.Wie auch immer diese Verwandtschaftsverhältnisse zu deuten sind, sie gebenjedenfalls einen Hinweis darauf, dass kulturelle Prozesse, zu der die Kunst, wiedie Religion zu zählen sind, in einem Kontinuum von Horizontverschiebungen,von Sinnsetzung und Sinnüberschreitung ablaufen, die durch keine übergeord-nete Idee, sondern durch ein Netz von Differenzen und Ähnlichkeiten mit-einander verbunden sind. In pluralen Lebenswelten kann die Religion nichtmehr der Platzhalter einer Letztgewissheit oder eines Einheitsfundaments derKultur sein24. Sie ist vielmehr an je spezifische Horizonte gebunden, innerhalbeiner Pluralität von kulturellen Sinnschöpfungen, und dadurch zugleich vonanderen Dimensionen der Kultur unterschieden, dass Sinngebung und Sinn-überschreitung im Religiösen spezifisch gesteigert sind.Die These, von der die folgenden Rekonstruktionen praktisch-theologischerEntwürfe und ihrer Beziehung zum Alltag angeleitet werden, ist folglich die,dass sich mit dem gegenwärtigen Interesse der Praktischen Theologie an der»gelebten Religion« nicht nur das Verständnis von Alltag wandeln muss. DieWahrnehmung des »Alltags als Lebenswelt«, als Horizontstruktur von spezi-fischen und unabschließbaren Sinnbildungen könnte auch dazu beitragen, dasThema und das Selbstverständnis der Praktischen Theologie innerhalb einerpluralen Kultur25 genauer zu bestimmen.

Zur Analyse praktisch-theologischer Entwürfe 25

23. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1953, 32 (§ 66+67). ThomasRentsch warnt ebenfalls mit Wittgenstein »vor ›substanzialistischen‹ Deutungengeistesgeschichtlicher Befunde« und schlägt deshalb vor, die offenkundige Nähe vonmythischen, ästhetischen und theologischen Diskursen als Zusammenhang von »be-stimmten ›Familienähnlichkeiten‹« zu fassen (Th. Rentsch, Der Augenblick des Schö-nen, 1998, 125 f.) Gerhard Gamm interpretiert Wittgensteins Begriff der Familien-ähnlichkeit als einen rhetorischen Grundbegriff (vgl. G. Gamm, Flucht aus derKategorie, 1994, 341-347).

24. Dass dieser Sachverhalt auf Abwehr stößt – und zwar ausgerechnet im Protestantismus,der an dieser Ausdifferenzierung der Moderne nicht unerheblich beteiligt ist –, daszeigen die Beispiele die Volker Drehsen aufführt (vgl. V. Drehsen, Wie religions-fähig ist die Volkskirche? 1994, 250ff.).

25. Kultur als Lebenswelt zu verstehen ist Michael Moxters grundlegender Vorschlag fürdie theologische Reflexion der Kultur (vgl. M. Moxter, Kultur als Lebenswelt, 2000, 1-11).

2. Alltag und die Vernunft der Religion beiDietrich Rössler

2.1 Charakterisierung der Fragestellung

Dietrich Rössler nimmt in seiner Religionstheorie »Die Vernunft der Religion«1

eine bestimmte Neuzeitdiagnose zum Ausgangspunkt, die auch in seinem»Grundriss der Praktischen Theologie«2 die gesamte Gliederung trägt. RösslersDiagnose besagt, dass das neuzeitliche Christentum sich in dreifacher Gestaltausdifferenziert, in öffentliche Religion, kirchlich organisiertes Christentumund private Frömmigkeit. Was das neuzeitliche Christentum demnach aus-zeichnet, ist der Verlust eines einheitlichen Erscheinungsbildes. Private Fröm-migkeit, kirchlich institutionalisierter Glaube und öffentliche Wirkung desEvangeliums sind nicht mehr deckungsgleich.Rösslers These von der differenzierten Gestalt des neuzeitlichen Christentumsbesagt noch ein Weiteres. Keine der Formen, in denen sich Religion ausdiffe-renziert, kann selber das Allgemeine sein, das allen anderen Manifestationendes Religiösen zugrunde liegt. Vielmehr ist das Allgemeine von Religion inden fundamentalen Erfahrungen des Lebens zu suchen, die allen religiösen Ma-nifestationen zugrunde liegen und von denen diese zehren. Diese Unterschei-dung von latenter und manifester, gelebter und gestalteter Religion macht Röss-ler als Vernunft der Religion geltend. Vernünftig an dieser neuzeitlichenVielfältigkeit der Religion ist eben die Einsicht in den vortheoretischen Charak-ter gelebter Religion, und insofern ist Rösslers Religionsbegriff die rationaleRekonstruktion eines Irrationalen, Begriff eines Unbegrifflichen, das die Eigen-art des Religiösen, nicht in seinen Darstellungen aufzugehen, zur Darstellungbringt.Die Orientierung am Einzelnen und an seiner gelebten Religion, die allen mani-festen Formen der Frömmigkeit vorausgeht, wird so zum Horizont für die Fra-ge nach Selbstverständnis und Gegenstand der Praktischen Theologie. Dies be-deutet eine gewichtige Verschiebung des Hauptakzents. Ausgangspunktpraktisch-theologischer Arbeit ist nicht mehr die Kirche, sondern die religiösePraxis der Individuen. Von ihnen ausgehend ist die kirchliche Praxis verständ-

1. D. Rössler, Die Vernunft der Religion, München 1976 [= VdR].2. D. Rössler, Grundriss der Praktischen Theologie, Berlin/New York 1986 [= GPT].

lich zu machen – und nicht umgekehrt. Mit dieser Hinwendung zur religiösenIndividualität, zum »Einzelnen« und seiner »gelebten Religion«, greift die Prak-tische Theologie unter veränderten Bedingungen Grundmotive Schleierma-chers auf3.Damit wird aber auch der Bezug zum Alltag konstitutiv für die Frage nach derneuzeitlichen Grundlegung der Praktischen Theologie. »Gelebte Religion«: dasist für Rössler Religion, wie sie »tatsächlich und lebendig ist«4, wie sie im Alltagvon Menschen eine Rolle spielt, jenseits von Programmen und Anweisungen,jenseits der Manifestation dieser religiösen Lebendigkeit in den Formen gedeu-teter Religion, in Gebräuchen, Riten, in Predigt, Bekenntnissen und dogmati-schen Formeln. Die gelebte Religion und ihre kirchliche Darstellung sind zwarnicht mehr zur Deckung zu bringen, doch gilt für die gelebte Religion, dass sienur zugänglich ist in manifesten Formen, freilich ohne in solchen Manifestatio-nen jemals aufzugehen.

2.2 Die Mehrdeutigkeit der gelebten Religion

Gelebte Religion lässt sich folglich nicht an sich selber fassen. Damit sie nichtstumm bleibt, ist sie auf Darstellung angewiesen, auf tradierte kirchliche unddogmatische Vorstellungen, auf Rituale und Bilder: »Was gelebte Religion ist,lässt sich allein im Kontext der Deutungen von Religion ausdrücklich ma-chen«5. Die Deutungsabhängigkeit der gelebten Religion besagt, dass sie nurindirekt an ihren Manifestationen erfahrbar ist – ein spezifisches Ungenügen,das jede gegenständliche Darstellung von Religion gegenüber dem, was sie dar-stellen will, charakterisiert.Worin aber liegt dieser Mangel gegenständlicher Darstellung von Religion?Oder positiv gefragt: Worin liegt das Mehr, der Überschuss des religiösen Le-bens, das in seinen objektiven Formen nicht aufgeht? In einem formalen Sinn,so wird man mit Rössler sagen können, ist die Mehrdeutigkeit des ReligiösenAusdruck der Differenz von Darstellung und Dargestelltem, mit der religiöseSymbole dafür einstehen, dass der Mensch mehr ist als die Deutungen, die ersich und seiner Welt zu geben vermag. Dafür kann Rössler die Formel einsetzen:»Der Mensch geht nicht im Vorhandenen auf«6. Mit dieser Formel verbindet

Alltag und die Vernunft der Religion bei Dietrich Rössler 27

3. Es ist nach Jörg Dierken die Epoche machende Entdeckung Schleiermachers, dassdie dogmatisch-theologischen Lehrstücke funktional auf den gelebten Glauben bezo-gen sind, der dadurch vom Gängelband einer dogmatischen Normativität befreit wird(vgl. J. Dierken, Glauben und Lehre, 1996, 408).

4. D. Rössler, VdR, 13.5. A. a. O., 68 f.6. A. a. O., 122. An dieser Stelle bezieht sich D. Rössler explizit auf T. Rendtorff.

sich zugleich ein sachliches Grundproblem der Religionstheorie Rösslers. Zumeinen bezeichnet sie in strikter Abhängigkeit von der jeweiligen Deutungsper-spektive einen Überschuss des subjektiv Religiösen gegenüber seiner objektivenDarstellung. Zum anderen wird mit dem Sinnüberschuss, für den die Differenzvon gelebter und manifester Religion einsteht, ein Kernbestand in den Blickgenommen, der zwar nur im Kontext pluraler Deutungen von Religion mani-fest wird, aber darin auf einen Hintergrund verweist, das allen diesen pluralenDeutungen voraus ist.Dass der Mensch sein Leben nicht aus sich selber hat, diese prinzipielle Abhän-gigkeit und Bedürftigkeit menschlicher Existenz, ist deshalb nicht nur die Er-fahrung eines Mehrwertes, der sich an den religiösen Symbolen und Riten in-direkt einstellt. Dass der Mensch mehr ist als die Deutungen, die er sich zugeben vermag, ist für Rössler zugleich der Hinweis auf die allgemeine Formelder Religion. Die Vernunft der Religion, ihre kontextunabhängige Allgemein-heit, besteht gerade darin, die Differenz von gelebter und manifester Religionauf einen Kernbestand zurückzuführen, in dem der Sinnüberschuss, der sich anden jeweiligen Deutungen von Religion auftut, sachlich fundiert ist7.Damit ergibt sich eine Spannung zwischen der Aussage, dass einerseits gelebteReligion nur im Kontext der manifesten Religion zugänglich ist, und der All-gemeinheit der Religion andererseits8, die alle pluralen religiösen Deutungenauf einen gemeinsamen Kern zurückführt, nämlich auf die religiöse Grund-erfahrung der menschlichen Abhängigkeit. Rössler legt im Verhältnis zur mani-festen Religion ein Verständnis von gelebter Religion nahe, das diese als einMitgemeintes begreift. Im Fall der allgemeinen Formel dagegen liegt ein aprio-risches Allgemeines vor, auf das sich die Theologie in begründender Absichtbeziehen kann.Diese Spannung hat Folgen für die entscheidende These, die Rössler mit derUnterscheidung von gelebter und manifester Religion verfolgt. Religion sollnämlich Inbegriff individueller Freiheit sein. Gerade die Mehrdeutigkeit desReligiösen, seine Unerschöpflichkeit, die in keine endgültige Manifestation zuüberführen ist, garantiert, dass keine Deutung von Religion für sich den An-spruch erheben kann, die wahre Religion zu sein. Jede Bestimmung gelebterReligion ist partikular, ist eine unter anderen möglichen. Damit sind Dissensund konkurrierende Auslegungen vorprogrammiert. Zugleich ist die unab-schließbare Mehrdeutigkeit gelebter Religion, positiv betrachtet, auch die Be-dingung individueller Freiheit. In der Religion, die nur in ihren partikularen

28 Alltag als Lebenswelt

7. Falk Wagner interpretiert kritisch die Begründungsfigur der Religionstheorie Röss-lers (vgl F. Wagner, Was ist Religion? 1986, 481 ff.).

8. Der erste Satz in Rösslers Religionstheorie lautet: »Religion ist überall« (D. Rössler,VdR, 7).

Manifestationen zugänglich ist, sind »die letzten Gründe des Daseins«9 immerindividuelle Deutungen, die durch keinen normativen Begriff der wahren Reli-gion dominiert werden können. Ist Religion aber nur in einer Pluralität vonDeutungen gegeben, die nicht in einem letzten Horizont zusammengeführtwerden können, dann unterläuft die Vorstellung eines vorgängig Allgemeinen,in dem plurale Deutungen wurzeln, genau die konkrete Pluralität, die an jespezifische Horizonte gebunden ist.

2.3 Gelebte Religion als Sinnüberschuss

Rösslers Generalthese zum Verhältnis von gedeuteter und gelebter Religion isteine Bemerkung zum Verhältnis von Vernunft und Leben, von reflexiver Ratio-nalität und präreflexiver Lebenswelt. Das zeigt sich auch daran, dass gelebteReligion den Charakter einer Selbstverständlichkeit hat. Sie ist weder durch Be-gründung zu generieren noch aufzulösen, sondern behauptet sich gegenüberden Begründungsanfordungen der Rationalität durch eine Unausdrücklichkeit,die nicht der Begründung bedarf. Wer vernünftige Gründe für die Geltungeines Ritus verlangt, »wer diese Fragen aufwirft, hat sich verlaufen«10.Gelebter Religion kommt, um mit Hans Blumenberg zu reden, der Status »lo-gischer Unbedürftigkeit«11 zu. Das zeigt sich auch daran, dass gelebte Religionvon ihren unterschiedlichen theoretischen Auslegungen, »von dem Streit undseinen Argumenten erstaunlich wenig beeindruckt und berührt«12 wird. Sie»ändert sich nicht jeweils und sogleich mit den Bewegungen, Strömungen undVeränderungen der religiösen Theorien. Sie zerfällt nicht unter den verschiede-nen Impulsen und Widersprüchen dieser Theorien«13. Die gelebte Religionkann sich allerdings Begründungsanforderungen14 nur so lange beharrlich ent-ziehen, wie ihre Selbstverständlichkeit nicht ausdrücklich gemacht wird.Die alltägliche Selbstverständlichkeit der gelebten Religion bedeutet geradenicht, dass sie jeglicher Thematisierung entzogen wäre. Es geht Rössler vielmehrgerade darum, Gottesdienst und Unterricht, Seelsorge und Diakonie, also alleFormen kirchlichen Handelns als differenzierte Auslegungen der gelebten Reli-

Alltag und die Vernunft der Religion bei Dietrich Rössler 29

9. D. Rössler, VdR, 122.10. A. a. O., 29.11. H. Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, 31986, 350 [= LzWz].12. D. Rössler, VdR, 8.13. A. a. O., 117.14. Hans Blumenberg sieht aufgrund dieser Wirkung, nämlich der »Absorption von Be-

gründungsfragen« (H. Blumenberg, Arbeit am Mythos [= AaM], 178), ein enges Ver-wandtschaftsverhältnis von Religion und Mythos und nicht, wie etwa bei E. Cassirer,in der gemeinsamen Arbeit an der Rationalität der Zeichen.

gion auszuweisen. Aber jede Thematisierung gelebter Religion muss mit derAuflösung ihrer selbstverständlichen Geltung rechnen. Wird diese Selbstver-ständlichkeit reflexiv rekonstruiert, verliert sie ihre fraglose Gewissheit: »Ge-wissheiten sind zerstörbar, am empfindlichsten die, deren Selbstverständlich-keit sie unbemerkbar und damit unbefragbar gemacht hat«15. Der Prozesseiner Transformation von Selbstverständlichkeit in Selbstverständigung, derals neuzeitliche Rationalisierung der Lebenswelt bekannt geworden ist, betrifftauch das Verhältnis von gelebter und manifester Religion. Auch die selbstver-ständlich in Geltung stehende gelebte Religion kann im Zuge ihrer Deutung ineine Form des Wissens überführt und so ihrer Selbstverständlichkeit entkleidetwerden.Entscheidend an Rösslers These von der Mehrdeutigkeit gelebter Religion ist,dass diese Transformation nicht erschöpfend gelingen kann. Gelebte Religionist eben nicht vollständig in manifeste Religion zu überführen: »Keine vonihnen [von den religiösen Positionen] kann den Anspruch erheben, das Ganzedessen zu repräsentieren, was als Religion lebendig ist«16.Die Unerschöpflichkeit gelebter Religion, an der Rösslers These von der Reli-gion als Inbegriff individueller Freiheit hängt, lässt sich aber dann nicht durch-halten, wenn gelebte Religion im Sinn einer reflexiv zu thematisierenden Kon-stitutionsleistung verstanden wird, die den jeweiligen Deutungen vorausliegt17.Wird gelebte Religion so als vorgängige Voraussetzung gedacht, dann ist jedeVersprachlichung gelebter Religion ein Verlust. Denn die Deutung der gelebtenReligion und ihre Transformation in manifeste Religion bringen die gelebteReligion tendenziell zum Verschwinden. Der Widerstand der gelebten Religiongegenüber ihrer reflexiven Thematisierung wäre dann nur eine regressive Ab-wehr gegen das unvermeidbare Schicksal, dass die selbstverständlichen Gel-tungsvoraussetzungen der Religion in eine Form religiöser Selbstverständigungüberführt werden können und müssen.Die Mehrdeutigkeit der Religion kommt deshalb erst dann in den Blick, wenngelebte Religion nicht als Voraussetzung, sondern als Sinnüberschuss, als ein

30 Alltag als Lebenswelt

15. Vgl. H. Blumenberg, Die Vollzähligkeit der Sterne, 1997, 318.16. D. Rössler, VdR, 69; im Zitat stammt der Zusatz in eckiger Klammer von mir.17. J. Dierken zeigt, dass bei den vier wirkmächtigen Gestalten moderner protestantischer

Theologie, Barth, Bultmann, Hegel und Schleiermacher, ein gemeinsames Inte-resse an der irreduziblen Differenz von religiösem Vollzug und theologischer Reflexionbesteht. Die Frage ist allerdings, ob eine konstitutionstheoretisch gefasste Relation vonGlaube und Lehre nicht unweigerlich dazu tendiert, diese Differenz einzuebnen undentweder Glaube in Lehre oder Lehre in Glaubensgewissheit zu überführen (vgl.J. Dierken, Glaube und Lehre im modernen Protestantismus. Studien zum Verhältnisvon religiösem Vollzug und theologischer Bestimmtheit bei Barth und Bultmannsowie Hegel und Schleiermacher, 1996, 417).

Mitgemeintes verstanden wird, das gerade aufgrund der Struktur des Deu-tungsaktes nie völlig durchsichtig gemacht werden kann. Gelebte Religion stelltdann nicht nur dasjenige dar, was in der jeweiligen Deutung manifest wird unddadurch seinen selbstverständlichen Charakter verliert, sondern zugleich dasje-nige, was einer jeden Deutungsperspektive entzogen bleibt. Das bedeutet aber,dass sich das Verständnis des Alltags im Sinn von Lebenswelt verändern müsste.Es ist ja gerade das uneinholbare »Prae« der Lebenswelt gegenüber ihren Deu-tungen, des Unausgesprochenen gegenüber dem Ausgesprochenen, des Voll-zugs gegenüber der Reflexion, das die These von der Unerschöpflichkeit desReligiösen stützen könnte. Nur weil an jedem manifesten Sinn ein nicht-mani-fester Sinn mitgegeben, in jedem Anwesenden ein Abwesendes mitpräsentbleibt, kann die Wahrnehmung und Deutung gelebter Religion nie vollständigin Formen der gedeuteten Religion überführt werden.Man kann diesen Hinweis auf mitgegebene Vorgaben und Vertrautheiten, dienicht vollständig in reflexiver Thematisierung eingeholt werden können unddie das Leben deshalb erträglich sein lassen, weil wir nicht für sie aufkommenmüssen und können, durchaus im Sinne Rösslers als Schöpfungswirklichkeitbegreifen. Nur dass es sich nicht mehr um ein apriorisches Allgemeines handelt,sondern um einen Grundzug von Sprache, einen Grundzug der Darstellungvon Sinn. Dass der Mensch mehr ist als die Deutungen, die er sich zu gebenvermag, diese Formel lässt sich phänomenologisch entschlüsseln als das Ver-hältnis von Anwesenheit und Abwesenheit18, das die Formen symbolischer Dar-stellung von Sinn charakterisiert, die sich in unterschiedlichen und spezifischenHorizonten entfalten, denen jede apriorische Allgemeinheit fehlt.Das zeigt sich daran, wie gelebte Religion Veränderungen unterworfen ist. Sieist nicht das stabile Fundament, das sich unabhängig von den jeweiligen The-matisierungen erhält. Prinzipiell kann alles, was selbstverständlich in Geltungsteht, auch thematisiert werden, aber nie alles und auf einmal. Die Veränderun-gen der gelebten Religion vollziehen sich deshalb nicht, wie Rössler meint, »indem Maße, in dem das Ganze Veränderungen erfährt«19, sondern in dem Maße,in dem sie in je spezifischen Horizonten variiert wird.Gelebte Religion ist vor allem ein Hinweis auf ein Grundproblem der Darstel-lung von Sinn. Das Ineinander von Gesagtem und (noch) Nicht-Gesagtem, vonüberdecktem Sinn im manifesten Sinn stellt einen basalen kulturtheoretischenSachverhalt dar, der im Rahmen religiöser Darstellung spezifisch gesteigert

Alltag und die Vernunft der Religion bei Dietrich Rössler 31

18. Paul Ricoeur hat die Dialektik von Anwesenheit und Abwesenheit in jeder sprach-lichen Darstellung von Sinn als einen basalen kulturtheoretischen Sachverhalt heraus-gestellt (vgl. P. Ricoeur, Versuch über Freud, 1969, 388; und Kapitel IV. 3.3: »Phäno-menologie und Psychoanalyse«).

19. D. Rössler, VdR, 117.

wird20. Religion kann deshalb auch nicht ausschließlich und konstitutiv auf dieErfahrung von Kontingenz21 bezogen sein. Religiös ist nicht nur das Zerbrechenmanifester Formen und vertrauter Symbole zugunsten eines Sinnes, der inihnen verborgen geblieben ist. Religiös ist auch die Vereinseitigung der gelebtenReligion zu einer konkreten Darstellung. Die Besonderheit der Religion alseiner eigenständigen Dimension der Kultur besteht gerade darin, die Über-schreitung symbolischer Formen im Wissen um die Dialektik zu leisten, dassjede Formzerstörung zu neuem Formaufbau nötigt und jede konkrete Aus-drucksgestalt neue Varianten fördert.

2.4 Gelebte Religion als Mitgegebenes?

Mit Rösslers These zur Vernunft neuzeitlicher Religion geht eine Wende in derMethodendebatte der Praktischen Theologie einher. Gelebte Religion, das istreligiöse Praxis, die nicht in den religiösen Symbolen, den kirchlichen Ritualenund Handlungen aufgeht. Hat Praktische Theologie in der gelebten Religionund ihrem Verhältnis zu den manifesten Formen kirchlicher Deutung ihr spezi-fisches Thema, dann ist sie nicht mehr eine Anwendungswissenschaft für ihrvorgegebene dogmatische Begriffe, sondern sie hat eine für Kirche und Theo-logie fundamentale Bedeutung. Mit ihrem Thema der gelebten Religion hält diePraktische Theologie das Wissen um die reflexive Uneinholbarkeit religiöserVollzüge wach, die als Gegenhalt zu allen systematischen Einheits- und Ganz-heitsvorstellungen fungiert.Die religionstheoretische Differenz von gelebter und manifester Religion ist fürRössler der sachgemäße Horizont für die Frage nach dem SelbstverständnisPraktischer Theologie22. Das bedeutet, dass sie auf den Bereich des Präreflexivenund Vorprädikativen verwiesen ist, also auf das, was die Phänomenologie alsLebenswelt bezeichnet. So erklärt sich Rösslers dezidiertes Interesse am Alltag.Das Verständnis der im Alltag gelebten Religion, bildet für die Praktische Theo-logie »eine wichtige Grundlage, die für alle Hinsichten des kirchlichen Han-

32 Alltag als Lebenswelt

20. Dieses Gesetz kultureller Bildungen wird nach Ernst Cassirer im Religiösen dadurchgesteigert, dass es Religion mit absoluten Entscheidungen zu tun hat, mit dem Ewigen,das gleichwohl diesem »unaufhaltsamen Rhythmus des Lebens« von Figuration undTransfiguration, von objektiven Satzungen und individueller Aneignung nicht ent-zogen ist (vgl. E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften, 1942/41991, 124).

21. Dagegen hat bei W. Gräb und H. Luther die Erfahrung von Kontingenz konstitutivenCharakter für den Zugang zur religiösen Dimension (vgl. W. Gräb, Lebensgeschichten,1998, 58 f. und H. Luther, Religion und Alltag, 1992, 56 ff. [= RuA]).

22. Vgl. D. Rössler, VdR, 53.

delns von Bedeutung ist«23. Um Rösslers These von der Differenz und Uner-schöpflichkeit der gelebten Religion gegenüber der manifesten Religion zu stüt-zen, würde sich ein phänomenologischer Zugang zum Alltag als Lebensweltempfehlen. Umso mehr erstaunen Rösslers Vorbehalte gegenüber der Phäno-menologie. Sie verdanken sich allerdings einem sehr eingeschränkten Verständ-nis der religionsphänomenologischen Schule. Denn diese macht nach Rössler»in der Regel besondere und hervorgehobene Ereignisse des Religiösen zumGegenstand«24. Damit kommt die phänomenologische Deskription von Religi-on auf Seiten der manifesten Religion zu stehen, nicht aber auf Seiten der ge-lebten Religion, deren Eigensinn an den Phänomenen gerade nicht erfasst wer-den kann. Für eine Theorie der gelebten Religion bleibt nach Rössler deshalbnur die funktionale Analyse. Die funktionale Religionstheorie läuft aber Gefahr,die Phänomene aus den spezifischen Horizonten der handelnden Akteure he-rauszulösen und sie in eine Eindeutigkeit und Allgemeinheit zu überführen, dieder Mehrdeutigkeit der gelebten Religion entgegensteht.Wird die Phänomenologie, wie bei Rössler, eingeschränkt auf die Beschreibungund Deutung von sichtbaren Objekten, dann kommt nicht in den Blick, dass esder Phänomenologie – zumindest in der Tradition Husserls, Heideggers undMerleau-Pontys – um die Analyse und Wahrnehmung von Sinnhorizontengeht, in denen etwas nur erscheint, wenn anderes ausgeblendet bleibt. In Hin-sicht auf das Verhältnis von Gegenstand und Gegebenheitsweise geht es auchder Phänomenologie um die Frage nach dem Gegebensein von Welt25, die nachRössler den Kern der Religion als einem vorgängigen Allgemeinen der Kulturdarstellt. »Religion steht am Anfang des Verhältnisses zwischen dem Individu-um und der Gesellschaft – Religion ist dieses Verhältnis in seiner Ursprünglich-keit«26.In phänomenologischer Sicht ist allerdings das Gegebensein von Welt kein vor-gängiges Allgemeines, sondern ein Vor- und Mitgegebenes, das in der jeweiligen

Alltag und die Vernunft der Religion bei Dietrich Rössler 33

23. D. Rössler, GPT, 69.24. A. a. O., 68.25. Was an der Lebenswelt wesentlich Welt ist, macht nach Hans Blumenberg die Diffe-

renz von Welt-Haben und In-der-Welt-Sein geltend. Welt-Haben ist nicht das, was inihr der Fall ist, sondern das, was unsichtbar bleiben muss, damit Sachverhalte bestehen,also die Gegebenheit von Welt, die nicht selber Gegenstand der Weltwahrnehmung ist(vgl. H. Blumenberg, Höhlenausgänge, 1989, 168). Das In-der-Welt-sein ist eine Ka-tegorie, die M. Heidegger als Grundverfassung des Daseins analysiert (M. Hei-degger, Sein und Zeit, 151979, 52-62). Ph. Stoellger verfolgt »den Ursprung vonBlumenbergs ursprünglicher Einsicht in die irreduzible Unbegrifflichkeit […] in Hei-deggers vorprädikativer Unverborgenheit des Grundes« (Ph. Stoellger, Metapherund Lebenswelt, 2000, 26).

26. D. Rössler, VdR, 65.

Sinnschöpfung in Anspruch genommen wird, ohne eigens thematisch zu wer-den. Rösslers Vorbehalte gegenüber der Phänomenologie haben also ihrensachlichen Grund darin, dass es ihm bei der gelebten Religion um ein Primäres,ein ursprüngliches Verhältnis zu tun ist, das nicht nur allen Manifestationen desReligiösen, sondern der Kultur insgesamt zugrunde liegt. Dieses Interesse aneinem allgemeinen Begriff der Religion verträgt sich nicht mit der phänomeno-logischen Deskription von Sinnerfahrung in Sinnhorizonten, in denen das Ge-gebensein von Welt nur pragmatisch als das erschlossen werden kann, was inder jeweiligen Deutung von Welt als Perspektive in Anspruch genommen wird.Eine konsistente Erklärung der gelebten Religion erwartet Rössler daher nichtvon der Phänomenologie, sondern von der Religionssoziologie27.Die Erklärungsleistung der Religionssoziologie ist unbestritten. Wird sie aber inAnschlag gebracht, um die gelebte Religion vermeintlich zureichend zu bestim-men, dann stellt sich die Frage, ob die soziologische Theorie, gegen die Intenti-on Rösslers, nicht die Mehrdeutigkeit gelebter Religion zu eliminieren droht.Denn die »Beharrlichkeit« gelebter Religion, ihr Charakter des Selbstverständ-lichen, stellt sich für die kritische Sozialtheorie nur als konservativer roll-backdar. Die Bezugnahme auf Lebenswelt als Welt, deren einziges definitorischesMerkmal ist, selbstverständlich zu sein und keiner Gründe zu bedürfen, dieweder »chronologisch noch soziologisch zu lokalisieren«28 ist, wird aus Sichtder kritischen Handlungstheorie nur als Versuch verstanden, die kritische Re-flexion der Bedingungen von Handlungen zu unterlaufen und der unvermeid-baren Rationalisierung der Lebenswelt durch den Rückgriff auf eine vorkriti-sche »Stätte der Tradition oder ›dumpfer Sitte‹ oder gar eines ›verlorenenParadieses‹«29 zu begegnen.

2.5 Gelebte Religion als Ressource

Mit welcher Schwierigkeit sich Rösslers Ansatz konfrontiert sieht, die Mehrdeu-tigkeit der Religion in einem apriorischen Allgemeinen zu fundieren, zeigt sichim Vergleich mit dem Lebensweltbegriff der kritischen Handlungstheorie. DerBezug von Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns30 auf die Lebens-

34 Alltag als Lebenswelt

27. Vgl. D. Rössler, GPT, 68 ff.28. H. Blumenberg, LzWz, 350.29. P. Kiwitz, Lebenswelt und Lebenskunst, 1986, 95.30. J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., 1995. Habermas’ Stel-

lung zur Religion im Rahmen seiner gesamten Denkentwicklung stellt H. Düringerdar. Dabei zeigt sich, dass Habermas in seinem späteren nachmetaphysischen Denkender Religion einen unaufgebbaren semantischen Gehalt zumisst, der durch philosophi-sche Sprache nicht einfach zu ersetzen und zu verdrängen ist, während in einem frühen

welt ist von der Art, dass sie die Lebenswelt als einen Untergrund an fraglosemWissen behandelt, in dem die kommunikativen Bezüge eingebettet sind, ohnedass diesem Untergrund die apriorische Allgemeinheit eines unhintergehbarenFundaments zukommt. Lebensweltliches Wissen hat zwar den paradoxen Cha-rakter des Selbstverständlichen. Es vermittelt »darum das Gefühl absoluter Ge-wissheit, weil man nicht von ihm weiß«31. Aber so wenig die lebensweltlicheSelbstverständlichkeit einfach reflexiv zu thematisieren ist – darin stimmt Ha-bermas mit Rössler offensichtlich überein –, so wenig ist deren Beharrlichkeit,mit der sie kritische Anfragen abwehrt, von auf Dauer.Es bedarf nach Habermas der krisenartigen Zuspitzung, damit das alltäglicheGehäuse fraglosen Wissens zerfällt. Dann aber gilt, dass lebensweltliche Selbst-verständlichkeit tendenziell in kommunikative Selbstverständigung überführtwerden kann und muss. Sofern sich unter der Bedingung von kommunikativerVernunft lebensweltliche Selbstverständlichkeiten erhalten, richtet sich gegensie der Verdacht, dass sie sich gegen die legitime Transformation in rationaleGehalte der kommunikativen Vernunft immunisierten. Das betrifft auch Ha-bermas’ Verhältnis gegenüber gelebter Religion. Religion wird durch kom-munikative Vernunft nur solange nicht ersetzt, bis sie in der Lage ist, die reli-giösen Gehalte vernünftig zu rekonstruieren: »Solange die religiöse Spracheinspirierende, ja unaufgebbare semantische Gehalte mit sich führt, die sich derAusdruckskraft einer philosophischen Sprache (vorerst?) entziehen und derÜbersetzung in begründende Diskurse noch harren, wird Philosophie auch inihrer nachmetaphysischen Gestalt Religion weder ersetzen noch verdrängenkönnen«32.In Habermas’ Perspektive ist Rösslers Differenz von gelebter und gedeuteterReligion deshalb nicht unhintergehbar, sondern nur vorläufig. Rösslers Thesevon der Vernunft der Religion kommt dem Versuch gleich, die Immunisierunggelebter Religion gegen ihre rationale Transformation zu rationalisieren undauf Dauer zu stellen. Gelebte Religion stellt dagegen für Habermas eine Res-source dar, die erschöpfend behandelt werden kann und muss, und die im Zugeihrer kritischen Befragung den Charakter der Selbstverständlichkeit verliertund zerfällt. Auf lange Sicht wird das rationale Potenzial gelebter Religion in

Alltag und die Vernunft der Religion bei Dietrich Rössler 35

Stadium die Religion vollständig in kommunikative Vernunft transformiert werdenkann (vgl. H. Düringer, Universale Vernunft und partikularer Glaube, 1999, 14-23).Was allerdings die frühe mit der späten Auffassung verbindet, ist die Tatsache, dassReligion eine Variante von Habermas’ Wahrnehmung von Lebenswelt ist, die eine,wenn auch in einem späten Stadium seines Denkens nicht mehr vollständig auf Verlustberechnete Ressource für die kommunikative Vernunft darstellt (vgl. M. Moxter, KaL,295).

31. J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, 1995, 205.32. J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, 1988, 60.

begründete Diskurse überführt. Die inspirierenden Gehalte gelebter Religionwerden in der kommunikativen Vernunft aufgehoben und bewahrt.

2.6 Die Horizonthaftigkeit gelebter Religion

Anders stellt sich das Problem freilich dar, wenn sich zeigen lässt, dass der Alltagein Netzwerk mitgegebener Horizonte darstellt, das im Handeln selbstverständ-lich in Anspruch genommen wird. In solche mitlaufende Horizonte bleibt dasHandeln eingebettet, weil die selbstverständlichen Voraussetzungen des Han-delns nie vollständig in Selbstverständigung überführt werden können. Der All-tag, im Sinn von Lebenswelt, hat daher nicht den Charakter einer Gewissheit.Phänomenologisch ist Alltag ist kein primäres Fundament, sondern ein Verwei-sungszusammenhang vor- und mitgegebener Horizonte, die nicht fundamen-tal, aber unhintergehbar sind für jede manifeste Form des Religiösen.Jede Situation, in der gehandelt werden muss, vollzieht sich vor einem Hinter-grund fragloser Vertrautheiten, ohne den nicht gehandelt werden kann. Fraglosist aber nicht nur die primäre Bedürftigkeit des Menschen, die der Deutung alsallgemeiner Begriff von Religion zugrundeliegt und die sich als Schöpfungs-wirklichkeit des Menschen interpretieren lässt. Fraglos ist auch das, was im Au-genblick nicht hinterfragt werden kann, weil es gebraucht wird, um Welt zudeuten. Gelebte Religion ist in diesem pragmatischen Sinn »kein positiver In-begriff unhintergehbarer Sinn- oder Geltungsvoraussetzungen, sondern nur einAusdruck dafür, dass eine Handlungssituation nicht beliebig viele Rückfragenzulässt«33.Offensichtlich ist es gerade die von Rössler abgelehnte Phänomenologie, dieseinem Interesse entgegenkommt, Religion als Inbegriff individueller Freiheitzu behaupten. Als mitgegebener Horizont geht die gelebte Religion nicht inihren manifesten Deutungen auf. Vielmehr geschieht jede Deutung vor einemimpliziten Hintergrund von bereits Gedeutetem, der als das, was abgeschirmtwerden muss, damit etwas erscheint, in jeder Deutung als Sinnüberschuss mit-gegeben ist.Gelebte Religion kann aber dann nicht mehr als ein vorgängig Allgemeines be-griffen werden, das allen pluralen Manifestationen des Religiösen zugrundeliegt. Das Verhältnis von gelebter und manifester Religion ist dann vielmehreine bestimmte Weise mit der Horizonthaftigkeit kultureller Sinnschöpfungumzugehen und Religion im Ineinander von »Formaufbau und Formzerstö-rung«34 zu fokussieren. Erst als mitgegebener Horizont von Deutungen stellt

36 Alltag als Lebenswelt

33. M. Moxter, KaL, 296.34. Das Grundverhältnis, das Ernst Cassirer am Beispiel der Sprache erläutert, nämlich

der Alltag als Lebenswelt die Gegenposition35 zum Anspruch der Wissenschaftdar, die Welt der Erfahrung aus letzten Gründen vollständig durchsichtig ma-chen zu können. Es sind die »rückwärtigen Verbindungen zur Lebenswelt«36,die jeder Theorie anhaften, die von der Phänomenologie thematisiert werden.Ein phänomenologischer Begriff der alltäglichen Lebenswelt ist daher auch eineGegenposition zu Rösslers Ansatz, gelebte Religion als apriorische Vorausset-zung kultureller Deutungsleistungen zu behaupten. Das schließt nicht aus, dassgerade die phänomenologische Analyse von Sinnhorizonten die theoretischenMittel zur Verfügung stellt, den Zusammenhang und die Differenz von gelebterund manifester Religion zu erhellen, die für Rösslers Religionstheorie zentralsind.Rösslers These von Religion als Inbegriff individueller Freiheit lässt sich so erstin einer phänomenologischen Wahrnehmung der Religion im Alltag als Le-benswelt gegen die Tendenz zur Neutralisierung religiöser Erfahrung in derHandlungstheorie oder funktionalen Religionstheorie sichern. Damit wirdnicht behauptet, dass die Praktische Theologie als Theorie der Christentum-spraxis ausschließlich über eine phänomenologische Theorie der Wahrneh-mung aufzubauen ist. Aber die phänomenologische Wahrnehmung der geleb-ten Religion stellt ein Korrektiv dar, um der differenzierten Gestalt desReligionsthemas in der Neuzeit angemessen Rechnung zu tragen.

Alltag und die Vernunft der Religion bei Dietrich Rössler 37

die Polarität, dass symbolische Formen »formzerstörend und formaufbauend in einemsind«, ist auch in den »höchsten religiösen Konzeptionen gegeben«, und zwar darin,dass »sie, in ein und demselben geistigen Akt, diese Bindung [an die symbolischeForm] eingehen und sie zugleich überwinden« (E. Cassirer, Nachgelassene Manu-skripte und Texte, 1995, 19; Zusatz in eckiger Klammer von mir). Ähnlich äußert sichPaul Tillich zur symbolischen Darstellung des Religiösen, welche nicht nur »das Un-bedingte ausdrückt, sondern auch den Mangel an Unbedingtheit« (P. Tillich, Dyna-mics of Faith, 1957, 276).

35. Die Tendenz von Seiten der Theorie des kommunikativen Handelns, religiöse Erfah-rung zu verbrauchen, steht nach Jürgen Habermas die Gefahr von Seiten der funk-tionalen Theorie der Religion gegenüber, die religiösen Gehalte zu neutralisieren (vgl.J. Habermas, Texte und Kontexte, 21991, 141 ff.; Habermas’ Kritik an N. Luhmannsfunktionalem Religionsbegriff findet sich a. a. O., 147).

36. H. Blumenberg, Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit, 1979, 77.

3. Lebenswelt und die Einheit der PraktischenTheologie in der Rechtfertigungslehre beiWilhelm Gräb und Dietrich Korsch

3.1 Charakterisierung der Fragestellung

Für die Frage nach der Bedeutung des Alltags verspricht der Ansatz, den derpraktische Theologe Wilhelm Gräb und der systematische Theologe DietrichKorsch1 vorgelegt haben, besonders aufschlussreich zu sein. Denn ihr Ansatzbeansprucht, die ausdifferenzierte Methodendebatte in der Praktischen Theo-logie nach deren empirischer Wende auf eine einheitliche und wohlbegründeteBasis zu stellen.Ausgangspunkt der Klärung von Selbstverständnis und Praxisbegriff diesertheologischen Disziplin ist für das Autorenduo Gräb und Korsch die Diagnose,dass Hinwendung zur Empirie und Abkehr von dogmatischen Vorgaben zwarden »Gegenwartsbezug« der Praktischen Theologie eingeschärft haben, zu-gleich aber der Gegenwartsbezug die theologische Reflexion eigentümlich un-berührt lässt: »Theologische Grundlagenbesinnung und […] Handlungswissenfallen auseinander«2. Diese Divergenz von Theorie und Praxis kann nun keines-falls durch eine äußerliche theologische Bestimmung praktischer Handlungs-vollzüge zum Verschwinden gebracht werden. Eine solche theologische Nor-mierung oder Legitimierung der religiösen Praxis würde auf die überwundeneAuffassung von Praktischer Theologie als einer Anwendungswissenschaft zu-rückfallen. Dagegen soll die Vermittlung von theologischer Theorie und religiö-ser Praxis das Reflexionsniveau nicht unterschreiten, das dieses Problem in derEntfaltung des neuzeitlichen Christentums erreicht hat. Denn für das neuzeit-liche Christentum ist charakteristisch, dass jede theologische Reflexion religiö-ser Praxis selber schon Teil der Praxis ist, die sie reflektiert. Soll also die theo-logische Reflexion der »intentional-subjekthaften« Praxis gelebter Religionnicht äußerlich sein, bedarf es eines Theorietypus, der sich als Teil eben dieserPraxis ausweisen kann. Es muss folglich eine praktisch-theologische Theoriesein, welche die Form einer »Selbstaufklärung von Praxis« annimmt.

1. W. Gräb u. D. Korsch, Selbsttätiger Glaube. Die Einheit der Praktischen Theologie inder Rechtfertigungslehre, Neukirchen-Vluyn, 1985.

2. A. a. O., 9.

3.2 Kritik an der Mehrdeutigkeit von Religion

Gräb und Korsch bewegen sich mit diesem Projekt in dem Horizont, den Röss-ler für die Klärung des Selbstverständnisses der Praktischen Theologie angibt,dass in der historischen Perspektive der neuzeitlichen Christentumsgeschichtedie religiöse Praxis der theoretischen Deutung vorausgeht.Eine signifikante Differenz zu Rössler ergibt sich allerdings im Blick auf dessenBehauptung, dass gelebte Religion und theoretische Deutung prinzipiell nichtmehr zur Deckung zu bringen seien. Denn Gräb und Korsch ist es entscheidenddarum zu tun, eine Grundlegung religiöser Praxis zu leisten, die in der Recht-fertigungslehre als einer Konstitutionstheorie freiheitlicher Subjektivität »dasEnsemble der geschichtlichen Lebenswelt des Christentums«3 durchsichtigmacht, und zwar hinsichtlich des Grundes dieser Praxis, wie auch hinsichtlichder Folgen, die aus einer so begründeten Freiheit als christliche Handlungsvoll-züge erwachsen. Der Alltag wäre dann nicht mehr eine bloße Gegebenheit, son-dern die in den Vollzug von Freiheit eingeholte empirisch-endliche Bedingungvon Freiheit. Die Aufhebung der endlichen Bedingungen von Freiheit in derenVollzug kann aber nichts sein, was diesen Vollzugsformen äußerlich ist. Viel-mehr wird in der Rechtfertigung des Sünders die endliche Freiheit sich ihrerselber ansichtig, so dass der Mensch in der Unterscheidung von Glaube undWerk den inneren Grund seiner Freiheit entdeckt.Die Pointe von Rösslers Religionsbegriff, die Bedingung der neuzeitlichen Frei-heit in einer unhintergehbaren Mehrdeutigkeit religiöser Deutungen und Le-bensstile zu suchen, verfällt deshalb in der Sicht von Gräb und Korsch der Kri-tik. Mit der phänomenalen Mehrdeutigkeit des Religiösen kann sich diesesProgramm der theologischen Selbstaufklärung religiöser Praxis schon deshalbnicht zufrieden geben, weil in dieser Unbestimmtheit der empirischen Voraus-setzungen die Gefahr droht, dass auch die »vagen Leitannahmen über ihre reli-giöse Verfasstheit«4 die Vollzugsweise eines selbsttätigen Glaubens unbestimmtsein lassen. Dahinter steht die Vorstellung, dass ein selbsttätiger Glaube nurdann vollzogen werden könne, wenn er die Praxis, die ihm vorausliegt, alsodie empirischen Bedingungen individuell-sozialer Subjekte, als »seine Selbst-voraussetzung in ihrem Zustandekommen zu explizieren vermag«5. Nur dann,wenn also die geschichtliche Grundlage des Glaubens hinsichtlich ihres Grun-des und der daraus bestimmten Vollzugsweisen beschreibbar wird, ist die »em-pirische Operationsbasis« nicht mehr nur eine »bloße Gegebenheit«, sondern

Lebenswelt und die Einheit der Praktischen Theologie 39

3. A. a. O., 38.4. Ebenda.5. Ebenda.

eine – in ihrem Grund begriffene – Selbstvoraussetzung des selbsttätigen Glau-bens.Deshalb ist das, was Rössler als neuzeitliche Vernunft der Religion versteht,nämlich die Einsicht in eine »phänomenale Mehrdeutigkeit religiöser Praxis«,die sich einer reflexiven Vergegenwärtigung entzieht, für Gräb und Korsch nurdie »kontrollierte Sistierung der Selbstreflexion religiöser Praxis«6. Genau diean Rössler monierte »Sistierung der Selbstreflexion religiöser Praxis« bringtnun aber eine phänomenale Einsicht zur Geltung, die geeignet ist, den Typuseiner einförmigen Rationalität zu relativieren, welche die gesamte Erfahrungs-wirklichkeit aus dem Problem der Konstitution handlungsfähiger Subjekte be-greifen will. Der lebensweltliche Bezug mutet der Praktischen Theologie offen-bar eine Ambivalenz ihrer Phänomene zu, an deren Widerständigkeit dieVersuche, die alltäglichen Voraussetzungen der Selbstbesinnung reflexiv ein-zuholen, beständig abprallen7.Die von Rössler kategorial gefasste Mehrdeutigkeit der religiösen Praxis hat mitder Wahrnehmung zu tun, dass Handlungen in ein Umfeld von selbstverständ-lichen Voraussetzungen eingebettet sind, die sich nie vollständig thematisierenlassen, und zwar deshalb, weil es sich um Voraussetzungen im Sinn von Mit-gegebenem handelt. Das Selbstverständliche ist Hintergrund, nicht nur Vor-gegebenes, sondern auch Mitgegebenes, das sich immer im Rücken jeder The-matisierung von selbstverständlichen Handlungsbedingungen von Neuemeinstellt. Der Versuch, diesen blinden Fleck reflexiv einzuholen, führt folglichzu immer neuen blinden Flecken. Nicht nur die reflexive Selbstbegründung vonSubjektivität, schon die reflexive Rekonstruktion der intentional-subjekthaftenLebenswelt ist deshalb mit einer nicht zu tilgenden Uneinholbarkeit konfron-tiert. In diesem Sinn ist, anders als bei Habermas, das Lebensweltkonzept gera-de nicht fugenlos in kommunikative Vernunft und rationales Handeln zu über-führen8.

40 Alltag als Lebenswelt

6. A. a. O., 71.7. Im Verhältnis zur Lebenswelt wiederholt sich deshalb die klassische Aporie einer Theo-

rie des Selbstbewusstseins, dass der Akteur von Freiheit nicht in den Rücken seinerselbst gelangen kann, folglich das Sich-selbst-Setzen sich entzogen ist. Dieter Hen-rich hat diese Aporie einer Theorie des Selbstbewusstseins bei Fichte analysiert (vgl.D. Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, 1967).

8. Vgl. W. Gräb u. D. Korsch, Selbsttätiger Glaube, 1985, 77.

3.3 Konstitution von Subjektivität stattphänomenaler Lebenswelt

Die Dominanz des Handlungsbegriffs über die Lebenswelt führt bei Habermaszu einer Auszehrung der materialen und leibhaften Bedingungen von Handeln.An diesem Verlust partizipiert natürlich auch eine theologische Handlungs-theorie, die ihre theologische Bestimmtheit aus einer Steigerung des Reflexions-niveaus einer sozialwissenschaftlichen Theorie des Handelns gewinnt. Um dieThese vom Vorrang der Handlung gegenüber der Lebenswelt zu sichern, ver-lagern Gräb und Korsch das Problemniveau dahingehend, dass nur die Klärungder Konstitution von Subjektivität letztlich den Vorrang selbstbewussten Han-delns vor dem lebensweltlich eingespielten Sinn sicherstellen kann. Der blindeFleck, den die theologische Handlungstheorie an ihrem sozialwissenschaftli-chen Gegenüber wahrnimmt, ist deshalb nicht die einlinige Auffassung von Le-benswelt, die im Sinne eines vorgängigen Wissens in reflexive Bestimmungtransformiert wird, sondern das Konstitutionsproblem von Subjektivität: »DieReflexion des Handlungsbegriffs führt auf die Konstitutionsfrage«9. Genau zudiesem Zweck setzen Gräb und Korsch bei der Rechtfertigungslehre ein, die dasaporetische, aber deshalb nicht unerhebliche Problem der Selbstbegründungvon Selbstbewusstsein im Medium von Gesetz und Evangelium thematisiert.Das Interesse, das für die von Gräb und Korsch intendierte Selbstaufklärungreligiöser Praxis ausschlaggebend ist, nämlich die geschichtliche Lebensweltdes Christentums hinsichtlich des Grundes dieser Praxis durchsichtig zu ma-chen, dominiert ihren Blick auf die Einbettung des Christentums in Horizontekultureller Vorvertrautheiten auf eine Weise, dass diese nur als negative Bedin-gung einer Freiheit begriffen wird, die in dem, was ist, erst noch werden muss.Die Thematisierung von Kultur im Sinne einer Voraussetzung, die in den Voll-zug von Freiheit aufgehoben werden soll, ist signifikant für das Programm einerkonstitutionstheoretischen Selbstaufklärung religiöser Praxis, die sich aus demProblem der Selbstbegründung von Subjektivität speist. Kultur wird verstandenals ein unmittelbares »Sich-Wissen« von Praxis, dessen Selbstverständlichkeitim theoretischen Zugriff der Reflexion zerfällt und zerfallen muss. Unverzicht-bar ist zwar der inhaltliche und thematische Bezug auf »die gegebene Lebens-welt des Christentums, in der sich das kirchliche Handeln in unauflöslichemVerflechtungszusammenhang mit religiöser, politischer und gesellschaftlicherPraxis findet«10. Unverzichtbar ist ebenfalls der Bezug auf soziologische undpsychologische Theorien, die diesen Verflechtungszusammenhang kritisch re-flektieren. Aber weder deren Ergebnisse noch die gegebenen Lebenswelten kön-

Lebenswelt und die Einheit der Praktischen Theologie 41

9. A. a. O., 81.10. A. a. O., 92.

nen »unbesehen« übernommen werden, sondern bedürfen einer kritischen Re-konstruktion im Lichte der Subjektivitätsstruktur, die von der Rechtfertigungs-lehre entfaltet wird.Das konstruktive Verfahren, das diese Aufgabe leisten soll, ist deshalb von derArt einer Konfrontation. Die Subjekte, die in der Auslegung der Lebenswelt, dieihnen vorgegeben ist, auf Selbstbegründung aus sind – sie stehen hier für den»alten Menschen« – werden mit einer Auslegung konfrontiert, die ihnen alsäußeres Wort den externen Grund ihrer Handlungsfähigkeit anbietet. In dieserFassung von Gesetz und Evangelium kommt das Neue durch »Unterbre-chung«11 des Alten zustande, allerdings so, dass die Wahrheit des Evangeliumsnicht an der Selbsttätigkeit der Subjekte vorbei geschieht, sondern sich ihnenvon selbst erschließt. Es geht beim Evangelium um eine zwanglos überzeugendeWahrheit, auch wenn sie die verstellte Praxis unterbrechen muss, um als Befrei-ung zu einem unverstellten Handeln einzuleuchten. Damit dies gelingt, undweder die theologische Reflexion die Selbsttätigkeit der Subjekte äußerlich do-miniert, noch die Selbsttätigkeit sich gegen kritische Einwände immunisiert,bedarf es der Kunst der Mäeutik. Für Gräb und Korsch ist das die Aufgabe derPraktischen Theologie, die religiöse Praxis selbsttätiger Subjekte im Grundihrer Freiheit zwanglos zu vermitteln und zwar als Selbstaufklärung religiöserPraxis.

3.4 Selbstauszehrung der Vernunft

Werden das Selbstverständnis und der Gegenstand der Praktischen Theologiein diesem Sinn begriffen, dann partizipiert Praktische Theologie aber auch andem, was Waldenfels die »Selbstauszehrung der Vernunft«12 bezeichnet hat.Denn Welt ist in der Perspektive von Gräb und Korsch der Inbegriff der Bedin-gungen, die im Vollzug von Freiheit aufgehoben und subjektiviert werden.Schöpfung, so könnte man folglich sagen, ist das Ergebnis der Realisierungvon Freiheit, nicht aber deren entlastender Hintergrund. Genau die schöp-fungstheologische Perspektive, dass der Mensch sich in einer Welt vorfindet,für die er nicht einzustehen braucht, hängt aber an einer phänomenologischenFassung des Lebensweltthemas. Denn dieses besagt, dass die lebensweltlicheVertrautheit, die Selbstverständlichkeit der lebensweltlichen Orientierung,nicht einfach eine Gegebenheit ist, auf die sich die theologische Reflexion inKontrast oder Unterbrechung beziehen könnte, sondern dass jede selbstver-ständliche Vertrautheit auf andere Horizonte verwiesen ist. Was also Gräb und

42 Alltag als Lebenswelt

11. A. a. O., 93.12. B. Waldenfels, In den Netzen der Lebenswelt, 21994, 122.

Korsch als klassische Aporie der Selbstbegründung von Subjektivität im Medi-um von Gesetz und Evangelium thematisieren, zeigt sich bereits am Ort desWeltumgangs als Verweisstruktur lebensweltlicher Selbstverständlichkeiten.Jede Vertrautheit verweist auf einen Hintergrund anderer, gleichsam sedimen-tierter Vertrautheiten – auf ein Mehr an Deutung, das jede konkrete Deutungüberschreitet.Damit soll nicht die Phänomenologie der Lebenswelt als einzig mögliche Per-spektive ausgezeichnet werden, um Alltag in theologischer Hinsicht zu thema-tisieren. Aber offenbar ist die phänomenologische Analyse der Lebenswelt fürdie Aufklärung des Praxisbegriffs der Praktischen Theologie hilfreich, weil sieden Bezug auf Alltag und kulturell vermittelte religiöse Praxis nicht auf eineVorbedingung der Konstitution von Subjektivität reduziert. Alltag als Lebens-welt zu begreifen, heißt demgegenüber nach der Bedeutung der Differenz vonGesetz und Evangelium für die Darstellung von Sinn zu fragen.Die formale Eigenart des Glaubens, prinzipiell auf Entzogenes bezogen zu sein,betrifft daher nicht erst die Konstitution von Subjektivität, sondern bereits dielebensweltliche Einbettung des selbsttätigen Glaubens. Wird die Lebenswelt alsAlltag begriffen, d. h. im Wesentlichen als aufzuhebende Voraussetzung derSelbstbestimmung des Subjekts, dann ist die spezifische Widerständigkeit derLebenswelt ausgeblendet, an der die Versuche abprallen, die religiösen Vollzugs-weisen aus einer zugrunde liegenden Subjektstruktur vollständig durchsichtigzu machen. Gegen solche Rekonstruktion gelebter Religion wendet sich derHinweis, dass die Lebenswelt noch mehr und anderes meint, nämlich ein Mit-gegebenes der jeweiligen Deutungsperspektive, und die deshalb »den Anspruchapriorischer Konstitution der Erfahrungswirklichkeit in dem Maße abbaut, indem sie die Einbettung in kulturelle Vorgängigkeiten deskriptiv erfasst«13.Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, bezogen auf die unhintergeh-bare Horizonthaftigkeit der Lebenswelt, hätte dann einen grundlegenderenCharakter als bei Gräb und Korsch. Sie betrifft dann nicht erst die Konstituti-onsbedingungen von Subjektivität, sondern bereits die für diese Frage in An-spruch genommenen Hintergrundsorientierungen, also die Kontinuität lebens-weltlicher Selbstverständlichkeiten, die sich in der Dialektik von Formaufbauund Formzerstörung fortschreiben.Fokussiert man das Religiöse auf diesen Sachverhalt, dann besagt die Unter-scheidung von Gesetz und Evangelium, dass jede religiöse Lebendigkeit sich zueinem bestimmten Ausdruck vereinseitigen muss und damit in der Gefahrsteht, sich im Ergebnis abzusichern. Da aber jede Vereinseitigung in einemHorizont geschieht, der den religiösen Ausdruck auf anderes, auf das Fremdeim Eigenen bezogen sein lässt, charakterisiert das Evangelium die Überschrei-

Lebenswelt und die Einheit der Praktischen Theologie 43

13. M. Moxter, Kal, 281.

tung von Ausdruck zu Ausdruck, von Zeichen zu Zeichen, worin der Glaubeseine Lebendigkeit zeigt. In dieser Fassung bringt das den christlichen Glaubencharakterisierende Differenzbewusstsein die Einsicht zur Geltung, dass sich ge-gebenes Leben sich überschreitendes Leben ist. Diese immanente Transzendenz,eine Überschreitungstendenz, die das sich gegebene Leben nicht von außen er-reicht, sondern seine interne Dynamik ausmacht, kommt aber dann nicht inden Blick, wenn die »geschichtliche Lebenswelt des Christentums« nur eine»empirische Operationsbasis« darstellt, die »allererst hinsichtlich ihres Grundes[…] beschreibbar«14 werden muss. Die »Rückendeckung«, die das Leben er-träglich sein lässt, ist von der Art, dass es sich um die Form eines mitgegebenenHorizonts des Selbstverständlichen handelt. Auch wenn dann im Leben nichtalles durchsichtig wird, so kann doch die Arbeit15 an den Metaphern, die in denHorizonten der Lebenswelt eingelagert sind, einen Sinnüberschuss freisetzen,der die vertraute Welt des Alltags davor bewahrt in dumpfe Traditionen zu-rückzufallen.

44 Alltag als Lebenswelt

14. W. Gräb u. D. Korsch, Selbsttätiger Glaube, 1985, 38.15. Das Stichwort »Arbeit« charakterisiert nicht zufällig eines der Hauptwerke von Hans

Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M., 51990.

4. Religion und Alltag in der Praktischen Theologiedes Subjekts bei Henning Luther

4.1 Klärung des Interesses

Die Differenz von kirchlich institutionalisierter Religion und subjektiver Fröm-migkeit, von dogmatisch fixierter Lehre und gelebter Religion, die das neuzeit-liche Erscheinungsbild des Christentums charakterisiert, bestimmt auch denHorizont, in dem sich ein praktisch-theologischer Entwurf rekonstruieren lässt,der die lebensweltliche Verfasstheit von Religion zum Thema macht: die vonHenning Luther vorangetriebene Orientierung der Praktischen Theologie ameinzelnen Subjekt, die er unter dem Titel »Religion und Alltag«1 vorgestellt hat.H. Luther platziert das Thema Alltag – nach Religion und Subjekt – als drittenBaustein an den Schluss seiner Überlegungen zu einer Grundlegung der Prak-tischen Theologie, die er als eine Theorie der Individualisierung des Subjekts inseinen alltäglichen Bezügen entwirft. Obschon das Thema des Alltags auch dieReflexionsgänge bestimmt, die unter dem Titel »Religion und Subjekt« vor-gestellt werden, leuchtet die Reihenfolge von Religion, Subjekt und Alltag inso-fern ein, als Alltag das Ziel darstellt, auf das die Überlegungen zu Religion undSubjekt ausgerichtet sind und an dem sich diese im Testfall zu bewähren haben.Ob also die Aufgabe gelöst ist, das Religionsthema und den Subjektbegriff neuzu formulieren, muss sich daran zeigen, wie es der Theologie gelingt, ihr The-ma, den Bezug zur Transzendenz, im Alltag zu verorten. Dafür schlägt Lutherdie Formel vor, Transzendenz als dasjenige zu begreifen, »was im Alltag mehrals Alltag ist«2.Bewegt sich Luther mit dieser Praktischen Theologie des Subjekts noch im Rah-men der von Rössler programmatisch vertretenen Hinwendung zum Einzelnen,der Adressat und Bezugspunkt »aller Handlungen im Namen des Christen-tums«3 sein soll, so zeigt schon der Titel des Aufsatzbandes die Akzentverschie-bung, die Luther am Herzen liegt. Denn das von Rössler nur als Desiderat an-gemahnte »Verständnis des religiösen Alltags als einer wichtigen Grundlage, die

1. H. Luther, Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Sub-jekts, Stuttgart [= RuA], 1992.

2. A. a. O., 20.3. D. Rössler, GPT, 63.

für alle Hinsichten des kirchlichen Handelns von Bedeutung ist«4, bekommt beiLuther eine fundamentale Bedeutung. Nicht nur in dem Sinn, dass die Hinwen-dung zum Einzelnen die Konsequenz haben muss, den Einzelnen im Alltag, amOrt seines Weltumgangs, aufzusuchen. Der Alltag ist bei Luther auch in derHinsicht fundamental, dass die religiöse Bezugnahme an den Alltag gebundenbleibt, obschon sie nicht mit ihm identisch ist. Religion ist, obgleich in Distanz,immer Teil des Alltags, den sie kritisiert. Es gibt keine Hinter- oder Sonderwelt,auf die sich das religiöse Differenzbewusstsein beziehen könnte. Religion heißtnicht, »eine andere Welt zu haben, sondern die Welt anders zu sehen«5. DasInteresse Luthers, die »Lebensweltvergessenheit der Theologie«6 zu überwin-den, ermöglicht eine gegenläufige, mit und gegen Luther argumentierende Dar-stellung, die seine Orientierung am Alltag teilt, aber Alltag, anders als Luther,phänomenologisch als Lebenswelt interpretiert.

4.2 Kritische Reflexion des Alltags

Die lebensweltliche Orientierung steht bei Luther in einem spannungsvollenVerhältnis zu einer wissenschaftlichen Theologie, die zwar die conditio humanaerhellen will, dies aber, aufgrund der autopoetischen Struktur ihrer Theorie-anlage, nur unzureichend oder überhaupt nicht leistet. Unschwer lässt sich dieGegenposition, gegen die Luther seine Perspektive entwirft, mit Karl BarthsDogmatik identifizieren. Trotz emphatischer Betonung des Menschlichen be-ruht nach Luther die notorische Erfahrungsschwäche und Lebensferne jenerdogmatisch verfassten Theologie darauf, dass sie der Alltagspraxis keinen kon-stitutiven Rang für die eigene Theoriebildung beimisst. Das dominierende In-teresse an kohärenter Rekonstruktion dogmatischer Gehalte, der Vorrang vonWahrheitsfragen vor subjektiver Aneignung, soll zwar letztlich einen Bezug aufErfahrung stiften, doch driften bei diesem Ansatz faktisch kirchliche Lehre undsubjektive Religiosität immer weiter auseinander: »Vieles an der offiziellen Re-ligion lässt sich immer weniger mit den Erfahrungen der einzelnen Menschenzusammenbringen«7.Um diesen Erfahrungsbezug der Theologie geht es Luther. Das Programm rich-tet sich gegen die einseitige Rationalität dogmatischer Begriffsbildungen. Essind die Alltagserfahrungen, um die es geht, die »gelebte Religion«, um mitRössler zu sprechen, die Fragen und Probleme in verschiedenen Alltagswelten,

46 Alltag als Lebenswelt

4. A. a. O., 69.5. H. Luther, RuA, 29; vgl. H. Luther, a. a. O., 251.6. A. a. O., 18.7. A. a. O., 14.

die nicht bereits feststehen, sondern erst wahrgenommen und beschrieben wer-den müssen und sich deshalb vorgängigen Begriffen entziehen. An dieser Auf-gabe, die Phänomene vor einer dogmatistischen Rekonstruktion zu retten,scheitert ein Theologietypus, der sich als Reproduktion von Satzwahrheiten ge-neriert. Deshalb nötigt das Anliegen, die Lebensferne der Theologie zu behe-ben, zu einer anderen Art von Theologie. Sie soll nicht normative Begründun-gen liefern oder den Einheitskonsens der Gläubigen formulieren, sondern dieBedingungen erheben, unter denen die Gläubigen sich darüber verständigenkönnen, »was und wie zu glauben ist«8.Die Aufgabe der Reflexion, die kritische Klärung von Geltungsansprüchen,wird mit dieser veränderten Zielsetzung nicht aus dem Bereich der Theologieverbannt. Sie erfährt nur eine spezifische Ortsverlagerung. Nicht die »professio-nelle Elite«9, die Laien selber leisten die Reflexionsarbeit, und zwar am Ort undim Rahmen ihrer lebensweltlichen Praxis. Die von Luther charakterisierte »Lai-enperspektive« soll den Alltag vor dem Verdacht schützen, nur Reflexions-immunisierung zu sein. Die Alltagspraxis ist nicht nur bestimmt von un-kritischer Traditionsbindung und der Stabilisierung durch den Rekurs aufalltägliche Vertrautheiten. Die »Laien« artikulieren vielmehr das kritische Po-tenzial, das in die alltäglichen Vertrautheiten eingelagert ist und das sich gegen-läufig zum holistischen Charakter des Alltags verhält.Wie Gräb und Korsch entwirft auch Luther die Praktische Theologie als kriti-sche Theorie der gelebten Religionspraxis. Die theologische Reflexion alltägli-cher Erfahrungen soll nicht bei den dogmatischen Lehrbegriffen einsetzen, son-dern dem »Eigensinn der Alltagskommunikation gerecht werden« und die»virulenten und latenten Fragen, Widersprüche und kritischen Einsprüche auf-schlüsseln«10, die in diesen Alltag eingelagert sind.Was Luther mit dieser kritischen Reflexion des Alltags will, lässt sich allerdingsin doppelter Weise verstehen. Es kann sich um »›Kritik am Alltag‹ oder ›Alltagals Kritik‹«11 handeln. Während im ersten Fall der Alltag als abgeschlosseneGanzheit von einem Standpunkt auf der Grenze zum Alltag, so eine zentraleMetapher Luthers12, kritisch betrachtet wird, ist im anderen Fall die Kritikdem Alltag immanent. Die Selbstverständlichkeit, die den Alltag als eine Weltder Tradition auszeichnet, wäre dann nur ein Moment in einer inneren Dyna-

Religion und Alltag in der Praktischen Theologie des Subjekts 47

8. A. a. O., 13.9. A. a. O., 15.

10. A. a. O., 16.11. A. a. O., 188.12. Ausführlich thematisiert Henning Luther das Problem der Grenze in dem Abschnitt:

»›Grenze‹ als Thema und Problem der Praktischen Theologie. Überlegungen zum Re-ligionsverständnis« (H. Luther, RuA, 45-60).

mik, die auch die Kritik alltäglicher Gewohnheiten einschließt. Auf diese Dop-peldeutigkeit im Verhältnis von kritischer Reflexion und alltäglicher Erfahrungwird bei der Frage nach Luthers Religionsbegriff noch zurückzukommen sein.

4.3 Religiöses Differenzbewusstsein

Luthers Verständnis von Religion als »einer bezugnehmenden Differenz zurWelt«13 beruht auf einer Differenzierung von Welt und Alltagswelt. Alltagsweltwird von Luther als Inbegriff dessen verstanden, was der Fall ist, als ein stabilesIn-der-Welt-Sein, das sich bewegt in dem, was ist. Dieses In-der-Welt-Sein istnicht Gegenstand religiöser Fragen, denn »bei nicht-religiösen Fragen wird diefraglose Selbstverständlichkeit der Welt (und der Lebenswelt) vorausgesetzt.Religiöse Fragen dagegen gehen auf Distanz zur Welt insgesamt«14. Die religiöseDimension wird also erst erreicht in einem radikalen Differenzbewusstsein, ver-standen als Fraglichkeit. Religion artikuliert gegenüber der Alltagswelt fragloserSelbstverständlichkeiten einen prinzipiellen Abstand, nicht gegenüber einzel-nen Sachverhalten in der Welt, sondern gegenüber der Welt als solcher. Sie istnicht Affirmation, sondern Weltnegation zugunsten eines Fremden, einer an-deren Weltsicht, die an der bestehenden Alltagswelt nur als Versprechen einesmöglichen Andersseins aufscheint.Die Differenz zur Alltagswelt ist allerdings nur in der Welt artikulierbar. Es gibtkeinen »archimedischen Punkt« außerhalb. Und die Differenz zielt nicht aufeine Utopie, einer innerweltlich nicht mehr lokalisierbaren Gegenwelt, sondernauf eine andere Sicht der bestehenden Welt. Da diese andere Einstellung undSichtweise »immer nur vom In-der-Welt-Sein aus möglich ist«, ergibt sich da-raus der »prinzipiell paradoxe Vorgang«15, dass Religion einen Weltabstand inder Welt zugunsten einer anderen Sicht dieser Welt artikuliert.Mit der Unterscheidung von kritischem Weltabstand und In-der-Welt-Sein re-konstruiert Luther die phänomenologische Einsicht in die Differenz von Sinn-horizont und Sinnerfahrung, von Welt-Haben und In-der-Welt-Sein. WährendWelt-Haben kein Sachverhalt in der Welt ist, sondern derjenige Horizont, derunsichtbar bleiben muss, damit Sachverhalte bestehen, bezeichnet In-der-Welt-Sein alles, was in ihr der Fall ist16. Religion hat es folglich nach Luther mit deman den Sachverhalten nicht erschließbaren Sinnhorizont zu tun. Sie erschließteine bestimmte Sicht der Welt, die Brille, mit der wir sehen, aber die wir nicht

48 Alltag als Lebenswelt

13. A. a. O., 215.14. A. a. O., 25.15. Ebenda.16. Vgl. H. Blumenberg, Höhlenausgänge, 1989, 65.

selber sehen, wenn sie denn den Blick auf die Dinge erlauben und nicht verstel-len soll.An Luthers Sicht der Dinge irritiert zunächst, dass die Alltagswelt als solchenicht in die Dimension des Religiösen gehört. Zwar ist Religion als Grenzeund kritische Distanz zur Lebenswelt auf diese bezogen, aber sie selber ist inihrer Abgeschlossenheit, Stabilität und »holistischen Verfassung«17 geradezudas Gegenmodell zur religiösen Grenzerfahrung. In dieser einseitigen Konzen-tration auf das Gewohnheitsmäßige der Alltagswelt, das Kontingenz eindämmtund »vor zuviel Reflexivität schützt«18, sind die Veränderungsprozesse unterge-wichtet, denen die Alltagswelt nicht erst von außen ausgesetzt ist, sondern dieihre eigene Verfasstheit ausmacht. Dass sich gegebenes Leben sich überschrei-tendes Leben ist, diese immanente Transzendierungstendenz, kommt deshalbbei Luther nicht in den Blick19.Dem Wahrnehmungsdefizit, das sich damit im Ansatz von Luther auftut, ent-spricht auch ein Theoriedefizit. Luther führt den Religionsbegriff so ein, dassdieser das In-der-Welt-Sein fundiert. Die »extramundane Perspektive«20 derReligion ist zwar auf die vielfältigen Kontexte der Lebenswelt bezogen und gibtdiesen eine spezifische Einfärbung, eine andere Sicht der Wirklichkeit, aber diereligiöse Perspektive, die alle Kontexte modifiziert, ist selber kontextunabhän-gig. Luther begreift die religiöse Weltdistanz als einen Letzthorizont, der allem,was ist, zugrunde liegt, selber aber keine Voraussetzungen in der Lebenswelthat. In einer solchen transzendentalen Fassung des Religiösen wird unterschla-gen, dass auch das, was als radikales Novum in die vertraute Alltagswelt ein-bricht, vorgezeichnet ist durch einen Hintergrund an Selbstverständlichem.Auch wenn die religiöse Perspektive eine »eschatologische Perspektive«21 seinsoll, ist sie doch eingebettet in einen kulturellen Kontext. Luther hingegen siehtim Alltag nicht die Horizonthaftigkeit der Lebenswelt, sondern nur das in sichgeschlossene Gegenüber für die religiöse Grenzerfahrung. Die Immanenz desAlltags muss zerbrechen, damit die religiöse Sicht der Wirklichkeit greifenkann.Einem radikalen Religionsbegriff steht so bei Luther eine ebenso radikale Kul-turkritik zur Seite. Was schöpfungstheologisch als ein Gott verdanktes Lebenbeschrieben werden müsste, wird bei Luther im Zugriff des Menschen immerschon verdinglicht und zur Selbststabilisierung missbraucht.

Religion und Alltag in der Praktischen Theologie des Subjekts 49

17. H. Luther, RuA, 215.18. A. a. O., 53.19. Auch Heinz Streib stellt eine kritische Rückfrage, ob nämlich der Alltag in Luthers

Perspektive »nicht auf Kosten der ›Erdenschwere‹ gesehen ist« (H. Streib, Alltagsreli-gion oder: Wie religiös ist der Alltag?, 34).

20. H. Luther, RuA, 73.21. A. a. O., 216.

Es gibt aber keinen zwingenden Grund für die Annahme, dass eine solche kri-tische Sicht des Alltags als verdinglichter Immanenz den Sachverhalt außerKraft setzten könnte, dass der Alltag eine vorbereitete Welt ist, von der wir le-ben, ohne für sie aufkommen zu können und zu müssen. Denn selbst die radi-kale Kritik des Alltags steht im Horizont alltäglicher Vertrautheit, eines Mit-gemeinten, Mitimplizierten, das dem kritischen Blick entzogen bleibt. DieAlltagswelt ist deshalb nicht nur ein Ort der Abwehr und Abschottung gegendie Erfahrung von Transzendenz, sondern auch eine Rückendeckung, die selbstnoch der Kritik alltäglicher Dumpfheiten den Rücken freihält. Mit dieser Ein-sicht in die »prekär bleibende Balance«22 von Kritik und deren Eindämmung imAlltag als Lebenswelt steht und fällt die schöpfungstheologische Relevanz desAlltags. Ein wesentliches Defizit in der Theorieanlage Luthers liegt darin, denAlltag nicht phänomenologisch als Lebenswelt zu interpretieren und deshalbdie schöpfungstheologische Bedeutung des Alltags nicht würdigen zu können.Der einseitigen Sicht, dass Alltag der Ort ist, wo kritische Widersprüche ab-gewehrt und Fragen überhört werden, fallen auch die Differenzierungen zumOpfer, die Luther in einer Analyse der gängigen Alltagskonzepte beschreibt. Essind im Wesentlichen zwei Typen von Theorien, die nach Luther die Analysedes Alltags dominieren23. Mit dem Namen Habermas verbindet Luther ein Le-bensweltkonzept, das den Charakter der Abgeschlossenheit gegenüber kriti-scher Reflexion aufweist und das in schockartigen Ereignissen zerfallen muss,um in kommunikative Vernunft überführt zu werden. Der Alltag ist in dieserPerspektive eine Ressource, die in krisenartigen Zuspitzungen, in den Grenz-erfahrungen des Alltags wie Geburt, Liebe und Tod zugänglich wird, um sichim Zuge der vernünftigen Transformation ihrer Gehalte zu verbrauchen.Der kritischen Destruktion des Alltags bei Habermas steht in einem dezidiertphänomenologischen Konzept, wie es B. Waldenfels vorgelegt hat, die Lebens-welt gegenüber, die in sich gegliedert ist und innovative und konservative Mo-mente umfasst. Lebenswelt erscheint bei Waldenfels nicht als fester Widerstand,auf den der kritische Blick von außen trifft, sondern als ein Verweisungszusam-menhang alltäglicher Symbolwelten. Der Alltag ist deshalb bei Waldenfelscharakterisiert durch das Ineinander von Geregeltem und Ungeregeltem. DasAußergewöhnliche und Außeralltägliche ist die »ständige Kehrseite des Ordent-lichen und Geregelten«24. Diese Gegensätze sind also bei Waldenfels eine Ein-heit von gegenläufigen Momenten in der Lebenswelt und keine äußerliche

50 Alltag als Lebenswelt

22. M. Moxter (KaL 362; vgl. unten Kapitel V) bezieht sich mit dieser Formulierung aufAxel Honneth.

23. Vgl. a. a. O., 206 ff.24. B. Waldenfels, In den Netzen der Lebenswelt, 21994, 54.

Alternative, in der das Alltägliche der falschen religiösen Vertröstung, demAußeralltäglichen aber die wahre Religion zugeordnet werden könnte.Beiden skizzierten Typen ist aber aus Luthers Sicht gemeinsam, dass Alltag undLebenswelt in der Immanenz verbleibt. Auch Waldenfels’ Beschreibung einerinneren Tendenz der Lebenswelt, sich zu überschreiten, eine Art immanenterTranszendenz, die an die Lebenswelt weder von außen herangetragen wird,noch einfach aus ihr herausspringt, wird von Luther unter dem Stichwort derImmanenz verbucht. Die Momente alltäglicher Transzendierung verfallen einer»durch systematische Überfremdung verursachten Verdinglichung der Lebens-welt«25. Deshalb bedürfen die kritischen Momente, die in der Lebenswelt einge-lagert sind – und diese nimmt Luther an Waldenfels’ Ansatz durchaus wahr –der »extramundanen Perspektive«26 der Religion. Erst wenn Erfahrungen, dieam Rande des Alltags über diesen hinausweisen, religiös radikalisiert werdenund so die vertikale Transzendenz die »Abgeschlossenheit und Ausschließlich-keit der Horizontalen«27 aufbricht, hat das kritische Potenzial alltäglicher Erfah-rungen eine Chance, sich gegen die systemische Eigendynamik wirtschaftlicherund administrativer Instanzen, die den Alltag kolonialisieren, zur Geltung zubringen.An solchen Grenzerfahrungen knüpft deshalb das religiöse Differenzbewusst-sein an. Es artikuliert sie gegen eine auch religiöse Tendenz, solche kritischenMomente zu absorbieren und stillzustellen. Die extramundane Perspektive derReligion nimmt folglich im Alltag zwar ihren Ausgang, sie ist aber selber keinealltägliche Erfahrung. Alltag bezeichnet nur die Welt von Vertrautheiten, vondenen sich die religiöse Perspektive abstößt, nicht aber die Dimension an mit-gegebenen Selbstverständlichkeiten, die auch die radikale Kritik nicht hintersich lassen kann.Luther hat eine einseitige Sicht des Alltags. Alltag ist die Welt der Konventionen,die einer radikalen religiösen Kritik zugeführt werden muss. Die Welt fragloserVertrautheiten wird ausschließlich als Negativfolie der religiösen Bezugnahmegesehen, nicht aber, was sie zumindest auch ist, als Lebenswelt, deren vor- undmitgegebene Horizonte selbst noch das vorzeichnen, was wir im Sinne Luthersals Novum, als das Befremdliche einer anderen, religiösen Sicht der Welt, erfah-ren. Deutet man diesen Sachverhalt theologisch, so müsste man sagen, dassAlltag, so wie Luther ihn versteht, die Welt als Ort der Sünde, der Selbstbehaup-tung des Menschen und seiner Immunisierung gegenüber dem neuen Leben inChristus beschreibt. Dagegen bleibt die schöpfungstheologisch relevante Be-

Religion und Alltag in der Praktischen Theologie des Subjekts 51

25. H. Luther, RuA, 210.26. A. a. O., 73.27. Ebenda.

stimmung der Welt als ein Mitgegebenes in Luthers Auffassung von Alltag aus-geblendet.

4.4 Vertrautheit oder Kritik. Zur Dialektik der Grenze

Es gibt nun allerdings keinen theologischen Grund, den Alltag als Welt fragloserVertrautheit uneingeschränkt zu affirmieren. Die Immunisierung gegen dieTendenz zur Überschreitung des Alltäglichen gehört zum Alltag. Luthers kriti-schem Einwand ist an diesem Punkt durchaus zuzustimmen. Allerdings drängtsich der Verdacht auf, dass damit nur die halbe Wahrheit zum Zuge kommt28,und zwar sowohl für die Stabilisierung lebensweltlicher Vertrautheit als auchfür die religiöse Traditionsbildung. Dies soll im Folgenden belegt werden.Luthers Verständnis von Religion als kritischer Weltabstand führt zu einer Fa-vorisierung eines Begriffs von Alltag, dem die Religion als Erfahrung der Grenzegegenübersteht. Symptomatisch für diese Fassung des Religiösen als eines kon-textunabhängigen Letzthorizonts ist die Häufung von Sprengmetaphern, vonreligiösen Unterbrechungen, Aufbrüchen und Abbrüchen alltäglicher Vertraut-heit. Luthers Leitmetaphorik für die Religion orientiert sich deshalb nicht an»Trost, Halt, Geborgenheit, Heimat, Grund, Beruhigung, Gewissheit«, sondernan »Fremdsein, Heimatlosigkeit, Suche, Verunsicherung, Aufbruch, Unruhe«29.Die eigentliche Gefahr stellt die Routine des Alltags dar. Erschreckend ist eine»anhaltende Kontingenzlosigkeit« des Profanen, ein Schrecken, der ausgerech-net durch die »hereinbrechende Kontingenz«30 des Religiösen gebannt werdensoll. Sofern Religion auch eine stabilisierende, Kontingenz eindämmende Funk-tion hat, verfällt sie der Kritik. Zwar kann auch Religion auf Brüche durch reli-giöse Vertröstung reagieren, aber sie verspielt damit die eigentliche Dimensiondes Religiösen, das einen Widerspruch wachhalten und nicht beruhigen, einerNicht-Anpassung an die Welt zugunsten einer anderen Sicht der Welt das Wortreden soll31.

52 Alltag als Lebenswelt

28. Das Novum des Reiches Gottes unterbricht nicht nur den Alltag, sondern wird auchselber wieder alltäglich. Beides zusammen macht den besonderen Charakter derGleichniserzählungen Jesu aus, auch wenn an Luthers Unterbrechungsthese so vielrichtig ist, dass sich das Neue aus keiner Vorgegebenheit gleichsam von selber ergibt.Luther interpretiert zu Recht die Gleichnisse Jesu als »Lebenswahrheiten« und nichtals »Satzwahrheiten«, die bei der Alltagserfahrung behaften, aber so, dass sie »von denFesseln des Alltags befreien« (H. Luther, RuA, 216f.).

29. A. a. O., 19.30. A. a. O., 245.31. Bei Henning Luther gehören die Differenzmomente zur Religion: Das »›Nicht-Pas-

sen‹ ist die Ausgangserfahrung der Religion« (H. Luther, RuA, 26). Religion ist »dis-

Nun zeigt aber gerade eine Phänomenologie des Alltags als Lebenswelt, dass essich bei diesen Optionen nicht um voneinander getrennte, sich ausschließendePerspektiven handelt, sondern um eine Dynamik, die nicht von außen an dieLebenswelt herangetragen werden muss, sondern ihre eigene Verfasstheit aus-macht. Lebensweltlich ist Stabilität nicht ohne Labilität32, lebensweltliche Ver-trautheit nicht ohne Fremdheit zu haben, die als ausgeblendeter Hintergrunddes Vertrauten mitgegeben bleibt. Luthers Sicht der Dinge übersieht genau die-sen Zusammenhang von Versicherung und Entsicherung, die eine phänomeno-logische Analyse als Charakteristikum der Lebenswelt ausweist.Luthers Fassung des Religionsbegriffs als »einer bezugnehmenden Differenz zurWelt«33 ist deshalb durchgängig von einer Schwierigkeit belastet, die sich an-hand der zentralen Metapher der »Grenze«34 deutlich machen lässt, mit derLuther das Religiöse charakterisiert. Die Erfahrung der Grenze soll nämlichdas Bewusstsein vermitteln, »dass die eigene Welt nicht die einzige ist, dass an-dere Wirklichkeiten existieren«35. Diese andere Wirklichkeitserfahrung bestehtdarin, dass, wer »von jenseits der Grenze zurückkehrt, ein anderer geworden ist.Er sieht sich und seine Heimat mit neuen Augen«36. Mit der Grenze verbindetsich eine neue Sicht vertrauter Sachverhalte. Sie ist insofern eine Horizonterfah-rung, als das Vertraute einer neuen Sichtweise zugeführt wird, indem es ineinem anderen Horizont, einer anderen Weise der Hinsichtnahme, erscheint.Jede Hinsichtnahme lässt aber etwas nur als etwas erscheinen, indem es andereWeisen der Hinsichtnahme ausgrenzt. Es gehört zur Dialektik der Grenze, dassetwas nur wahrgenommen werden kann, indem anderes abgeblendet wird. DerHorizont begrenzt mein Wahrnehmungsfeld und verweist zugleich auf anderes,das über meinen Horizont geht. Diese Dialektik von Eingrenzen und Abgren-zen, oder in phänomenologischer Terminologie: von Präsenz und mitgegebenerAppräsenz, trägt der anthropologischen Grunderfahrung Rechnung, dass derMensch ein Wesen mit viel Rücken ist. In jeder Wahrnehmung bleibt etwas

Religion und Alltag in der Praktischen Theologie des Subjekts 53

tanzierender Kommentar zur Welt« (Ders., a. a. O., 216). Religion ist »Unterbrechungdes Alltags« (Ders., a. a. O., 215). Dagegen ist der in seiner Regelmäßigkeit und Routi-ne gesicherte Alltag das Erschreckende, dem durch eine hereinbrechende Kontingenzaufgeholfen werden muss (vgl. Ders, a. a. O., 245).

32. Nach Ph. Stoellger zeigt sich prägnant bei poetischen Metaphern »die in sich dialek-tische Dynamik der Labilisierung, die nicht ohne Stabilisierung im Verstehen auftritt,sonst wäre bloßes Unverständnis die Folge.« (Ph. Stoellger, Metapher und Lebens-welt, 2000, 203).

33. H. Luther, RuA, 215.34. A. a. O., 45 ff.35. A. a. O., 47.36. Ebenda.

unbemerkt im Rücken des Wahrnehmenden. Der Lichtkegel der Aufmerksam-keit wirft zugleich auch Schatten, indem er etwas als ein Bestimmtes erhellt.Wird nun wie bei Luther das Religiöse als radikale Differenz und eschatologi-scher Weltabstand auf der Grenze zum Alltag angesiedelt, dann hat das zur Fol-ge, dass die religiöse Unterbrechung des Alltags ihre eigenen alltäglichen Vo-raussetzungen nicht mehr wahrnimmt. Die religiöse Differenz zur Welt ist janicht nur auf einen bereits bestehenden Horizont des Vertrauten bezogen, densie unterbricht und verändert, sie hat als Kritik des Alltags einen Hintergrundan nicht thematisierten Selbstverständlichkeiten, auf den sie als ihr Mitgegebe-nes beständig rekurriert. Die »extramundane Perspektive« der Religion kanndeshalb nicht voraussetzungslos und kontextunabhängig das Neue nur alseschatologischen Einbruch in die Immanenz der vertrauten Weltwahrnehmungzur Geltung bringen. Die extramundane Perspektive der Religion ist immerauch eingebettet und kulturell codiert durch Annahmen im Hintergrund, dieder jeweiligen Kritik des Alltags entzogen bleiben. Alltag ist deshalb nicht nurdasjenige, was religiös kritisiert werden muss, Alltag ist zugleich dasjenige, wasdiese Kritik selbstverständlich in Anspruch nimmt.

4.5 Das Verhältnis zur religiösen Tradition

Die Doppeldeutigkeit der Alltagswelt, dass Vertrautheiten für die Kritik ein Vo-rausgesetztes, aber auch ein Mitgegebenes sind, betrifft auch die religiösen Tra-ditionen und Formen, die Luther unter dem Begriff der »objektiven Religion«37

fasst. Gemeint ist damit die manifeste Religion und gemeint sind Dogmen, Leh-ren, Riten und Kulte, in denen sich die subjektive Religiosität vergegenständ-licht. Gegenüber der objektiven Religion wird die subjektive Lebendigkeit alseigentliche Religion wahrgenommen, die sich gegenüber ihren objektiven For-men im Modus der Kritik äußert. Zwar bedarf die subjektive Seite der objekti-ven Religion für ihre Artikulation; jede Kritik vereinseitigt sich wieder zu einerobjektiven Form. Aber Luther kommt alles darauf an, das formkritische Poten-zial im Namen der subjektiven Religion zu stärken und zu betonen.In Beziehung auf die eigene Tradition ist subjektive Religion für Luther deshalbwesentlich Religionskritik. Sie verwaltet einen Überschuss der Fragen gegen-über den Antworten, die nie beseitigt, nie letztlich in den manifesten Formenstillgestellt werden können. Lebendig ist Religion, wenn sie fragt, tot ist sie,wenn sie antwortet38. Die Einseitigkeit, die sich im Verhältnis zum Alltag gezeigt

54 Alltag als Lebenswelt

37. A. a. O., 23.38. Den Status der Responsivität und seine religiöse Relevanz kann man völlig anders ein-

schätzen als dies H. Luther tut. Bestes Beispiel ist Bernhard Waldenfels, der das

hat, wiederholt sich damit in Bezug auf die religiöse Tradition. Dass der sub-jektiven Religion nicht nur Gestalten ihrer Tradition absterben, sondern auchdurch die Kritik hindurch wieder neu zu Eigen werden, also die Doppelgestalt,die, in einer Formel Tillichs39, den »Protestantismus als Kritik und Gestaltung«kennzeichnet, wird in Luthers Fassung der subjektiven Religion als Religions-kritik übersehen.Religion auf der Grenze als Kritik des Alltags und tradierter Religion, extra-mundan und horizontlos, gerät so in Gefahr, in Negationen ohne eigene gestal-terische Kompetenz leer zu laufen. Zwar soll die religiöse Differenz eine Hin-wendung zur Welt und folglich auch zur religiösen Tradition bewirken, aber daLuther die Formen von Vertrautheit und Selbstverständlichkeit sowohl im All-tag als auch in der christlichen Tradition nur im Modus der Abgeschlossenheitdenken kann, stellt er jedes positive Verhältnis zur Tradition unter dem Vor-behalt der Kritikverweigerung. Nur im Modus der Negation, in »Schmerz undSehnsucht«40, kann diese Fassung des Religionsbegriffs so etwas wie eine eigenePosition ausbilden.Unbestritten ist, dass kulturellen Formen, im Alltag wie im Bereich der objek-tiven Religion, eine Tendenz zur Abwehr innewohnt, zur Trägheit gegenüberder Fortbestimmung und Überschreitung ihrer einmal erreichten Geschlossen-heit. Aber das Phänomen alltäglicher Vertrautheit wie einer selbstverständlichgewordenen christlichen Tradition ist unterbestimmt, wenn es nur im Modusder Abwehr und der Verdinglichung eines ursprünglich lebendigen Impulsesverhandelt wird. Genau dies zeigt die phänomenologische Analyse des Alltags,dass in den Formen der lebensweltlichen Vertrautheit nicht nur eine unbeweg-liche Tradition regiert, sondern auch ein Überschuss, der Tradition und Inno-vation in ein prekär bleibendes Verhältnis von Ordnung und Chaos, Geregel-tem und Ungeregeltem setzt. Luthers Bestimmung des Verhältnisses vonReligion und Alltag übersieht diese interne Überschreitungstendenz lebenswelt-licher Sinnhorizonte unter dem Eindruck einer generellen Verdinglichung derLebenswelt. Letztlich fällt die Lebenswelt unter die Kategorie der Immanenz.Der alltäglichen Abgeschlossenheit und Verdinglichung, die auch die Formender religiösen Tradition umfasst, ist das Religiöse deshalb nur als Kritik gewach-sen, als »Jenseits im Diesseits«41, als ein von außen einbrechendes eschatologi-sches Ereignis.

Religion und Alltag in der Praktischen Theologie des Subjekts 55

Antworten »als die Art und Weise versteht, wie wir auf das Fremde eingehen, ohne esdurch Aneignung aufzuheben.« (B. Waldenfels, Antwortregister, 1994, 15).

39. P. Tillich, Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip, in: Ders.(Hg.), Protestantismus als Kritik und Gestaltung, Darmstadt 1929, 3-37.

40. H. Luther, RuA, 248.41. H. Luther, RuA, 48. Luther betont an dieser Stelle die Immanenz der eschatologi-

schen Transzendenz. Es ist aber ein Unterschied, ob man von immanenter Transzen-

4.6 Eschatologische Kritik des Alltags

Luthers Versuch, das Thema der Religion in Bezug auf den Alltag zu fokussie-ren, endet in der paradoxen Auskunft, dass Religion als Weltabstand zwar aufAlltag bezogen ist, letztlich aber kein alltägliches Phänomen darstellt. Religionhat es folglich mit einem Novum zu tun, einer neuen Sicht der Welt, die zwarden Alltag unterbricht, aber im Alltag keinen Ort hat42. Die neue Sicht religiöserWeltwahrnehmung ist die einer eschatologisch inspirierten Erfahrung mit All-tag, aber keiner Erfahrung im Alltag.An dieser Einsicht ist richtig, dass sich das Neue nicht einfach aus den vorgän-gigen Vertrautheiten der Lebenswelt ergibt. Aber das bedeutet nicht, dass des-halb das Novum, der neue Horizont, der alle in Blick genommenen Sachver-halte anders färbt, sich einem prinzipiellen Weltvorbehalt der Religionverdanken muss. Denkbar wäre immerhin, dass es sich bei der Religion nichtum eine »extramundane Perspektive« handelt, sondern um eine immanenteTranszendenz von Sinnhorizonten und ihren Überschreitungen. Zu denken wä-re an eine Dialektik von Vertrautheit und Fremdheit, von Geregeltem und Un-geregeltem, die weder in der Immanenz der Lebenswelt beheimatet ist, nochgeradewegs von außen in diese einbricht: »Es gibt etwas Ungeregeltes im Gere-gelten, genauso wie das Unsichtbare und das Unsagbare nicht jenseits des Ge-sehenen und Gesagten zu finden sind, sondern in ihm«43.Das Verhältnis von Religion und Alltag lässt sich vor diesem Hintergrund an-ders fassen, als es bei Luther der Fall ist. Nicht als Jenseits im Diesseits, sondernals eine Transzendierung alltäglicher Sinnhorizonte, mit der die Religion, in-dem sie ihr eigenes Thema verfolgt, auf die synchronen Prozesse der kulturellenSinnschöpfung und Fortbestimmung von Sinn bezogen ist. Diese Fassung hat

56 Alltag als Lebenswelt

denz oder einer Transzendenz in der Immanenz redet. Letzteres impliziert die realisti-sche Annahme eines transzendenten Jenseits, das trotz aller Betonung der Weltbezo-genheit in einer äußerlichen und prinzipiellen Differenz zur Welt steht.

42. Henning Luthers Ansatz gehört zur dritten Möglichkeit, die W.-E. Failing u. H.-G.Heimbrock für eine praktisch-theologische Inanspruchnahme von Alltag und Lebens-welt nennen, nämlich diese zugunsten einer noch ausstehenden Wirklichkeit zu durch-kreuzen. Wird so der Vorvertrautheitscharakter von Lebenswelt unterbrochen, so giltauch für Luther, dass selbst die religiöse Aufsprengung der Lebenswelt, diese nichthinter sich lässt: »Nur Engel haben keine Lebenswelt« (W.-E. Failing u. H.-G. Heim-brock, Gelebte Religion wahrnehmen, 1998, 176).

43. Das Ineinander von Geregeltem und Ungeregeltem charakterisiert nach BernhardWaldenfels generell die Fortbestimmungslogik kultureller Symbolsysteme (vgl.B. Waldenfels, In den Netzen der Lebenswelt, 1992, 93). Diese Dialektik ist auch fürdie Tradierung religiöser Gehalte relevant, wenn auch in einer spezifisch gesteigertenWeise (vgl. Th. Erne, Art. Rezeption, 1998, 153f.).

den Vorzug, nicht mit einem apriorischen Begriff religiöser Konstitution vonWelt belastet zu sein, ebenso wenig mit allen realistischen Implikationen hin-sichtlich der Wirklichkeit Gottes, die damit einhergehen. Auch Religion kannkonsequent in Horizonten begriffen werden, die beständig auf Mitgegebenesrekurrieren und das Novum44, das Thema der Religion ist, nur als Variationvon Vertrautem zur Geltung bringen kann, ohne deshalb eine Wiederholunglängst vertrauter Formeln zu sein. Die Verbindung eines nicht-phänomenolo-gischen Begriffs von Alltag als einer abgeschlossenen Sinnprovinz und einerdezidiert eschatologischen Fassung von Religion als Weltabstand, als Grenz-erfahrung, die von außen in die Immanenz lebensweltlicher Sinnhorizonte ein-bricht, verhindert bei Luther diese Möglichkeit.

Religion und Alltag in der Praktischen Theologie des Subjekts 57

44. Das Verhältnis von Altem und Neuem, in dem sich das christliche Leben fortbildet, istThema der Pneumatologie. Anders als H. Luthers Begriff eines extramundanen No-vums versteht Ingolf Dalferth das Wirken des Geistes als das eines »ursprünglichkreativen Feldes« (I. U. Dalferth, Kombinatorische Theologie, 1991, 133). Der Feld-begriff greift, wenn auch mit anderen Mitteln, den Gedanken der Kontinuität durchVariation auf, allerdings so, dass zwischen ursprünglichem und nicht-ursprünglichenkreativen Feldern unterschieden wird. »Ursprünglich kreativ schließlich ist ein Feld,wenn es sich selbst nichts anderem, alles andere aber sich ihm verdankt, so dass es dieorganisierende Struktur nicht nur von einigen, sondern von allem ist«, (a. a. O., 133 f.).Diese Klassifikation des Geistes als ursprünglich kreatives Feld ist allerdings missver-ständlich. Man könnte meinen, es gäbe einen fundierenden Anfang, der allen anderenFeldern vorausliegt. Gemeint ist aber an dieser Stelle nur, dass der Feldbegriff in demSinn ursprünglich ist, dass er auf keine andere Bestimmung zurückgeführt werdenkann.

5. Praktische Theologie auf dem Wege zu einerphänomenologischen Theorie der gegenwärti-gen Lebenswelt von Religion bei Wolf-EckartFailing und Hans-Günter Heimbrock

5.1 Charakterisierung der Fragestellung

Die Leitdifferenz von gelebter und gedeuteter Religion, die Rössler als Folge derneuzeitlichen Ausdifferenzierung des Christentums herausstellte, ist auch derHorizont, in dem sich die Überlegungen der beiden Frankfurter praktischenTheologen Failing und Heimbrock bewegen. Das signalisiert bereits der Titeldes Aufsatzbands »Gelebte Religion wahrnehmen«1, der verschiedene Beiträgeder beiden Autoren zu materialen Fragen wie auch zu Grundlegungsfragen derPraktischen Theologie enthält und durch einen gemeinsamen Ausblick auf wei-tere Forschungsaufgaben abschlossen wird.Die Fragestellung, die Failing und Heimbrock leitet, ist die nach einem umfas-senden Verständnis religiöser Praxis. Vorausgesetzt wird dabei, dass die bishe-rigen Theorien zur Deutung religiöser Praxis – Hermeneutik, kritische Hand-lungstheorie, Religionssoziologie – durch »die tiefgreifende Veränderung derStellung von Kirche und Christentum innerhalb der Kultur«2 einer Irritationausgesetzt sind. Eine Irritation, welche die Frage aufwirft, ob die bisherige Aus-legung des Praxisbegriffs die vielfältigen und komplexen Vorgänge angemessenwahrnehmen kann, die sich mit dem Stichwort gelebter Religion verbinden.Das geht nach Auffassung der Autoren nicht ohne einen »phänomenologischgehaltvollen Lebenswelt-Begriff«3. Denn die Irritation, die von den herkömm-lichen Alltagstheorien ausgeht, besteht gerade darin, dass sowohl der funktio-nale wie der empirische Zugriff auf den Alltag die Mehrdeutigkeit der Religion– um mit Rössler zu sprechen – in eine reduktionistische Eindeutigkeit über-führt. Diesem Reduktionismus, der »dichte Beschreibungen durch dünne erset-

1. W.-E. Failing u. H.-G. Heimbrock, Gelebte Religion wahrnehmen. Lebenswelt – All-tagskultur – Religionspraxis, [= Gelebte Religion wahrnehmen], Stuttgart, 1998.

2. A. a. O., 172.3. A. a. O., 172-176.

zen will«4 und den unabschließbaren lebensweltlichen Verweisungszusammen-hang auf eine Funktion oder statistisches Material zurückführt, begegnet diePhänomenologie mit einem Plädoyer für eine methodische Einstellung, diedem Wahrnehmen und Beschreiben eine Priorität einräumt.In phänomenologischer Sicht ist das Thema der Praktischen Theologie, diePraxis gelebter Religion, weder einfach gegeben (was wir sehen) noch einfachkonstruiert (wie wir sehen). Die phänomenologische Wahrnehmung von Pra-xis steht quer zu einer »konstruktivistischen Perspektive«, die von der An-nahme ausgeht, »als verfüge das autonome Subjekt über seine Welt«5. Denndie »vom Subjekt als seine Lebenswelt erfahrene Welt ›zeigt sich‹ ihm, bleibtein ›Gegenüber‹, ohne ein Ding zu werden«6. Die phänomenologische Wahr-nehmung widersetzt sich aber auch einem naiven Realismus, so als seien dieBilder und Symbole nur die Abbildung einer an sich bestehenden Welt. Fürdie phänomenologische Sicht der Welt als Lebenswelt ist vielmehr gerade dieVermittlung beider Pole charakteristisch, die von Gegenstand und Gegeben-heitsweise. Was wir sehen ist untrennbar von dem, wie wir sehen. Und umge-kehrt gilt, dass die Subjektivierung von Welt als meine Lebenswelt diese eben alsWelt zur Geltung bringt, als mir gegebene, nicht von mir gemachte. Erst dieseVermittlung von Modus und Sache, von Gegenstand und Gegenstandsbezug,eröffnet die Dimension der Darstellung von Sinn in Sinnhorizonten, die Themaeiner phänomenologischen Wahrnehmung des Alltags ist.Dieser methodischen Einstellung entspricht auch die Form des vorliegendenAufsatzbandes. Die offene Form, die Suchbewegung der vorliegenden Aufsätze,bringt das Pathos der phänomenologischen Einstellung zum Ausdruck, dasskeine Beschreibung erschöpfend ist, sondern sich in einem unendlichen Ver-weisungszusammenhang auf andere mögliche Beschreibungen hin bewegt.

5.2 Einordnung in die Forschungsgeschichte

Der suchende Charakter des Projekts hat seinen Grund aber auch in der For-schungsgeschichte, in die sich das Interesse von Failing und Heimbrock aneiner phänomenologischen Wahrnehmung gelebter Religion einordnen lässt,denn der Rückgriff auf »phänomenologische und ethnologische Verfahren hatin der Praktischen Theologie nahezu keinerlei Wissenschaftstradition«7. Ihr

Phänomenologische Theorie der gegenwärtigen Lebenswelt 59

4. Zu dieser Differenz, vgl. C. Geertz, Dichte Beschreibungen, 1983, 7 ff., außerdemM. Moxter, KaL, 277.

5. W.-E. Failing u. H.-G. Heimbrock, Gelebte Religion wahrnehmen, 1998, 278.6. Ebenda.7. A. a. O., 172.

Plädoyer für eine »phänomenologische Methode bzw. Einstellung«8 der Prak-tischen Theologie wollen die beiden Autoren weder als »neuen Methodenmo-nismus« noch als »rein eklektisch und additiv angelegte Theoriebildung«9 ver-standen wissen. Ein umfassender Begriff von Praxis und eine umfassendeKultur- und Gesellschaftstheorie lässt sich nicht ausschließlich auf der Basiseiner Phänomenologie aufbauen. Der Wert empirischer Sozialforschung undkritischer Handlungstheorie wird von den beiden Autoren nicht bestritten. Al-lerdings sollen die phänomenologischen Erkundungen nicht »lediglich Vo-raussetzungen späterer methodisch geregelter wissenschaftlicher Analyse vonWirklichkeit sein«10. Vielmehr macht die phänomenologische Analyse der Le-benswelt eine eigenständige Dimension der Wirklichkeit geltend, die wederempirisch, noch begrifflich, sondern durch Wahrnehmung und Beschreibenzu rekonstruieren ist: »Zentrierung auf Wahrnehmung meint dann anderesals ›empirische Theologie‹«11 und ebenso anderes als eine »sozial- oder religi-onswissenschaftlich angeleitete kategoriale Vermessung des Individuellen unterWahrscheinlichkeiten, Regelhaftigkeiten und Gesetzmäßigkeiten«12.Im Sinn einer unverzichtbaren, aber nicht exklusiven Perspektive verorten Fai-ling und Heimbrock die Leistung einer phänomenologischen Lebensweltana-lyse in Bezug auf die bisher leitenden Perspektiven der Praktischen Theologie.Im Wesentlichen geht es darum, das »Abgründige oder Hintersinnige«13 vonPraxis in der Thematisierung dieser Praxis nicht zum Verschwinden zu bringen.Das Interesse an den Phänomenen ist daher unzureichend erfasst, wenn es sichin einer Beschreibung ausgezeichneter Phänomene erschöpft14. Vielmehr gehtes gerade um das, was am Sichtbaren nur mitgegeben ist, um das Andere, dasverborgen bleibt, damit etwas sichtbar werden kann15, und also um die Imagi-

60 Alltag als Lebenswelt

8. A. a. O., 293.9. A. a. O., 282.

10. Ebenda.11. A. a. O., 285.12. Ebenda.13. Ebenda.14. Das betrifft auch Dietrich Rösslers eingeschränktes Verständnis von Religionsphä-

nomenologie als »bloß deskriptiv«, die »in der Regel besondere und hervorgehobeneEreignisse des Religiösen zum Gegenstand macht« (D. Rössler, GPT, 68).

15. W.-E. Failing u. H.-G. Heimbrock fassen diesen fundamentalen Sachverhalt der Phä-nomenologie unter der Dialektik von Enthüllen und Verbergen. Das Phänomen, »dasetwas zeigt, ohne das Gezeigte ganz offenzulegen« (W.-E. Failing u. H.-G. Heimbrock,Gelebte Religion wahrnehmen, 1998, 280), ist aber nicht so zu verstehen, dass etwas imjeweiligen Horizont nur teilweise sichtbar ist wie durch einen halbgeöffneten Vorhang,sondern es ist in der jeweiligen Perspektive sichtbar, aber nur dadurch, dass es zugleichanderes verbirgt, nämlich andere Horizonte der Hinsichtnahme.

nation von noch nicht oder nicht mehr eingespielten Varianten der Wahrneh-mung, um den Versuch, die Mehrdeutigkeit der Phänomene nicht nur zu be-haupten, sondern methodisch zu erfassen. Wahrnehmung ist insofern ein krea-tiver Prozess, als dieser angestoßen wird durch die Uneindeutigkeit desBeschriebenen und sich zum Ziel setzt, das sinnlich Wahrnehmbare »mit ande-ren Augen zu sehen«16, ohne deshalb dem Anspruch zu verfallen, alles an ihmgesehen zu haben.Der phänomenologische Lebensweltbegriff bedeutet deshalb für die PraktischeTheologie, dass sie »Züge einer Ethnologie, einer Fremdheitslehre annimmt«17.Gerade die phänomenologische Methode zehrt von der Einsicht, dass jede neueFokussierung des Wahrnehmungsinteresses, die an den Erscheinungen das mit-gegebene Andere thematisiert, einen neuen »blinden Fleck« erzeugt. Diese we-sentliche Uneindeutigkeit der Phänomene gehört zur Lebenswelt, und die be-grifflich nicht aufzulösende Unschärfe macht den produktiven Charakter derphänomenologischen Methode aus18. Man kann deshalb die phänomenologi-sche Perspektive geradezu als die methodische Einstellung begreifen, die Röss-lers These von der Mehrdeutigkeit gelebter Religion im Zuge einer radikalisier-ten Wahrnehmung und dichten Beschreibung einholt, ohne die »präziseUngenauigkeit«19 einer solchen Wahrnehmung in begriffliche Eindeutigkeit zuüberführen.Für das methodische Arsenal praktisch-theologischer Wirklichkeitsanalyse be-deutet der phänomenologische Einschlag, dass ein Gegenmotiv gegen jedeapriorische Konstitution von Wirklichkeit in der praktisch-theologischen Ar-beit virulent wird. Die Uneindeutigkeit der Phänomene fordert nämlich eineBetrachtungsweise, die »den Anspruch apriorischer Konstitution der Erfah-rungswirklichkeit in dem Maße abbaut, in dem sie die Einbettung in kulturelleVorgängigkeiten deskriptiv erfasst«20. Insofern ist die phänomenologische Me-thode ein »hilfreiches Korrektiv gegen ein funktionalistisches Religionsver-ständnis ebenso wie gegenüber einer bewusstseinstheoretischen Glaubensdefi-nition«21. Dieser Auffassung liegt die Einsicht in die wissenschaftstheoretische

Phänomenologische Theorie der gegenwärtigen Lebenswelt 61

16. A. a. O., 285.17. B. Waldenfels, Phänomenologie, 1991, 65 ff.18. Vgl. W.-E. Failing u. H.-G. Heimbrock, Gelebte Religion wahrnehmen, 1998, 175.19. A. a. O., 35. M. Moxter gibt einen Hinweis auf die Bedeutung von nicht auszuräumen-

den Ungenauigkeiten bei H. Blumenberg und der Möglichkeit aufgrund von Unge-nauigkeit, etwa im Verhältnis von Metapher und ihrer Bedeutung, »das Bekannt-Ver-traute im Lichte möglicher Abweichungen zu betrachten« (M. Moxter, Ungenauigkeitund Variation, 1999, 189).

20. M. Moxter, KaL, 281.21. W.-E. Failing u. H.-G. Heimbrock, Gelebte Religion wahrnehmen, 1998, 293.

Stellung der Phänomenologie zugrunde, »Gegenmotiv zum Programm phi-losophischer Letztbegründungen«22 zu sein.Die phänomenologische Methode kommt insofern dem theologischen Interes-se entgegen, die religiösen Erfahrungen und das Verständnis der an ihnen betei-ligten Subjekte unverkürzt aufzunehmen. Der Sachverhalt der Mehrdeutigkeitdes Religiösen, dass »religiöse Erfahrung stets reichhaltiger und vielschichtigerist als ihre formale Verarbeitung«23, wofür Rössler die Formel einsetzt, dass »derMensch nicht im Vorhandenen aufgeht«24, wird deshalb bei Failing und Heim-brock in eine methodische Einstellung überführt und reicht so über den Statuseines Vorbehalts gegenüber theoretischen Übergriffen auf gelebte Religionhinaus.

5.3 Die Eigenart des Lebensweltbegriffs bei Failing undHeimbrock

Für die systematische Bedeutung des Lebensweltthemas bei Failing und Heim-brock ist charakteristisch, dass Lebenswelt als Untergrund und kultureller Bo-den in Anspruch genommen wird. Aus diesem Fundament entwickeln sichnicht nur »alltägliche Sinnbildungen«25 im Sinn einer vielfach unterschätzenAlltagsweisheit. Die Lebenswelt ist auch für die Verstehbarkeit von Handlungenrelevant. Spezifisch unterschieden ist die Lebenswelt damit von einem Ver-ständnis als bloßer »Umwelt oder ethischem Anwendungsfeld des Glaubensim Sinne einer Bewährung«26. Während letzteres den Alltag als einen »aus-gezeichneten Sinnbereich begrenzt«27, bezeichnet die Lebenswelt den Horizontan Selbstverständlichkeiten, in dem Sachverhalte überhaupt gegeben sind,einen Hintergrund an Gewohnheiten und vortheoretischem Wissen, der zwaralle anderen Sachverhalte einfärbt, selber aber nicht Gegenstand der Wahrneh-mung und deshalb auch nicht regional einzugrenzen ist.Als Hintergrund von Gewohnheiten ist die Lebenswelt orientierend für Hand-lungen, anders allerdings, als dies etwa bei der Kenntnis von Normen und vonRegelwissen der Fall ist. »Volksweisheiten, Sentenzen, Gesten und Gebärden,Spielregeln, Leitbilder, Alltagsmythen etc., die man nicht einfach als Regelwis-sen und damit als Vorstufe von Theorie zureichend erfassen kann«28, sind von

62 Alltag als Lebenswelt

22. M. Moxter, KaL, 282.23. W.-E. Failing u. H.-G. Heimbrock, Gelebte Religion wahrnehmen, 1998, 294.24. D. Rössler, VdR, 13.25. W.-E. Failing u. H.-G. Heimbrock, Gelebte Religion wahrnehmen, 1998, 174.26. Ebenda.27. A. a. O., 176.28. A. a. O., 166.

einer praktischer Klugheit29 zu unterscheiden, die ebenfalls nicht durchgängigvon theoretischen Idealen bestimmt sein muss. Bei den Formen lebenswelt-lichen Orientierung handelt sich dagegen um einen Typus von vortheoretischerWeisheit. Es geht um eine »richtungsgebende Vertrauensgrundlage«30, um kul-turell eingespielte Routine, eine Übereinstimmung im »set of beliefs« einer ge-teilten Lebensform, die jedem ausgehandelten Konsens vorausgeht und die not-wendig ist, damit überhaupt gehandelt werden kann31. Vertrautheit mit einerLebensform wird nicht bewusst erworben, sondern gewohnheitsmäßig einge-übt. Vortheoretisch ist diese Vertrautheit auch in dem Sinn, dass sie der Dis-soziation von theoretischem, praktischem und ästhetischem Wissen voraus-liegt. Die phänomenologische Lebenswelt ist deshalb nicht einfach »diealltäglich-soziale Realität, sondern das, was in dieser, als sie bildend und prä-gend, bleibend zugrundeliegt«32.Für dieses lebensweltliche Hintergrundwissen gilt nun, dass es sich nicht ausdem Horizont der agierenden Personen ablösen und in ein theoretisches Über-blickswissen überführen lässt. Lebensweltliche Orientierung ist an die Perspek-tive des Betrachters gebunden und beruht auf seiner Fähigkeit, etwas als ver-traut zu erfahren, indem anderes ausgeblendet wird, gleichsam hinter seinemRücken verschwindet. Nur in dieser Leiblichkeit von Wahrnehmungsperspekti-ven erschließt sich der Raum lebensweltlicher Vertrautheit. Der Alltag ist des-halb ein Gegengewicht zu einer Tendenz, die »Subjektivierung des Weltbegriffsimmer mehr von Konzepten des Kosmos und der Natur zu lösen und in Rich-tung der geschichtlich-sozialen Existenz des Menschen einseitig zu verschie-ben«33. Daher rührt auch Failing und Heimbrocks Interesse, »die leiblich-sinn-liche Zugänglichkeit zur Lebenswelt in ihrer konstitutiven Bedeutung auch fürdie Glaubenserfahrung«34 zu erschließen.Lebensweltliches Hintergrundwissen gleicht nun allerdings nicht einer ur-sprünglichen Unmittelbarkeit. Die vortheoretischen Symbolisierungen, in de-

Phänomenologische Theorie der gegenwärtigen Lebenswelt 63

29. R. ELM analysiert die Klugheit (phronesis) bei Aristoteles als Typus einer philosophiapractica, der eine »relative Eigenständigkeit« zukommt im Unterschied zu neuzeitli-chen Programmen (Bacon, Hobbes, Descartes), die »die praktische Philosophie vontheoretischen Idealen her verstehen und sie auf diese Weise wieder der theoretischenPhilosophie angleichen« (R. ELM, Klugheit und Erfahrung bei Aristoteles, Paderborn1996, 2).

30. W.-E. Failing u. H.-G. Heimbrock, Gelebte Religion wahrnehmen, 1998, 279.31. Hans Blumenberg sieht in der »Herstellung derjenigen Übereinstimmungen, die an-

stelle des substantiellen Fundus an Regulationen treten müssen, damit Handeln mög-lich wird« (H. Blumenberg, AAR, 1981, 109), die basale Leistung der Rhetorik.

32. M. Sommer, Lebenswelt und Zeitbewusstsein, 1990, 7 f.33. W.-E. Failing u. H.-G. Heimbrock, Gelebte Religion wahrnehmen, 1998, 175.34. Ebenda.

nen eine Welt der Vertrautheit aufgebaut wird, entsteht nach Art der Namens-gebung im Paradies (Gen. 2,20). Bestimmtheit wird gewonnen, indem anderesunbestimmt bleibt. Der Vertrautheitsscharakter lebensweltlicher Orientierungist deshalb von der Art, dass ihm das Wissen eingelagert ist, andere Perspektivenund damit auch die Möglichkeit, anders handeln zu können, abgeblendet zuhaben. Insofern ist der lebensweltlichen Vertrautheit eine immanente Negativi-tät zu Eigen. Die lebensweltliche Orientierung besteht zwar darin, Vertrautheitzu ermöglichen, indem sie Kontingenzen absorbiert und vor zu viel Reflexivitätschützt, gleichwohl ist mit dieser stabilisierenden Funktion die Grenzerfahrungausgeschlossener Andersheit nicht verdrängt, wie Luther kritisiert35, sondernunausweichlich mitgegeben. Failing und Heimbrock rechnen deshalb im Blickauf den Alltag, anders als Luther, mit »einem Prozess gestufter Verschlossenheitvon Alltag (als Dumpfheit, Verblendung, Routine etc.), aber auch mit Prozessengestufter Öffnung als Überschreitung (Transzendieren) des Gegebenen aufMöglichkeitssinn hin«36.

5.4 Religiöse Implikationen der Lebenswelt

Diese Transzendierungsleistung im Alltag, die sich »als Ineinander von Alltäg-lichkeit und Außeralltäglichem entschlüsseln lässt«37, hat Bedeutung für die re-ligiöse Thematisierung der Lebenswelt. Die religiöse Perspektive auf den Alltagist ihm dann nicht äußerlich. Auch der christliche Glaube lässt sich als einebestimmte Form der Dialektik von Überschreitung und Stabilisierung lebens-weltlicher Sinnhorizonte begreifen, eine alltägliche Transzendenz wie auchderen Verhinderung, die sich an dem Gegensatz von Sünde und Gnade ausrich-tet. »Lebensweltlich orientierte Praktische Theologie wäre dann ein Versuch zuzeigen, welche Strukturen und Dimensionen des Alltags wie der Lebensweltreligiöse Implikationen haben«38. Die Beziehung des Glaubens zur Lebensweltbesteht demnach nicht darin, das eschatologische Versprechen einer anderenWelt wachzuhalten und sich also als Gegensatz und Unterbrechung von lebens-weltlicher Vertrautheit zu entwerfen, wie dies bei H. Luther der Fall ist, sonderndie Beziehung des Glaubens betrifft den Alltag selber, die Kontinuität, in dersich im Alltag lebensweltliche Vertrautheit bildet und fortbestimmt.Wenn der christliche Glaube auf diese Weise in der Lebenswelt verortet wird,zeigt sich, dass die gelebte Religion, von der Failing und Heimbrock im An-

64 Alltag als Lebenswelt

35. Vgl. H. Luther, RuA, 53.36. W.-E. Failing u. H.-G. Heimbrock, Gelebte Religion wahrnehmen, 1998, 279.37. Ebenda.38. A. a. O., 176.

schluss an Rössler ausgehen, einen bestimmten Fall lebensweltlicher Vergewis-serung und Orientierung darstellt, und zwar denjenigen, der sich an dem»Ineinander von Alltäglichem und Außeralltäglichem« orientiert – oder in klas-sischer Terminologie, die Failing und Heimbrock nicht wählen, an der Unter-scheidung von Gesetz und Evangelium. Die Nähe zu Rössler ist offensichtlich,trotz dessen Reserve gegenüber der Phänomenologie, denn auch Rössler ana-lysiert die gelebte Religion als Ineinander von »Abhängigkeit und Freiheit«, da-rin Einsichten aus Schleiermachers Glaubenslehre aufgreifend.Wird die Leitdifferenz von Gesetz und Evangelium, die das christliche Selbst-bewusstsein charakterisiert, so in die lebensweltliche Dimension der gelebtenReligion eingezogen, besagt dieser Vorgang, dass die Unterscheidung von Ge-setz und Evangelium basalen Charakter hat. Sie betrifft die Lebenswelt als einerWelt »vor der Dissoziation von Anschauung und Begriff«39. Gesetz und Evan-gelium sind deshalb nicht erst für die Konstitution von Subjektivität relevantwie bei Gräb und Korsch, oder als Leitfaden für die verschiedenen Handlungs-felder der Praktischen Theologie. Diese Differenz orientiert den christlichenGlauben bereits im vortheoretischen Bereich, in dem, was in den Horizontender Lebenswelt thematisch wird und was selbstverständlich in ihnen mitgege-ben ist.

5.5 Revisionen praktisch-theologischer Leitbegriffe

Die Wahrnehmung der Lebenswelt bringt für die Praktische Theologie keineErweiterung ihrer Handlungsfelder mit sich, sondern eine Erweiterung ihresMethodenrepertoires. Lebenswelt tritt nicht als neu entdecktes Praxisfeld zuHomiletik, Seelsorge, Religionspädagogik, Liturgik etc. hinzu. Mit dem Lebens-weltbegriff thematisiert die Praktische Theologie vielmehr die Einbettung reli-giöser Handlungsfelder in alltägliche Vertrautheiten und spezifische Sinnhori-zonte40, eine Einbettung, die den gesamten Kanon praktisch-theologischer

Phänomenologische Theorie der gegenwärtigen Lebenswelt 65

39. M. Sommer, Lebenswelt und Zeitbewusstsein, 1990, 7.40. Der Horizontbegriff unterscheidet sich deshalb auch vom Umweltbegriff der System-

theorie, der nach Niklas Luhmann den Charakter eines umfassenden, letzten Kon-texts von Unbestimmtheit gegenüber allen anderen Kontexten hat (vgl. N. Luhmann,Funktion der Religion, 1977, 30). Das Phänomen, dass jede Wahrnehmung in einemspezifischen Horizont steht, besagt nicht, dass es deshalb einen Horizont geben muss,in dem alle Wahrnehmung steht. Zwar impliziert die Überschreitung von Horizont zuHorizont die Einsicht, dass nur im Zusammenhang des Ganzen das Einzelne bestimm-bar ist, aber das ist nach Michael Moxter nur ein Argument für Kontextualität, fürdie Kontinuität von Reihenbildung, nicht aber für ein abschließendes Ganzes (vgl.M. Moxter, KaL, 372). Das spricht auch gegen die elegante These Trutz Rendtorffs,

Handlungsfelder betrifft. Mit dem Thema der Lebenswelt stellt deshalb diePraktische Theologie die Frage nach der Teilhabe und kulturellen Vermitteltheitnicht nur ihrer eigenen Disziplin, sondern von Theologie und Kirche ins-gesamt. Es ist dies eine Frage, die in einer gesellschaftlichen Situation zusätzlichan Bedeutung gewinnt, wo »weniger eine intellektuelle Bestreitung theologi-scher Denkmöglichkeiten erfolgt, wohl aber eine Bestreitung kultureller Teilha-be [des Christentums] in allen Bereichen und in üblicher Form«41.Wird Kultur als Lebenswelt begriffen42, das heißt als ein vortheoretisches Ori-entierungswissen, das sich über abgestufte Horizonte von Vertrautheit und de-ren Überschreitung aufbaut, dann bedeutet kulturelle Teilhabe der PraktischenTheologie, dass sie die Praxis des Glaubens als einen bestimmten Fall diesesOrientierungswissens wahrzunehmen lernt. In diesem Sinn ist der Titel desAufsatzbandes von Failing und Heimbrock »Gelebte Religion wahrnehmen«ein programmatischer Hinweis auf die erneute Virulenz des Kulturthemas inder Theologie nach Karl Barth.Die Bedeutung des Lebensweltthemas liegt deshalb für Praktische Theologienicht darin, »allgemeine philosophische und erkenntnistheoretische Ideen aufdas spezifische Gebiet der eigenen Forschung unmittelbar anzuwenden«43, son-dern eine bestimmte Weise der Hinsichtnahme auf die religiöse Praxis einzu-üben. Wahrnehmung der Lebenswelt ist deshalb kein besonderer Forschungs-bereich, sondern eine »besondere Denkweise und ein charakteristischerForschungsstil«44, in dem die Praktische Theologie die religiöse Praxis in ihrenunabschließbaren Sinnhorizonten analysiert und so die Aufmerksamkeit auf dasgelenkt wird, was unsichtbar bleiben muss, damit etwas sichtbar werden kann.Der phänomenologische Blick steht in der Praktischen Theologie für eine Dy-namisierung ihres Gegenstandsbereichs, denn die Wahrnehmung dessen, wasan jedem gesicherten Konsens als das Ausgeschlossene im Hintergrund steht,stößt einen unabschließbaren Prozess der Wiederaufnahme altvertrauter The-men an, der sich als Revision der Revisionen kontinuierlich fortführen lässt.Gerade darin ist nach Heimbrock/Failing die phänomenologische Methodestark, »wo sie die Vieldeutigkeit und Offenheit von Erfahrungsgehalten und-horizonten festhält«45.

66 Alltag als Lebenswelt

mit dem dieser die Systemtheorie provoziert, der Glaube sei eben diese Umwelt, »dieTranszendenz sozialer Systeme, das Jenseits im Diesseits der Gesellschaft« (T. Rend-torff, Religion – Umwelt der Gesellschaft, 1975, 69).

41. W.-E. Failing u. H.-G. Heimbrock, Gelebte Religion wahrnehmen, 1998, 289 (DerZusatz in eckiger Klammer stammt von mir).

42. Das ist die These von M. Moxter, Kultur als Lebenswelt, 2000, 1-11.43. W.-E. Failing u. H.-G. Heimbrock, Gelebte Religion wahrnehmen, 1998, 293.44. Ebenda.45. A. a. O., 294.

6. Schlussreflexion: Die Bedeutung von Alltag undLebenswelt für die Praktische Theologie

Mit dem Interesse an Themen des Alltags folgt die Praktische Theologie einemTrend hin zur Kulturtheorie, allerdings mit einer erheblichen Modifikation derPerspektive, aus der bisher in der theologischen Tradition das Thema der Kul-tur thematisiert wird. Was also bei Rössler nur am Rande als Desiderat auf-taucht, ein vertieftes Verständnis von Alltag und der darin eingelagerten religiö-sen Erfahrung, was bei Gräb und Korsch in der Konstitution von Subjektivitätverschwindet, ohne ein eigenständiges Thema zu bleiben und bei Luther alsäußerlicher Bezug einer eschatologischen Perspektive auf Alltag erscheint, daserweist sich als das entscheidende Problem für eine Praktische Theologie, die alsTheorie einer im Alltag gelebten Religion entworfen werden soll.Denn anders als im klassischen Kulturprotestantismus exponiert der Alltag,wenn er im phänomenologischen Sinn als Lebenswelt begriffen wird, keinenklar umgrenzten Alltagsbegriff, sondern meint einen Hintergrund an Selbstver-ständlichkeiten, eine Vorstrukturierung unserer Erfahrung, die auch das vor-zeichnet und grundiert, was wir üblicherweise unter Kultur verstehen: etwaKultur als Humanität im Unterschied zur Barbarei, oder eine Kultiviertheitdes Geistes, eine »cultura animi«1, im Unterschied zur unbearbeiteten, rohenmenschlichen Natur.Das Recht eines »starken« Alltagbegriffs wird damit nicht bestritten. Aber derBlick auf den Alltag als Lebenswelt macht auf eine Dimension aufmerksam, mitder die Analyse noch einen Schritt hinter solche genauen Grenzziehungen zu-rückgeht. E. Cassirer hat diese Dimension als das Symbolnetz, als »symbolicuniverse«, bezeichnet, durch das der Mensch nicht nur in einer reicheren,sondern in einer anderen Wirklichkeit lebt als etwa die Tiere. Diese andereWirklichkeit ist dadurch charakterisiert, dass der Mensch »nichts sehen odererkennen kann, ohne dass sich dieses artifizielle Medium [der Bilder und Sym-bole] zwischen ihn und die Wirklichkeit schiebt«2. Alltäglich lebt der Mensch in

1. Kultur ist Lehnwort aus dem lateinischen cultura, Ackerbau, im Gegensatz zur unbe-arbeiteten Natur und dient laut W. Perpeet in der Formel Ciceros von der »culturaanimi« (CICERO, Tusc. Disp. II, 5), der Beackerung und Pflege des Geistes, auch zurCharakterisierung der Philosophie (vgl. W. Perpeet, Art. Kultur, Kulturphilosophie,1976, Sp. 1309).

2. E. Cassirer, An Essay on Man, 1944/1972, 25 (Eigene Übersetzung. Der Zusatz ineckiger Klammer ist von mir).

Symbolwelten, die seine Erfahrungen vorstrukturieren und als Zwischengliederzwischen ihn und eine unmittelbare Wirklichkeit treten. Nur so kann derMensch überhaupt Erfahrungen machen, etwas sehen und empfinden, dassder unmittelbare Eindruck durch Ausdruck ersetzt wird.Der basale Sachverhalt, der den Alltag als Lebenswelt auszeichnet, ist der Zu-sammenhang von Darstellung und dem, was durch diese verdeckt wird, einMitgemeintes und Mitimpliziertes, das als überdecktes Sinnpotenzial in allemsymbolischen Ausdruck mitpräsent ist. Es ist das, was Ricoeur in einer kultur-theoretischen Umformung des Unbewussten bei Freud als das Abwesende imAnwesenden, den überdeckten möglichen Sinn in jeder Darstellung von Sinnbezeichnet hat3. In dieser Perspektive zeigt sich die alltägliche Lebenswelt ineiner Vielfalt von Horizonten, die nicht mehr monistisch unter eine einheitlicheBestimmung zu fassen sind, sondern denen nur noch deskriptiv in der Plurali-tät je spezifischer Sinnerfahrungen nachgegangen werden kann.Alltag, verstanden als Lebenswelt, impliziert so eine Pluralisierung von Alltags-welten. »Dass wir in mehr als einer Welt leben«4, diese Vielfalt unabschließbarerund spezifischer Horizonte, die in keinem letzten Horizont integrierbar sind,zwingt die Praktische Theologie, sich in ihrer Hinwendung zu Themen des All-tags von Fragestellungen und Alternativen zu lösen, die in der theologischenTradition unter dem Stichwort des Kulturprotestantismus bekannt gewordensind. Das gegenwärtige Interesse der Praktischen Theologie an Alltag und Le-benswelt gehört daher in den Problemzusammenhang einer Kulturtheologie,die im 20. Jahrhundert als Überwindung und Kritik des Kulturprotestantismusentworfen wurde und der in dieser Absetzbewegung gleichwohl die Geltung derKultursphäre für die Vermittlung religiöser Gehalte unausweichlich bleibt5.Tillich, um einen der beiden gewichtigen Vertreter dieser Position zu nennen,sieht zwar die Kultur als ein autonomes Feld eigenständiger Sinnbildungen.Gleichwohl übernimmt in seiner Theologie der Kultur die Religion die Aufgabe,die Vielfalt kultureller Formen auf einen letzten Sinn hin durchsichtig zu ma-chen. Das zeigt seine klassische Formel von der »wesenhaften Zusammengehö-rigkeit von Religion und Kultur«, die besagt, dass »Religion die Substanz derKultur ist, und Kultur die Form der Religion«6. Indem so Religion ein Unbe-dingtes artikuliert, das in den divergierenden Formen der Kultur zur Geltunggebracht wird, ist Religion zwar nicht mehr der alles überwölbende Himmel der

68 Alltag als Lebenswelt

3. Vgl. P. Ricoeur, Versuch über Freud, 1969, 388 ff. und unten Kapitel IV. 3.5.4. H. Blumenberg, Welten in denen wir leben, 1981, 3.5. Michael Moxter hat diese These in einer sorgfältigen Rekonstruktion der Positionen

von Paul Tillich und Karl Barth systematisch entfaltet (M. Moxter, KaL, 6 f.).6. P. Tillich, Systematische Theologie, Bd. 3, 21978, 285.

Kultur, aber doch das aus der Tiefe jeder eigenständigen Kulturform hervorbre-chende Unbedingte, in dem die Kultur ihre religiöse Einheit findet.Obwohl Tillichs Ansatz auch systematisch eine genauere Würdigung kulturellerPhänomene erlaubt, überspringt seine theonome Vermittlung7 von Kultur undReligion die plurale Horizonthaftigkeit der modernen Kultur als Vielfalt vonLebenswelten, die in keiner übergeordneten Perspektive mehr zu integrieren ist.Das zeigt sich daran, dass die Dimension des Unbedingten bei Tillich den Cha-rakter eines Abschlussgedankens hat. Unbedingt ist nicht die Horizonthaftig-keit der Kultur, sondern der Horizont des Unbedingten, der in den kulturellenSymbolwelten als Letztgewissheit und umfassendes Sinnganzes aufbricht8. Dassdie Sinntiefe als Sinnfundament fungiert, zeigt sich bei Tillich auch an den nor-mativen Implikationen seiner These von der Religion als Substanz der Kultur.Nur wo in den kulturellen Formen aus der Tiefe des Seins ein unbedingter Sinndurchbricht, ist auch wahre Kultur: etwa im Expressionismus, den Tillich ausdiesem Grund bevorzugte, und nicht in der Pop-Art.Barth dagegen, der in seinen dialektischen Anfängen eine radikale Kritik derKultur gegen die »natürliche« Theologie des Kulturprotestantismus entwirft,rehabilitiert in seiner späteren Entwicklung die Kultur theologisch, und zwarunter dem Stichwort der Humanität. In diesem humanen Sinn erscheint dieKultur bei Barth unter dem Gesichtspunkt der Arbeit: »Und ist Kultur etwas

Schlussreflexion 69

7. Das ist auch das Problem bei Albrecht Grözinger, der Kunst und Religion mit derFormel zu vermitteln sucht, die Aufgabe einer theologischen Ästhetik sei es, »eine auto-nome Ästhetik heteronom zu denken« (A. Grözinger, Praktische Theologie und Äs-thetik, 1987, 131). Grözinger hat seine Tillich Rezeption später modifiziert (vgl.A. Grözinger, Die Kirche – ist sie noch zu retten? 1998, 56 f.).

8. Wilhelm Gräb bezieht die Deutungskategorie, die für seine praktische Theologie ge-lebter Religion grundlegend ist, auf die Vorstellung eines unbedingten Sinns in derLebenswelt. Religiöse Sinnorientierung liege immer dann vor, wenn sie im Horizontdes Unbedingten vermittelt sei. Es gehe in der Religion um »eine letztinstanzliche Deu-tungsmacht« und um »lebensorientierende Letztgewissheiten« (W. Gräb, Lebens-geschichten, 1998, 52 f.). Die Wirklichkeit Gottes fungiert bei Gräb in Anlehnung anTillich als abschließendes Sinn-Ganzes im Übergang von Bedingtem zu Unbeding-tem. Man kann fragen, ob der Horizont des Unbedingten bei Tillich nicht im Sinnder Unbedingtheit von Horizonten verstanden werden müsste. Die Unbedingtheit derReligion läge dann in der unbedingten Horizonthaftigkeit aller Sinndarstellungen. Re-ligion wäre folglich nicht mehr als Abschluss einer kulturellen Sinnunerschöpflichkeitzu verstehen, sondern als deren Ferment, insofern in religiöser Darstellung die Hori-zonthaftigkeit des Sinns selber zur Darstellung kommt. Das hätte zur Folge, dass auchdie Deutung religiöser Gehalte in den vielfältigen Horizonten der Lebenswelt beschrie-ben werden müsste. In diesem Sinne rekonstruiert M. Moxter den Begriff Sinntiefe beiTillich als Sinnhorizont (vgl. M. Moxter, KaL, 71). Zum Vorschlag Religion als Fer-ment, nicht als Fundament der Kultur zu begreifen, vgl. Th. Erne, Vom Fundamentzum Ferment, München, 1998, 283-295.

anderes als der eben unter dem Aspekt der Arbeit verstandene menschliche Le-bensakt als solcher?«9 Zu dieser notwendigen Humanisierung durch Kultur-arbeit ist der Mensch aber aus eigenen Kräften nicht in der Lage. Die Unmög-lichkeit beruht auf einer untilgbaren Neigung des Menschen, sein Werk und dasGottes zu verwechseln. Erst die Einbeziehung der Kulturarbeit in die Soteriolo-gie10 entlastet den Menschen von der Tendenz, sich in seinen Werken selbst zurechtfertigen, und setzt die Kultur als gutes Werk, als »gelöstes Handeln«, unterder Regie göttlicher Gnade im menschlichen Weltumgang frei. Nur der Christist deshalb zu wahrer Kulturarbeit fähig, weil nur er diese Arbeit im Gehorsamgegen Gott als Spiel11, nicht als Leistung, nicht zur Selbstrechtfertigung, son-dern zum Lob des Schöpfers tun kann.Worin die beiden wirkungsgeschichtlich dominanten Positionen zusammen-kommen, und was die Subsumtion von Tillich und Barth trotz gegensätzlicherAuffassung von Religion und Theologie unter dem Titel der Kulturtheologienach der Verabschiedung des Kulturprotestantismus rechtfertigt, ist die unaus-weichliche Geltung der Kultursphäre für die Theologie, selbst dann, wenn, wieim Falle Barths, die eigene Theologie zunächst in radikaler Kritik der Kulturentfaltet wird. Worin also beide Antipoden übereinkommen, ist ihr starker Kul-turbegriff. In beiden Positionen nämlich wird Kultur als eine Ganzheit begrif-fen, die entweder als Handlungseinheit (Barth) oder Sinnuniversum (Tillich)strukturiert ist und auf die Theologie bezogen werden kann. Dabei spielt dieDifferenz eine untergeordnete Rolle, so dass bei Tillich die Religion »von un-

70 Alltag als Lebenswelt

9. K. Barth, KD I/1, 227. Barths Auffassung von Kultur als Arbeit wird von M. Moxter(KaL, 231ff.) ausführlich dargestellt Die Betonung der Arbeit für die Kultur verbindetBarth und Blumenberg, wie dies schon durch Blumenbergs Buchtitel »Arbeit amMythos« zum Ausdruck kommt. Ganz ähnlich hat Helmut Plessner, angesichts derBetonung des Arbeitswillens und der Absicht von Edmund Husserl, des Gründers derphänomenologischen Methode, aus der Philosophie eine »betriebsförmige Fachwissen-schaft« zu machen, die These vertreten, die Phänomenologie sei ein »Weg, die Philoso-phie in die moderne Arbeitswelt einzugliedern« (H. Plessner, Husserl in Göttingen,1959/1985, 359).

10. Hartmut Ruddies sieht eine phänomenologisch-theologische Doppelstruktur beiBarths Kulturbegriff. Der theologische Kulturbegriff erscheint als Kritik des phäno-menologischen Kulturbegriffs (vgl. H. Ruddies, Karl Barth im Kulturprotestantismus,1989, 228 ff.).

11. Die Kunst gehört deshalb bei Karl Barth unter dem Gesichtspunkt des Spiels in denZusammenhang der theologischen Ethik (vgl. K. Barth, Ethik II, 1928/1978, 437 ff.).Spielerische Freiheit ist auch der Begriff, unter dem Barth das Besondere der MusikMozarts fasst (vgl. K. Barth, Protestantische Theologie, 1947, 52 f.). Zu den theo-logischen Hintergründen von Barths Vorliebe für Mozart, vgl. Th. Erne,Barth und Mozart, 1986, 234 ff.

ten« als unbedingter Sinn in der Tiefe der Kultur aufbricht, bei Barth die Sote-riologie »von oben« erst wahre Kultur ermöglicht.Der Einwand, der deshalb gegen beide Positionen, wenn auch auf unterschied-liche Weise, geltend gemacht werden kann, ist der, dass ein starker Kulturbegriffnicht die Pluralität einer basalen Alltagskultur12 beschreiben kann, die selbstnoch ein normativer Kulturbegriff mit Unterscheidungen wie die von Humani-tät und Barbarei, Kultur und Natur, in Anspruch nimmt. Alltäglich leben wir inZeichenwelten, deren Pluralität nicht mehr als Summe vielfältiger Teilbereichein einem ganzheitlichen Zusammenhang begriffen werden kann. Insistiert mangegen ein theologisches Ganzheits- und Einheitsdenken im Namen einesstarken Kulturbegriffs auf der unhintergehbaren Horizonthaftigkeit der Le-benswelt, welche die Pluralität von Lebenswelten nicht als regionale Bezirke,sondern als Fortbestimmung kultureller Sinnbildungen in typischen und spezi-fischen Horizonten begreift, dann bedeutet dies keine leichtfertige Verabschie-dung von Problemlagen, die sich bei Tillich und Barth mit dem Verhältnis vonTheologie und Kultur verbinden.So ist, unbeschadet der problematischen Voraussetzung eines unbedingtenSeins in der Tiefe von Sinn, an der Einsicht Tillichs festzuhalten, dass religiöseSymbole die Dimension des Unbedingten nie unmittelbar und direkt darstel-len, sondern Unbedingtes nur vergegenwärtigen können, indem sie zugleichdiese Darstellung negieren13. Dieses Moment der Negativität von Darstellung,das die symbolische Darstellung des Unbedingten als Horizontphänomen undIneinander von Präsenz und Appräsenz, von Ausdruck und Überschreitung vonAusdruck ausweist, ist auch für die Verfasstheit von kulturellen Prozessen rele-vant, die sich im Übergang von Symbol zu Symbol entwickeln.Deshalb ist auch Barths Interesse an einer Konzentration der Theologie auf ihreeigene Sache unter der Bedingung einer Pluralität von Horizonten spezifisch

Schlussreflexion 71

12. Unter der Bedingung einer pluralen Kultur führt nach Friedrich Wilhelm Graf derVersuch, die moderne Kultur theologisch einheitlich zu zentrieren, faktisch und ent-gegen den Intentionen etwa Tillichs oder Barths dazu, »Besonderheit zu konstituie-ren.« (F. W. Graf, Theonomie, 1987). Auch der theonome Integrationsanspruch im-pliziert daher »eine zumindest partielle Affirmation der pluralistischen Verfasstheit dermodernen Kultur« (a. a. O., 240), wenn auch nur im Schema von Teil und Ganzem.

13. Relevant ist Paul Tillichs Symbolverständnis für die Analyse der religiösen Entwick-lung im Kindes- und Jugendalter (vgl. P. Tillich, Der Protestantismus als kritischesund gestaltendes Prinzip, 1929, 3-37). Denn auch das Symbolverständnis entwickeltsich nach Friedrich Schweitzer von einem kindlich unmittelbaren zu einem wahr-haft symbolischen Verständnis religiöser Symbole, dem der Mangel an Unbedingtheit inder Darstellung des Unbedingten eingeschrieben ist, »Ein wahrhaft symbolisches Ver-ständnis dagegen hängt für Tillich davon ab, dass der Verweisungscharakter und die›Uneigentlichkeit‹ religiöser Symbole erkannt und berücksichtigt wird« (F. Schweit-zer, Lebensgeschichte und Religion, 41999, 214).

neuzeitlich. Versteht die Theologie ihr eigenes Thema als ein Differenzbewusst-sein, das unter dem Titel von Gesetz und Evangelium die Horizonthaftigkeit derDarstellung des Unbedingten zum Thema macht, dann nimmt sie, indem sieihrem eigenen Thema folgt, zugleich am Kulturprozess teil14. Das bedeutet al-lerdings auch, dass die Gegnerschaft, die radikale Diastase von Religion undKultur, mit der Barth die Konzentration auf das eigene Thema der Theologieverbindet, einseitig nur den Gegensatz von Religion und Kultur postuliert, derauf Dauer die Beziehung der Theologie zur Kultur abstrakt werden ließe.Liegt die Bedeutung des Alltags als Lebenswelt für die Praktische Theologiemithin darin, ihr eigenes Thema als einen bestimmten Fall von lebensweltlichenHorizontüberschreitungen zu begreifen, die sich über die Dialektik von Ver-trautheit und Fremdheit aufbauen, so ist damit noch nicht gesagt, dass diePraktische Theologie diese Chance auch nutzt, die Praxis der gelebten Religionangemessen innerhalb einer pluralen Kultur zu bestimmen. Die »empirischeWende« der Praktischen Theologie, mit der ihre Transformation von einer An-wendungstheorie zu einer (funktionalen) Handlungstheorie und Wahrneh-mungswissenschaft einhergeht, ist als solche noch nicht geeignet, der Horizont-haftigkeit der Lebenswelt und ihrer Pluralisierung in Lebenswelten Rechnungzu tragen.Dazu bedarf es einer phänomenologischen Perspektive, die selbst noch in derBeschreibung und Wahrnehmung von alltäglichen Phänomenen »mit derSpannung von sich Zeigendem und sich Verbergendem«15 rechnet. Erst in die-ser Horizonthaftigkeit, die besagt, dass ›die Sachen‹ nie völlig zur Sprache kom-men und stets mehr und anderes zu sagen bleibt, als das, was faktisch gesagtwird, ist der Alltag nicht reduziert auf apriori konstituierte Erfahrungen. EinePhänomenologie des Alltags als Lebenswelt widerspricht daher theologischenDeutungen, welche die gelebte Religion in einem »Grundvertrauen«16 odereiner allgemeinen »Grunderfahrung menschlichen Daseins«17, fundiert, oderdie religiöse Praxis auf eine empirisch beschreibbare Welt von Sachverhaltenreduziert. Nimmt man die Einsicht in die Horizonthaftigkeit von Lebensweltenernst, die sich mit der Differenz von Sinnhorizont und Sinnerfahrung, vonWelt-Haben und In-der-Welt-Sein, sowohl der Empirie wie einer transzenden-talen Begründung entzieht, dann besteht für die Praktische Theologie die Auf-

72 Alltag als Lebenswelt

14. Die funktionale Religionstheorie mit ihrer Unterscheidung von expliziter und implizi-ter Religion (vgl. dazu D. Rössler, GPT, 70) steht in der Gefahr, sich von den spezi-fischen Horizonten der gelebten Religion abzulösen und sich als eine Art von Über-blickswissen zu verstehen, das, kontextunabhängig, die Deutungen in lebensweltlichenHorizonten funktionalisiert (vgl. U. Barth, Was ist Religion? 1996, 539).

15. W.-E. Failing u. H.-G. Heimbrock, Gelebte Religion wahrnehmen, 1998, 35.16. W. Härle, Dogmatik, 1995, 514.17. D. Rössler, GPT, 102.

gabe darin, ihr Thema, die gelebte Religion, im Rahmen eines phänomeno-logisch verstandenen Alltags zu entfalten. Sie kann sich dann nicht mehr aufelementare Grunderfahrungen oder eschatologische Unterbrechungen des All-tags zurückziehen, denn unhintergehbar ist dann nur, dass jede Wahrnehmungund Deutung von Lebenswelt in unabschließbaren Horizonten zu stehenkommt, die keiner abschließenden Ganzheit zugeführt werden können.Dem Einwand, der Preis für diese Fokussierung des Religiösen auf die Dialektikvon Fremdheit und Vertrautheit in spezifischen Horizonten sei zu hoch, weil sodie Eindeutigkeit und Allgemeinheit der Religion verloren ginge, muss die Ge-genrechnung präsentiert werden. Denn die Fundierung religiöser Phänomenein einem apriorischen Grundvorgang oder ihre Platzierung auf einer eschato-logischen Grenze hätte zur Folge, dass damit die Ambivalenz und Ambiguitätreligiöser Phänomene18 getilgt wären, die für einen Sinnüberschuss stehen, derallein kulturelle Symbolwelten lebendig erhält. Denn das Fremde19, Ungeregel-te, das am Sichzeigenden als das Sichnichtzeigende, am Sagbaren als das Noch-nichtgesagte weiterwirkt, ist »ein Reservoir des Rohen, Ungeformten, Unreifen,einem sens sauvage, der nicht auf seine Rationalisierung wartet, auch nicht vorihr flieht, sondern sie lebendig erhält. Würde es gelingen, alles Widerspenstige,das den Regeln entgegensteht, zu zähmen, so wäre das Spiel aus«20.

Schlussreflexion 73

18. Dagegen wendet sich auch Manfred Josuttis: »Eine Hauptthese in diesem Buch gibtan, dass Religion keine Provinz ist, so wenig wie Göttliches ein wildes Tier ist, das inden Käfig des Sonntags passt« (M. Josuttis, Der Weg ins Leben, München 1991, 34).

19. Volker Drehsen betont die produktive Bedeutung des Fremden, im Umgang mit demProblem des Synkretismus (vgl. V. Drehsen, Die Anverwandlung des Fremden, in: Wiereligionsfähig ist die Volkskirche? 1994, 313-345).

20. B. Waldenfels, In den Netzen der Lebenswelt, 21994, 93.

II. Rhetorik in der Praktischen Theologie

1. Vorbemerkung zur Fragestellung

Rhetorik kann nicht nur als ein kommunikativer Tatbestand und das heißt, siekann nicht nur mit der Kategorie der »Rede« begriffen werden. Als Distanznah-me und Ausblendung von Handlungsalternativen betrifft Rhetorik auch denHintergrund und Horizont, in dem kommunikative Handlungen vorbereitetsind und vor dem sie vollzogen werden. Um diesen Gesichtspunkt, Rhetorizitätoder das Rhetorische1 in den Horizonten der Lebenswelt im Unterschied zurRhetorik als Rede (oder in der Literatur), herauszuarbeiten, nehme ich im fol-genden Bezug auf die These (Abschnitt 2.1) vom »Verlust der Selbstverständ-lichkeit«2, in dem die Sinnkrise der Moderne zum Ausdruck kommt. Dereigentümlich schwebende Charakter dieser Krise, die keinem Totalverlust, son-dern einem Schwelbrand gleicht, gibt Anlass zu der Vermutung, dass in demMaße, in dem sich ein selbstverständliches Sinnreservoir im modernen Kontin-genzbewusstsein verflüchtigt, neue Formen des Selbstverständlichen im Hinter-grund dieser Verlusterfahrung restituiert werden. Dass diese wiederhergestellteSelbstverständlichkeit nicht metaphysisch gesichert ist, noch allein durch Tra-ditionen gestützt wird, sondern eine Leistung des Rhetorischen, einer rhetori-schen »Eindämmung von Kontingenzbewusstsein« darstellt, diese These leitetdie folgenden Untersuchungen. Ob die intime Verbindung von Rhetorizität imAlltag – Alltag nun im Sinne der horizonthaften Lebenswelt – einen Anhaltfindet in der Diskussion um eine philosophische Rehabilitierung der Rhetorik,das soll ein knapper Durchgang durch diese Diskussion (Abschnitt 2.2) zeigen.Welche Perspektive sich für die Praktische Theologie mit einer solchen engenKoppelung von Rhetorizität und Lebenswelt auftut, wird in Abschnitt 2.3 skiz-ziert. Da die Rhetorik in der modernen Praktischen Theologie mit der Katego-rie der »Rede« rehabilitiert wird, stellt sich die Frage, welche Beziehung dieseskommunikative Verständnis von Rhetorik bei Otto (Abschnitt 3.) zu einemphänomenologisch gehaltvollen Begriff von Alltag als Lebenswelt hat.Die rhetorische Eindämmung von Kontingenzbewusstsein bringt die Metapherals eine ihrer wesentlichen Leistungen zur Darstellung. Sie ist das Zwischen-glied, das erlaubt, sich von einer nackten Unmittelbarkeit zu distanzieren und

1. Zur Erläuterung dieser terminologischen Differenzierung siehe unten Kap. III.2.2: Le-benswelt und rhetorische Distanz.

2. P. Berger/Th. Luckmann, Modernität, Pluralismus und Sinnkrise, 1995, 51.

den Alltag als eine Welt vertrauter Differenzen, als eine »vorbereitete Weltver-trautheit«3, zu begreifen. Eine Verbindung von Rhetorik und Alltag muss sichdeshalb auch an den Überlegungen zum Symbol in der Predigt und zum Got-tesdienst als Ritual bei Josuttis (Abschnitt 4.) zeigen lassen. In seiner Analysevon Symbolspannungen in der Predigt und der Verhaltenskoordination im got-tesdienstlichen Ritual wird der Übergang deutlich von einem rein kommunika-tiven Verständnis von Rhetorik zu einem lebensweltlich situierten Begriff desRhetorischen.

78 Rhetorik in der Praktischen Theologie

3. H. Blumenberg, Höhlenausgänge, 1989, 351.

2. Das Rhetorische im Alltag

2.1 Der Verlust der Selbstverständlichkeit

Das Verständnis von Alltag ist für die Praktische Theologie ein grundlegendesDesiderat, wenn sie als Theorie einer bestimmten Religionspraxis entworfenwerden soll, diesseits ihrer kirchlichen oder dogmatischen Explikationen. Blicktman allerdings auf die gängigen Vorstellungen von Alltag, die sich anhandpraktisch-theologischer Entwürfe beschreiben lassen, dann fällt auf, dass Alltagin der Regel nur als Voraussetzung begriffen werden, als ein Reservoir an selbst-verständlichem Sinn, auf das sich die Religion deutend oder reflektierend be-zieht. Unter dem Titel »Religion und Alltag« wird daher die Beziehung zweierBereiche verhandelt, die in einem gestuften Verhältnis von primärer Alltags-erfahrung und sekundärer religiöser Erfahrung mit eben dieser Erfahrungstehen.In dieser Fassung ist Religion selber an dem Vorgang beteiligt, der sich als»Verlust der Selbstverständlichkeit«1 in der Moderne verstehen lässt. Selbstver-ständlichkeit bezeichnet in der sozialwissenschaftlichen Theorie den Bereichdes fraglos gesicherten Wissens, das einen Gegenhalt bildet zum modernenKontingenzbewusstsein. Die Pluralisierung der Lebensformen erzeugt einen zu-nehmenden Entscheidungsdruck, das eigene Leben bewusst zu gestalten. Dasmoderne Bewusstsein lässt sich in dieser Sicht durch den Verlust an Tiefe, anlebensweltlichen Selbstverständlichkeiten verstehen, die im Bild gesprochen,nach oben »verdampfen«2. Denn die Deutung von oder die Kommunikationüber vertraute Hintergründe entkleiden diese ihrer Selbstverständlichkeit. Abererst im Zerfall und Verlust von Selbstverständlichen greift die religiöse Deu-tungs- oder Kommunikationsstrategie zweiter Ordnung. Religion ist deshalbnicht nur vom Verlust an Selbstverständlichkeiten betroffen3, sie ist auch selbst,wenngleich meist unbemerkt, an der Forcierung dieses Prozesses beteiligt.Das Problem dieser Alltagstheorie liegt eben darin, dass sie Alltag als ein Aus-gangspunkt und Sinnreservoir voraussetzt, das auf Verlust berechnet ist. DieseAnnahme ist aber erklärungsbedürftig angesichts der relativen Stabilität von

1. Vgl. P. Berger/Th. Luckmann, Modernität, Pluralismus und Sinnkrise, 1995, 44 ff.2. A. a. O., 52.3. Vgl. a. a. O., 51.

Lebensformen, die zwar in der Pluralisierung von Alltagswelten ihre traditions-gestützte Geltung verlieren, gleichwohl nicht einfach zerfallen.Geht man wie Berger/Luckmann davon aus, dass »die moderne Form des Plu-ralismus voll entfaltet ist«, wenn »Wertordnungen und Sinnbestände nichtmehr gemeinsamer Besitz aller Gesellschaftsmitglieder ist«4, wenn wir alsonicht mehr in einer Welt, sondern in mehreren unterschiedlichen Welten leben,dann genügt die Annahme nicht, es handele sich beim Alltag um einen Boden-satz an vorgängiger Vertrautheit, der zunehmend dünner wird und deshalbnicht mehr im Stand ist, die Pluralisierungsschübe in der Moderne zu tragen.Erklärungsbedürftig ist vielmehr, warum angesichts dieses Verlusts an Selbst-verständlichkeit die Sinnkrise in der Moderne nicht die dramatische Form an-nimmt, die sie aufgrund dieser Diagnose eigentlich annehmen müsste. DieSchlichtungsformeln und -verfahren von Art der kommunikativen Vernunftoder die Tendenzen zur Verrechtlichung der Lebenswelt, die sich in dieser plu-ralen Situation entwickeln, sichern zwar die friedliche Koexistenz verschiedenerLebensformen, aber »sie sind nicht dazu angetan, der Ausbreitung von Sinn-krisen unmittelbar entgegenzuwirken«5. Denn sie geben keine Auskunft darü-ber, wie jemand »ganz konkret sein eigenes Leben führen soll, wenn die selbst-verständliche Geltung überkommener Ordnungen erschüttert ist«6.Wenn daher trotz des Verlusts der Selbstverständlichkeit und der daraus resul-tierenden Sinnkrise in der Moderne das Leben erträglich bleibt, dann scheint esplausibel zu sein, dass die These vom Alltag als dem auf Verlust berechneten,fraglos gesicherten Sinnreservoir zu kurz greift. In irgendeiner Weise gelingt es,an Stelle einer einzigen gesamtgesellschaftlich verbindlichen Wertordnung so et-was wie eine Pluralität »quasi-autonomer Sinngemeinschaften«7 zu entwickeln.Die Grundfrage, die sich angesichts dieser Diagnose stellt, ist die nach Struktu-ren und Verfahren, die in einer Situation, wo eine einheitliche Lebensorientie-rung zerfällt, weil wir in mehr als einer Welt leben, ein bestimmtes Maß ansozialer Stimmigkeit ermöglichen. »Was sind die strukturellen Voraussetzun-gen für die ausreichende Stimmigkeit in den intersubjektiven Spiegelungen, al-so dafür, dass die Grundlage für die Ausbildung sinnbeständiger persönlicherIdentitäten geschaffen wird? Welche Strukturbedingungen fördern und welcheerschweren eine zureichende Gleichsinnigkeit der sozialen Beziehungen, dieeiner krisenfesten Lebensgemeinschaft zugrunde liegen?«8

Offensichtlich ist unter der Bedingung der modernen Pluralisierung solche

80 Rhetorik in der Praktischen Theologie

4. A. a. O., 32.5. A. a. O., 33.6. Ebenda.7. Ebenda.8. A. a. O., 25.

Stimmigkeit und Gleichsinnigkeit in den sozialen Beziehungen nicht mehr me-taphysisch gesichert, noch durch Traditionen abgestützt. Auch die Reichweiterechtlicher Verfahren ist begrenzt, um die Koexistenz pluraler Lebensformen zugarantieren. Vielmehr kommt in solchen Situationen, in denen höchst unter-schiedliche Handlungsoptionen zusammentreffen, einiges darauf an, die Ak-teure in ihren spezifischen Horizonten vor einem Übermaß an Fraglichkeit zubewahren und zwar dadurch, dass Handlungsalternativen aus einem gemein-samen Horizont ausgeblendet werden.Dieser Vorgang der Abschirmung eines Horizonts des Selbstverständlichen, dergemeinsames Handeln ermöglicht, hat rhetorischen Charakter. Das ist die The-se, die für die folgenden Überlegungen leitend ist. Verabschiedet wird damit einBegriff von Alltag, der diesen auf eine Sinnressource für die kommunikativeVernunft reduziert. Denn erst die phänomenologische Perspektive auf den All-tag als horizonthafte Lebenswelt erfasst die prekär bleibenden Balancen, mitdenen der Verlust an Selbstverständlichkeit durch neue lebensweltliche »Stim-migkeit« austariert wird. Im Blick auf den Alltag als Lebenswelt wird danndeutlich, was »das Rhetorische« von »Rhetorik« im Sinne einer kommunikati-ven Verständigung über vorgängige Handlungsorientierungen unterscheidet.Die Pointe des Rhetorischen besteht eben darin, in den Horizonten der Lebens-welt dafür zu sorgen, dass in Handlungssituationen manches auf sich beruht,damit einiges thematisiert werden kann.Diese vortheoretische und vorkommunikative »Stimmigkeit« kommt nichtdurch ein explizites Einverständnis zustande. Es ist eine Art von Evidenz, dieauf der suggestiven Kraft von Bildern und Symbolen beruht, situationsspezi-fische Horizonte des Selbstverständlichen abzuschirmen. Angesichts der neu-zeitlichen Kontingenz von Handlungsoptionen sind die Horizonte des Selbst-verständlichen, die Inbegriff des Alltags als Lebenswelt sind, alles andere alsselbstverständlich.

2.2 Die Rhetorik und das Rhetorische

Rhetorik bearbeitet als Kunst überzeugungskräftiger Rede die Fragen des sozia-len Zusammenlebens, die sich allen Menschen stellen, aber nicht allen auf diegleiche Weise. Charakteristisch für das rhetorische Verfahren sind deshalb strit-tige Fragen der gemeinsamen Handlungskoordination, die eines öffentlichenKonsenses bedürfen. Auf dem öffentlichen Platz treffen sich die Mitgliedereines Gemeinwesens, um sich über die Fragen ihres Zusammenlebens zu bera-ten, die alle (stimmberechtigten) Mitglieder dieser Gemeinschaft angehen9. Es

Das Rhetorische im Alltag 81

9. Diese idealtypische Szene hat auch einen Anhalt an der Geschichte. Ueding und

ist die Gleichheit, die Menschen zusammenführt und überhaupt so etwas wieVerständigung unter ihnen ermöglicht. Aber weil diese Möglichkeit, sich zuverständigen und gemeinsam zu handeln, auf unterschiedliche Handlungs-optionen trifft, auf verschiedene Lebensformen und Erfahrungshorizonte, sobedarf es auch der Verständigung, der Konsensbildung, deren Aufgabe die Rhe-torik wahrnimmt. Gäbe es diese Verschiedenheit der individuellen Lebensfor-men nicht, dann »wäre eine Zeichen- und Lautsprache hinreichend, um einan-der im Notfall die allen gleichen, immer identisch bleibenden Bedürfnisse undNotdürfte anzuzeigen«10.Diese Aufgabe der öffentlichen Handlungskoordination nimmt in der Antikedie Rhetorik, allerdings nicht exklusiv, wahr. Sie ist zwar eine der prägenden,sogar eine der überwältigenden Leistungen der antiken Polis, gleichwohl oderbesser, gerade deshalb, ist ihre Stellung, zumindest in der wirkungsmächtigenplatonischen Tradition der Philosophie, untergeordnet11. Das zeigt sich auchnoch in der mittelalterlichen Zuordnung der Rhetorik zu dem Trivium der »ar-tes liberales« bzw. »artes sermonicales« (Grammatik, Rhetorik, Dialektik). DasBildungsprogramm des Triviums wird als eine »dem Kindesalter angemessenePropädeutik der Philosophie bewertet«12. Die eigentliche Verständigungsleis-tung erbringt daher nicht die Rhetorik, sondern die Philosophie, und zwar,indem sie das handelnde Subjekt zur wahren Erkenntnis der in Frage stehendenSachverhalte anleitet. Während es die Rhetorik mit der Beziehung auf den Hö-rer zu tun hat, und darin mit jenen Eigenschaften der Rede, die diesen erfreuen,begeistern und überreden sollen, ist die Philosophie um die sachliche Wahrheitder Rede besorgt. Nur die Verifikation der Rede gegenüber den in ihr verhan-delten Sachen ist philosophisch relevant. Der Sachbezug ist auch für die öffent-

82 Rhetorik in der Praktischen Theologie

Steinbrink datieren die Anfänge der Rhetorik im Sinn eines forensischen Diskursesüber strittige Fragen des Gemeinwohls auf das 5. Jahrhundert vor Christus. In Sizilienund Athen ist die Tyrannenherrschaft beseitigt und die Beredsamkeit der Sophistikentwickelt sich als ein Mittel, um Streitigkeiten und Interessengegensätze, die nichtmehr durch einen Tyrannen geschlichtet werden können, in der Öffentlichkeit vordem Volksgericht zu verhandeln (vgl. G. Ueding u. B. Steinbrink, Grundzüge derRhetorik, 31994, 11-13).

10. H. Arendt, Vita aktiva, 101998, 213.11. Als Abwehr eines Faszinosums begreift auch Blumenberg die platonische Kritik an der

Rhetorik: »Die Möglichkeit und Mächtigkeit der Überredung war ja eine der elemen-taren Erfahrungen des antiken Polislebens. Die Bedeutung der Rhetorik, die hoch ge-nug einzuschätzen uns heute schwer wird, erklärt, wie entscheidend es für die Philoso-phie war, die Überzeugungskraft als eine Qualität der Wahrheit selbst und dieRedekunst mit ihren Mitteln nur als eine sachgemäße Vollstreckung und Verstärkungdieser Qualität auszulegen.« (H. Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie,1998, 9).

12. H. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, 31990, 34.

liche Koordination von Handlungen entscheidend. In der Terminologie moder-ner Sprachanalyse: die »pragmatische«13 Dimension ist zugunsten der »seman-tischen« Dimension in den Hintergrund getreten. Intersubjektive Verständi-gung und sprachliche Konsensbildung werden, da sie erkenntnistheoretischirrelevant sind, an die Rhetorik delegiert. Rhetorik ist damit, im Sinn einersekundären Technik der Verdeutlichung, einer sprachlichen Ausschmückungsachlicher Gehalte, auch in ihrer pragmatischen Bedeutung entwertet.Die Aktualität der Rhetorik in der gegenwärtigen Debatte beruht darauf, dieDoppelgestalt der Rhetorik, entweder Ausdruck von Wahrheitsbesitz oder Aus-druck von Wahrheitsmangel zu sein14, wieder offen zu legen. Diese Doppel-gestalt ist in dem wirkungsgeschichtlich beherrschenden Modell der philoso-phischen Kritik an der Rhetorik seit Platon über Augustin bis Kant verdecktgeblieben. Denn die Verifikation der Rede durch ihren sachlichen Gehalt ver-deckt eine stillschweigende Voraussetzung, dass nämlich jede Verständigungauch den Gebrauch von Aussagen in intersubjektiven Interaktionen, also denHandlungscharakter sprachlicher Äußerungen, impliziert. Orientiert man sichan der klassischen Zeichentheorie, die sich in Habermas’ Ausdifferenzierungdes kommunikativen Handelns widerspiegelt, dann besteht eine dreifache Be-ziehung »zwischen der Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks und (a) demmit ihm Gemeinten, (b) dem darin Gesagten und (c) der Art seiner Verwendungim Sprechakt«15. Die Form der Verständigung, die auf sachliche Wahrheit bezo-gen ist, repräsentiert nur eine von diesen drei Funktionen, nämlich (b), dieformale Semantik, die die Bedingungen im Blick hat, unter denen ein Satz wahrist. Die Rhetorik, die es wesentlich mit der Beziehung der Rede auf den Hörerzu tun hat, also mit dem Gebrauch der Bedeutung eines Satzes in den Inter-aktionen zwischen Redner und Hörer, gehört dagegen in die Beziehung (c),die Habermas im Anschluss an Wittgenstein als Gebrauchstheorie der Bedeu-tung von sprachlichen Ausdrücken bezeichnet. In dieser gebrauchstheoreti-schen Perspektive verliert die semantische Funktion der Sprache, bestimmte

Das Rhetorische im Alltag 83

13. Vgl. K.-O. Apel, Transformation der Philosophie, 1976, 336 ff.14. Wörtlich lautet die von Hans Blumenberg vertretene These: »Rhetorik hat es zu tun

mit den Folgen aus dem Besitz von Wahrheit oder mit den Verlegenheiten, die sich ausder Unmöglichkeit ergeben, Wahrheit zu erreichen« (H. Blumenberg, AAR, 104). Zu-stimmend äußert sich G. Ueding u. B. Steinbrink: »Hans Blumenberg hat denHauptgrund für das erstaunlich aktuelle Interesse der Philosophie an der Rhetorik be-nannt, für das seine eigenen Arbeiten, aber auch die sprachphilosophischen Unter-suchungen Karl-Otto Apels, Hans-Georg Gadamers Hermeneutik, Chaim PerelmannsArgumentationstheorie und Jürgen Habermas’ Konsensustheorie der Wahrheit, die be-kanntesten Beispiele liefern« (G. Ueding u. B. Steinbrink, Grundriss der Rhetorik,31994, 171).

15. J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, 1988, 77.

Sachverhalte darzustellen, ihre dominante Stellung, die sie in der Unterordnungder Rhetorik unter die philosophische Klärung von Wahrheitsansprüchen hat-te. Sprache hat selber Handlungscharakter. Indem ein Sprecher etwas sagt, tuter zugleich etwas16. Die Sprache dient dann nicht mehr nur und »in erster Linieder Beschreibung oder Festlegung von Tatsachen; sie dient gleichermaßen demBefehlen und dem Rätselraten, dem Witze-Erzählen, Danken, Fluchen, Grüßenund Beten«17.In dieser Unterscheidung von semantischer, intentionaler und gebrauchstheo-retischer Funktion von Sprache im kommunikativen Handeln, zeichnet sicheine »Wiederermächtigung von Grundbegriffen ab, auf denen die Rhetorik be-ruht«18. Die Bedeutung einer Aussage lässt sich nicht mehr allein aus dem se-mantischen Gehalt bestimmen oder den Intentionen, die der Sprecher mit ihrverbindet. Was eine Aussage bedeutet, ergibt sich vielmehr wesentlich auchdaraus, wie sie in den unterschiedlichen Kontexten der Hörer und Sprechergebraucht wird. Das bedeutet, dass, angesichts vielfältiger Verwendungsweisen,die semantische Verifikation einer Aussage (also ihre Sachhaltigkeit), die Reso-nanz, die sie beim Hörer erzeugt, nicht mehr sicherstellen kann. Die Eindeutig-keit, die eine Aussage hinsichtlich ihrer Sachhaltigkeit gewinnt, wird in alltäg-lichen Verwendungsweisen in eine Unschärfe überführt, die sich nicht mehrbegrifflich kontrollieren lässt (Evidenzverlust).Wittgenstein, Repräsentant der gebrauchstheoretischen Perspektive, hat dieseBedeutungsvielfalt der Alltagssprache unter dem Begriff des Sprachspiels ana-lysiert. Um die Bedeutung eines Ausdrucks zu verstehen, soll man nicht seinensachlichen Gehalt analysieren, sondern auf das Sprachspiel schauen, das dieje-nigen spielen, die diesen Ausdruck verwenden. Und dieses Sprachspiel ist wie-derum nur verständlich im Rahmen der Lebensform, die den Horizont für denjeweiligen Gebrauch darstellt.Angesichts der Grenzen eines auf Eindeutigkeit abgestellten begrifflichen Den-kens, zerfällt die Alltagskommunikation gleichwohl nicht in eine Vielfalt vonbeziehungslosen Sprachformen (jeder in seiner Welt). Auch wenn die vielfälti-gen Verwendungsweisen in der Alltagssprache nicht durch ein gemeinsamesMerkmal zusammengehalten werden, das sich begrifflich fassen ließe, so gibtes nach Wittgenstein doch etwas wie »Familienähnlichkeiten«19. Familienähn-

84 Rhetorik in der Praktischen Theologie

16. Die grundlegende These von J. Austin lautet: »to say something is to do something«(J. Austin, How to do Things with Words, 1962,12).

17. Vgl. J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, 1988, 111.18. G. Gamm, Die Positivierung des Unbestimmten als Ausgang aus der Moderne, 1994,

347.19. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1953, 32 (§ 66+67). »Familien-

ähnlichkeit« analysiert Gerhard Gamm als einen rhetorischen Grundbegriff (vgl.G. Gamm, Die Positivierung des Unbestimmten, 1994, 342-347).

lichkeit ist selber eine Metapher für einen nicht-begrifflichen Zusammenhangder mannigfaltigen Sprachspiele im Alltag. Die Sprachspiele der Menschen imAlltag werden offenbar nicht über logische Operationen koordiniert, etwawenn, wie in einem Urteil, eine bestimmte Verwendungsweise subsumiert wirdunter ein gemeinsames Merkmal, das allen Verwendungsweisen gemeinsam ist,sondern über Ähnlichkeiten und Vergleiche. Solche »Verwandtschaftsverhält-nisse« erlauben den Anschluss eines Sprachspiels an das andere, ohne dass dieseinfach beliebig oder logisch zwingend geschieht. Ähnlichkeit ist weder Identi-tät noch Nicht-Identität. Die Anschlüsse der verschiedenen Sprachspiele sinddaher immerhin plausibel und zwar im Sinn einer Resonanz, welche die Meta-phern, mit deren Hilfe die unterschiedlichen Sprachspiele überbrückt und ver-bunden werden, beim Gegenüber zu erzeugen in der Lage sind. Das innereBand der alltäglichen Kommunikation lässt sich daher kaum logisch, wohl aberrhetorisch rekonstruieren, insofern Rhetorik genau dieses Verfahren der Ähn-lichkeitsbeziehungen erschließt, das scheinbar Getrenntes bildhaft und sym-bolisch aufeinander bezieht und an die Zustimmung oder Ablehnung der Hö-rer bindet20.Folgt man der hier angedeuteten Ausdifferenzierung der modernen Sprachphi-losophie, dann entspricht der Unterscheidung von semantischer oder pragma-tischer Sprachfunktion eine Differenz im Bereich der Rhetorik. Der Dominanzdes Semantischen folgt die klassische Rhetorik als einer untergeordneten Tech-nik der Überredung, die etwas, das als wahr erkannt wird, bei anderen zurDurchsetzung bringt. Der Eigenständigkeit der sprachpragmatischen Dimensi-on entspricht dagegen das Rhetorische im Sinne eines Sprachhandelns, das, wieetwa bei Wittgenstein, diesseits der Sprachgehalte auf die Interaktion und Inte-gration in verschiedenen Sprachwelten abzielt21. Dieser Unterschied von Rheto-rik und Rhetorischem zeigt sich am deutlichsten am Verständnis und Gebrauch

Das Rhetorische im Alltag 85

20. In diesem Sinn einer Koordination sozial eingespielter Verwendungsweisen sprach-licher Bedeutungen lässt sich Hans Blumenbergs These verstehen, dass der rhetori-sche Konsens den pragmatischen Untergrund darstellt, auf den jeder Handelnde ange-wiesen ist (vgl. H. Blumenberg, AAR, 108f.).

21. Man kann nicht anders als von einer Einheit der Sprache in ihren unterschiedlichenFunktionen ausgehen. Für die Differenz von Rhetorik und Rhetorischem aber ist ent-scheidend, dass diese Einheit nicht in einem Punkt oberhalb der Sprache gegeben ist,sondern sich wiederum aus Ähnlichkeiten und Verwandtschaften aufbaut, die keinFundierungsverhältnis, etwa der semantischen in der pragmatischen Sprachfunktion,und umgekehrt, erlaubt. Das gilt auch für das Verhältnis von Sprache und Handeln. Sohat Melenk nichts gegen die »pragmatische Verankerung der Semantik« einzuwenden,warnt aber davor, »von nun an alles Sprechen in Handeln aufzulösen« (H. Melenk,Alltagssprache, 181). Verankerung ist eben doch etwas anderes als Fundierung der Se-mantik.

der Metapher, die dasjenige signifikante Element der Rhetorik darstellt, an dersich die unterschiedlichen Funktionen der Rhetorik ablesen lassen, entwederüber die Wahrheit mit den Mitteln des rhetorischen ornatus zu verfügen, oderaber mit dem Mangel an Wahrheit durch die Kunst des Scheins fertig zu wer-den22.In der klassischen Rhetorik der Antike gilt die Metapher als eine Form der un-eigentlichen Rede23. Sie ersetzt in der Rede die eigentliche Aussage durch einBild, um so den vorausgesetzten Sachverhalt für den Hörer überzeugenderund einleuchtender zu machen. Ein solch uneigentlicher Gebrauch der Meta-pher wird legitimiert als Konzession an den Hörer, ohne aber der intersubjek-tiven Interaktion einen konstitutiven Rang einzuräumen. Entscheidend ist dieWahrheit des vorgestellten Sachverhalts, nicht die Resonanz beim Hörer. Fürdie uneigentliche Metapher gilt deshalb, dass sie prinzipiell rückführbar seinmuss auf eindeutige Aussagen. Als Vorform des Begriffs ist die Metapher striktauf die eigentliche Rede bezogen. Immerhin wird so schon bei Aristoteles, wennauch noch als Luxus, den sich eigentliche Rede leisten kann oder auch nicht, inder Metapher der spezifische Anredecharakter von Sprache analysiert. Auchwenn dies unter der Vorherrschaft des Sachbezugs geschieht, der als eigentlicheRede von der uneigentlichen metaphorischen Rede unterschieden bleibt, sowird mit dieser Differenz auch der Anredecharakter von Sprache, wenn auchin einem Verhältnis strikter Unterordnung, schon bei Aristoteles deutlich. In-sofern entlässt »die aristotelische Analyse der Funktion der Metapher aus dieserFragestellung [nach der Eigentlichkeit oder Uneigentlichkeit metaphorischerRede] nicht, sondern weist auf ihre Weise in sie hinein«24.Für die sprachphilosophische Neuentdeckung und Neubewertung des Rhetori-schen ist entscheidend, dass die These von der Uneigentlichkeit metaphorischerRede zu kurz greift25. Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Gründe. Zum einenist die Beobachtung zu nennen, die sich schon bei Aristoteles machen lässt, dasses bestimmte Fälle gibt, in denen die Metapher nicht nur sekundärer Ausdruckeines an sich begrifflich darstellbaren Sachverhalts ist, sondern der metaphori-sche Ausdruck ersatzlos, mithin notwendig ist, weil es für ihn kein »verbumproprium« gibt. Diese, in der Terminologie Blumenbergs, absolute Metapher

86 Rhetorik in der Praktischen Theologie

22. Vgl. H. Blumenberg, AAR, 105.23. Vgl. E. Jüngel, Metaphorische Wahrheit, 1980, 106ff.; Zusatz in eckiger Klammer ist

von mir.24. A. a. O., 133.25. Hans Blumenbergs und Eberhard Jüngels Metaphorologie stimmen bei allen Un-

terschieden an diesem Punkt der Eigentlichkeit metaphorischer Rede überein. Kritischäußert sich Philipp Stoellger zu E. Jüngels Programm, die Metaphorologie theo-logisch in Anspruch nehmen, um Gottes Kommen als Ereignis der Sprache zu explizie-ren (vgl. Ph. Stoellger, Metapher und Lebenswelt, 434-478).

lässt sich – und das ist der zweite Grund – als Hinweis darauf verstehen, dassauch die Eindeutigkeit der Begriffe in der eigentlichen Rede eine bestimmteReduktion der Bedeutungsbreite eines metaphorischen Ausdrucks darstellt. Be-griffe sind verfestigte Metaphern. Die eigentliche Rede wäre demnach nur eineeingeschränkte Form des Gebrauchs von Metaphern, nicht aber das Kriterium,an dem sich die Differenz von eigentlicher und uneigentlicher Sprechweise, vonBegriff und Symbol, festmachen ließe. Auch wenn man diese radikale Kon-sequenz nicht mitvollzieht, so wird man doch sagen können, dass die Ent-deckung absoluter Metaphern ein Hinweis darauf ist, dass jede semantisch ein-deutige Sprache, wie etwa die der Wissenschaft, auf der Bedeutungsvielfalt dernatürlichen Alltagssprache aufruht, und dass sie ihre Bestimmtheit vor demHintergrund von vielfältigen Verwendungsweisen ein- und desselben Aus-drucks nur unvollständig stabilisieren kann. Die unvermeidbare Unschärfe inder Alltagskommunikation lässt sich nicht in völlige Eindeutigkeit überführen.Die These von der Metapher als einer spezifischen Form des Sprachhandelns,das mehr und anderes ist als nur Vorform des Begriffs26, und damit die Thesevon der eigenständigen Bedeutung des Rhetorischen, diesseits einer nur sekun-dären Beziehung der Rede auf den Hörer, hat zur Folge, dass sich das Verhältnisvon semantischer und pragmatischer Funktion der Sprache, von Logos undMythos, Begriff und Metapher verändert. Das Rhetorische im Sinne der sym-bolischen Kommunikation, die den Alltag der Menschen trägt, die gesamte In-frastruktur an Gewohnheiten, Prägungen, Kindheitserinnerungen, Leseerfah-rungen, Bezugspersonen, an räumlichen Orientierungen und zeitlichenRhythmen lässt sich nicht fugenlos in ein Konzept rationaler Handlungskoordi-nation überführen, wie es etwa Habermas in seiner Theorie der kommunikati-ven Vernunft vorstellt. Rhetorische Vernetzung lebensweltlicher Horizonte gehtoffenbar jeglicher Theorie voraus.Das sieht auch Habermas so. Auch für ihn beruht die kommunikative Vernunft,die Handlungen einvernehmlich und qua rationaler Verständigung koordiniert,darauf, dass immer schon gehandelt worden ist – und zwar ohne diskursiveVerständigung. Allerdings wird bei Habermas dieser Zustand einer präreflexi-ven Einvernehmlichkeit, die »miteinander verzahnten Hintergrundannahmen,Verlässlichkeiten und Vertrautheiten, Gestimmtheiten und Fertigkeiten«27, alsBodenfunktion der Lebenswelt verstanden, auf die sich die diskursive Hand-

Das Rhetorische im Alltag 87

26. Diese These vertritt schon E. Fuchs. Die »Wahrheit der Metapher« dient anderem als»der Veranschaulichung einer Wahrheit.« Vielmehr geht es bei der Metapher um ver-schiedene Einstellungen zur Wahrheit, um die »Lenkung oder Einstellung der Existenzselbst,« (E. Fuchs, Hermeneutik, 41970, 218 f.). Unter dem Titel der existenzialen In-terpretation von Sprache wird bei Fuchs etwas von dem vorstellig, was hier die Dimen-sion des Rhetorischen genannt wird.

27. J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, 1988, 93.

lungskoordination bezieht, um sie in ein reflexives Einverständnis zu überfüh-ren. Prinzipiell gilt, dass diese eingespielten Praktiken einer präreflexivenHandlungskoordination in diskursives Einverständnis überführt werden kön-nen und müssen. Sofern dies nicht vollständig gelingt, hat die Lebenswelt denCharakter einer regressiven Immunisierung ihrer in sie eingelagerten kom-munikativen Gehalte gegenüber einer diskursiven Verständigung. Die rhetori-sche Vernetzung lebensweltlicher Selbstverständlichkeiten wird daher beiHabermas auf das Maß der kommunikativen Vernunft reduziert. Das Rhetori-sche ist nur insofern im Blick, als es sich in diskursive Rationalität transformie-ren lässt. Das zeigt sich an der Leitmetapher, die für Habermas die Lebensweltcharakterisiert. Lebenswelt ist ein ungenutzter Wissensvorrat, eine Ressourceverfestigter semantischer Gehalte28, die »auf dem Marktplatz der kommunika-tiven Alltagspraxis« in Umlauf gebracht, »liquide gemacht«29, und so der gesell-schaftlichen Kommunikation erschlossen werden.Dieser Zuordnung von Lebenswelt und kommunikativer Vernunft, von ratio-naler Verflüssigung eines präreflexiv Erstarrten, entspricht die Vorstellung, dassdie Lebenswelt ein fester Untergrund, eine Ressource sei, die im Zuge ihrerkommunikativen Verflüssigung auf Verlust berechnet ist. Aber mindestensebenso auffällig wie der Verlust an lebensweltlicher Selbstverständlichkeit imZuge der modernen Rationalisierung der Lebenswelt ist die Unerschöpflichkeitdes lebensweltlichen Vertrautheitsfond. Zwar wird dieser Hintergrund ständigabgebaut, aber ebenso beständig werden dabei andere stillschweigende Voraus-setzungen in Anspruch genommen.Will man dieser Doppeldeutigkeit in der Sinnkrise der Moderne gerecht wer-den, liegt es nahe, die Lebenswelt nicht als Ressource, sondern als Horizont desSelbstverständlichen zu verstehen. Jede rationale Thematisierung lebenswelt-licher Selbstverständlichkeiten ist dann ihrerseits in Horizonte des Selbstver-ständlichen eingebettet, die sich einer vollständigen Überführung in diskursiveVernunftgründe entziehen. Es gibt dann diesseits einer kommunikativen Ver-nunft nicht völlige Vernunftlosigkeit, diesseits von Bestimmtheit nicht völligeUnbestimmtheit. Es handelt sich vielmehr um Formen lebensweltlicher Ratio-nalität30, die sich zur Handlungskoordination nicht auf Urteile beziehen, son-

88 Rhetorik in der Praktischen Theologie

28. Jürgen Habermas umschreibt die Selbstverständlichkeiten der Lebenswelt als Materi-al, »was aus den Ressourcen des lebensweltlichen Hintergrundes ins kommunikativeHandeln eingeht, durch die Schleusen der Thematisierung hindurchfließt.« (A. a. O.,96).

29. A. a. O., 98.30. Bernhard Waldenfels plädiert in seiner Kritik an Habermas’ Theorie der kom-

munikativen Vernunft für eine Erweiterung der Rationalität, die den Habermas’schenGeltungszwang lockert und die »materiale Rationalität einer Ordnung der Dinge«(B. Waldenfels, In den Netzen der Lebenswelt, 21994, 116) in den Blick bekommt.

dern auf Bilder, Metaphern, Geschichten. Ein solches imaginatives Verfahren istdie Rhetorik, die dem Handelnden hilft, das Fehlen zureichender Gründe zuverschmerzen31. Denn es kann »im Begründungsbereich der Lebenspraxis dasUnzureichende rationaler sein als das Insistieren auf einer ›wissenschaftsförmi-gen‹ Prozedur«32.

2.3 Rhetorik und Rhetorisches in der Praktischen Theologie

Der klassische Ort, an dem die Rhetorik gemeinhin in der Praktischen Theo-logie thematisiert wird, ist die Homiletik. Für die Geschichte der christlichenRezeption der (antiken) Rhetorik bedeutet dies, dass die Rhetorik von Anfangan im Spannungsfeld von logos und verbum, von vorausgesetzter Wahrheit desgöttlichen Wortes und der angemessenen sprachlichen Einkleidung dieserWahrheit zugunsten einer wohlwollenden Aufnahme beim Hörer zu stehenkommt. Mit anderen Worten, das Christentum rezipiert die antike Rhetorik ineiner Frontstellung, die ihr bereits von Platon vorgegeben und bei Augustin33

nur noch wirkungsmächtig inszeniert wird, nämlich die Macht der Überredungals eine Qualität allein der Wahrheit zuzuschreiben und die Rhetorik als dieangemessene Exekution dieser Qualität in der Predigt anzusehen. In diesemplatonischen Erbe wurzelt bei Augustin der Begriff der arma rhetorum34. Rhe-torik bietet sich der christlichen Verkündigung als Waffendienst an, um imKampf der Worte (pugna verborum) die Wahrheit des Glaubens zur Durchset-zung zu bringen.Diese instrumentelle Unterordnung der Rhetorik als Mittel der Verkündigungunter die Sache, die verkündigt werden soll, ist ein durchgängiges Motiv, das dieStellung der Rhetorik im Protestantismus von der Reformation bis zur Neuzeitweitgehend bestimmt35. Daran ändert auch die humanistische Wertschätzungder Rhetorik nichts, wie sie durch Melanchthon in die reformatorische Theo-logie eingeführt wird. Zwar könnte man Melanchthons Verteidigung der Rhe-

Das Rhetorische im Alltag 89

31. Mary Douglas kritisiert in diesem Sinn die Unschuld der (amerikanischen) Sozial-wissenschaften, der die kulturelle Codierung auch ihres eigenen Anspruchs auf Objek-tivität entgeht. Das Rhetorische dagegen führt genau in jene ambigue Dimension derLeibhaftigkeit von Wahrnehmung, die Douglas als »dirty side of the subject«(M. Douglas, Risk and Blame, 1992, 11; vgl. a. a. O., 30 ff.) bezeichnet.

32. H. Blumenberg, AAR, 125.33. Dagegen betont W. Magass, dass die antike Rhetorik schon in der Patristik eine pro-

duktive Veränderung und Aneignung erfahren habe (vgl. W. Magass, Rhetorik undPhilosophie in der Patristik, 1989, 75 ff.).

34. Vgl. J. Kopperschmidt, Das Ende der Verleumdung, 1991, 24 f.35. Vgl. D. Gutzen/M. Ottmers, Art. Christliche Rhetorik, 1994, Sp. 216/221f.

torik gegen die Scholastik als den Beginn einer pragmatischen Lesart verstehen,vermittelt durch den »usus«-Gedanken. Aber diese Differenz betrifft nicht dieHierarchie von res und verba, der Melanchthons Wertschätzung der Rhetorikverhaftet bleibt. Rhetorik ist auch für Melanchthon die funktionale Verdeutli-chung einer vorausgesetzten Sache36.Diese grundsätzliche Marginalisierung der Rhetorik im Protestantismus ändertsich erst durch die Rezeption der Ergebnisse der modernen Sprachphilosophie.Der »linguistic turn« in der Philosophie, die Reflexion auf die Sprache und ihresemantische, intentionale und pragmatische Dimension schärfen auch dentheologischen Blick für die Differenziertheit sprachlicher Mittel, die nicht nurVerdeutlichungen dogmatischer Sätze sind37. Dass Sprache als solche eineFunktion erfüllt, charakterisiert die neutestamentlichen Gleichnisse und Meta-phern als ein »Sprachereignis«38. Indem so in der Theologie die Differenz vonsemantischer und pragmatischer Funktion, von Aussage- und Anredecharakterder Sprache, von Sachverifikation und Hörerbezug zum Tragen kommt, lässtsich auch die Differenz von Rhetorik im Sinn einer sekundären Verdeutlichungund dem Rhetorischen als einem elementaren Ausdrucks- und Distanzierungs-geschehen theologisch einholen. Allerdings fordert der Blick auf das Rhetori-sche, dass sich die Theologie von einer platonischen Unterordnung der Redeunter die Sache löst, die bisher ihr Verhältnis zur pragmatischen Dimensionder Sprache prägte.Für diese Abkehr von einem engen, an der Verdeutlichung des Predigtinhaltsorientierten Rhetorikverständnis zu einem weiten, alle Handlungsfelder derKirche betreffenden Begriff des Rhetorischen als einer grundlegenden Dimen-sion der Verständigung erweist sich der Bezug auf die Homiletik als zu enggeschnitten. Die Dimension des Rhetorischen, in der sich die Lebenswelt desHörers erschließt, seine lebensgeschichtliche Identitätsbildung, seine alltäglicheOrientierung, seine handlungsrelevanten Präferenzen und Vorzugswahlen, bil-den vielmehr einen alltäglichen Hintergrund, der Gottesdienst, Predigt, Seel-sorge, Religionspädagogik, Bildung und Unterricht, kurz, die gesamte kirchli-che Praxis betrifft.Die Dimension des Rhetorischen gehört folglich in den Zusammenhang derGrundlegung der Praktischen Theologie. Die Problemstellung, die sich mit die-

90 Rhetorik in der Praktischen Theologie

36. Vgl. B. Vickers, Rhetorik und Philosophie in der Renaissance, 1989, 151.37. Das betont programmatisch E. Jüngel: »Sie [die geglückte Metapher] hat axiomati-

sche Kraft und axiomatische Würde.« (E. Jüngel, Metaphorische Wahrheit, 1980, 144;Zusatz in eckiger Klammer von mir).

38. Sprachereignis ist die zentrale Kategorie von Ernst Fuchs’ neutestamentlicher Herme-neutik: »Der Ausdruck Sprachereignis meint aber zugleich die Sprache selbst, als Ereig-nis« (E. Fuchs, Das Sprachereignis in der Verkündigung Jesu, 21965, 281).

sem Titel verbindet39, hat ihre neuzeitliche Pointe darin, dass Praktische Theo-logie als Theorie vom Handeln der Kirche ihre orientierende Funktion nichtmehr allein aufgrund der ekklesiologischen Festlegungen und dogmatischenLehrgehalte leisten kann, die traditionell das Wissen des christlichen Glaubensund den Auftrag der Kirche festlegen. Zu tiefgreifend sind die mentalen, reli-giösen und kulturellen Wandlungen in der neuzeitlichen Geschichte des Chris-tentums. Diese Wandlungen betreffen vor allem das Verhältnis von kirchlicherLehre und individuellem Frömmigkeitsvollzug, von dem, was die Bekenntnis-grundlagen an Glaubensinhalten festschreiben, und dem, wie im Leben desEinzelnen religiöse Bilder und Symbole ihre lebenspraktische Bedeutung ge-winnen. Die Wandlungen in der neuzeitlichen Geschichte des Christentumslassen eine Spannung akut und deutlich werden, die in der Geschichte desChristentums schon immer gegeben war, aber die sich erst unter der Bedingungmoderner Ausdifferenzierung von Lehre und Leben, von Vernunft und alltäg-licher Kommunikation als prinzipielles Problem stellt, das für die Grundlegungder Praktischen Theologie entscheidend ist. Vermutlich haben Glaubensinhaltund Glaubensvollzug, in klassischer Terminologie fides quae und fides qua, nurals ideales Konstrukt je eine Einheit gebildet, etwa im Sinn der pietistischenAnwendung40 der vorausgesetzten biblischen Wahrheit auf das Leben der Gläu-bigen.Dass gelebter Glaube und christliche Lehre eine zwar aufeinander bezogene,aber irreduzible Differenz bilden, wird erst dann ein akutes Problem, wenn,wie in der Neuzeit, das Christentum seine die gesamte Kultur integrierendeKraft verliert. Die »Ohnmacht« der Lehre, die Vielfalt religiöser Vollzüge inner-halb und außerhalb der Kirche verbindlich zu regulieren, entwickelt sich dabeientlang einer Linie, die ein vergleichbares Problembewusstsein in der Ausdiffe-renzierung der neuzeitlichen Vernunft darstellt. Die Differenz von theologi-scher Wahrheit und gelebter Religion spiegelt insofern die Deckungslückender Vernunft wider, die in der Neuzeit ebenfalls nicht mehr in der Lage ist, diepragmatischen Formen lebensweltlicher Vergewisserung als Exekution all-gemeiner semantischer Gehalte auszugeben. In der aus der Antike vertrautenFrontstellung von Philosophie und Rhetorik sind die Beziehung auf den Hörer

Das Rhetorische im Alltag 91

39. Volker Drehsen hat die Grundlegung der Praktischen Theologie in ihrer neuzeitli-chen Genese und ihren Konstitutionsbedingungen umfassend dargestellt (vgl.

40. Henning Schröer plädiert für die Erneuerung einer theologia applicata, die »zumRückgriff über Schleiermacher zurück in den Pietismus« führt, allerdings im Horizonteiner Hermeneutik, die, im Unterschied zum Pietismus, die »Applikation als ein Mo-ment des Verstehens selber« (H. Schröer, Art. Hermeneutik, 1986,150f.) und nichtals dessen Folge geltend macht.

und die pragmatische Koordination individueller Lebensformen und Vollzügekeine Vollstreckung der Wahrheit der in der Rede verhandelten Sachverhalte.Für die Grundlegung der Praktischen Theologie als einer Theorie kirchlichenHandelns bedeutet dies, dass die Praktische Theologie ihrer Aufgabe, die christ-liche Überlieferung mit der gegenwärtigen Erfahrungswelt zu vermitteln, nurgerecht zu werden vermag, wenn sie die sozio-kulturellen Veränderungen inder Lebenswelt in ihre Grundlegung einholen kann. Sie muss durchgängig von»der Unterscheidung von Theologie und gelebter Religion« getragen sein undversuchen, »der von der kirchlichen Lehre unterschiedenen Religion auf dieSpur zu kommen«41. Nur dann ist zu erwarten, dass die Praktische Theologie,die nicht nur Kirchentheorie, sondern auch Theorie gelebter Religion ist, dieüberlieferten Lehrgehalte des christlichen Glaubens in einer Weise umformulie-ren kann, dass sie anschlussfähig werden für die gelebte Religion, also die reli-giösen Symbolisierungen und Rituale, die neben anderen Formen der Symbol-bildung, wie Kunst oder Medien, den Alltag der Menschen orientieren.Für die moderne Praktische Theologie, die sich genötigt sieht, die tiefgreifen-den mentalen und orientierungspraktischen Wandlungen »in ihre eigeneGrundlegung einzuholen«42, ist deshalb eine der entscheidenden Fragen, wiedenn gelebte Religion im Alltag der Menschen zu verstehen ist. Das hat schonD. Rössler in seinem Grundriss der Praktischen Theologie eingefordert. Röss-lers Grundriss liegt die These zur Christentumsgeschichte zugrunde, dass sichdas Christentum in der Neuzeit in dreifacher Gestalt, als individuelles, öffent-lich-gesellschaftliches und kirchliches Christentum ausdifferenziert. Die indivi-duelle, vom Einzelnen gelebte Religion ist demnach nicht mehr identisch mitder christlichen Religion, wie sie die Kirche organisiert. Gelebte Religion istvielmehr ein alltägliches Phänomen, das allen manifesten Formen von gesell-schaftlicher und kirchlicher Religion vorausliegt und in diesen nie vollständigzur Darstellung gebracht werden kann. Deshalb bildet nach Rössler »für diegenerelle Aufgabe der Praktischen Theologie das Verständnis des religiösen All-tags eine wichtige Grundlage, die für alle Hinsichten des kirchlichen Handelnsvon Bedeutung ist«43.Die verschiedenen Modelle, die in der Praktischen Theologie zur Lösung dieserAufgabe entwickelt wurden, die Religion im Alltag oder den religiösen Alltag zuverstehen, partizipieren an unterschiedlichsten Definitionen von Alltag44, so

92 Rhetorik in der Praktischen Theologie

41. W. Gräb, Lebensgeschichten, 1998, 25.42. A. a. O., 24.43. D. Rössler, GPT, 1986, 69.44. Falk Wagner gibt einen Überblick über die verschiedenen Positionen, Religion auf

Alltag zu beziehen (vgl. F. Wagner, Was ist Religion? 1986, 446ff.; vgl. außerdem diepraktisch-theologischen Entwürfe im Kapitel I.).

dass der Vorwurf nahe liegt, die Praktische Theologie wisse überhaupt nicht,worauf sie sich als Theorie gelebter Religion eigentlich beziehe. Man kann die-sem Vorwurf wohl kaum dadurch begegnen, dass man die unscharfen Grenzenin der Bestimmung von Alltag in eine Definition, einen Begriff der Sache selbst,überführt. Viel eher ist zu vermuten, dass die Unschärfe in der Definition vonAlltag ein wesentlicher Bestandteil des Phänomens ist, das es zu begreifen gilt.Statt den unscharfen Grenzen eine einheitliche Definition entgegenzusetzen,kann man versuchen, Gemeinsamkeiten und Familienähnlichkeiten an den un-terschiedlichen Alltagsbegriffen festzustellen.Eine gewisse Orientierung in diesem diffusen Feld ergibt sich, wenn man sieht,dass Alltag in der Regel als ein Sinnganzes, »das Insgesamt der tragenden Selbst-verständlichkeiten«45, im Gegensatz zu den mannigfaltigen Deutungs- und Re-flexionsperspektiven gesehen wird, die diesen – an sich stummen – Alltag zumSprechen bringen. Das Verhältnis von Alltag und religiöser Deutung des Alltagsist dabei in einem Zwei-Reiche-Schema gedacht, als zwei aufeinander bezogene,getrennte Ebenen. Die Grenze zwischen Alltag und religiös gedeutetem Alltagläuft entlang der Unterscheidung von Bedeutung und Deutung, von vorreflexi-ver Primärerfahrung und reflektierender oder deutender Sekundärbeziehung,von fragloser Selbstverständlichkeit und diskursiver Selbstverständigung, vonunmittelbarem Vollzug und manifester Darstellung.Unter diesen Voraussetzungen erscheint das spezifisch Religiöse im Alltag alseine bestimmte Deutung und Thematisierung eines Untergrunds an Selbstver-ständlichkeiten. Religiös ist nicht eine bestimmte Erfahrung im Alltag selber,sondern eine Erfahrung mit alltäglicher Erfahrung. Religiös ist der Alltag, so-fern er, etwa im Horizont des Unbedingten46, in bestimmter Hinsicht wahr-genommen und gedeutet wird. Streng genommen ist deshalb das Religiöse kei-ne Erfahrung im Alltag, sondern eine Erfahrung mit dem Alltag. Was also amAlltag religiös sein soll, verdankt sich einer Interpretations- und Deutungsper-spektive, die sich gerade nicht aus dem Alltag, sondern aus einer religiösen Re-flexions- und Deutungskultur ergibt.Man könnte dem Problem, das sich aus diesem »Perspektivenwechsel zweiterStufe«47 ergibt, dass nämlich Religion nicht direkt im Alltag, sondern nur alsreligiös gedeuteter Alltag erscheint und daher der Alltag unter Umständen eineganz andere Bedeutung hat, als es die religiöse Deutung will, dadurch begeg-nen, dass man einen bestimmten Aspekt am Alltag religiös auszeichnet. Im Sin-ne eines vorprädikativen Weltglaubens hat das fraglos in Geltung Stehende einegroße Nähe zum christlichen Schöpfungsglauben. Mit dem Alltag wird dann

Das Rhetorische im Alltag 93

45. H. Timm, Zwischenfälle. Die religiöse Grundierung des All-Tags, 31986, 16.46. Vgl. W. Gräb, Lebensgeschichten, 1998, 56 ff.47. U. Barth, Was ist Religion? 1996, 544.

die Vorgegebenheit einer Welt von Selbstverständlichkeiten artikuliert, von derwir leben, ohne für sie aufkommen zu können und zu müssen.In diese Richtung geht Rösslers These48, die gelebte Religion strikt von der theo-logisch und kirchlich gedeuteten Religion zu unterscheiden. Rössler kehrt ge-wissermaßen das Verhältnis von Alltag und religiöser Deutung zweiter Stufeum und begreift die religiöse Deutung als Artikulation eines im Alltag einge-lagerten, allgemeinen religiösen Sachverhalts. Religiöse Deutung bringt danndas Religiöse am Alltag nicht erst hervor, sondern die Religion im Alltag selberzur Darstellung, wenn auch prinzipiell defizitär. Dasjenige, was am Alltag reli-giös genannt zu werden verdient, ist sein Charakter einer Vorgegebenheit, seineBodenfunktion, die sich als Abhängigkeitsgefühl des menschlichen Daseins unddaran anknüpfend als Freiheitsempfinden verstehen lässt, das sich an diesemAbhängigkeitsgefühl entwickelt49.Man kann gegen die These Rösslers einwenden, dass Religion auf diese Weisenicht nur im Alltag verortet, sondern der Alltag insgesamt religiös wird. »Reli-gion ist überall«50. Zudem repräsentiert die Differenz von mehrdeutiger Religi-on und ihren manifesten Darstellungen, so wie sie Rössler auffasst, nur einebestimmte Deutung der gelebten Religion51. Religion als Sinnüberschuss kannauch im Sinn einer alltäglichen Ressource begriffen werden. Aus Sicht der kom-munikativen Vernunft wird diese Ressource allmählich in vernünftige Gehalteüberführt werden. Und zwar wird sich die gelebte Religion in dem Maße auf-lösen, in dem sich die vernünftigen Gehalte verflüssigen lassen, die als Sedimen-tierungen von Sinn im Hintergrund des Alltags abgelagert sind.Der Mensch ist mehr als seine Deutungen. Rösslers Generalthese kann deshalbauch so verstanden werden, dass es sich dabei um ein vernünftig noch zu re-konstruierendes Hintergrundwissen handelt. Im Alltag wird dieses Hinter-grundwissen, auch in religiöser Kommunikation, in Anspruch genommen, aberes wird dort nicht thematisiert. Die Selbstverständlichkeit des Hintergrundwis-sens zerfällt unter dem Eindruck lebensgeschichtlicher Krisensituationen, umdann in ein explizites Wissen überführt und in rationale Gehalte der kommuni-kativen Vernunft übersetzt zu werden52.Anders stellt sich freilich das Problem freilich dar, wenn der Alltag nicht alsSinnressource, sondern als Inbegriff lebensweltlicher Horizonte verstandenwird. Religion im Alltag als Lebenswelt repräsentiert dann keine apriorisches

94 Rhetorik in der Praktischen Theologie

48. Vgl. D. Rössler, VdR, 124.49. Vgl. A. a. O., 65.50. A. a. O., 7.51. Vgl. F. Wagner, Was ist Religion? 1986, 483.52. Zu diesem Verhältnis von lebensweltlichem Hintergrund- und kommunikativem Vor-

dergrundwissen, vgl. J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, 1988, 95 ff.

Grundstruktur des menschlichen Daseins, wie bei D. Rössler53, sondern einenbesonderen Umgang mit der Horizonthaftigkeit der Darstellung von Sinn. Aufdas Verhältnis von sichtbaren Sinndarstellungen und den unsichtbar mitlaufen-den Hintergründen, von gelebter Religion als mitgegebener Horizont der mani-festen Religion, ist dann auch das Rhetorische bezogen. Rhetorisch ist nicht erstdie Kommunikation religiöser Gehalte, sondern bereits die Abschirmung einerWeltvertrautheit, die in jeder religiösen Kommunikation als Rückendeckung inAnspruch genommen werden muss.Einen anderen Ausgang als bei der Lebenswelt nimmt allerdings die Wiederent-deckung der Rhetorik in der Praktischen Theologie, wie sie seit einigen Jahrenvon G. Otto54 und M. Josuttis55 vorangetrieben wird. Beide setzen sich mitihrem Verständnis von Rhetorik von einer Tradition ab, die Rhetorik im Diensteiner vorausgesetzten Wahrheit beansprucht. Die Eigenständigkeit der Rhetorikgegenüber semantischen Gehalten kommt in dem emphatischen Begriff der Re-de zum Ausdruck, mit dem Josuttis und Otto die Rhetorik als Form der kom-munikativen Vernunft charakterisieren. Wird, wie bei Otto56, Rhetorik aus

Das Rhetorische im Alltag 95

53. Das ist das Problem bei Dietrich Rössler, der den Begriff der »gelebten Religion« ingroßer Nähe zu einem phänomenologischen Begriff lebensweltlich situierter Religiosi-tät einführt. Allerdings, wie Falk Wagner anmerkt, ist D. Rössler der Ansicht, »dasssich der Kern der gelebten Religion als ihr ›Grundcharakter‹ auf eine allgemeine Formelbringen lasse, die unabhängig von ihren pluralen Deutungen diesen immer schon zu-grunde liege« (F. Wagner, Was ist Religion? 1986, 487). Genau diese Vorstellung einerapriorischen Allgemeinheit gelebter Religion wird mit der Einsicht in die Horizonthaf-tigkeit der lebensweltlichen Situiertheit gelebter Religion ausgeschlossen. Der Hinweis,dass alles Leben sich in unhintergehbaren Horizonten vollzieht, also vor einem Hinter-grund von unausdrücklichen kulturellen Prägungen und Lebensformen, ist der Ver-such, etwas deskriptiv zu erfassen, was sich in einer apriorischen Konstitution der Er-fahrungswirklichkeit verflüchtigt, nämlich die Spezifik und Pluralität menschlicherErfahrungshorizonte, die sich nicht auf einen allgemeinen Nenner bringen lassen. Da-rin liegt die Differenz zu D. Rössler, bei weitgehender Übereinstimmung, was seinGrundanliegen angeht.

54. Vgl. zu G. Otto unten Kapitel II.2.55. Vgl. zu M. Josuttis unten Kapitel II.3. Der Ansatz von J. Rothermund (Der Heilige

Geist und die Rhetorik, 1984), der neben Otto und Josuttis in der Praktischen Theo-logie die Rhetorik als eigenständiges Thema aufgreift, bleibt unberücksichtigt, weil erin seiner exklusiven Konzentration auf Rhetorik in der Homiletik für die Frage nachdem Rhetorischen der Lebenswelt im Unterschied zu einer auf Texte bezogenen litera-rischen Rhetorik nicht über das hinausführt, was nicht schon bei Otto oder Josuttiszu finden ist.

56. Gert Otto entfaltet seine Ablehnung einer funktionalen Rhetorik im Dienst einer vo-rausgesetzten Wahrheit in einer Rekonstruktion der Geschichte der Rhetorik (vgl.G. Otto, Art. Rhetorik, Sp.1654-1657; ders., Art. Christliche Rhetorik, 1994, Sp. 197-208). J. A. Steiger kritisiert Ottos Ausdifferenzierung von Rhetorik und Dogmatik,

einem instrumentellen Bezug auf eine vorausgesetzte Wahrheit herausgelöst,dann kommen mit dem Stichwort der »Rhetorik« die christliche Predigt alsRede57, die Kommunikationsformen und sprachlichen Interaktionen in denBlick. In diesem Sinn ist Ottos These zu verstehen, die Rhetorik ziehe die Kon-sequenz für das soziale Handeln aus der elementaren Sprachlichkeit des Men-schen58. Rhetorik könnte so der Titel sein, unter dem die Praktische Theologieeine wesentliche Aufgabe bearbeiten könnte, wie die kirchliche Kommunika-tion unter der Bedingung der dreifachen Gestalt des Christentums Anschlussgewinnt an die Kommunikation der Menschen im Alltag59.Aber Kommunikation über Einstellungen und Handlungsorientierungen, dieim Alltag bereits formiert und in der Predigt dann modifiziert werden – sobegreift Otto die Aufgabe der Predigt – ist etwas anderes als die Frage nach derEntstehung und Fortbestimmungslogik solcher Formationen. Ob der An-schluss kirchlicher Kommunikation an die Alltagskommunikation gelingenkann, ohne die lebensweltlichen Hintergründe dieser Kommunikation aus-zuleuchten, das ist das Problem, das sich mit der Differenz von Rhetorik undRhetorischem anmeldet. Dazu bedarf es zumindest der Wahrnehmung, welcherBegriff von Lebenswelt oder Alltag in den Rhetorikkonzepten von Otto undJosuttis in Anspruch genommen wird.Dabei zeigt sich, dass Alltag eine unbefragte Voraussetzung für die rhetorischeKommunikation darstellt, eine Sinnganzheit, auf dem diese aufruht und ausdessen Gegebensein die Rhetorik nur die Konsequenzen für das soziale Zusam-menleben der Menschen zieht. Das hat Folgen für die Frage, wie Religion undAlltag, wie christliche Predigt und Lebenswirklichkeit aufeinander bezogensind. Während bei Otto das Religiöse darin zu suchen ist, dass die alltäglichenInteraktionsformen in eine bestimmte rhetorische Zuordnung von Inhalt der

96 Rhetorik in der Praktischen Theologie

(vgl. J. A. Steiger, ZThK 92, 1995, 528). Steigers Anliegen, die Lehre nicht gegen dieRhetorik, Textbindung nicht gegen Hörerbindung auszuspielen, ist an sich eine Selbst-verständlichkeit, der auch Otto nicht widerspricht. Gerade die Hörerbindung entlässtnicht aus dem Textbezug, sondern fragt, wie der Text zum Text dieses Hörers werdenkann.

57. Die Differenz von Rhetorik und Rhetorischem, von Sprache als Rede und Sprache alsalltäglichem Hintergrund, bahnt sich innerhalb der Homiletik bei Ernst Lange in derEntdeckung der konstitutiven Bedeutung des Hörers für die Predigt an (vgl. E. Lange,Predigen als Beruf, 1976). In dieser Hörerorientierung, die eine Domäne der klassi-schen Rhetorik ist, wird der Alltag thematisch als Erfahrungshintergrund des Evangeli-ums, »denn der eigentliche Gegenstand christlicher Rede ist eben nicht ein biblischerText, sondern nichts anderes als die alltägliche Wirklichkeit des Hörers selbst – im Lichtder Verheißung« (a. a. O., 58).

58. Vgl. G. Otto, Die Rede ist der Mensch, 1992, 488.59. Vgl. H. Luther, RuA, 248; vgl. D. Rössler, GPT, 69.

christlichen Tradition und Form der dialogischen Wahrheitsfindung überführtwerden, ist bei Josuttis das Religiöse im Einbruch eines transempirischen Ge-halts in die empirische und reale Ebene menschlicher Verständigung zu sehen,die für Josuttis die Rhetorik ausmacht. Ohne diese Differenzen zu nivellieren –bei Otto ist das Religiöse in einer bestimmten Fassung rhetorischer Kommuni-kation selber eingelagert, bei Josuttis trifft es von einem transzendenten Jenseitsauf die Rhetorik als endlich-menschliche Verständigung – lässt sich gleichwohlsagen, dass beide Autoren übereinstimmen in einem, wenn auch unterschied-lich gefassten, Zwei-Reiche-Modell. Religion und Alltag, Predigt und Alltags-gespräch sind zwei unterschiedene und aufeinander bezogene Ebenen, von Mo-difikation des Alltags in christlicher Rede oder von transempirischem undempirischem Gehalt.Offensichtlich ist die Wiederentdeckung der Rhetorik als einer eigenständigenDimension von Sprache für sich genommen noch nicht dazu geeignet, die Be-ziehung von Religion und Alltag, von religiöser Dimension und Lebenswirk-lichkeit zu erhellen. Das mag daran liegen, dass beide Autoren ihr Verständnisvon Rhetorik in Anlehnung an einem Modell von kommunikativem Handelnentwickeln, das seinerseits den Alltag als Hintergrund und Ressource begreift,die in der Rekonstruktion durch die kommunikative Vernunft ihrer Selbstver-ständlichkeit entkleidet werden müssen. Es geht deshalb bei Otto unter demTitel »Rhetorik und Predigt« um explizite Verständigung, nicht mehr über einevorausgesetzte Wahrheit, aber über vorausgesetzte Handlungsoptionen, eineimmer schon formierte Lebenswelt, deren Hintergründigkeit und Dynamikzwischen Formaufbau und Formüberschreitung nicht im Blick ist.Die Unterscheidung von Rhetorik und Rhetorischem geht aber weiter undmeint etwas anderes, als es Otto und Josuttis mit der These von der Predigt alsRede einzuholen vermögen. Sie macht darauf aufmerksam, dass die rhetorischeLeistung nicht nur die der sprachlichen Übersetzung und Artikulation60 einesstummen Hintergrunds und fraglosen Weltvertrautheitsfonds, der so der dis-kursiven Verständigung zugänglich gemacht wird. Metaphern und Symbolemachen nicht nur ausdrücklich, was unausdrücklich in der Lebenswelt in Gel-tung steht, sondern sie sind darin zugleich diejenige Form der Bestimmtheit,die etwas unbestimmt sein lässt.Blickt so das Rhetorische auf den terminus a quo, auf eine Unbestimmtheit,wovon die Metapher Abstand zu gewinnen hilft, ohne sie zu tilgen, so könnte

Das Rhetorische im Alltag 97

60. Hermann Timm versteht diesen Artikulationsvorgang im Sinn einer Zwei-Text-Theo-rie. Das liber naturae (Lebenswelt) ist der geheime, stumme Texte, der durch den Textdes liber vitae (Kulturwelt) zum Sprechen gebracht werden muss (vgl. H. Timm, Zwi-schenfälle. Die religiöse Grundierung des All-tags, 31986, 17). Zur Geschichte dieserMetaphorik, vgl. H. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, 31993.

man sagen, dass Otto und Josuttis nur auf den terminus ad quem61 blicken, aufdasjenige Wissen, das Symbole für die soziale Verständigung verkörpert. Um-fasst das Rhetorische einen horizonthaften, regional nicht eingrenzbaren Vor-gang der Abschirmung und Distanznahme, so bleibt bei Otto und Josuttis dieAblösung einer funktionalen Rhetorik durch Rhetorik als einer eigenständigenDimension von Sprache auf halbem Weg stehen, wenn die intime Verbindungvon Sprache und Lebenswelt ausschließlich als Problem der Verständigung überbereits formierte, strittige Handlungsalternativen gesehen wird.Ein differenziertes, lebensweltlich situiertes Verständnis des Rhetorischen istaber für die grundlegende Frage nach der (theologischen) Bedeutung undFunktion des Alltags für die Religion relevant. Als rhetorische Abschirmungeines Weltvertrautheitsfonds ist der Alltag als Lebenswelt einer theologischenDeutung im Rahmen der Schöpfungslehre zugänglich. Aber gehaltvoll ist dieseDeutung nur dann, wenn die abgeschirmte Vorvertrautheit nicht als ein ver-meintlich Allgemeines, eine Art »Urvertrauen«62, verstanden wird, auf das sichdie Theologie als ihre anthropologische Grundlegung beziehen könnte. Viel-mehr besagt die These von der Horizonthaftigkeit der Lebenswelt, dass die rhe-torische Abschirmung von Selbstverständlichkeiten keine Gegebenheit darstellt,auf die sich theologische Deutung beziehen könnte, sondern ein Mitgegebenesist, ein uneingeholter Horizont des Selbstverständlichen, der sich an den theo-logischen Symbolen und Gehalten auftut.In dieser Fassung aber erlaubt die Dimension des Rhetorischen, die Religion inihrem Alltag als einen kulturell relevanten Vorgang zu begreifen, als religiösePraxis, deren lebensweltliche Hintergründe in einem dialektischen Ineinandervon Sagbarem und Unsagbarem, von manifester und gelebter Religion, vonFormzerstörung und Formaufbau religiöser Symbole fortbestimmt werden.Dieser, in der Darstellung und Rezeption religiöser Symbole spezifisch gestei-gerte Prozess63 der Verflüssigung und Verfestigung von Sinngehalten, des ris-kanten Weitererzählens einer bestimmten Geschichte, die grundlegend ist fürdie christliche Erzählgemeinschaft64, ist auch für die vielfältigen anderen kultu-

98 Rhetorik in der Praktischen Theologie

61. Die Differenz von terminus a quo und terminus ad quem der Metapher ist für H. Blu-menbergs Rhetorikthese entscheidend (vgl. Kap. III.2.2: Lebenswelt und rhetorischeDistanz).

62. Genauso verfährt W. Härle (Dogmatik, 1995), der den Glauben als das »Urvertrauen«oder als die »grundlegende Erfahrung« charakterisiert, auf der »alles andere aufbaut«,(a. a. O., 513 f.).

63. P. Berger/Th. Luckmann sprechen von einer Verdeutlichung, die dieses »dialektischeVerhältnis von Sinnverlust und neuerlicher Sinnstiftung« (P. Berger/Th. Luckmann,Modernität, Pluralismus und Sinnkrise, 1995, 34) im Bereich der Religion erfährt.

64. Zu Rhetorik und Kirche als Erzählgemeinschaft, vgl. unten Kap. V.

rellen Symbolwelten65 und ihre Fortbestimmung relevant, ohne dass deshalbdie Kultur als solche religiösen Charakter annimmt.

Das Rhetorische im Alltag 99

65. Das Grundproblem der Darstellung von Sinn, dieses Ineinander von Sagbarem undUnsagbarem, Aussprechlichem und Unaussprechlichem charakterisiert als einen ele-mentaren kulturtheoretischen Sachverhalt nach Hans-Martin Dober auch für Wal-ter Benjamin die Gemeinsamkeit und Differenz kultureller Symbolwelten, etwa dievon Kunst und Religion. Während im Medium der Kunst die »abstrakt entwickeltenWidersprüchlichkeiten des Ausdrucks [ein Widerstreit des Ausgesprochenen und Aus-sprechlichen mit dem Unaussprechlichen und Unausgesprochenen] erst als solche dersinnlichen Erfahrung zugänglich sind und man deshalb sagen kann: ohne Kunst keineErkenntnis des Widerstreits, der innerhalb aller sprachlichen Gestaltung waltet«(H.-M. Dober, Die Moderne wahrnehmen, 1999, 93; Zusatz in eckiger Klammer vonmir), so wird im Unterschied zur Kunst in der Religion dieser Widerstreit auf ein »letz-tes geistiges Wesen« zurückgeführt, das ihn als das »Ausgesprochenste« sistiert: »Dashöchste Geistesgebiet der Religion ist zugleich das einzige, welches das Unaussprechli-che nicht kennt. Denn es wird ausgesprochen im Namen und spricht sich aus als Offen-barung«, (W. Benjamin, GS II/1, 146).

3. Predigt als Rede. Gert Ottos Überlegungen zurBedeutung der Rhetorik für die PraktischeTheologie

3.1 Charakterisierung der Fragestellung

Die Wiederentdeckung der Rhetorik als eines Verfahrens der Verständigungüber Fragen des sozialen Zusammenlebens und die Ablösung der Rhetorikvon einem rein instrumentellen Verständnis im Sinne der sprachlichen Aus-schmückung einer vorausgesetzten Wahrheit, bilden den geistesgeschichtlichenHorizont, in dem sich Gert Ottos1 Überlegungen zur Rhetorik in der Prakti-schen Theologie rekonstruieren lassen. Otto, der sich innerhalb der praktischenTheologie sowohl mit der Geschichte der christlichen Rezeption der Rhetorikals auch mit deren systematischer Relevanz für das kirchliche Handeln aus-einandersetzt, verortet die Frage nach der Bedeutung der Rhetorik für die Prak-tische Theologie im fundamentalen Sachverhalt der Sprachlichkeit mensch-licher Welterfahrung. Diese liegt allen Formen menschlicher Praxis voraus.Ottos Ausgangspunkt ist folglich »bei der Sprache, nicht bei der Rhetorik«2.Rhetorik zieht die Konsequenzen aus der vorgängigen Sprachlichkeit des Men-schen für die Fragen des sozialen Zusammenlebens. Sie ist deshalb keine Erwei-terung der klassischen Handlungsfelder der Praktischen Theologie, sondern siestellt eine »durchgängige praktisch-theologische Reflexionsperspektive dar, de-ren Bearbeitung in unterschiedlichen Handlungsfeldern erforderlich ist«3.Als eine Reflexionsperspektive steht die Rhetorik quer zu der Einteilung derPraktischen Theologie in die drei großen Aufgabengebiete, Homiletik, Religi-onspädagogik und Seelsorge. Zwar gehört, historisch gesehen, die Verbindungvon Rhetorik und Theologie in den Bereich der Homiletik, aber diese traditio-nelle Zuordnung der Rhetorik zur Predigt unterschlägt nach Otto die Bedeu-

1. Hier sind die folgenden Schriften Gert Ottos einschlägig: G. Otto, Von geistlicherRede, 1979; ders., Predigt als rhetorische Aufgabe, Neukirchen-Vluyn, 1987; ders.,Sprache als Hoffnung, 1989; ders., Die Rede ist der Mensch, in: ZThK 89 (1992); ders.,Art. Rhetorik, Praktisch-theologisch, EKL, 31992; ders., Art. Christliche Rhetorik, His-torisches Wörterbuch der Rhetorik, 1994; ders., Die Kunst, verantwortlich zu reden,1994.

2. G. Otto, Die Rede ist der Mensch, 1992, 487.3. A. a. O., 500.

tung eines situations- und hörerorientierten Redens nicht nur für die Homile-tik, sondern für alle Aufgabengebiete der Praktischen Theologie, ja für dieTheologie überhaupt. Die Reflexionsperspektive, die sich mit Rhetorik verbin-det und die ihren Anhalt in der Redebedürftigkeit des Menschen hat, der inseinem sozialen Leben »auf sprachlichen Austausch und sprachliche Verein-barungen«4 angewiesen ist, will Otto deshalb als eine unverzichtbare, aber dochnicht exklusive Hinsichtnahme auf Religionspädagogik, Seelsorge und Homile-tik verstanden wissen. Rhetorik soll nicht zur »dominierenden ›Globalwissen-schaft‹ erhoben«5, aber auch nicht auf ein sprachliches Dekorum herabgestuftwerden. Vielmehr geht es Otto darum, die Rhetorik in ein »offenes System« vonReflexionsperspektiven und Handlungsfeldern6 einzuordnen, mit dem diePraktische Theologie den komplexen Zusammenhang von Religion und Gesell-schaft, der ihr Thema ist, angemessen bearbeiten kann.

3.2 Eigenart des Rhetorikbegriffs

In seiner Rekonstruktion der Rhetorikgeschichte schließt sich Otto an die neue-ren Bemühungen einer Rehabilitierung der Rhetorik als einer Form kommuni-kativer Vernunft an. Die Pointe dieses Programms, wie es etwa Kopperschmidt7

vorträgt, liegt darin, Rhetorik wieder als eine Form verständigungsorientierterRede zu etablieren, die den Gegensatz von Philosophie und Rhetorik, Wahrheitund Wirkung hinter sich lassen kann, weil in der Neuzeit auch vernünftige Gel-tungsansprüche nur konsensuell im Rahmen verständigungsorientierter Pro-zesse durchzusetzen sind. Rhetorik in diesem Sinn einer Verständigung mittels

Predigt als Rede 101

4. G. Otto, Die Kunst, verantwortlich zu reden, 1994, 106.5. G. Otto, Die Rede ist der Mensch, 1992, 501.6. So ist bei G. Otto im Handlungsfeld »Reden und Schreiben« die Rhetorik eine der

dominanten Reflexionsperspektiven (vgl. G. Otto, Handlungsfelder der PraktischenTheologie, 1988, 227). Systematisch hat Gert Otto diesen wissenschaftstheoretischenAnsatz in seiner 1986 erschienenen »Grundlegung der Praktischen Theologie« entfal-tet. Zurückhaltend äußert sich Dietrich Rössler zu diesem Entwurf, da »der Aufrisseiner Praktischen Theologie nach diesen Grundsätzen noch nicht ganz erkennbar ist«,(D. Rössler, GPT, 61). U. Schwab dagegen hebt an Ottos methodischem Ansatz, derden komplexen Zusammenhang von Religion und Gesellschaft berücksichtigt, positivhervor, dass bei Otto »die religiöse Praxis aller konkreten Subjekte im Spannungsfeldvon Gesellschaft und Kirche« (U. Schwab, Familienreligiosität, 1995, 28) im Blick sei.Bei Rössler dagegen sieht Schwab eine starke Konzentration »auf den Pfarrer in Hin-blick auf dessen Person, Amt und Beruf« (ebenda).

7. Vgl. J. Kopperschmidt, Das Ende der Verleumdung, 1991; einschlägige Textabschnittehierzu finden sich bei G. Otto, Art. Rhetorik, Sp. 1654 sowie G. Otto, Die Kunst,verantwortlich zu reden, 1994, 86 ff.

überzeugungskräftiger Rede ist kein Gegensatz zur Philosophie, sondern Be-standteil ihrer Wahrheitsfindung, insofern (semantische) Wahrheit und (rheto-rische) Resonanz in der Neuzeit nicht mehr deckungsgleich sind. In dieser Wie-derbelebung der Rhetorik reflektiert sich eine Erweiterung im Wahrheitsbegriff,den Otto auch für das Verhältnis von Rhetorik und Theologie in Anspruchnehmen möchte. Die Bedeutung der Rhetorik für die Theologie insgesamt be-ruht dann darauf, einen engen, dogmatistischen Wahrheitsbegriff zu ver-abschieden und sich als dialogische Theologie zu entwerfen8.Für die Zuordnung von Ottos Rhetorikverständnis zu einem rhetorisch erwei-terten Konzept der kommunikativen Vernunft im Anschluss an Habermas undKopperschmidt ist die zentrale Kategorie der »Rede« signifikant. Otto definiertRhetorik als »ars bene dicendi: auf Wirkung und Überzeugung gerichtetes, in derForm angemessenes und im Inhalt ethisch fundiertes, situationsgemäßes undhörerorientiertes Reden und Schreiben«9. Die Grundsituation, mit der es Rheto-rik in dieser Fassung einer verständigungsorientierten Rede zu tun hat, ist dieeiner sozialen und politischen Öffentlichkeit, in der mit konfligierenden Gel-tungsansprüchen und unterschiedlichen individuellen Sinnbildungen zu rech-nen ist, die nicht mehr nur und ausschließlich durch einen objektiven Begriffvon Wahrheit miteinander zu vermitteln sind. Die Plausibilität rhetorischerÜberzeugungsarbeit, von Konsens und Dialog, speist sich aus einer Deckungs-lücke der Vernunft, die nicht mehr für angemessene Resonanz beim Hörer alsFolge wahrer Sachverhalte einstehen kann. Eine auf pragmatische Verständi-gung ausgerichtete Rede ist dann eine vernünftige Option, wenn »die Klärungvon Fragen des Zusammenlebens«10 weder durch wahre Erkenntnis der Sach-verhalte, noch durch eine rein instrumentelle Rhetorik, die Otto mit Manipu-lation und suggestiver Überwältigung der Hörer assoziiert, erzielt werden soll.Ottos Abgrenzung einer instrumentellen »formalen Rhetorik«11 von einer ver-ständigungsorientierten Kommunikation unterwirft die Rhetorik allerdingseiner sittlichen Normierung: »Hier liegt ja das verbreitetste deutsche Missver-ständnis der Rhetorik: sie sei eine äußerliche Kunst, mit der man jeden beliebi-gen Inhalt an den Mann oder an die Frau bringen könne. Dagegen steht dieThese: Aller Rhetorik muss die sittliche Entscheidung innewohnen, humanesLeben befördern zu helfen«12. Anders als etwa bei Habermas, für den der instru-mentelle Missbrauch von Verständigung sich nur im Horizont des verständi-

102 Predigt als Rede

8. Vgl. G. Otto, Art. Rhetorik, Sp. 1656 und G. Otto, Die Rede ist der Mensch, 1992,502.

9. G. Otto, Art. Rhetorik, Sp. 1654.10. G. Otto, Die Rede ist der Mensch, 1992, 491.11. G. Otto, Art. Rhetorik, Sp. 1654.12. G. Otto, Die Kunst, verantwortlich zu reden, 1994, 155.

gungsorientierten Handelns halten und deshalb mit Gründen kritisiert werdenkann13, handelt sich Otto mit seiner sittlichen Fundierung der Rhetorik dasProblem wieder ein, das er mit der Abwehr einer dogmatischen Herrschaft überdie Rhetorik verabschiedet zu haben glaubte. Denn nun ist es nicht das Dogma,sondern die sittliche Entscheidung zum Humanen, welche die Rhetorik einerBestimmung unterwirft, die ihr äußerlich bleibt. Denn die sittliche Entschei-dung zum Humanen verdeckt nur den Umstand, dass die »Agitation, die Hu-manität zu befördern«14, ebenso ein suggestiver Gebrauch der Rhetorik seinkann wie ihr Gegenteil, die Agitation mit Säbel und Trommelwirbel. Gegenden Missbrauch der Rhetorik hilft aber keine sittliche Entscheidung, nur eineTheorie der Rhetorik15, die über die Anfälligkeit des Menschen aufklärt, sichvon suggestiven Bildern überwältigen zu lassen.Rhetorik, die es mit den konfligierenden Einstellungen von Individuen im öf-fentlichen Raum des sozialen Lebens zu tun hat, setzt, wie dies bei Otto der Fallist, diese Einstellungen als gegeben voraus. Die in Frage stehenden Überzeugun-gen, das Welt- und Selbstverhältnis der beteiligten Sprecher und Hörer, ist inOttos Modell die Gegebenheit, auf die sich Rhetorik bezieht, nicht aber selbereine rhetorische Leistung. Programmatisch wird dieser Sachverhalt mit derThese zum Ausdruck gebracht: »Rhetorik meint: Nachdenken über das, wasaus der sprachlichen Verfasstheit menschlicher Welterfahrung für Situationenöffentlicher Rede folgt«16. Der grundlegende Sachverhalt der Sprachgebunden-heit menschlicher Selbst- und Welterfahrung wird von Otto im Anschluss anGadamer so gefasst, dass Sprache nicht die Abbildung einer objektiv gegebenenWirklichkeit ist, sondern Wirklichkeit überhaupt erst erschließt. Jedenfalls ge-schieht dies durch eine metaphorische Sprache, die nicht den Anschein er-weckt, die Realität nur widerzuspiegeln: »Dabei machen wir uns nicht jedesmalklar, dass wir mit unserem Gebrauch der Sprache eine mögliche Weltsicht kon-stituieren«17.Die Sprachlichkeit der Welterfahrung meint offensichtlich die Fähigkeit desMenschen, durch Sprache überhaupt eine Welt zu haben. Welt-Haben im Ge-gensatz zu In-der-Welt-Sein bezeichnet aber genau den Sachverhalt, der mitLebenswelt gemeint ist: dasjenige, was unsichtbar bleiben muss, damit über-haupt Sachverhalte bestehen, den Horizont an Selbstverständlichkeiten, der sel-

Predigt als Rede 103

13. Zur Differenz von strategischem und kommunikativem Handeln vgl. J. Habermas,nachmetaphysisches Denken, 1988, 97 f.

14. G. Otto, Die Kunst, verantwortlich zu reden, 1994, 155. An dieser Stelle findet sich einexpliziter Bezug auf Walter JENS.

15. Vgl. H. Blumenberg, AAR, 134.16. G. Otto, Die Rede ist der Mensch, 1992, 488.17. G. Otto, Die Kunst, verantwortlich zu reden, 1994, 20.

ber nicht Gegenstand der Wahrnehmung ist, sondern Wahrnehmung möglichmacht. Was also Otto als eine der Rhetorik (bezogen auf die öffentliche Rede)vorausliegende Leistung der Sprache anführt, ist selber ein rhetorisches Phäno-men, nämlich, einen Hintergrund an Vertrautheiten zu haben, der unsereWahrnehmung und unser Handeln in der Welt vorstrukturiert.

3.3 Rhetorik als Welterfahrung und Weltveränderung

Otto unterscheidet begriffliche Sprache von einer poetischen18. Während be-griffliche Sprache feststellenden Charakter hat und Wirklichkeit als Fall vonetwas subsumiert (In-der-Welt-Sein), ist poetische Sprache ein verbum efficax,ein Wort, das Wirklichkeit schafft. In der poetischen Sprache werden keineSachverhalte fixiert, sondern die Sachverhalte neu erschlossen. Sie ist eine Spra-che, die Wahrnehmungshorizonte konturiert und insofern wirkungsvoll (effi-cax) ist, als sie durch eine andere Sicht der Wirklichkeit das Handeln im sozia-len Raum verändert.Allerdings wird diese sprachliche Codierung von Wahrnehmung von Otto we-der systematisch expliziert, noch für sein Rhetorikkonzept systematisch in An-spruch genommen. Die Differenz von begrifflicher und poetischer Sprachedient nur dazu, ein instrumentelles Verständnis von Rhetorik abzuwehren.Der Grund für den Vorrang der poetischen Sprache liegt darin, dass die Rede,die eine »Einrede in Handlungsabläufe, in Entscheidungsprozesse oder Mei-nungskontroversen sein will«19, nicht dekretiert, sondern die Möglichkeit derZustimmung oder Ablehnung durch den Hörer offen lassen soll. Die poetischeForm der Sprache garantiert, dass die Verständigung nicht festgelegt ist, son-dern auf konsensuelle Beglaubigung durch den Hörer bezogen bleibt20.Indem Otto die Funktion der Rhetorik auf die vernünftige und diskursive Ver-ständigung im Fall von konfligierenden Handlungsoptionen beschränkt,kommt der Mensch als »soziales und orationales Lebewesen«21 nur insofern inden Blick, als er Adressat einer Mitteilung ist, die ihn zwar in seiner Wirklich-keit verändern und korrigieren soll, diese Wirklichkeit, seine Einstellungen, sein»set of beliefs«, seine Weltsicht, die alle seine Handlungen umgreift, aber als

104 Predigt als Rede

18. Vgl. G. Otto, Die Kunst, verantwortlich zu reden, 1994, 20 f.19. A. a. O., 106.20. Nach Th. Reschke u. M. Thiele schützt die Rezeption Ottos und dessen Ansatz bei

der Predigt als Rede nicht davor, die Rhetorik auf (instrumentelle) Verfahrensregelnund Forderungen nach Verbesserung der rhetorischen Kompetenz des Predigers zu re-duzieren (vgl. Th. Reschke/M. Thiele, Predigt und Rhetorik, 1992, 27).

21. P. Oesterreich, Fundamentalrhetorik, 1990, 91.

gegeben voraussetzt. Die Rede zielt bei Otto deshalb auf Veränderung vonHandlungsoptionen, nicht auf die Lebenswelt, die Voraussetzungen, die derHandelnde in Anspruch nimmt. Veränderung von Einstellungen, das ist diePointe von Ottos Rezeption der Sprechakt-Theorie von Austin und Searle22.Reden soll als Handeln begriffen werden, als Reden, das etwas bewirkt, indemgesprochen wird, denn »Reden, zu deren Horizont nicht konkretes Verhaltengehört, die also prinzipiell keine Einreden in Handlungsabläufe sein wollen,bleiben leer«23. Insofern dies auch für die Predigt gilt, sie also »ihre Hörer errei-chen und mit den Mitteln der Sprache etwas bewirken will, reiht sie sich in dieFamilie der Reden ein«24.Mit der Ausgrenzung einer vorgängigen Weltvertrautheit, die alles Handeln vor-strukturiert, aus dem Bereich der Rhetorik und der Reduktion des rhetorischenVerfahrens auf eine verständigungsorientierte Veränderung von konkretem Ver-halten, fällt bei Otto die Dimension gelebter Religion aus dem Bereich des Rhe-torischen heraus. Zwar nimmt Otto durchaus die Kontingenz wahr, die ange-sichts eines Verlusts an objektiver Ordnung in die Welterfahrung des modernenMenschen eindringt. Der Mensch wird von Otto im Anschluss an Oesterreich inseiner geschichtlichen Lebenswelt gesehen, der »gefahrvollen und grundsätzlichungesicherten Situation des Existierens in der wechselvollen Realität«25. Aberdiese Wahrnehmung, dass wir »der Sprache der Bilder bedürfen, um der kom-plexen Fülle und der Hintergründigkeit (!) der Wirklichkeit annähernd gerechtzu werden«26, wird von Otto nicht systematisch für seinen Rhetorikbegriff inAnspruch genommen. Die Bedürftigkeit des Menschen, sprachliche Bilder ein-zusetzen, die eine fundamentale Kontingenz seiner Welterfahrung bearbeiten,dient nur als Anlass, über die sprachlichen Mittel nachzudenken, »um das, waswir sagen wollen, für den Hörer erreichbar zu machen«27.

3.4 Theologie und Rhetorik

Was das ist, was wir sagen wollen, also der Inhalt der Rede, sofern es sich umeine christliche Rede, also um eine Predigt handelt, wird von Otto mit demHinweis auf die christliche Tradition beantwortet. Predigt als Rede unterschei-det sich von anderer Rede durch »inhaltliche Strukturen«28, durch den Bezug

Predigt als Rede 105

22. Vgl. G. Otto, Die Kunst, verantwortlich zu reden, 1994, 109 ff.23. A. a. O., 106.24. A. a. O., 113.25. P. Oesterreich, Fundamentalrhetorik, 1990, 92.26. G. Otto, Die Kunst, verantwortlich zu reden, 1994, 17. Hervorhebung von mir.27. Ebenda.28. A. a. O., 115.

auf ein Stück christlicher Tradition. Dieser Inhalt ist nicht an sich verantwort-lich für die Christlichkeit einer Predigt, sondern nur, insofern er in der ihmangemessenen Form vermittelt wird, indem also die christliche Tradition ineiner am Hörer und seiner konkreten Situation orientieren Rede, die auf Ver-ständigung zielt, vorgebracht wird. Die christliche Wahrheit besteht deshalbnicht in einem Dogma, sondern in einer bestimmten Form der Verständigung,die dem Inhalt der christlichen Überlieferung angemessen ist. Die Dialektik vonForm und Inhalt, die von Otto für die rhetorische Vermittlung christlicher Tra-dition in Anspruch genommen wird29, bedeutet in klassischer Terminologieden Vorrang der fides quae vor der fides qua creditur. Nicht der Inhalt als solchersteht für Christlichkeit der Predigt. Christlich ist dieser Inhalt nur, sofern er inangemessener Form vermittelt wird, also für einen Hörer in seiner konkretenSituation wahr wird.Warum aber gerade diese Form der verständnisorientierten Rede, und nichtetwa die instrumentelle Rhetorik, die nur Mittel zum Zweck sein will, die an-gemessene Form christlicher Inhalte darstellt, das lässt sich bei Otto aus Hin-weisen eher erahnen, als dass es argumentativ nachvollziehbar wird. Dass Ottodie »Brutalität« einer den Hörer überwältigenden Rede nicht mit dem »Bildeines Gottes, der den Menschen auch die Freiheit zum Nein gibt«30, zusam-menbringen kann, mag als Argument gegen ein instrumentelles Verständnisvon Kommunikation gelten, wie es etwa Ulrich von den Steinen vorschlägt.Dessen Rhetorikbegriff, der die »Rhetorik als Instrument der Predigt«31 ver-steht, bewegt sich ganz im Rahmen der platonischen Unterordnung der Rheto-rik unter den vorausgesetzten semantischen Wahrheitsgehalt der Rede. Die Ge-fahr, dass Rhetorik dann zum reinen Instrument der Durchsetzung einerWahrheit wird, die nicht an die Zustimmung der Hörer gebunden ist, ist nichtvon der Hand zu weisen. Aber das bedeutet nicht, dass es im Horizont derUnterscheidung von semantischer und pragmatischer Funktion der Spracheund, damit zusammenhängend, der Entdeckung der Eigentlichkeit metaphori-scher Rede und der Eigenständigkeit der Rhetorik keine Alternativen zu Ottosdialogischer Theologie gibt32. Deshalb genügt die Abwehr eines instrumentel-len Gebrauchs sprachlicher Interaktionen nicht, um die Option für verständi-

106 Predigt als Rede

29. Vgl. a. a. O., 101 f.30. Vgl. G. Otto, Predigt als rhetorische Aufgabe, 1987, 55 f.31. Ulrich von den Steinen, Rhetorik – Instrument oder Fundament christlicher Rede?,

1979, 127.32. Immerhin knüpfen E. Jüngels Überlegungen zur »Eigentlichkeit« metaphorischer und

gleichnishafter Rede, auch wenn er sie nicht unter dem Titel der Rhetorik vorstellt, derSache nach an dem für G. Otto gleichfalls fundamentalen Sachverhalt der elementarenSprachlichkeit des Menschen an, die nicht in dem Wissens- und Informationsgehalteines begrifflichen Denkens aufgeht. Allerdings zieht Jüngel aus diesem Sachverhalt

gungsorientierte Rhetorik als die angemessene Form der Vermittlung christ-licher Inhalte auszuzeichnen.

3.5 Schlussüberlegung

Ottos These, Rhetorik als eine umfassende Reflexionsperspektive zu verstehen,welche die Konsequenzen aus der Sprachlichkeit des menschlichen Welt-umgangs für Fragen des sozialen Zusammenlebens zieht, führt das Thema derRhetorik aus einer Engführung heraus. Rhetorik ist dann nicht mehr nur eininstrumentelles Mittel, das den Predigtinhalt effektiv zur Geltung bringt, son-dern eine Form der Verständigung, die Inhalte an die Zustimmung der Hörerbindet.Aus dem fundamentalen Sachverhalt der Sprachgebundenheit von Welterfah-rung zieht Ottos Verständnis von Rhetorik als Rede insofern die Konsequenzen,als es auch das soziale Zusammenleben an Verständigung bindet. Wird Weltdurch Sprache erfahren, dann ist Welterfahrung an Perspektiven gebunden,die zur Verständigung in Fragen der Koordination von Handlungen nötigen,da keine Gesamtperspektive die Pluralität von Weltbildern in einen einheitli-chen Zusammenhang überführen kann. Der Hintergrund, vor dem Otto seinkommunikatives Verständnis von Rhetorik entfaltet, ist dann aber selber rheto-risch vermittelt. Rhetorik betrifft nicht erst die diskursive Koordination vonHandlungen, sondern bereits dasjenige Einverständnis im Alltag, das in der dis-kursiven Handlungskoordination vorausgesetzt wird. Die an Sprache gebunde-ne Welterfahrung – diese Formel, mit der Otto die Voraussetzung seiner diskur-siven Rhetorik umschreibt, lässt sich ihrerseits rhetorisch entschlüsseln.Otto versteht Rhetorik als verständigungsorientierte Rede in großer Nähe zuHabermas’ oder Apels Diskurs- und Konsenstheorie33. Der Vorschlag, Ottosrhetorische Theorie um einen lebensweltlich situierten Begriff des Rhetorischenzu erweitern, ist deshalb die Präzisierung seiner grundlegenden These, dasssprachliche Welterfahrung die fundamentale Gegebenheit ist, aus der die rhe-torische Verständigung in Fragen des sozialen Lebens die nötige Konsequenzzieht. Zugleich ist dies ein Vorschlag, das Verhältnis von Welterfahrung undkommunikativer Vernunft, von Rhetorischem in der Lebenswelt und Rhetorikim Bereich kommunikativer Vernunft genauer zu bestimmen. Denn Ottos Kon-zentration auf die Forumsituation als rhetorische Grundsituation, auf die öf-fentliche Rede über Angelegenheiten, die für die gemeinsame Lebenspraxis be-

Predigt als Rede 107

andere theologische Konsequenzen als dies Otto tut (vgl. E. Jüngel, MetaphorischeWahrheit, 1980, 103-157).

33. Vgl. J. Kopperschmidt, Verleumdung, 1991, 11.

deutsam sind, hat zur Folge, dass bei ihm die Lebenswelt als »Öffentlichkeiteiner geschichtlichen Lebenswelt gesehen«34 wird.Das ist zumindest missverständlich. Die Lebenswelt als Öffentlichkeit zu begrei-fen, suggeriert, dass die Voraussetzungen von Kommunikation, also die selbst-verständliche Weltvertrautheit, die zugängliche und in der rhetorischen Kom-munikation explizit zu machende Wirklichkeit ist, auf die sich die Rede kritischbezieht und deren eigentliche Wahrheit35 sie zur Geltung bringt. Die Lebensweltdes Hörers gerät deshalb für Otto nur in den Blick, insofern sie einer rationalenRekonstruktion zugänglich ist. Sie ist die durchschaubare Welt seiner lebens-weltlichen Orientierungen, die im argumentativen rhetorischen Diskurs ihresselbstverständlichen Charakters entledigt und in eine Form begründeter Redeüberführt werden kann.Dass dies vollständig gelingt, kann mit guten Gründen bestritten werden. Blu-menbergs Argument, der explizit ausgehandelte Konsens stehe zur Lebensweltin einem eigentümlichen Verhältnis der Verspätung, charakterisiert die verstän-digungsorientierte Rede als eine Idealisierung. Der Handlungszwang, den dasLeben selber ausübt, fordert Orientierung, die nicht auf die Ergebnisse rationa-ler Diskurse warten kann. Jeder diskursiven Verständigung vor dem Forum derkommunikativen Vernunft geht deshalb eine pragmatische Handlungsorientie-rung voraus, die nicht auf einvernehmlicher Verständigung, sondern auf derFähigkeit beruht, Metaphern und Symbole bei anderen zu Anerkennung zubringen. Es sind die im Hintergrund der prozeduralen Vernunft mitlaufendenProzesse lebensweltlicher Handlungskoordination, welche die Dimension desRhetorischen charakterisieren.In einer nicht-diskursiven Form stabilisiert das Rhetorische die Koordinationvon Handlungen, indem sie Handlungsalternativen aus dem Horizont der je-weiligen Fragestellung herausrückt. Sie erzielt ein unthematisches Einverständ-nis über das, was in der jeweiligen Situation nicht problematisiert werden kannund nicht problematisiert werden muss. Man könnte in diesem Zusammen-hang von einer rhetorischen Absorption von Kontingenzbewusstsein reden.Das Wissen, in einer bestimmten Situation auch anders handeln zu können,

108 Predigt als Rede

34. G. Otto, Die Rede ist der Mensch, 1992, 491. Dort findet sich ein expliziter Hinweisauf die Fundamentalrhetorik von P. Oesterreich.

35. Die Aufgabe der homiletischen Vermittlung von Hörerorientierung, die klassischesThema der Rhetorik ist, und von Textbindung, wird von Gert Otto mit Bezug aufErnst Lange beschrieben (vgl. G. Otto, Die Kunst, verantwortlich zu reden, 1994,114). Hier ist an die einschlägigen Passagen bei E. Lange zu erinnern: »Predigen heißt:Ich rede mit dem Hörer über sein Leben […]. Er, der Hörer ist mein Thema, nichtsanderes; freilich: er, der Hörer vor Gott. Aber das fügt nichts hinzu zur Wirklichkeitseines Lebens, die mein Thema ist, es deckt vielmehr die eigentliche Wahrheit dieserWirklichkeit auf« (E. Lange, Predigen als Beruf, 1976, 58).

das jede Handlung auszeichnet, wird rhetorisch ausgeblendet. Das Rhetorischeist, was in jeder Situation als selbstverständlich hingenommen werden kann.Das bedeutet aber auch, dass die Weltvertrautheit, die den Alltag der Menschenvorstrukturiert, von dem Bewusstsein gekennzeichnet ist, etwas ausgeschlossenzu haben.Deshalb ist auch Ottos Rede von der »Gegebenheit der an Sprache gebundenenWelterfahrung« missverständlich. Welterfahrung kann die konfligierendenHandlungsalternativen in der rhetorischen Konsensbildung nicht in der Weisefundieren, dass sie als Gegebenheit, als ein letztes unhintergehbares Fundamenterscheint. Die sprachlich vermittelte Weltvertrautheit scheint vielmehr so aufrhetorische Kommunikation in Fragen des sozialen Zusammenlebens bezogenzu sein, dass rhetorische Absorption von Kontingenz einen mitgegebenen Ho-rizont von selbstverständlichen Geltungsvoraussetzungen repräsentiert. Es istdas, was im jeweiligen Diskurs gerade nicht thematisiert wird, das Unverstan-dene und Undurchschaute im Hintergrund, und das unthematisiert bleibenmuss, damit überhaupt gehandelt werden kann. Die an »Sprache gebundeneWelterfahrung«, die Weltvertrautheit, die sich mit der Kategorie des Rhetori-schen erschließt, ist deshalb keine fundamentale Gegebenheit. Sprache kon-turiert sich verschiebende Wahrnehmungshorizonte, die, indem sie etwas sehenlassen, auf das verweisen, was nicht mehr oder noch nicht zu sehen ist.Der Vorschlag, Ottos diskursive Rhetorik um die lebensweltliche Funktion derRhetorik zu erweitern, hat Folgen, auch für die Homiletik. Nimmt man daschristliche Bewusstsein als ein Differenzbewusstsein, in dem Außeralltäglichesauf Alltägliches, Neues auf Vertrautes bezogen wird, so gilt auch für das Neue,dass es einerseits seine neue Sicht der Dinge nur artikulieren kann, insofern esanderes unthematisiert lässt, andererseits aber auch, dass es selber wieder zueiner Selbstverständlichkeit werden wird. In dieser Tendenz zur Veralltägli-chung auch der christlichen Predigt liegt nur dann eine Bedrohung, wennTheologie sich einseitig als »kritische Theorie religiös vermittelter Praxis inder Gesellschaft«36 versteht. Dann ist das Wieder-fraglos-Werden des Glaubensein Rückfall in die Uneigentlichkeit, weil sich Religion nur im Modus der Frag-lichkeit selbstverständlicher Welterfahrung entwerfen kann. Gegenüber dieserEinseitigkeit bezeichnet der Alltag als die Welt selbstverständlicher Sinngeltungund der Veralltäglichung der kritischen Impulse religiöser Kommunikation einGegengewicht. Auch die kritische Bezugnahme auf selbstverständliche Sinngel-tung kann nicht alles in Fraglichkeit überführen. Es bleibt auch für die kritischeTheorie einer religiös vermittelten Praxis ein Hintergrund an Undurchschau-tem, der durch Kritik nicht getilgt werden kann.In Situationen, in denen gehandelt werden muss, überreden Metaphern und

Predigt als Rede 109

36. G. Otto, Zur gegenwärtigen Diskussion, 1970, 23.

Symbole dazu, manches auf sich beruhen zu lassen37. Man kann darin einschöpfungstheologisches Thema erkennen: Wir leben immer auch in einer Weltvorbereiteter Vertrautheit, für die wir nicht aufkommen können und müssen.Wird dagegen die Predigt, wie bei Otto, einseitig als kritische Einrede und Ver-änderung von Praxis verstanden, dann wird übersehen, dass diese Einrede aufeinen Horizont des Selbstverständlichen bezogen bleibt, der vor einem Über-maß an Fragen – auch an religiösen – schützt38.

110 Predigt als Rede

37. In einem begründeten Umgang mit Unbegründetem liegt nach H. Blumenberg dieVernunft der Rhetorik: »Es kann vernünftig sein, nicht bis zum Letzten vernünftig zusein« (H. Blumenberg, AaM, 180 f.).

38. Religiös relevant sind nicht nur Fragen. »Ein Denken, das von der Frage ausgeht, ver-fängt sich in einem Kreis von Kreisen; erstickt das Fragen nicht an anderem, so an sichselbst.« (B. Waldenfels, Antwortregister, 1994, 187). Die Aufgabe der Predigt kanndeshalb auch nicht ausschließlich darin bestehen, sich auf »die Verarbeitung religiösrelevanter, d. h. die religiöse Frage (!) provozierender Erfahrung zu konzentrieren«(H. Luther, RuA, 270 Anm. 60; Hervorhebung von mir).

4. Rhetorik als Kommunikation in der Predigt undals Symbolbildung im Gottesdienst bei ManfredJosuttis

4.1 Rhetorik in der Homiletik. Charakterisierung derFragestellung

Für die Situation einer theologischen Bestimmung der Kultur nach der Kritikdes Kulturprotestantismus durch die dialektische Theologie sind Manfred Jo-suttis’ Überlegungen zur Bedeutung der Rhetorik für die Homiletik signifikant.In mehreren Aufsätzen, die Josuttis von 1968 bis 1984 verfasst und in seinemBand »Rhetorik und Theologie in der Predigtarbeit«1 versammelt hat, wird amBeispiel der Bedeutung der Rhetorik für die Predigtarbeit das Verhältnis vonKultur und Theologie zur zentralen Fragestellung.Die unhintergehbare Bedeutung der Kultursphäre für die Praktische Theologiezeigt sich bei Josuttis darin, dass er vorbehaltlos die »empirische Wende« derPraktischen Theologie nachvollzieht: »Die Integration sozialwissenschaftlicherMethoden in die Praktische Theologie ist notwendig, ist irreversibel und ist ge-rade für den Bereich der Homiletik kaum anfangsweise fruchtbar gemacht«2.Fruchtbar ist die Erschließungskraft empirischer und soziologischer Analysenfür die klassischen Handlungsfelder der Praktischen Theologie, weil sie dieHandlungsfelder aus dogmatischen Vorgaben herauslöst und sie in ihrer Ein-bettung in allgemeine kulturelle Zusammenhänge erkennbar werden lässt. Indiesem Sinn einer empirischen Erschließung ist auch die Bedeutung der Rheto-rik für die Predigt zu suchen. Sie macht auf den scheinbar trivialen Umstandaufmerksam, dass auch die Predigt eine Form der öffentlichen Rede ist und den-selben Regeln der Kommunikation folgt, wie andere Formen der öffentlichenRede auch. Diese Perspektive ist nur scheinbar trivial, weil sie vor dem Hinter-grund einer dogmatischen Tradition gesehen wird, die auch die empirische Ge-stalt der Predigt aus einer vorausgesetzten theologischen Wahrheit deduziert3.Das ganze Pathos der frühen Aufsätze Josuttis’ zur Rhetorik speist sich aus dieser

1. Außerdem ist vergleichend heranzuziehen M. Josuttis, Eine Renaissance der Rheto-rik, in: Praktische Theologie 1/1975, 23-48.

2. M. Josuttis, Rhetorik und Theologie, 1985, 30.3. Vgl. a. a. O., 13 ff. Exemplarisch für eine bestimmte Rhetorikfeindlichkeit im Protestan-

befreienden Erfahrung, die Empirie nicht der Dogmatik opfern zu müssen:»Noch einmal betone ich: Verkündigung ist phänomenologisch unbestreitbarein kommunikatives Geschehen«4. Was im Rückblick unspektakulär erscheintund von niemand ernsthaft bestritten wird, bekommt erst vor dem Hintergrundeiner vermeintlichen Überwindung der Kultursphäre durch die dialektischeTheologie sein spektakuläres Gewicht.Die eigentliche Fragestellung, die Josuttis deshalb bewegt, gleicht der des spätenKarl Barth. Wenn Empirie und Soziologie auch für die Theologie unhintergeh-bare Geltung haben, die Kultur also theologisch rehabilitiert werden muss, wiesind dann Theologie und Rhetorik, kreatorisches und kommunikatives Gesche-hen, homiletische und kommunikative Kompetenz, transempirische und empi-rische Aussagen aufeinander zu beziehen?Diese Fragestellung, und die zu ihr gehörenden Begriffspaare von Theologieund Rhetorik, Kreation und Kommunikation etc., setzen allerdings bereits einbestimmtes Verhältnis von Kultur (in Gestalt von Rhetorik) und Theologie vo-raus. Beide erscheinen als eigenständige Bereiche, die in einer noch zu ermit-telnden Weise aufeinander bezogen werden müssen. Der Fragestellung liegt alsoein Zwei-Reiche-Modell zugrunde: Hier die Kultursphäre, in die, als empiri-sches und soziologisches Phänomen, auch die Predigt gehört, und zwar als spe-zieller Fall eines generellen Ganzen; dort die Theologie, die eine das Ganze derKultursphäre betreffende Differenz aufmacht, nämlich die von Gesetz undEvangelium. Josuttis kann, ganz im Sinn der Rehabilitierung der Kultursphärein der Spättheologie Karl Barths, die Zuordnung von Theologie und Rhetorikals Verhältnis von Glaube und Werk begreifen: »Kreatorischer [geistgewirkter]und kommunikativer Aspekt der Verkündigung verhalten sich zueinander wieGlaube und Werk«5. Damit wird die Kultursphäre als Handlungseinheit ver-standen, die durch das Stichwort der Arbeit charakterisiert ist.In diese weltliche Sphäre gehört nun auch die Predigt. Sie ist ein kommunika-tives Geschehen wie jede andere Rede auch. Aber die Predigt geht in dieser em-pirischen Lesart nicht auf. Sie ist nicht nur ein Werk, sondern auch durch denGlauben bestimmt, und Glaube ist nach Josuttis kein empirisch verifizierbaresGeschehen innerhalb der Kommunikation, sonst wäre er selber ein Werk, son-

112 Rhetorik in der Praktischen Theologie

tismus ist Hermann Diems Ablehnung rhetorischer Mittel für die Predigt: »Die Text-predigt kann auf dieses rhetorische Hilfsmittel eines den Gedankengang tragenden Ge-rüstes verzichten, weil die Predigt vom Text getragen wird. Diese Hilfsmittel sind indem Maße nicht nur überflüssig, sondern sogar schädlich, als sie die tragende Bedeu-tung des Textes verdecken und ersetzen« (H. Diem, Warum Textpredigt? 1939, 220 f.).Dass nackte Textwahrheit auf rhetorische Einkleidung verzichten kann, ist allerdingsselber eine rhetorische Suggestion.

4. M. Josuttis, Rhetorik und Theologie, 1985, 39.5. A. a. O., 45. Anmerkung in eckiger Klammer von mir.

dern dasjenige Unterscheidungsmoment von menschlichem Werk und gött-licher Gnade, das »die Welt zur Weltlichkeit freigibt«6 und Kommunikation alsmenschliche Arbeit von der Tendenz befreit, sie zur Selbstrechtfertigung desMenschen zu missbrauchen.Josuttis’ Zuordnung von Theologie und Rhetorik, von transempirischem undempirischem Aspekt, ist nicht unproblematisch. Eine Konsequenz dieser Bezie-hung von Kultur und Theologie unter dem Titel von Rhetorik und Predigt, dieJosuttis so prägnant allerdings nicht vorträgt, ist die, dass es keine wahre Kulturohne Glaube, keine wahre Kommunikation ohne die Unterscheidung von Ge-setz und Evangelium geben kann. Die Predigt oder die homiletische Kompetenzdes Predigers sind dann nicht nur Teil eines allgemeinen Handlungszusammen-hangs, sondern sie sind »Grundlage, Urform, utopisches Modell menschlicherPraxis schlechthin«7. Die normative Konsequenz, die sich daraus ergibt, dassdie Predigt nicht den rhetorischen Normal-, sondern den Idealfall darstellt,sucht Josuttis zwar zu vermeiden, indem er nur von »gewissen Eigenarten« re-det, die in der berufsspezifischen Kompetenz des Predigers für die »kommuni-kative Kompetenz überhaupt ans Licht treten«8. Aber wenn mit der Differenz,welche die Theologie gegenüber der Kultur geltend macht, nicht irgendetwas,sondern die Weltlichkeit der Welt überhaupt thematisch wird, dann lässt sichdie Konsequenz nicht vermeiden, dass (wahre) Rhetorik und (wahre) Kom-munikation, die nicht zum missbräuchlichen Werk werden soll, nur im Glau-ben möglich sind.Problematisch ist die Relationierung von Theologie und Rhetorik, kreativemund kommunikativem Geschehen auch in dem Sinn, der die Ambivalenz undAbgründigkeit der menschlichen Kultur betrifft. In Josuttis’ kulturtheologi-schem Modell wird Kultur, und darin eingeschlossen Rhetorik, im Ganzen alsHandlungseinheit verstanden, die im Gegensatz zur Natur durch die Gestal-tungsmöglichkeiten des Menschen definiert ist. Kultur ist, was durch mensch-liche Arbeit entsteht, der Garten im Gegensatz zur Wildnis. Zwar gilt immer dieEinschränkung, dass diese menschliche Praxis zum Machbarkeitswahn neigt.Aber dieser »starke« Begriff von Kultur, der diese in menschlicher Arbeit durch-gängig bestimmt sieht, wird im »Geschenk des Geistes« vorausgesetzt, »weil derGlaube das Werk nicht lähmt, sondern sinnvoll macht«9. Die Beziehung desHeiligen Geistes, also des kreatorischen Moments, auf die menschliche Kultur(einschließlich der Rhetorik) besagt dann, dass die Differenz von göttlichemHandeln und menschlichem Werk das selbstbestimmte menschliche Handeln

Rhetorik als Kommunikation in der Predigt 113

6. Ebenda.7. A. a. O., 50.8. A. a. O., 51.9. A. a. O., 45.

vor falscher Perfektion, dem Machbarkeitswahn, befreit. Der Geist ist das Mo-ment, das die Gestaltungskräfte in der Kulturarbeit vor einem falschen Selbst-bezug schützt.Wird aber die Kultur – und mit ihr die Rhetorik – als Bereich definiert, derdurch menschliche Arbeit entsteht, dann gerät eine Dimension der Kultur über-haupt nicht in den Blick, die spätestens seit Freuds Diktum vom »Unbehagen inder Kultur«10 für moderne Kulturtheorien einschlägig geworden ist. Die Frage,die Freud zum Ausgangspunkt seiner Kulturtheorie macht, ist die, ob derMensch noch »Herr im eigenen Haus« ist und sich ihm nicht die kulturellenFormen, die er selber geschaffen hat, als vergegenständlichte Gehalte und kris-talline Verfestigungen entgegenstellen11.In dieser Perspektive bekommt Kultur eine andere Bedeutung. Sie ist nicht inerster Linie Gestaltungsaufgabe, sondern Arbeit an einem Widerstand, den dieerreichten kulturellen Formen selber darstellen: Kultur ist dann nicht nur dieArbeit, die aus Wüsten Gärten macht, sondern auch die Transformation, die inder Revolte im Paradies sich gegen die Ergebnisse von Kulturarbeit wendet, weilnur im Widerstand gegen das Bestehende eine neue Welt entstehen kann. Sowie jede Kulturform die Abwehr eines übermächtigen Schreckens darstellt undauf Triebverzicht basiert, so mobilisiert Freud wieder die in der erfolgreichenKulturarbeit verdrängte Bedrohung, um den Abstand von archaischen Ängstenzu markieren. Aber damit ist das, wovor Kultur schützt, in dieser wieder prä-sent. Freuds Thematisierung der latenten Anteile der manifesten Kultur bedeu-tet deshalb den Einspruch gegen jeden naiven Kulturenthusiasmus, wie auchgegen das ganz an den Handlungsmöglichkeiten orientierte Verständnis vonKulturarbeit, wie es bei Josuttis die Beziehung von Predigt und Rhetorik, Krea-tion des Geistes und Kommunikation der Menschen bestimmt.

4.2 Symbole in der Predigt

Im Vorwort zu seinem Aufsatzband macht Josuttis von den frühen Aufsätzenzur Rhetorik Anfang der 60er Jahre bis zu den späten Arbeiten in den 80erJahren eine Verschiebung der Fragestellung geltend. Das Problem der Zuord-nung von Theologie und Rhetorik, das in seinen frühen Aufsätzen die Problem-

114 Rhetorik in der Praktischen Theologie

10. S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, 1930/1978. Die Bedeutung des Unbewusstenals eines kulturtheoretischen Sachverhalts und seiner Beziehung zum Doppelsinn derSprache wie zum Verhältnis von Sinnpräsenz und Sinnappräsenz in der Phänomeno-logie hat Paul Ricoeur herausgearbeitet (vgl. P. Ricoeur, Versuch über Freud, 1969,15 ff. und Kap. IV. 3.3).

11. Vgl. R. Konersmann, Aspekte der Kulturphilosophie, 1996, 18.

stellung bestimmt, tritt in den Hintergrund: »An die Stelle vorwiegend dogma-tischer Kategorien sind vermehrt tiefenpsychologische und sozialpsychologi-sche Fragestellungen getreten«12. Die systematische Zuordnung von Theologieund Rhetorik wird folglich in den späteren Arbeiten zu Selbst- Feind- und Ide-albildern in der Predigt nur noch vorausgesetzt: »Indem die Homiletik nachden Feind- und Selbst- und Idealbildern in der Predigt fragt, setzt sie ein be-stimmtes Verständnis von Theologie und Rhetorik voraus. Das ist hier im ein-zelnen nicht breit zu entfalten, aber immerhin mit einigen Stichworten zu skiz-zieren«13. Die Skizze aktualisiert die frühere Bestimmung von Theologie undKultur, Predigt und Rhetorik als Verhältnis von Glaube und Werk. Rhetorikund Theologie, die »sich begegnen und miteinander kooperieren«, sind For-men der »gemeinsamen menschlichen Arbeit (!) an und mit sprachlichen Sym-bolen«14. Sie müssen deshalb in der Homiletik »sachnotwendig aufeinander be-zogen werden«, weil die Predigt als Rede »den allgemeinen Gestaltungs- undWirkungsbedingungen menschlicher Arbeit an und mit Sprache unterliegt«15.Mit dieser Vorstellung von Rhetorik als Arbeit an Symbolen vollzieht Josuttisnun eine Akzentverschiebung. In den Blick kommt die Sprache selber. Meta-phern und Symbole, Selbst- und Idealbilder sind »sprachliche Tätigkeiten«,die Rhetorik reflektiert und bearbeitet. Insofern fordert die Orientierung ander Sprache die Homiletik auf, »die realen Bedingungen von Kommunikationin der Spannung zwischen Feind- und Selbst- und Idealbildern zu analysie-ren«16. Mit diesem Perspektivenwechsel lässt die Predigt als Arbeit an Sym-bolen, wenn auch nur vorläufig, den Gegensatz von Theologie und Rhetorik,transempirisch und empirisch, Jenseits und Diesseits hinter sich. In der schein-bar unspektakulären Akzentverschiebung von »vorwiegend dogmatischen Ka-tegorien« zu »vermehrt tiefenpsychologischen und sozialpsychologischen Fra-gestellungen«17 liegt deshalb eine tiefergehende Veränderung im Verständnisdogmatischer Kategorien und ihrer Leistungskraft, als die zurückhaltende For-mulierung von Josuttis anzeigt.Offenbar sind mit dogmatischen Kategorien die individuellen Orientierungs-bedürfnisse, wie sie in den Feind-, Selbst- und Idealbildern repräsentiert sind,nur unzureichend zu erfassen. Die tiefenpsychologischen Kategorien sind inso-fern nicht nur in einem Verhältnis der Kooperation an einer gemeinsamen Auf-gabe zu sehen, sondern erschließen vielmehr einen dogmatischen Vorgang auf

Rhetorik als Kommunikation in der Predigt 115

12. M. Josuttis, Rhetorik und Theologie, 1985, 7.13. A. a. O., 142.14. A. a. O., 142 f.; Hervorhebung von mir.15. A. a. O., 143.16. Ebenda.17. A. a. O., 7.

eine Weise, die theologische Arbeit selber so nicht leisten kann, obwohl die Er-gebnisse für die Theologie hoch bedeutsam sind. Das zeigt sich unter anderemdaran, dass die aus dogmatisch korrekten Unterscheidungen gewonnenen Got-tesbilder, indem sie »Allmachtswünsche konzentrieren und begrenzen, entlas-ten und zum Leben ermutigen«18, zugleich aber als Idealbilder dazu tendieren,alle Ambivalenz aus der Vorstellung von Gott zu tilgen. Das dogmatisch korrek-te Idealbild von Gott vergewissert zwar und befriedigt so das individuelle Ori-entierungsbedürfnis, aber es tut dies um den Preis einer Einseitigkeit, die letzt-lich zur Verarmung des religiösen Erlebens führt.Josuttis’ Analyse der Idealbilder von Gott in der Predigt indiziert das Problem,dass die fides quae die fides qua creditur nicht mehr in schlüssiger Weise in densachlichen Gehalt dogmatischer Setzungen integrieren kann. Die Lehre, diedogmatisch korrekte Fassung des Gottesgedankens, ist nicht mehr anschluss-fähig an die vielfältigen religiösen Bedürfnisse der gelebten Religion, die sichals Symbolspannung auf der Ebene der rhetorischen Kommunikation manifes-tieren. Die angezeigte Akzentverschiebung ist insofern eine, die das Grund-legungsproblem Praktischer Theologie in der Neuzeit betrifft, ohne dass Josut-tis dies explizit und in diesem Horizont reflektiert. Vordergründig geht esJosuttis um eine Dynamisierung dogmatischer Lehrbegriffe. Faktisch aber istseine Beobachtung, dass die Vielfalt der Gottesbilder in den Predigten durchdogmatische Korrektheit gezähmt wird, ein Hinweis auf eine irreduzible Diffe-renz von Leben und Lehre in der Moderne. Die alltägliche Kommunikation unddie theologische Reflexion, die Bedeutungsvielfalt, die der Ausdruck »Gott« inden Horizonten der Alltagskommunikation gewinnt und die Eindeutigkeit destheologischen Begriffs, die diese Ambivalenz und Unbestimmtheit tilgt, sindnicht mehr fugenlos und deckungsgleich zu vermitteln.Wird aber, wie Josuttis dies analysiert, in den Predigten die Bedeutungsvielfalt,die sich mit dem Gottesnamen verbindet, begrifflich »gezähmt«, dann ist damitauch die Chance einer lebendigen Aneignung verspielt. Der dogmatisch korrek-te Gott, das Idealbild, bleibt der gelebten Religion äußerlich, »weil eine per-sonale Beziehung zwischen dem Ich und dem Du sich nur in Konflikten ent-wickelt«19. Erst die Ambivalenz im Gottesbild, die an der Unterscheidung vonBegriff und Metapher, Aussage- und Anredecharakter20 von Sprache hängt, er-öffnet den Spielraum, in dem eine individuelle Aneignung christlicher Gehaltemöglich wird, die sich nicht in der bloßen Repetition eines eindeutig bestimm-

116 Rhetorik in der Praktischen Theologie

18. A. a. O., 150.19. A. a. O., 164.20. Diese Differenzierung fällt bei Eberhard jüngel mit der Ablehnung der Rhetorik zu-

sammen, weil Rhetorik »den Anzuredenden als eine für sie konstitutive Größe über-haupt nicht kennt« (E. Jüngel, Metaphorische Wahrheit, 1980, 112).

ten Idealbildes erschöpfen. Das Defizit des dogmatisch korrekten Gottesbildes,des Idealbildes, wie es Josuttis in den Predigten wahrnimmt, liegt deshalb nichtnur darin, den Begriff zu eng zu fassen. Das Defizit der dogmatischen Bestim-mung des Gottesgedankens liegt vielmehr darin, kein Defizit zu kennen. Perfektist die Eindeutigkeit des Begriffs, der die Vielfalt von Gotteserfahrungen tilgt,indem er diese Vielfalt unter ein gemeinsames Merkmal subsumiert. Ein solchesdichtes System kennt keine andere Form der Tradierung und Aneignung als dieZustimmung zu einem wahren Sachverhalt21.Josuttis’ Interesse, die Verfestigung und Erstarrung von Gottesbildern zu dyna-misieren, damit die Predigt wieder für den Reichtum und die Vielfalt religiösenErlebens anschlussfähig wird, erfährt eine entscheidende Präzisierung durch dieThese von Ricoeur, die Josuttis am Ende seines Aufsatzes zitiert: »Die Kritik desIdols [ist] die Bedingung für die Eroberung des Symbols«22. Der Begriff »Idol«meint bei Ricoeur eine Form der Eindeutigkeit, die sich gegen die Andersheit,die bei jeder Darstellung mitgegeben ist, immunisiert. Eine Tendenz zum Idol-charakter hat in diesem Sinn das Dogma und, damit zusammenhängend, derBegriff, sofern beide die Vielfalt von Bedeutungen unter allgemeine Merkmalesubsumieren. Das Idol unterschlägt die Mehrdeutigkeit eines Ausdrucks, weil esum der Eindeutigkeit willen die zu ihm gehörenden »gegenläufigen Erfah-rungselemente ausblenden muss«23. Symbolische Kommunikation dagegen lebteben von diesem Sinnüberschuss, dass kein Bild Gott erschöpfend darstellenkann, wiewohl wir ihn nur in Bildern haben. Wird dieser Sinnüberschuss, dassan allem Dargestellten noch anderes zu entdecken ist, weil etwas nur dargestelltwerden kann, indem anderes abgeblendet wird, jedoch sistiert, dann ist dasSpiel der symbolischen Kommunikation aus. Insofern bedingt die Kritik amIdol die Möglichkeit des Symbols.Josuttis’ Kritik am Idolcharakter von Idealbildern bleibt allerdings auf dem hal-ben Weg zum Symbol stehen. Die Formel von Ricoeur ist deshalb nur teilweise

Rhetorik als Kommunikation in der Predigt 117

21. Die Aneignung als fides personalis ist zu unterscheiden von der fides historica (vgl.Th. Erne, Art. Rezeption, 1998, 149-155).

22. P. Ricoeur, Versuch über Freud, 1974, 556. Anmerkung in eckiger Klammer von mir.Bei M. Josuttis findet sich ein expliziter Hinweis auf Ricoeurs These zum Unterschiedvon Idol und Symbol (vgl. M. Josuttis, Rhetorik und Theologie, 1985, 165). PeterBiehl hat Ricoeurs Unterscheidung, einschließlich der konfliktreichen Dynamik vonAuf- und Abbau symbolischer Formen, für die Religionspädagogik fruchtbar gemacht(vgl. P. Biehl, Erfahrung – Symbol – Glaube, 1980, 72). Auch Friedrich Schweitzerbetont die Veränderung der Symbolfähigkeit und des Symbolverständnisses von einem»idolisierenden« zu einem »wahrhaft symbolischen Verständnis religiöser Symbole«,als einen für die religiöse Entwicklung zentralen Vorgang (F. Schweitzer, Lebens-geschichte und Religion, 41999, 214).

23. M. Josuttis, Rhetorik und Theologie, 1985, 154.

eingelöst. Denn Josuttis’ Kritik der Idealbilder läuft darauf hinaus, den lieben-den durch den zornigen Gott zu ergänzen und so die »Integration der wider-ständigen Realität«24 als Einheit gegenläufiger Momente zu vervollständigen. Esist gleichsam ein Panoptikum aller möglichen Gottesbilder, die Josuttis zurKorrektur des einseitig liebevollen Gottesbildes aufbietet. Aber die Vielfalt derBilder, vergleichbar der Facettenvielfalt eines Diamanten, trifft noch nicht dieDarstellungslogik des Symbols. Symbole ermöglichen in ihrer Vieldeutigkeitgerade nicht den Blick auf die gesamte Bandbreite möglicher Aspekte, sondernimmer nur den Blick auf einen bestimmten, und zwar dadurch, dass anderemögliche Perspektiven ausgeblendet werden.Die Differenz von Josuttis’ Symbolbegriff zu einer symbolischen Repräsenta-tion im Sinne Ricoeurs zeigt sich an diesem Moment der Negativität25. Symbolesind deshalb nicht mehrdeutig im Sinn einer Ganzheit, die in eine Vielfalt vonAspekten aufgefächert wird, sie sind in einem begrifflich nicht fassbaren Sinnuneindeutig. Im Symbol wird etwas präsentiert, indem anderes appräsentbleibt. Insofern lässt sich der Sinn des Symbols nie völlig ausschöpfen, auchnicht als Summe seiner Aspekte. Indem Josuttis aber das Idealbild Gottes da-hingehend verflüssigen will, dass er einen Aspekt um weitere Aspekte erweitertund die Vielfalt dieser Facetten in einer begrifflich fassbaren Einheit zusam-mengebunden sieht, steht seine Kritik an der Verfestigung Gottes zu einem Ide-albild noch immer unter der Herrschaft des dogmatischen Begriffs.Das Interesse von Josuttis, die Rede von Gott in der Predigt zu dynamisierenund zu verflüssigen, kommt prägnant in der These zum Ausdruck: »Gott mussder andere bleiben und kann der Ändernde werden«26. Andersheit Gottes istnicht zu verwechseln mit anderen Bildern von Gott, sondern Andersheit stehtfür eine Unbestimmtheit, die an jedem bestimmten Ausdruck aufbricht undüberhaupt erst die Möglichkeit eröffnet, etwas neues zu sagen, was nicht schonim Begriff Gottes liegt. Deshalb gehören die Andersheit Gottes und seine sym-bolische Darstellung zusammen. Im Symbol kommt Gott so zur Darstellung,dass die Darstellung zugleich auf andere Sichtweisen und Perspektiven verweist,die durch diese bestimmte Sicht von Gott als Möglichkeit seines Andersseinsmitgegeben werden. Dem Symbol ist ein Sinnüberschuss zu Eigen, der in jedem

118 Rhetorik in der Praktischen Theologie

24. A. a. O., 165.25. Negativität der Darstellung und Darstellung von Negativität ist nach Joachim Ringle-

ben auch Kennzeichen einer christlichen Ästhetik: »Dies negativitätsdurchsetzte Idealvon Schönheit ist vor allem an der Passion Christi abgelesen. Ein solches Ideal ist nichtnur inhaltlich, sondern auch formal christlich bestimmt« (J. Ringleben, Dornenkroneund Purpurmantel, 1996, 15).

26. M. Josuttis, Rhetorik und Theologie, 1985, 164. Josuttis knüpft an eine Formulie-rung Moltmanns an, dass Gott nicht der Ganz-Andere, sondern der Ganz-Änderndeist (vgl. Ebenda Anm. 67).

bestimmten Sinn auf ein Mehr an verdecktem Sinn verweist. Das Symbol ist alsDarstellungsweise der Hinweis, dass von Gott immer mehr zu sagen ist als das,was von ihm gerade gesagt wird.Einleuchtend ist Josuttis’ Vorschlag, für diesen Zusammenhang von Bestimmt-heit und deren Überschreitung, von verfestigten Bildern und deren Verflüssi-gung, die Dialektik von Gesetz und Evangelium in Anschlag zu bringen: »Dielebensnotwendige Unterscheidung von Gesetz und Evangelium lässt sich gewissauch als ein Versuch interpretieren, die Destruktivität von religiösen Idealbil-dern aufzubrechen und ihre lebensfördernde Kraft freizulegen«27. Zu einfachwäre es allerdings, das Evangelium einseitig mit dem Aufbrechen religiöser Ide-albilder und das Gesetz mit der Erstarrung lebendiger Religiosität in solchenIdolen zu identifizieren. Vielmehr muss sich die Unterscheidung von Gesetzund Evangelium an der Ambivalenz orientieren, dass »Idealbilder gefährlichund unentbehrlich zugleich sind«28. Das Gesetz hätte es dann mit dem Sachver-halt zu tun, dass die Weigerung, vertraute Bilder zu überschreiten, wie die Wei-gerung, sich auf solche einzulassen, also die Flucht vor Formabbau und Form-aufbau, die lebensfördernde Kraft des Evangeliums verschüttet29.In dieser Anwendung von Gesetz und Evangelium auf das Problem der verfes-tigten Bilder und ihrer notwendigen Verflüssigung wird in der Predigt, die dieseArbeit vollzieht, ein pneumatologischer Grundvorgang sichtbar, auch wenn Jo-suttis seine Bilderkritik nicht in den Zusammenhang der Pneumatologie ein-ordnet. Es ist das Kennzeichen des Geistes, gegen die Eindeutigkeit des Heils inChristus ein Moment der Unbestimmtheit aufzubieten. In metaphorischerWeise kommt dieser Zusammenhang in der Himmelfahrt zum Ausdruck. Dersichtbare Christus geht, damit der Geist kommt. Der Entzug der KenntlichkeitChristi geschieht zugunsten seiner Aneignung durch die Jünger im HeiligenGeist. Nur indem so das Heil in Christus im Medium des Andersseins Gottes30

fortbestimmt wird, ist eine Aneignung möglich, die nicht nur die zwanghafteWiederholung eines ein für alle Mal bestimmten Heils bedeutet.Insofern hängen die Andersheit Gottes und Gott als der Ändernde, wie dies inJosuttis’ Grundthese ausgeführt wird, tatsächlich zusammen. Denn Aneignungmeint nicht nur ein subjektives Sich-zu-Eigen-Machen eines extra nos konsti-tuierten Heils, sondern darin zugleich ein Zu-sich-selbst-Kommen, ein Neu-werden des Aneignenden selber. Mit anderen Worten: indem die Predigt nichtnur ein Wiedererzählen des Heils in Christus (Repetition) ist, sondern ein Wei-

Rhetorik als Kommunikation in der Predigt 119

27. A. a. O., 147.28. Ebenda.29. Zur Relevanz der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium in Bezug auf Symbole

und Metaphern in der Seelsorge, vgl. Kapitel IV. 3.2.1.30. Vgl. M. Moxter, KaL, 403.

tererzählen31, eine pneumatologische Fortbestimmung im Medium des Anders-seins Gottes, wird sie anschlussfähig für die gelebte Religion (Rezeption).Das bedeutet zum einen eine Kritik an dogmatischer Eindeutigkeit im Sinneder Remetaphorisierung des dogmatischen Begriffs, die Josuttis allerdings indieser Form nicht leistet. Gerade die Ungenauigkeit symbolischer Repräsenta-tion, der Sinnüberschuss, der ihr als Darstellung zu Eigen ist, weist die meta-phorische Rede als Mittel gegen die Einseitigkeit und Abstraktheit dogmati-scher Gehalte aus32. Zum anderen liegt aber in der pneumatologischenFassung des Predigtvorgangs die Einsicht, dass jede pneumatologische Fort-bestimmung (also in den Worten Josuttis’: das Evangelium, das die Idole imMedium der Andersheit Gottes überschreitet) unweigerlich zu neuer, dogmati-scher Bestimmtheit gelangen muss. Jede Verflüssigung muss sich wieder in be-stimmten Ausdrucksformen artikulieren. Jede Fortbestimmung ist nicht nurÜbergang, sondern führt wiederum zu neuer Bestimmtheit, zu Einseitigkeitund Abstraktheit, die jeder Fixierung eines Ausdrucks anhaftet. Solche unver-meidbare Vereinseitigung einer dynamischen Bewegung, die feste und verfestig-te Formen transzendiert, ist nicht nur ein Mangel, sondern die Voraussetzung,damit sich weitere Fortbestimmungen anschließen können und so ein lebendi-ger Traditionsprozess ausgebildet werden kann.Überblickt man die Analyse der realen Bedingungen von Kommunikation inder Predigt, die Josuttis vorlegt, so ist seine Einschätzung verwunderlich, dasses sich dabei nur um eine Akzentverschiebung handelt, die das Zwei-Reiche-Modell der Zuordnung von Theologie und Rhetorik, Lehre und gelebter Reli-gion unberührt lassen soll. Näher liegt es, die Bewegung vom Idol zum Symbol,die Josuttis in seiner Analyse der realen Sprach- und Kommunikationsbedin-gungen in der Predigt vollzieht, als Paradigmenwechsel zu begreifen. Denn indiesen Überlegungen zeigt sich die Predigt wesentlich als symbolische Kom-munikation. Sie wird von ihrer sprachlichen Gestalt, von den realen Kommuni-kationsbedingungen her, begriffen und gewinnt so Anschluss an das religiöseErleben der Zuhörer. Die These von der Kritik des Idols zugunsten des Symbolsbedeutet eine Ausdifferenzierung der Sprachebenen, die für die symbolische

120 Rhetorik in der Praktischen Theologie

31. Zu dieser Unterscheidung, vgl. E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 31978, 426,sowie Kapitel V. Kirche als »Erzählgemeinschaft«.

32. Dazu bemerkt H. Blumenberg: »Die [Ungenauigkeit der] Metapher jedoch konser-viert den Reichtum ihrer Herkunft, den die Abstraktion verleugnen muss« (H. Blu-menberg, Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit, 1979, 80). M. Moxter gibteinen Hinweis, welche Bedeutung die nicht auszuräumenden Ungenauigkeiten, etwaim Verhältnis von Metapher und Sinn, bei Blumenberg haben und welche Möglich-keiten er sieht, aufgrund solcher »bestimmten« Ungenauigkeit, »das Bekannt-Vertrauteim Licht möglicher Abweichungen zu betrachten« (M. Moxter, Ungenauigkeit undVariation, 1999, 189).

Kommunikation jene Eigenständigkeit voraussetzt, die sie in der Kritik des be-grifflichen Denkens gewinnt.Man müsste deshalb ein anderes Modell der Vermittlung von theologischer Re-flexion und sprachlicher Kommunikation erwarten als das Zwei-Reiche-Mo-dell, an dem Josuttis festhält. Die »übermenschlichen und transethischen Ideal-bilder«33, die Josuttis nach wie vor für lebensnotwendig hält und die in derPredigt weiterhin ihre Beachtung finden sollen, stehen in offenem Widerspruchzu seiner eigenen Analyse der Idole. Die Idole führen in der Predigt zur Sistie-rung der Bedeutungsvielfalt sprachlicher Symbole und damit zu einer Ver-armung des religiösen Lebens, zur Ausgrenzung der gelebten Religion aus derreligiösen Kommunikation.Warum Josuttis den Weg vom Idol zum Symbol und damit den Weg zu einereigenständigen Fassung des Sprachgeschehens, das die Predigt charakterisiert,nicht konsequent geht, hat seinen tieferen Grund darin, dass es ihm nicht mög-lich ist, Transzendenz als eine immanente Bewegung in der symbolischen Kom-munikation zu denken. Deshalb hält er an einem Kooperationsmodell fest, indem die Theologie für die transempirischen Gehalte einsteht und die Rhetorikdas endlich-immanente Sprachgeschehen beschreibt. Aus dieser Verengung, dieletztlich die Ergebnisse aus der Analyse der realen Bedingungen sprachlicherKommunikation desavouiert, führt erst eine Fassung von Transzendenz heraus,die diese als pneumatologischen Grundvorgang in der symbolischen Kom-munikation selber versteht. Transzendenz bricht dann nicht mehr von außer-halb in die rhetorische Kommunikation ein, sondern beschreibt die immanenteFortschreibung von (verfestigten) Symbolen im Medium des AndersseinsGottes.

4.3 Gottesdienst auf verhaltenswissenschaftlicherGrundlage

Man kann die Entwicklung im Denken von M. Josuttis mit einer absteigendenLinie vergleichen. Sie führt von den Höhen einer dogmatischen Theologie überdie Rhetorik, die für die realen Bedingungen der menschlichen Kommunikationsteht, in die Tiefe des leibgebundenen Verhaltens. Durchgängig allerdings bleibtdieser Denkweg von jener Verengung gekennzeichnet, die sich darin äußert,dass Josuttis an der Vorstellung einer transempirischen, transzendenten Realitätin allen seinen empirischen Analysen und Erkundungen festhält. Blickt man aufdiese Entwicklung im Denken von Josuttis, so gibt es Gründe, das Thema derRhetorik bei Josuttis auch in seinen verhaltenswissenschaftlichen Arbeiten wei-

Rhetorik als Kommunikation in der Predigt 121

33. M. Josuttis, Rhetorik und Theologie, 1985, 150.

terzuverfolgen, auch wenn er für seine Theorie des Gottesdienstes diesen Titelnicht explizit in Anspruch nimmt. Der Sache nach bleibt das Thema präsent,wenn Josuttis seinen Ansatz bei der Kommunikation um die Dimension derKoordination von Verhalten erweitert. Mit diesem Schritt von der Predigt zurLiturgie, vom Symbol zum Ritual bewegt sich Josuttis, in anderer Terminologiegesagt, von der diskursiven Rhetorik in Richtung des Rhetorischen.Auch wenn sich diese Erweiterung in der Analyse der Symbolspannungen in derPredigt bei Josuttis bereits andeutet, so ist doch »öffentliche Kommunikation«der Leitbegriff dieser Untersuchungen. Symbole und Bilder, an denen sich indi-viduelle und gesellschaftliche Identität formiert, werden in der Predigt als eineröffentlichen Rede thematisiert, um »Einverständnis über neue gemeinsameHandlungsorientierungen und Handlungsmöglichkeiten herbeizuführen«34.Rhetorik bezieht Josuttis in dieser Zuordnung vor allem auf die Ebene der ex-pliziten Handlungskoordination. Sie ist Kommunikation über Verhaltenswei-sen, die sich in bestimmten Selbst-, Ideal- und Feindbildern bereits formierthaben. Rhetorik betrifft deshalb nicht die Dimension des Rhetorischen, dienicht-diskursive Vorstrukturierung unserer Handlungsoptionen in den Meta-phern und Symbolen der Lebenswelt. Das ändert sich in dem Maße, in dem dasRitual und die Liturgie und das durch diese gesteuerte Verhalten in den Blickkommt35.Rituale verweisen auf eine Form der Handlungskoordination, die nicht durchexplizites Wissen, durch Kenntnis von Regeln und Normen geleistet wird, son-dern durch Nachahmung. »Alles Leben verhält sich – einiges Leben verhält sichmanchmal nach der Agende«36. Verhalten ist ein Hintergrund an Gewohnhei-ten, der sich durch alltägliche Verrichtungen bildet. Es ist ein Orientierungssys-tem, das aus der Perspektive einer Gruppe entworfen wird, die das Verhalten ineinem intersubjektiven Sinn als eine geteilte Lebensform steuert. In diese Ori-entierung wird man hineingeboren. Sie wird erlernt, nicht durch explizite Re-gelkenntnis, sondern durch Sozialisation. Es handelt sich um ein imitierendesVerhalten, in dem die Verhaltensorientierung der Erwachsenen von den Kin-dern übernommen wird. Vor jedem ausgehandelten Konsens, vor jeder Predigtim Sinn einer Kommunikation über strittige Fragen des sozialen Zusammen-lebens, steht diese lebensweltliche Verhaltensorientierung als deren sozialer Kitt.

122 Rhetorik in der Praktischen Theologie

34. M. Josuttis, A. a. O., 140 im Anschluss an H. Peukert. Josuttis’ Verständnis vonPredigt und Rhetorik deckt sich weitgehend mit G. Ottos Definition der Predigt alseiner öffentlichen Rede über Fragen des sozialen Zusammenlebens (vgl. Kap. II.2).

35. M. Josuttis, Der Weg in das Leben. Eine Einführung in den Gottesdienst auf verhal-tenswissenschaftlicher Grundlage, München, 1991, 9-319.

36. M. Josuttis, Der Weg in das Leben, 1991, 11. Dieser Leitsatz zieht sich wie ein roterFaden durch das ganze Buch.

Wahrnehmbar aber wird eine solche lebensweltliche Vorstrukturierung vonHandlungsoptionen, wenn sich diese Gewohnheiten in Zeichen und Symbolenartikulieren. Als eine solche Artikulationsform begreift Josuttis den Gottes-dienst: »Gottesdienst, wie ihn die Agende vorschreibt, ist zunächst nichts ande-res als eine Verhaltenssequenz, die in regelmäßigen Abständen von bestimmtenMenschen vollzogen wird«37. Ziel von Josuttis’ Untersuchung ist es, die Funk-tion und Leistungskraft dieses rituellen Verfahrens zu analysieren.

4.4 Gottesdienst als symbolische Form

Es besteht dabei die Gefahr, einem empiristischen Kurzschluss zu erliegen. Dasgottesdienstliche Ritual könnte nach einem behavioristischen Reiz-Reaktion-Schema missverstanden werden. Die im Gottesdienst verwendeten Zeichen hät-ten dann die Aufgabe, Reize zu setzen, die bestimmte Reaktionen auslösen.Doch diese Betrachtung scheitert an der Art der im Gottesdienst verwendetenZeichen. Es sind keine Zeichen im Sinn eines Signals, wie etwa die rote Ampel,die den Impuls, anzuhalten, eindeutig indiziert. Nach diesem Zeichenverständ-nis bliebe das Verhalten der gottesdienstlichen Gemeinde beim Abendmahl rät-selhaft. Vielmehr sind die im Gottesdienst verwendeten Zeichen keine Signale,sondern Symbole. Symbole aber repräsentieren etwas (Brot) als etwas (LeibChristi) durch ein Drittes, nämlich einer bestimmten Hinsichtnahme (Brot alsPräsenz des Heiligen wahrzunehmen und nicht als Reiz, die Magensäfte zu ak-tivieren).Im Unterschied zu Signalen beruht die Verhaltensorientierung durch Symboleauf der Fähigkeit des Menschen, etwas als etwas zu sehen, was Cassirer als Sym-bolisierungsfähigkeit bezeichnet, die den Menschen vom Tier unterscheidet.Damit gewinnt der Mensch als animal symbolicum eine neue Methode, sichseiner Umwelt anzupassen. Er ist in seinem Verhältnis zur Umwelt nicht, wiedie Tiere, unmittelbar von Reiz-Reaktion-Ketten abhängig. Sein Verhältnis zurUmwelt ist umständlich, vermittelt durch mittelbare Zeichen, und es ist durchdie Fähigkeit charakterisiert, sich von der unmittelbaren Wirklichkeit zu dis-tanzieren: »There is an unmistakable difference between organic reactions andhuman responses. In the first case a direct and immediate answer is given to anoutward stimulus; in the second case the answer is delayed. It is interrupted andretarded by a slow and complicated process of thought«38. Cassirer nennt dieseumständliche Verzögerung, die eine neue Dimension der Wirklichkeit er-schließt, menschliche Kultur.

Rhetorik als Kommunikation in der Predigt 123

37. Ebenda.38. E. Cassirer, An Essay on Man, 1944/1972, 24.

Insofern ist die Orientierung des Verhaltens durch symbolische Repräsentationnichts, was den Gottesdienst exklusiv auszeichnet. Das ist auch Josuttis klar.Denn die Symbolisierungsfähigkeit des Menschen stellt einen allgemeinen kul-turtheoretischen Sachverhalt dar. Was aber unterscheidet dann die spezifischreligiöse Symbolisierung von anderen symbolischen Kulturformen? Denn of-fensichtlich partizipiert das Verhalten im Gottesdienst an dem allgemeinen kul-turtheoretischen Sachverhalt der Symbolisierung von Sinn, ohne dass mit die-ser Einsicht schon die spezifische Differenz von religiösen und anderenSymbolsystemen bestimmt wäre. Es muss also ein diachrones Moment in derreligiösen Symbolisierung geben, welches die Synchronität religiöser Symbolemit anderen Formen der Symbolisierung nicht aufhebt. Dieses Moment suchtJosuttis unter dem Stichwort der »Realität, die sich im Kult konstituiert«39.Der Wirklichkeitsbegriff steht zunächst nur dafür ein, dass die im gottesdienst-lichen Ritual verwendeten Symbole etwas erschließen, was einer funktionalenBetrachtung nicht zugänglich ist. Die religiöse Symbolwelt auf ihren Nutzen, seies für die Durchsetzung religionspädagogischer Konzepte oder für die Auf-merksamkeit auf bestimmte Produkte, zu reduzieren, diese Reduktion habenoffenbar religionspädagogische Symbolkonzepte mit den Imagekampagnender Werbebranche gemeinsam. Demgegenüber insistiert Josuttis auf der irredu-ziblen Ausdrucksqualität der Symbole für die Darstellung menschlicher Identi-tät, dem ein irreduzibles, darstellendes Handeln im Kultus entspricht. Was aberSymbole darstellen, das lässt sich nur wahrnehmen. Deshalb plädiert Josuttisfür eine »phänomenologische Wahrnehmung«, die über die rein funktionaleBetrachtung hinausführt.Anders als bei der von Rössler kritisierten Religionsphänomenologie im An-schluss an Gerardus van der Leeuw und Rudolf Otto geht es Josuttis bei derWirklichkeit des Göttlichen nicht um eminente religiöse Phänomene, sondernum eine ergreifende Atmosphäre, die die Wirklichkeit durchzieht. Die Wirk-lichkeit des Göttlichen ist deshalb nicht an bestimmte Symbole gebunden, son-dern an eine bestimmte Art ihrer Evidenz. Diese charakterisiert Josuttis im An-schluss an H. Schmitz als Erfahrung unbedingter Betroffenheit, die sich nichtder Haltung des Betrachters, sondern der unwillkürlichen Evidenz des Symbolsverdankt: »Darstellung in diesem Sinn liegt vor, wo immer etwas anderes ineinem anderen gesehen oder gefunden oder gehabt oder wenigstens als etwas– sei es dieses das Selbe oder ein anderes – so genommen wird, dass es dabei aufdas Dasein und dessen Autorität, also auf die Frage, ob die betreffende Identitättatsächlich ist, nicht mehr ankommt«40.

124 Rhetorik in der Praktischen Theologie

39. M. Josuttis, Der Weg ins Leben, 1991, 30.40. H. Schmitz, Das Göttliche und der Raum, 1977, 468; vgl. M. Josuttis, Der Weg ins

Leben, 1991, 32.

Ist Darstellung dadurch charakterisiert, dass sie historisch-kritische Rückfragenausblendet und so eine angemessene Rezeption von Symbolen ermöglicht, diegerade nicht Abbildung eines an sich realen historischen Sachverhalts sind, sogeht die religiöse Qualifikation von symbolischer Darstellung nach Josuttisnoch einen Schritt weiter. Denn im religiösen Fall werden nicht nur die Fragennach der Realität des Repräsentierten ausgeblendet, sondern der Zeichencha-rakter der Darstellung selber. Religiöse Darstellung liegt demnach immer dannvor, wenn es sich um eine »unwillkürliche«, die Distanz des Betrachters auf-hebende Evidenz handelt, in der »das Vorkommen von Göttlichem so bezeugt[wird], dass sich der Betrachter ihrem Zeugnis bei eindringlicher Vertiefungnicht im Ernst entziehen kann, so wenig, wie dem Zugeständnis, dass Schallsich ereignet, wenn er sich oder andere sprechen hört«41. Indem also die sym-bolische Darstellung von Sinn zu einer religiösen Darstellung wird, schwindetihr Charakter, Darstellung zu sein. Das Symbol ist dann nicht mehr Hinweis aufeinen Sinn, den es nur unzureichend, eben symbolisch repräsentiert, sondernder Sinn ist ganz in der Darstellung präsent. Es handelt sich um eine quasiobjektive Präsenz des Göttlichen nach Art von Schall oder Wetter. Josuttis be-legt diese Wirklichkeit des Göttlichen mit dem Begriff der Atmosphäre. Sie istnicht lokalisierbar in einzelnen Objekten, gleichwohl nicht rein subjektiver Na-tur, eine Dichte der Betroffenheit, die überpersönlich und übergegenständlichsein soll.Mit diesem Begriff der Atmosphäre sind für Josuttis die Fragen nach Zusam-menhang und Differenz von religiösem Kult und Alltagshandeln, von Verhaltennach der Agende und Verhalten nach Alltagsritualen geklärt. Der Zusammen-hang besteht darin, dass es im religiösen Kult, wie in der Kultur überhaupt, umsymbolische Darstellung von Sinn geht, der zur Verhaltensorientierung bei-trägt. Das diachrone Moment besteht darin, dass die religiöse Darstellungdurch eine »ergreifende Atmosphäre« auszeichnet ist, welche die Differenz vonRepräsentation und Präsenz aufhebt und deshalb als eine quasi objektive Ge-fühlslage erfahren wird. Diese ergreifende Atmosphäre, die religiöse Darstel-lung auszeichnet, lässt sich aber nach Josuttis nicht einfach durch die Agendemachen. »Weil die Wirklichkeit des Heiligen eine Macht darstellt und Men-schen mit unbedingtem Ernst angeht, entzieht sie sich allem menschlichen Be-mächtigungs- und Verwertungsstreben«42.Betrachtet man die Analyse der symbolischen Darstellung, die Josuttis für denGottesdienst in Anschlag bringt, dann wird man zeichentheoretisch sagen müs-

Rhetorik als Kommunikation in der Predigt 125

41. H. Schmitz, Das Göttliche und der Raum, 1977, 3; vgl. M. Josuttis, Der Weg insLeben, 1991, 33 (Zusatz in eckiger Klammer von mir).

42. M. Josuttis, Der Weg ins Leben, 1991, 35.

sen, dass die Atmosphäre des Göttlichen sich einer mythischen Ununterscheid-barkeit von Sinn und Zeichen annähert. Mythische Darstellung zeichnet sichdadurch aus, dass der Sinn im Zeichen das Heilige im Bild nicht dargestellt,sondern präsent hält. Mythisch ist die »unwillkürliche Evidenz«, die nach Jo-suttis das Ziel des religiösen Rituals ist und die Distanz unmöglich macht. Ihrentspricht ein mythisches Verhalten, in dem Innen und Außen zu einem ein-zigen So-Ist-Es verschmelzen43.Nun gilt für die an Bilderverbot und prophetischer Kultkritik orientierte jü-disch-christliche Religion, dass sie ein dialektisches Verhältnis zum Mythos ent-wickelt hat. Sie kann ihre Kritik an den Bildern nicht vortragen, ohne ihrerseitsBilder zu bemühen – und zwar nicht in dem äußerlichen Sinn, dass es um eineVernichtung des äußerlichen Scheins ginge, sondern um eine Kritik, die deninneren Sinn der Bilder freilegt. Kann deshalb die christliche Religion nie ohneBilder sein, mithin auch nicht entmythologisiert werden, weil sich der innereSinn nur als Kritik an den äußerlichen Zeichen artikulieren kann, so zeigt sichdoch die Differenz zum Mythischen in einem anderen Gebrauch der sichtbarenZeichen. Der religiöse Gebrauch zeigt sich darin, dass »jedes Bild und Zeichenhinter dem zurückbleibt, was es sagen will, ohne deshalb außer Kraft gesetzt zusein«44. Das sinnliche Bild kann diesen Sinn nur darstellen, indem es auf ihnverweist als einen, der im Bild nie vollständig erfasst ist. Es ist nur Hinweis aufeinen Sinnüberschuss, der in keiner Darstellung auszuschöpfen ist. Liegt darindie Pointe der jüdisch-christlichen Bilderkritik, dass man ohne Bilder nicht vonGott reden kann, aber kein Bild Gott ganz erfasst, dann ist das christliche Be-wusstsein dieser Differenz, weil es das Bild nicht als Präsenz, sondern als Reprä-sentation des Heiligen begreift, gleichwohl aufs Bild bezogen.Dieses Unterscheidungsbewusstsein, das die reformatorische Theologie in ihrerBilderkritik45 prägnant formuliert hat, wird in der »Verhaltenssequenz,« die das

126 Rhetorik in der Praktischen Theologie

43. Vgl. a. a. O., 276.44. M. Moxter (KaL, 114) bezieht sich mit dieser Aussage auf die Religion, so wie sie von

E. Cassirer als ein bestimmter Gebrauch von Zeichen charakterisiert wird.45. Vgl. W. Hofmann, Die Geburt der Moderne aus dem Geist der Religion, 1983, 23-71

und W. Hofmann, Der Bann der Bilder, 1989, 69-78. Hofmann interpretiert MartinLuthers Bilderkritik als einen epochalen Freibrief, der die Bilder aus dem Verwei-sungszusammenhang mit moralischen oder religiösen Themen herauslöst. Mit dieserreformatorischen Bilderkritik beginnt nach Hofmann die Moderne, in der Bildernichts mehr bedeuten, insofern sie auf nichts anderes mehr hindeuten. Wenn daherdie »Bilder weder gut noch böse sind«, und »alles das mit Luther begonnen hat«(W. Hofmann, Geburt der Moderne, 1983, 47), so bleibt doch gerade die reformato-rische Bilderkritik dem Bild verpflichtet, trotz der gewaltsamen Versuche, sich im Ge-folge der Reformation der Bilder endgültig zu entledigen.

gottesdienstliche Ritual nach Josuttis organisiert, entdifferenziert. Denn die In-szenierung des gottesdienstlichen Rituals, und das bedeutet doch wohl, die In-szenierung der Passion Jesu Christi, dient dann dazu, die teilnehmende Ge-meinde in eine »ergreifende Atmosphäre des Heiligen«46 zu versetzten, in derkeine Kritik und keine Distanz zu jener Unmittelbarkeit mehr möglich ist, diedas spezifisch religiöse Evidenzerlebnis des Heiligen auszeichnet.

4.5 Rhetorik und Ritual

Rhetorisch gesehen, besteht die Wirkung eines Rituals darin, Fragen nach sei-ner Tatsächlichkeit überhaupt nicht zu stellen. Rituale sind deshalb keine Ant-worten auf ungewisse Fragen, sondern Verfahren der Hintergrundsorientie-rung, die solche Fragen überhaupt nicht aufkommen lassen. Die ironischeBemerkung von Blumenberg, dass »niemand in das Rezitativ des Evangelisten[in der Matthäuspassion Bachs] hineinfragt, was denn genauer gemeint sei«47,beschreibt diese Qualität der Unbefragbarkeit, die das Ritual auszeichnet. Indieser rhetorischen Qualität, nämlich Unbefragbarkeit zu verleihen, sieht Blu-menberg die Musik zu Recht als Erbin des Rituals48. So ungewöhnlich deshalbdie Perspektive aus einer bestimmten theologischen Sicht sein mag, das religiö-se Ritual nicht »als Exekution theologischer Lehren und demgemäss weder austheologischen Prinzipien zu deduzieren noch von biblisch begründeten Ein-sichten her zu reformieren«49, ritualtheoretisch ist dieser Zugang, den Josuttiswählt, sachgemäß. Nicht nur historisch, auch sachlich, geht das Ritual demDogma voraus. Das Kirchenjahr ist früher als die christologische Deutung.Das rituelle Tun ist deshalb auch nicht aus den Glaubensinhalten deduzierbar,sondern umgekehrt sind die dogmatischen Aussagen mittelbare Deutungendessen, was im rituellen Handeln der Menschen lebendige Religionspraxis ist.Unbefragbarkeit ist aber – rhetorisch gesehen – keine unmittelbare Evidenz-erfahrung, sondern sie ist sprachlich vermittelt. Es bedarf der Überredung, kei-ne Fragen mehr zu stellen50 und sich mit dem Ritual zu begnügen. Anders bei

Rhetorik als Kommunikation in der Predigt 127

46. Damit wird im Übrigen auch das Verhältnis von Christologie und Pneumatologie um-gekehrt. Die christologische Szene im Abendmahl ist der Zugang zur Atmosphäre desHeiligen und nicht umgekehrt die Pneumatologie die Vergegenwärtigung des Christus-geschehens.

47. H. Blumenberg, Matthäuspassion, 1988, 45 (Zusatz in eckiger Klammer von mir).48. Vgl. Th. Erne, Die theologische Großzügigkeit der Musik, 1997, 223-229.49. M. Josuttis, Der Weg ins Leben, 1991, 11.50. So formuliert D. Rössler: Wer im Verhältnis zum Ritual »diese Fragen aufwirft, hat

sich verlaufen.« (D. Rössler, VdR, 29).

Josuttis: Dort ist Unbefragbarkeit ein Ausfluss der Macht des Heiligen, gegen-über dessen überwältigender und unwillkürlicher Präsenz alle Fragen des Men-schen schwinden. Während das Ritual in rhetorischer Sicht eine Form der Üb-erredung darstellt, auf weitere Fragen zu verzichten und sich angesichtsmenschlicher Kontingenzerfahrung mit einem Ritual zu begnügen, das Aus-druck anstelle von überwältigendem Eindruck setzt, ist die Erfahrung derMacht des Heiligen bei Josuttis gerade durch das Gegenteil charakterisiert. Esist ein so überwältigender Eindruck, dass alle Distanzierungsleistungen desMenschen, auch die rituelle »Ausdruckshandlung«51, am Ende vernichtet wer-den.So, wie Josuttis das gottesdienstliche Ritual auf die Macht des Heiligen bezieht,dient es als Ritual geradezu der Aufhebung seiner selbst. Die Ausdrucksqualitätdes Rituals zielt darauf, im Vollzug des Rituals aufgehoben zu werden. Währendim herkömmlichen Sinn das Ritual ein Distanzierungsgeschehen52 darstellt, istes bei Josuttis der Weg in einen umfassenden Distanzverlust. Das führt zu einerparadoxen Spannung. Denn als ein Ausdruckshandeln räumt das Ritual etwaeinem Trauernden gerade nicht die Möglichkeit ein, seinen überwältigendenSchmerz unmittelbar zu empfinden, also den Schock des Verlustes schockartigzu erleben, sondern zielt darauf, ein Gefühl überhaupt erst dadurch zu haben(im Gegensatz zum Schock des Verlusts), dass es ausdrücklich und so über-haupt erst erfahrbar wird. Das Ritual versetzt den Trauernden in Distanz zuseinem unmittelbaren Eindruck, um das Unfassbare fassbar, das Überwältigen-de in ein bewältigbares Gefühl des Schmerzes zu verwandeln53.Das Ritual ist also in einem anderen Sinn »der Weg ins Leben«, als dies Josuttismeint, nämlich als ein Umweg des Lebens zu sich selbst. Josuttis’ Intention da-gegen zielt darauf, die symbolische Repräsentation von Sinn in die Erfahrungeines unbedingten Sinns münden zu lassen. Sinn und Zeichen fallen dann sozusammen, dass keine Distanz des Betrachters mehr möglich ist. UnbedingterSinn in unbedingter Ergriffenheit, das scheint die Formel zu sein für die Atmo-sphäre des Heiligen, die Traumzeit zwischen Himmel und Erde, die im Zen-

128 Rhetorik in der Praktischen Theologie

51. P. Bahr, Ritual und Ritualisation, 1998, 143-160, a. a. O., 156.52. Werner Jetter beschreibt Rituale, im Sinne Cassirers, als Ausdrucksgeschehen: »In

Ritualen gewinnt Inneres als Äußeres, Eigenes als Gemeinsames, Empfindung alsHandlung, Eindruck als Ausdruck Gestalt. Man kann dann auch sagen: Ungeformtes,Ungestaltetes lässt sich da von Geformtem, Gestaltetem vertreten« (W. Jetter, Symbolund Ritual, 21986, 105).

53. Dass dieser Umsetzungsvorgang von Eindruck in Ausdruck, den E. Cassirer als ele-mentare symbolische Leistung versteht, auch ein religiöser Vorgang ist, zeigt sich inGoethes Spätwerk: »Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, gab mir einGott zu sagen, was ich leide.« (J. W. von Goethe, Gesammelte Werke Bd. 1, Hambur-ger Ausgabe, 111978, 381).

trum des gottesdienstlichen Rituals stehen soll. Abgesehen von der Frage, ob dieUnbedingtheit von Sinn in einen unbedingten Sinn überführbar ist54, hat Josut-tis’ Destruktion der symbolischen Darstellung von Sinn im gottesdienstlichenRitual zur Konsequenz, dass am Ende der »Absolutismus der Wirklichkeit«55,gegen den sich alle symbolischen Formen wenden, in Gestalt des »Absolutismusder Wirklichkeit des Heiligen« wiederkehrt. Unentscheidbar bliebe dann, ob inder Atmosphäre des Heiligen blanker Terror oder pure Gnade herrscht. Lägeaber das Besondere des christlichen Gottesdienstes tatsächlich darin, den zei-chenvermittelten Charakter das Rituals aufzuheben zugunsten einer absolutenEvidenz des Heiligen, dann würde dadurch nur das Recht der symbolischenArbeit am Absolutismus jeglicher Wirklichkeit erneut bestätigt werden.Der Gegenvorschlag, die Transzendenzerfahrung im gottesdienstlichen Ritualauf andere Weise zu fassen, rekurriert auf die Erfahrung, dass Rituale auchscheitern können56. Rituale können nicht nur Wege ins Leben, sondern auchSackgassen sein. Sie können als symbolischer Ausdruck dem Leben dienen,um sich in einem anderen ansichtig zu werden, aber auch sich fremd zu bleiben.Diese Doppelgestalt des Rituals zwischen lebendiger Form und erstarrter Ord-nung liefert das Motiv für die alttestamentliche Kultkritik. Diese zielt nicht aufdie Abschaffung des Kultes, sondern auf seine Dynamisierung. Die Lebendig-keit der Form, die Dynamik der Ordnung, hängt aber an der Bestimmtheit vonZeichen (Orientierung durch Bestimmtheit) wie ihrer Übergänglichkeit (Le-bendigkeit durch Unbestimmtheit) von Zeichen zu Zeichen etc. Diese Dialektikvon Formaufbau und Formzerstörung, wie Cassirer57 den elementaren Vorgangdes Kulturaufbaus nennt, in der allein sich Ordnungen lebendig halten, wird inder alttestamentlichen Bilderkritik mit der Einsicht exemplarisch zur Geltunggebracht, dass man nur in Bildern von Gott reden kann, aber kein Bild denSinn, der mit diesem Wort gemeint ist, erschöpfend zum Ausdruck bringt.Die Kultkritik ist also die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass Ordnungssys-teme, wie das Ritual, immer wieder einer neuen Aneignung zugeführt werden,und zwar deshalb, weil die Symbole, die in den Ritualen tradiert werden, aufSinn nur verweisen; deshalb kann und muss man auf sie in immer neuer Weiseund Perspektive zurückkommen. Nun ist dieses Formgesetz nicht spezifisch re-ligiös. Die Zeichentranszendenz charakterisiert symbolische Prozesse generell.Das unterscheidend Religiöse wäre, dass, wie Moxter im Anschluss an Cassirer

Rhetorik als Kommunikation in der Predigt 129

54. Diese Differenz von unbedingtem Sinn und der Unbedingtheit von Sinn ist die Pointevon J. Habermas’ Kritik an Horkheimers Satz »Einen unbedingten Sinn zu retten ohneGott, ist eitel,« (vgl. J. Habermas, Texte und Kontexte, 21992, 110-126).

55. H. Blumenberg, AaM, 9 ff.56. Vgl. P. Bahr, Ritual und Ritualisation, 1998, 152 bes. Anm. 38.57. Vgl. E. Cassirer, Essay on Man, 1944/1972, 224ff.

sagt, dieser Prozess im religiösen Kult reflexiv wird: »Als Differenz von Be-stimmtheit und Unausschöpfbarkeit vollzieht sich im religiösen Bewusstseindas Sich-Inne-Werden des semiotischen Prozesses«58.Dagegen ist bei Josuttis die Atmosphäre des Heiligen in einem realistischen,zeichentranszendenten Sinn zu verstehen. Es ist eine transzendente Realität,die sich »weder in den menschlichen Interessenhorizont noch von den mensch-lichen Handlungsmöglichkeiten einfach einfangen lässt«59. Sie ist eine, wennnicht greifbare, so doch ergreifende Realität, so wirklich wie das Wetter, derSchall, die Luft. Den Anschein der Gegenständlichkeit sucht Josuttis dadurchzu vermeiden, dass die Wirklichkeit des Heiligen eine »ganzheitlich umgreifen-de und durchdringende Atmosphäre«60 darstellt, die aber in keinem umschrie-benen Objekt untergebracht werden kann. Das Heilige ist, wenn man dieseParadoxie verstehen will, ein Objektives, das »präobjektiv« ist, jeder gegen-ständlichen Objektivität vorausliegt und diese doch objektiv umfasst.Was Josuttis mit dieser transzendenten Realität des Heiligen zu meinen scheint,ist eine Wirklichkeit jenseits der sprachlichen Darstellung von Wirklichkeit, diesich so in den Symbolen und Bildern des Gottesdienstes zur Geltung bringt,dass es sich nicht nur um einen sprachlichen Ausdruck, sondern um die Sacheselbst handelt. Wenn auch in anderer Terminologie, so kehrt der Gegensatz vontransempirisch und empirisch, von transzendent und immanent wieder, unterdem Josuttis in der Nachfolge Barths das Verhältnis von Theologie und Rheto-rik gefasst hat. Die Symbole im Gottesdienst sind als endlich-empirischeSprachformen in einer transzendenten Realität fundiert. Sie sind deshalb nurein Mittel, dessen sich das Heilige bedient, um sich zur Sprache zu bringen. Indiesem Augenblick der unwillkürlichen Evidenz versinkt auch das Symbol, umder Realität des Heiligen selber Platz zu machen. Der Gottesdienst als rituellesVerhalten ist ein Versuch, sich der Wirklichkeit des Heiligen als einer Macht,nicht nur einer symbolischen Darstellung zu nähern.Die Frage ist natürlich, ob die transzendente Realität, die »Atmosphäre« desHeiligen nicht einfach nur ein anderer sprachlicher Ausdruck für das Göttlicheist. Ein Symbol, das zwar vorstellungsgebundenere Ausdrücke ersetzt, nichtaber den Übergang von der Sprache zur Sache, zur transzendenten Realität ver-bürgt. Unbestritten gibt es bestimmte Atmosphären in jedem Gottesdienst,auch wenn sie nicht immer ergreifend sind. Was aber nötigt zu der Annahme,der Wirklichkeitsgehalt dieser Atmosphären sei etwas anderes als die Wirklich-keit der Symbole und ihrer Rezeption durch die Gemeinde? Man kommt jeden-

130 Rhetorik in der Praktischen Theologie

58. M. Moxter, KaL, 150.59. M. Josuttis, Der Weg ins Leben, 1991, 34.60. A. a. O., 33

falls über die Sphäre der symbolischen Vermittlung des Heiligen im Gottes-dienst nicht dadurch hinaus, dass man mit sprachlichen Mitteln auf ein Jenseitsder Sprache insistiert.61

Rhetorik als Kommunikation in der Predigt 131

61. Theologischer Realismus lässt sich sprachphilosophisch auch anspruchsvoll vertreten.Die von H.- P. Grosshans vorgetragene Option für einen internen Realismus, derdavon ausgeht, »dass in der Sprache des christlichen Glaubens Wirkliches zur Sprachekommt« (H.-P. Grosshans, Theologischer Realismus, 1996, 260), unterscheidet sichmit diesem sprachinternen Begriff von Wirklichkeit von M. Josuttis’ eschatologi-schem Realismus, der alle an Zeichen gebundene Darstellung in einer transzendentenRealität, jenseits der Sprache fundiert sieht.

5. Schlussreflexion

Mit dem Thema »Rhetorik« gewinnt die Praktische Theologie eine neue Per-spektive auf die Dimension der religiösen Kommunikation. Die Predigt als eineRede zu verstehen, diese Grundthese Ottos besagt, dass Sprache als eine Formder Verständigung über die Fragen des sozialen Zusammenlebens in den Blickkommt. Predigt wird dann nicht in erster Linie durch die Lehre, die dogmati-schen Gehalte und Begriffe der christlichen Tradition, sondern durch die kom-munikativen Strukturen, nicht vom Aussage-, sondern vom Anredecharakterder Sprache her begriffen. Mit dem Thema der Rhetorik stellt die PraktischeTheologie die Predigt in den Horizont moderner sprachwissenschaftlicher Aus-differenzierungen, wie die Unterscheidung von semantischer, intentionaler undpragmatischer Funktion von Sprache. Damit geht die Entdeckung der Eigent-lichkeit metaphorischer Rede einher, wie sie von der Systematischen Theologievertreten wird.Mit der These von der Predigt als Rede sucht die Praktische Theologie Anschlussan die alltägliche Kommunikation der Menschen, vor allem dann, wenn dieWahrnehmung der kommunikativen Struktur von Sprache nicht auf den engenBereich der Homiletik beschränkt wird, sondern wenn sie, wie bei Otto, einegenerelle Perspektive darstellt, die alle Handlungsfelder der Praktischen Theo-logie betrifft. Der Anschluss an die gelebte Religion als einem »kommunikativenTatbestand«1 äußert sich bei Otto und Josuttis in der primären Orientierungder Predigt am Hörer, in der Rezeption der pragmatischen Sprachfunktionen,wie etwa der Sprechakt-Theorie, in der Analyse der tiefenpsychologischen undsozialpsychologischen Funktionen der verwendeten Symbole, in einem generel-len Sinn, der alle aufgezählten Aspekte umfasst: in der elementaren Sprachlich-keit des alltäglichen menschlichen Weltumgangs. Alltäglich leben wir in einerWelt der Zeichen und Symbole, die wir gebrauchen, um uns zu orientierenund um unser gemeinsames Handeln zu koordinieren.Mit dem rhetorischen Perspektivenwechsel auf Predigt als Rede partizipierenOtto und Josuttis allerdings auch an einer Schwierigkeit, die das kommunika-tionstheoretische Modell charakterisiert, an das sie sich im Wesentlichen an-schließen: die Theorie des kommunikativen Handelns. Denn wie bei Habermaserscheint bei Otto und Josuttis der Alltag als die Welt fraglosen Wissens, als

1. W. Gräb, Lebensgeschichten, 1998, 39.

Raum eingespielter Routinen und Regeln, kurzum als Ressource, die in die ver-ständigungsorientierte Rede eingespeist und diskursiver Rationalität zugäng-lich gemacht werden muss. Der Alltag, und die in ihr gelebte Religion, ist indieser Sicht der feste Untergrund, das fraglose Wissen, auf dem die diskursiveVerständigung aufruht, so wie die religiöse Kommunikation in der Predigt aufeingespielten religiösen Traditionen. Erst wenn dieser Untergrund unter demSchock von nicht-integrierbaren Ereignissen zerfällt, wie sie etwa in den Kasua-lien bearbeitet werden, kommt die religiöse Dimension zum Vorschein. Religiö-se Kommunikation ist insofern auf Kontingenzerfahrung angewiesen2. DerSchock, unter dem lebensweltliche Vertrautheit zerfällt, ist für sie in einer Weisekonstitutiv, dass es als eigentümliche religiöse Leistung erscheinen kann, diesenSchock zu provozieren3, um in die Dimension des Religiösen einzuführen4.Streng genommen steht in dieser Zuordnung von Religion und Alltag die ge-lebte Religion nicht im Alltag, sondern an der Grenze und Schwelle zum Alltag.Sie ist, so gesehen, ein Phänomen zweiter Ordnung, ein »Perspektivenwechselzweiter Stufe«5, nämlich Erfahrung mit Erfahrung, Deutung von Bedeutung,einvernehmliche Verständigung über faktische Verständigung.Der Begriff von »Rhetorik« ist für die Praktische Theologie zu eng gefasst, wenner nach dem Modell von primärer lebensweltlicher Bedeutung und sekundärerreligiöser Deutung auf die dialogische Vermittlung formierter Lebensformenund ihre Kritik bezogen ist. Denn das Rhetorische, nun im Unterschied zu derRhetorik, betrifft schon die Formierung dieses Hintergrunds. Wie sich ange-sichts des modernen Verlusts an Selbstverständlichkeit so etwas wie Lebensfor-men und Sinngemeinschaften erhalten, die auf selbstverständlichen Gewohn-

Schlussreflexion 133

2. Etwas vorsichtiger spricht A. von Scheliha von einer Verknüpfung oder Korrelationvon Kontingenzbewusstsein und religiösem Vorsehungsglauben. Eine solche Korrelati-on erlaubt es, den »belasteten dogmatischen Begriff [der Vorsehung] an Vollzüge ge-lebter Religion zurückzukoppeln« (A. von Scheliha, Der Glaube an die göttliche Vor-sehung, 1999, 352; Zusatz in eckiger Klammer von mir).

3. Vgl. H. Luther, RuA, 54: »Das Thema von Religion ist gerade nicht die Stabilisierungder innerweltlichen Ordnung, sondern ihre Intention liegt darin, an Grenzen zu führenund über sie hinaus.«

4. Die Vorstellung, die Lebenswelt sei ein vorgängiges, umfassendes Sein- und Sinnganzes,das durch Irritationen in Schwellensituationen zerfällt, bestimmt auch bei W. Gräb dieBeziehung von Alltag und religiöser Deutung: »Sie [die alltäglichen Rituale und Ver-gewisserungen] reichen dann nicht aus, wenn es zu jenen Schwellensituationen, zu denZwischenfällen des Alltags kommt, die vor die großen Transzendenzen stellen, ange-sichts deren sich auch diejenigen Deutungsfragen stellen, die wir als die eigentlich reli-giösen anzusprechen gewohnt sind«, (W. Gräb, Lebensgeschichten, 1998, 56 f.; Zusatzin eckiger Klammer von mir).

5. U. Barth, Was ist Religion? 1996, 544; vgl. Th. Erne, Art. Rezeption, 1998, 151f.

heiten und Traditionen, auf »world-taken-for-granted«6 beruhen, diese Frageführt in die Dimension des Rhetorischen. Das Rhetorische betrifft, mit anderenWorten, nicht erst die Kommunikation, sondern bereits deren Hintergrund, diegeteilten, selbstverständlichen Lebensformen, und den Horizont, in dem kom-munikatives Handeln über sich hinausgreift.Diese rhetorische Abschirmung des lebensweltlich Selbstverständlichen ist aberfalsch verstanden, wenn in ihr nur ein konservativer roll-back, eine trotzige Im-munisierung gegen das Kontingenzbewusstsein in der Moderne gesehen wird.Die rhetorische Abschirmung von Horizonten des Selbstverständlichen vertei-digt nicht den Rest eines festen Untergrundes, sondern sie artikuliert ein Mit-gegebenes, das in rationaler Thematisierung lebensweltlicher Selbstverständ-lichkeiten erhalten bleibt. Es geht nicht um die Ausschaltung, wohl aber umeine »Eindämmung von Kontingenzbewusstsein« in kontinuierlich sich ver-schiebenden Horizonten. Deshalb bedeutet rhetorische Abschirmung desSelbstverständlichen nicht die Restitution einer ursprünglichen Gegebenheit.Sie zeichnet nicht einen scheinbar stabilen Untergrund aus – als fraglos undjeglicher rationaler Thematisierung entzogen –, sondern sie überredet dazu, inkonkreten Handlungssituationen nicht alles zu problematisieren und manches,wenn auch nur momentan, zu vergessen7.Die Differenz von Rhetorik und Rhetorischem impliziert auch einen anderen,phänomenologischen Begriff von Alltag8, sofern mit Alltag dann die Formie-rung und Abschirmung der Horizonte lebensweltlicher Vertrautheiten gemeintist. Diese Umstellung auf einen phänomenologischen Alltagsbegriff betrifftauch das Verständnis des religiösen Alltags, dessen Bedeutung für die Grund-legung der Praktischen Theologie D. Rössler9 eingeschärft hat. Offensichtlichwird Religion nicht angemessen im Alltag verortet, wenn dieser als Ressource,die auf Verlust berechnet ist, verstanden wird und nicht als Lebenswelt, als Netzvon Horizonten.Wird die Religion als »geistige Deutungskategorie«10 verstanden wird, die eineunter dem Schock von Kontingenzerfahrungen zerfallende Welt in einer höhe-

134 Rhetorik in der Praktischen Theologie

6. P. Berger/Th. Luckmann, Modernität, Pluralismus und Sinnkrise, 1995, 51. An die-ser Stelle wird explizit auf Alfred Schütz Bezug genommen.

7. Jürgen Werner formuliert erhellend zum Motiv des Vergessens als einer Form derGnade: »Dass der Allwissende vergessen könnte, wäre die letzte Konsequenz einer Be-freiungsgeschichte, welche die Erinnerungslast zugunsten der Lebenslust vernichtet,und dem Vergessen somit zutraut, womit es ihm höchst ernst ist: nicht alles bis insletzte ernstzunehmen.« (J. Werner, Die Kunst des Vergessens, 1990, 263).

8. Zu einem solchen phänomenologischen Begriff von Alltag im Sinn von Lebensweltsiehe unten Kapitel III.1.2.

9. Vgl. D. Rössler, GPT, 69.10. W. Gräb, Lebensgeschichten, 1998, 39.

ren Ordnung des bewussten Lebens versöhnt, dann ist der Alltag die Kontrast-folie, um das Novum des christlichen Glaubens gegen die Routine von alltäg-lichen Selbstverständlichkeiten abzusetzen. Dieses hermeneutische Modell derUnterbrechung wird aber dann außer Kraft gesetzt, wenn man sieht, dass mitAlltag nicht nur ein Traditionspolster gemeint ist, das sich beharrlich allen kri-tischen Anfragen entzieht. Mit Alltag als Lebenswelt kommt vielmehr diejenigeVorstrukturierung von Erfahrung im Blick, die auch die theologische Kritikalltäglicher Selbstverständlichkeiten selbstverständlich in Anspruch nimmt. Re-ligion kann deshalb nicht nur Kritik alltäglicher Vertrautheiten sein. Denn diekritischen Einwände stehen in Horizonten von Selbstverständlichkeiten, dieselbst noch das vorzeichnen, was in der religiösen Einrede als Novum geltendgemacht wird. Der Alltag der Religion umfasst deshalb auch den Vorgang der»Veralltäglichung«11, der Sedimentierung von Sinn, so dass das kritische Poten-zial, das die Religion als kritische Unterbrechung des Alltags einbringt, wiederselbstverständlich werden kann.Um diesen Alltag als Lebenswelt, als mitgegebene Horizonte religiöser Vollzügein den Blick zu bekommen, erscheint es sinnvoll, sich der lebensweltlichenFunktion des Rhetorischen, wie sie von Hans Blumenberg analysiert wird, zu-zuwenden.

Schlussreflexion 135

11. J. Matthes beschreibt, wie die Integration des Alltags, die Veralltäglichung von Reli-gion, über die Zugehörigkeit zur Kerngemeinde entscheidet: »An der Problematik der›Veralltäglichungsfähigkeit‹ des kirchlichen Teilnahmeverhaltens bildet sich offensicht-lich eine Scheidelinie durch die volkskirchliche Mitgliedschaft. Wer seinen Alltagsrhyth-mus über jene Handlungsstrukturen gewinnt, die das gottesdienstliche und das Grup-penleben der ›veranstalteten‹ Kirchengemeinde bestimmt, wird zum Glied der›Kerngemeinde‹, fühlt sich als solches von den anderen Kirchenmitgliedern unterschie-den und drängt auf Bewahrung dieses Unterschiedes, womit diese Handlungsstrukturaus dem Publikum, das sie zu rekrutieren vermag, heraus ständig bestätigt wird«(J. Matthes, Volkskirchliche Amtshandlungen, 1975, 107).

III. Das Rhetorische als DistanzgewinnZur Bedeutung von BlumenbergsRhetorikbegriff für die PraktischeTheologie

»Kommt, reden wir zusammen,wer redet, ist nicht tot.«Gottfried Benn

0. Vorbemerkung

Hans Blumenberg hat ein philosophisches Werk vorgelegt, das zu den faszinie-rendsten Denk- und Lesewelten der Nachkriegszeit in Deutschland gehört. Esbezieht seinen Reiz nicht nur aus der erstaunlichen Belesenheit seines Autorsund seiner Kenntnis selbst entlegenster Quellen, die seine Texte zu Erinne-rungsbüchern der Geistesgeschichte machen, sondern vor allem aus einer Füllean überraschenden Einsichten, die längst Vertrautes und bedeutsame Phäno-mene der modernen Lebenswelt vor dem Hintergrund großer philosophie-geschichtlicher Traditionslinien in ein neues Licht rücken.Aber der Reiz, der von seinen Texten ausgeht, hat auch etwas Überwältigendes.Das liegt nicht nur an der stilistischen Brillanz, mit der Blumenberg seine Ein-sichten in suggestive Formeln fasst. Den Eindruck der Übermacht erzeugtschon der schiere Umfang seines Oeuvres1, das Ausmaß der Produktivität, mitder Hans Blumenberg in regelmäßigen Abständen »als gelehrte Wälzer getarnteProblemkrimis«2 aneinander reihte. Auch wenn zu den langen Büchern kürzereTexte hinzugefügt wurden, um die Geduld und »Lesezeit« des Lesers nicht zuerschöpfen, so ist doch jeder Blumenbergtext so dicht gearbeitet, dass die lang-same und gründliche Lektüre, die er dem Leser abverlangt, die Einsicht Blu-menbergs zur Geltung bringt, dass es nicht die kürzesten Wege, sondern dieUmwege sind, die weiter führen.

1. Eine umfangreiche Bibliographie Hans Blumenbergs findet sich bei P. Behrenberg,Endliche Unendlichkeit, 1994, 190-207, und P. Behrenberg/D. Adams, BibliographieHans Blumenberg, 1999, 426-470. Chronologisch geordnet sind Blumenbergs Werkebei Ph. Stoellger, Metapher und Lebenswelt, 2000, 534-540. Veröffentlichungen ausdem Nachlass: Ein mögliches Selbstverständnis, Stuttgart, 1997; Die Vollzähligkeit derSterne, 1997; Repräsentant mit Sinn fürs Mythische. Thomas Mann in seinen Tagebü-chern, 1998, 9-29; Begriffe in Geschichten, Frankfurt a. M. 1998; Lebensthemen, Stutt-gart 1998; Goethe zum Beispiel, Frankfurt a. M. 1999.

2. O. Marquard, Lebenszeit und Lesezeit, 1990, 269.

Es gibt deshalb gute Gründe, im Umgang mit Blumenbergs Texten auf den Ver-such zu verzichten, das Gesamtwerk umfassend oder gar systematisch zu re-konstruieren. Dafür spricht auch die Distanz zu jeglicher Systemarchitektur,die ein Denken charakterisiert, das mit der Umwegigkeit des Erzählens einenGegenhalt zu den Abbreviaturen des Begriffs wach hält. Im Umgang mit derTextur dieses Denkens empfiehlt es sich deshalb, solche Sachtitel auszuwählen,an denen sich ein signifikanter Motivstrang im Denken Blumenbergs verfolgenund für andere Diskussionslagen fruchtbar machen lässt. Es geht daher im Fol-genden nicht um eine Interpretation dieses Gesamtwerks, sondern um die Dar-stellung eines solchen Motivstrangs, nämlich den des pragmatischen Verfahrensder Lebens- und Daseinsfürsorge, das Blumenberg unter dem Stichwort derRhetorik analysiert und beschreibt.Die Aktualität dieser Formen der Daseinsfürsorge hat für Blumenberg wesent-lich mit einer doppelten Verlusterfahrung des neuzeitlichen Menschen zu tun.Vertrieben aus dem Paradies einer Welt selbstverständlicher Vertrautheit lebtder Mensch, dem in der Welt seiner Erfahrungen die genauen Passungen fehlen,gleichwohl unter einem leeren Himmel, in transzendenter Obdachlosigkeit. Ge-gen den Absolutismus der Wirklichkeit, die Irritationen und Fremdheiten, de-nen sich der weltoffene Mensch permanent ausgesetzt sieht, wie gegen die Zu-mutung eines absoluten Gottes, der den Menschen in seiner endlichenDaseinskapazität überfordert, formiert sich die Lebenspraxis endlicher Subjek-te in solchen pragmatischen Formen der Daseinsfürsorge.Auch wenn es dabei auch um eine pagane Selbsterhaltung3 im Endlichen geht,so besteht doch kein Grund von Seiten der Theologie, der Ironie und Leiden-schaft, mit der Blumenberg ein gelassenes Leben im Endlichen einübt, mit apo-logetischer Abwehr zu begegnen. Denn Blumenbergs Selbsterhaltung im End-lichen hat nichts zu tun mit dem Beharren auf vertrauter Routine, dieüblicherweise mit der Lebenswelt als stabiler Rückzugsposition in Verbindunggebracht wird. Die Entlastung von starken Zumutungen enthebt die alltäglicheLebenspraxis nicht der Konfrontation mit unendlichen Horizonten. Auch wennder Mensch, von allen guten Geistern verlassen, ohne natürliche Rücken-deckung und ohne transzendentes Dach auskommen kann und muss, so ist seinendliches Leben unablässig und permanent Risiken und Gefahren ausgesetzt.Daran ändert auch der Sachverhalt nichts, dass die »Destruktion der Lebens-welt niemals vollendet ist, und ihre Restruktion gegenläufig ständig im Gangbefindlich […] ist«4. Wohl aber lässt sich aus diesem Sachverhalt entnehmen,dass das Ineinander von Lebensweltverlust und »Restitution der Lebenswelt«5,

140 Das Rhetorische als Distanzgewinn

3. Vgl. H. Blumenberg, Selbsterhaltung und Beharrung, 1976, 144-207.4. H. Blumenberg, LzWz, 63 f.5. Aufgrund der Ambivalenz, die an der Wiederherstellung der Lebenswelt haftet – sie ist

von Stabilisierung und Überschreiten selbstverständlicher Vertrautheiten eineBewegung vollzieht, die sich als immanente Transzendenz gelebten Lebens be-greifen lässt. Eine Praktische Theologie, die sich infolge ihrer »empirischenWende« nicht als Anwendungsfall systematischer Erkenntnis, sondern alsWahrnehmung und Deutung gelebter Religion in höchst spezifischen und viel-fältigen Horizonten begreift, kann an diesem Punkt von Blumenbergs Rheto-rikkonzept lernen, ihr eigenes Thema als eine besondere, nämlich pneumatolo-gische6, Verarbeitung und Darstellung dieses Verhältnisses von Konstruktionund Destruktion lebensweltlicher Vertrautheiten zu begreifen.Blumenberg kommt auf lebenspraktische Formen der Daseinsfürsorge im Rah-men seiner Analyse von Husserls phänomenologischem Ansatz zu sprechen(II.1). Die Überforderung der Vernunft angesichts einer prinzipiell ungesicher-ten Erfahrungswelt (anthropologische Weltoffenheitsthese), alle Unbestimmt-heiten, die an den Rändern und im Zentrum der Lebenswelt aufbrechen, in denHorizont begründeten Wissens einholen zu wollen, markiert den Punkt, andem das rhetorische Verfahren als Abschirmung lebensweltlicher Vertrauthei-ten sein Recht und seine Legitimität gewinnt (II.2). Lebensweltliche Vertraut-heiten sind nicht statisch. Sie sind einer Dynamik von »Labilisierung und Sta-bilisierung«7 unterworfen, die ihren Verlust wie ihre Restitution als einenProzess in Horizonten charakterisiert. Diese Dynamik setzt auch die Ausdruck-sebene einem Transformationsdruck aus, also die Metaphern und Symbole, dieeinen Hintergrund an Selbstverständlichkeiten in der Alltagspraxis abschirmenund zugleich zu dessen Überschreitung einladen. Auch die rhetorischen Aus-drucksformen stehen in einem Rezeptionszusammenhang, der sich analog zuden Horizontabschirmungen wie Horizontübergriffen in der Lebenswelt alsVariantenbildung, also als eine Fortbestimmung im Selben, charakterisierenlässt (II.3).Schließlich geht es um die Bedeutung von Blumenbergs Rhetorikbegriff für diePraktische Theologie (II.4). Diese hat seit ihrer »empirischen Wende« ein auf-fallendes Interesse an alltäglicher Lebenspraxis, an Lebensgeschichten und dendarin enthaltenen Spuren der Transzendenz, also dem, was unter dem Titel dergelebten Religion einzelner Subjekte firmiert. Geht es in der Praktischen Theo-logie daher nicht in erster Linie um die Denkbarkeit des Glaubens, sondern um

Vorbemerkung 141

notwendig zur Selbsterhaltung, aber auch Verlockung zu narzisstischen Regression –,spricht B. Merker bei Blumenberg nur von einer »(partiellen) Restitution dessen,woher wir kamen: die Wiederherstellung der Lebenswelt unter den neuen Bedingungender Intentionalität« (B. Merker, Bedürfnis nach Bedeutsamkeit, 1999, 82).

6. M. Moxter sieht in der Dialektik von Bestimmtheit und Unbestimmtheit ein Grund-problem der Pneumatologie (vgl. M. Moxter, KaL, 390ff.).

7. Ph. Stoellger, Metapher und Lebenswelt, 2000, 202.

seinen Erfahrungsbezug, dann stellt sich für die Praktische Theologie die Frage,wie Religion und Theologie im Alltag verankert sind8.Ist diese Frage nach der Religion im Alltag die gängige Perspektive, mit der diePraktische Theologie die Bedeutung von Alltag für den Glauben thematisiert,so legt sich im Anschluss an Blumenberg eine andere Sichtweise nahe. Denn derAlltag ist als Reservoir eines fraglos gesicherten Wissens nur unzureichend ver-standen. Alltag meint zumindest auch die lebensweltlichen Horizonte der reli-giösen Darstellung von Sinn, den latenten Sinn im manifesten Sinn, dasjenige,was verdeckt bleiben muss, damit etwas als sinnvoll dargestellt werden kann.Aus diesem Alltag, aus den lebensweltlichen Horizonten der Religion, im Un-terschied zur Religion im Alltag, rührt das Rhetorische, das nach Blumenbergein Verfahren der Abschirmung des lebensweltlichen Hintergrunds darstellt.Die Fortbestimmung der religiösen Sinndarstellungen in den Horizonten desAlltags vollzieht sich in einer Dialektik von Vertrautheit und Fremdheit, die anden Rändern, aber auch im Zentrum des Vertrauten immer wieder aufbrichtund zu immer neuen Überschreitungen lebensweltlicher Horizonte nötigt. Indieser Perspektive auf das Ineinander von Vertrautheit und Fremdheit, Sag-barem und Nochnichtgesagtem, nimmt die Religion am allgemeinen Kultur-prozess teil, der durch eben diese Struktur von Stabilisierung bestimmter For-men und deren Abbau zugunsten neuer Bestimmtheit charakterisiert ist;allerdings ist der christliche Glaube von anderen Formen der Sinndarstellungunterschieden, und zwar darin, dass er auf eine ihm eigene Weise auf dieseStruktur der Fortbestimmung von Sinn in den Horizonten seines Alltags stößt9.

142 Das Rhetorische als Distanzgewinn

8. Vgl. W.-E. Failing u. H.-G. Heimbrock, Gelebte Religion wahrnehmen, 1998, 291.9. Michael Moxter fasst die Teilhabe des christlichen Glaubens am Kulturprozess und

seine Eigenbestimmtheit als synchrone Diachronität (M. Moxter, KaL, 407.).

1. Pragmatische Formen der Daseinsfürsorge

1.1 Lebenswelt und Technisierung

In seinem Aufsatz »Lebenswelt und Technisierung«1 rekonstruiert Hans Blu-menberg die Zeitdiagnose von Husserl in dessen Spätwerk »Die Krisis der eu-ropäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie«2, undzwar am Leitfaden der modernen Technisierung der Lebenswelt.Folgt man Blumenbergs Rekonstruktion, so konvergieren in Husserls eigenemAnsatz die phänomenologische Methode und die von ihm analysierte Technisie-rung der Lebenswelt an einem Punkt. Beides sind theoretische Einstellungen, dieden Abbau der Lebenswelt als dem »Universum vorgegebener Selbstverständ-lichkeiten«3 vorantreiben. In Technik und Phänomenologie manifestiert sichein Kontingenzbewusstsein, das sich in der Arbeit an der Gegebenheitswelt voll-zieht. Die Phänomenologie tut dies, indem sie die Faktizität der Welt vomStandpunkt der Möglichkeit aus beurteilt, die Technik, indem sie »den Spiel-raum der Erfindung und Konstruktion ausschöpft« und das nur Faktische zueiner in sich konsistenten, »aus Notwendigkeit zu rechtfertigenden Kultur-welt«4 auffüllt. Beide – Phänomenologie und Technik – sind deshalb, wennauch auf unterschiedliche Weise, an der neuzeitlichen Kontingenzsteigerungbeteiligt, die sich als Verlust alltäglicher Vertrautheiten, als »Verlust der Selbst-verständlichkeit«5 in der modernen Gesellschaft beschreiben lässt.Diese Diagnose überrascht. Die Phänomenologie ist doch in den Augen Hus-serls gerade der Versuch, die Krise des neuzeitlichen Geistes zu kurieren, die ermit dem Phänomen der Technik verbindet. Technik sei Inbegriff einer Funk-tionalisierung, die Verstehen nicht nur vorwegnehme, sondern tendenziellüberflüssig mache. Man kann die Ergebnisse der Technik nutzen, ohne zu be-greifen, welche Einsichten ihnen zugrunde liegen. Eben dieser Vernunftverges-senheit der Technik will die Phänomenologie durch einen genauen Blick auf diePhänomene beikommen. Nicht die Funktion, sondern die Erscheinung soll

1. H. Blumenberg, Lebenswelt und Technisierung (= LuT), 1981, 7-54.2. E. Husserl, Krisis, 1992.3. A. a. O., 183.4. H. Blumenberg, LuT, 47.5. Berger/Luckmann, Modernität, Pluralismus und Sinnkrise, 1995, 44.

zum Zuge kommen durch Reduktion der bewusstseinsunabhängigen Setzun-gen (Annahme einer Welt der Objekte etc.) und durch Variation der Perspekti-ven. Husserl geht es um Evidenz in dieser, die Vernunft in die Entwicklung dertechnischen Welt nachholenden, Bewegung. Am Ende sollte das von aller Fak-tizität befreite Exempel stehen. Der Weg zu dieser Evidenz führe über den An-spruch, dass es keine unverstandene Selbstverständlichkeit mehr geben dürfe.Endgültige Evidenz wird zur unendlichen Aufgabe, bei der offen bleibt, ob dasZiel nicht prinzipiell im Unendlichen liegt. Phänomenologie ist damit Teil einesProzesses, dessen Heilung zu sein sie vorgibt. Das ist Blumenbergs Deutung derphänomenologischen Methode: »Husserl exekutierte den neuzeitlichen Geist,in der Meinung, ihn gegen die Neuzeit zu wenden, eben als jene Variation, diein der Freiheit der reinen Fantasie und dem reinen Bewusstsein der Beliebigkeitsich zugleich in einen Horizont offen endlos mannigfaltiger freier Möglichkei-ten für immer neue Varianten hineinerstreckte«6.Mit dieser Diagnose verschiebt sich das Verhältnis von Technik und phänome-nologischer Therapie. Blumenberg korrigiert vor allem Husserls Auffassung,dass die Phänomenologie die illegitime Funktionalisierung der Lebenswelt ku-riert. Wenn Phänomenologie unvermerkt Kontingenz forciert, dann ist sienicht die Auffangposition für die Krise der Moderne, sondern Teil ihres Leis-tungszusammenhangs. Das ist Blumenbergs Umstellung. Seine Frage ist dannnicht mehr diejenige Husserls nach einer Therapie dieser pathologischen Stei-gerung der technischen Möglichkeiten, sondern die nach einer Balance: Wiewerden angesichts begrenzter Kapazität und unendlicher Aufgaben die unver-meidbaren Belastungen des modernen Menschen austariert?Blumenbergs Husserl-Korrektur hat zur Folge, dass ein traditioneller Gegen-satz, wenn nicht aufgelöst, so doch sistiert wird, nämlich der sokratische Wi-derspruch gegen die sophistische tffcnh im Namen der Wahrheit. In Husserlsphänomenologischer Analyse moderner Technisierung ist dieser Rest an Plato-nismus noch in der Auffassung präsent, es gäbe die Restitution der Sinneinheitvon Technik und Wissen aus einer nachgeholten Evidenz. Die phänomenologi-sche Therapie erinnert an das sokratische Programm, »alles Können stets imHorizont des Erkennens zu halten«7. An dieser Konstellation lässt sich nichtnur ein Selbstmissverständnis Husserls8 beobachten, sondern auch, wie Blu-menbergs immanente Kritik den Ansatz Husserls vorantreibt.Als eine weitausholende theoretische Geste lässt die Phänomenologie Fragenakut werden, die, obwohl momentan ohne zureichende Antwort, gleichwohl

144 Das Rhetorische als Distanzgewinn

6. H. Blumenberg, LuT, 49.7. A. a. O., 13.8. Dieses Missverständnis zeigt sich nach H. Niehues-Pröbsting darin, dass auch Hus-

serl, der in die Tradition einer Distanzierung der Philosophie von der Rhetorik ge-

keinen Aufschub dulden. Während das Wissen in die Endlosschleife der Be-schreibung getrieben wird, werden Fragen virulent, die beantwortet werdenmüssen, auch wenn zureichende Gründe noch nicht zur Verfügung stehen. Weilaber in bestimmten Situationen trotzdem gehandelt werden muss, erzeugt derphänomenologische Blick auf eine noch ausstehende Evidenz ein Vor-Greifenauf Praxis, das theoretisch nicht eingeholt werden kann. Dieses Vor-Greifen aufPraxis ohne zureichende Gründe hat Husserl selbst als Wesen der Technik frei-gelegt. Technisierung ist daher nach Blumenberg kein Irrweg, sondern ein legi-times Korrelat des Vorgangs, der in Husserls Phänomenologie zur zentralenAufgabe wird: nämlich die lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten in Selbst-verständigung zu transformieren.Bis zu diesem Punkt treibt Blumenberg die immanente Kritik der HusserlschenPhänomenologie voran. Das Ergebnis lässt sich auch positiv formulieren: DerSinnverlust, der im Zuge einer Technisierung des Daseinsvollzuges von Husserlbeklagt wird, muss »in der Konsequenz des theoretischen Anspruchs [der Phä-nomenologie als] selbst auferlegter Sinnverzicht«9 begriffen werden. Die gera-dezu apokalyptische Alternative, die Husserls Programm eröffnet, entwederden ursprünglichen Sinn der destruierten Lebenswelt in einer höheren Formder Evidenz zu restituieren oder der Sinnlosigkeit einer technizistischen Weltzu verfallen, verdeckt die Leistung pragmatischer Formen der Daseinsfürsorge.Wir können uns offenbar ein großes Maß an Evidenzverzögerung leisten undtrotzdem handeln. Die Husserlsche Sinnkrise gleicht deshalb eher einemSchwelbrand als einem Totalverlust. Das ist jedenfalls die Arbeitshypothese,die Blumenberg mit der Analyse von Handlungsstrategien verbindet, die ihrenRegelungsbedarf pragmatisch, ohne Rückgriff auf letzte Evidenz, befriedigen.Wenn überhaupt eine Therapie des neuzeitlichen Sinnverlustes erforderlich ist,dann die, solche nicht zureichend begründbaren Handlungsoptionen in ihrerAngemessenheit zu begreifen. Denn nicht zureichende Gründe sind angesichtsder Deckungslücken, mit der die Vernunft in der Neuzeit zu rechnen hat, besserals keine.

Pragmatische Formen der Daseinsfürsorge 145

hört, glaubte, auf Rhetorik verzichten zu können, weil er die Möglichkeit einer unein-geschränkten Evidenz vor Augen hatte. Gerade dieser Anspruch und sein Scheitern inder Phänomenologie bringen aber nach Hans Blumenberg die Legitimität des Rheto-rischen zum Vorschein. Zu Husserls Ablehnung der Rhetorik (vgl. H. Niehues-Pröbsting, Überredung, 1987, 22).

9. H. Blumenberg, LuT, 42 (Zusatz in eckiger Klammer von mir). Die Parallele zumBeweisverzicht findet sich bei H. Blumenberg, LuT, 43. So wie es vermutlich keineGeometrie gäbe, wenn Descartes Theorem, dass keine weitere Deduktion ohne volleStringenz des Beweises möglich ist, so gäbe es vermutlich keine vernünftige Lebenspra-xis, wenn Husserls Axiom gälte, die Einheit von Sinn und Wissenschaft zu erreichensei unerlässliche Bedingung für vernünftiges Handeln.

Damit lässt sich der Punkt freilegen, an dem Blumenberg auf pragmatische Ver-fahren der Daseinsfürsorge zu sprechen kommt. Dieser Punkt markiert Blu-menbergs kritischen Einwand gegenüber Husserl, dass die von Husserl beklagteTrennung von Wissen und Technik kein Irrweg ist, sondern »notwendig undlegitim«10. Aufgelöst wird damit der Anspruch, die Praxis vollständig im Hori-zont des Wissens halten können – jedenfalls eines Wissens im strengen Sinn,das durch zureichende Gründe bestimmt ist. Praxis kann angesichts einer un-vermeidbaren Verzögerung von Evidenz nicht mehr nur der Anwendungsfallvon theoretischem Wissen oder moralischer Normen sein, sondern bestimmteLebensvollzüge repräsentieren einen eigenen Typus von Rationalität, den Blu-menberg mit dem »Prinzip des unzureichenden Grundes«11 logisch bestimmt.Bezieht man diese Entwicklung auf den Ausgangspunkt, von dem sie sich ab-hebt, dann könnte man sagen, dass Platons Abweisung der Sophistik, welche»die Ausschließung der Technik aus der geistigen Legitimität der europäischenTradition implizierte«12, in der Konsequenz der neuzeitlichen Vernunftkritik inihr Gegenteil verkehrt wird.Das hat damit zu tun, dass Blumenberg die Phänomenologie als einen Versuch,die Lebenswelt in einer letzten Evidenz zu fundieren, mit einer »Unendlichkeits-implikation«13 konfrontiert sieht. Uneingeschränkte Evidenz, die den mensch-lichen Daseinsvollzug fundieren könnte, ist momentan nicht erreichbar. Wennaber folglich der Anspruch, Praxis im Horizont des Wissens zu halten, per-manent aufgeschoben werden muss, und diese Konsequenz bringt nachBlumenberg die Phänomenologie unvermerkt14 zu Darstellung, dann ist jedeÜberlebenstechnik legitim, die diesen momentanen Mangel an Evidenz kom-pensiert.Evidenzverzug, das ist Blumenbergs elegante These, hat zur Folge, dass sichlegitimerweise pragmatische Zwischenlösungen etablieren. Denn gehandeltwerden muss in bestimmten Situationen, auch wenn hinreichende Gründe

146 Das Rhetorische als Distanzgewinn

10. A. a. O., 42.11. H. Blumenberg, AAR, 124. Das arallele Beispiel zum Beweisverzicht in der Mathema-

tik ist Descartes’ Begriff einer definitiven Moral. Diese erfordert eine durchgängigeBegründung für moralisches Handeln, und damit eine Unendlichkeitsimplikation, dieBlumenberg zufolge für den Bereich der Handlungspraxis die Rhetorik in ihr Rechtsetzt (vgl. H. Blumenberg, LuT, 43 u. AAR 109ff.).

12. H. Blumenberg, LuT, 45.13. A. a. O., 44.14. Entgegen ihren eigenen Intentionen funktionalisiert auch die Phänomenologie den

Menschen, denn die unendliche Aufgabe Husserls ist ebenso wie die neuzeitliche Wis-sensidee auf einen Generationenvertrag angewiesen, der vom Individuum den Verzichtseiner persönlichen Befriedigung zugunsten der Gattung verlangt (vgl. H. Blumen-berg, LuT, 45 f.).

nicht zur Hand sind. Der neuzeitliche Evidenzaufschub legt deshalb eine Di-mension an pragmatischer Lebensbewältigung frei, der durch die platonischeNegation der sophistischen Methode als einer reinen Technik verdeckt wurde.Die Leistung der Technik, etwas zu können, ohne im Einzelnen wissen zu müs-sen, warum man es kann, dieses sophistische »Sich-auf-eine-Sache-Verstehen«im Unterschied zu »Die-Sache-Verstehen«15, ist nicht erst hervorgebracht durchdie neuzeitliche Lockerung der Verbindung von Wissen und Tun, wird aber alslegitime Konsequenz dieses Prozesses durch die Phänomenologie ans Licht ge-bracht.Der Unterschied zur antiken Tradition besteht allerdings darin, dass die Uner-füllbarkeit des Anspruchs der Phänomenologie, ein rein formales Können ineine noch ausstehende Sinneinheit des menschlichen Daseins zu integrieren,die Frage nach der Verstehbarkeit von Handlungen nicht einfach sistiert. Dieplatonische Frontstellung gegen die Sophistik wird in der Konsequenz der neu-zeitlichen Geistesgeschichte nicht noch einmal reproduziert. Vielmehr zeigt dieimmanente Kritik Blumenbergs an der Phänomenologie Husserls, dass es sichbei Technik und Rhetorik um einsichtige, in ihrer Begründungsschwäche ratio-nale Formen der Lebenspraxis handelt. Es sind rationale Formen, mit denGrenzen des Wissens umzugehen, die sich aus der ökonomischen Erfordernisentwickeln, dass der Mensch mit seinen knappen zeitlichen Ressourcen haus-halten muss.

1.2 Die Doppeldeutigkeit im Begriff der Lebenswelt

Für die Frage nach der lebensweltlichen Funktion von Technik und Rhetorik isteine Doppeldeutigkeit in der Bedeutung von Lebenswelt signifikant, die Blu-menberg bei Husserl notiert. Husserl begreift Lebenswelt »als geschichtlicheAusgangsposition der theoretischen Umstellung einerseits und als immer mit-gegenwärtige Grundschicht des in aufgestuften Interessen differenzierten Le-bens«16. Die Auffassung einer »Grundschicht« belastet den Lebensweltbegriffmit der Gefahr, »in eine Reihe gerückt zu werden mit den immer wieder ver-geblichen Versuchen, so etwas wie eine »natürliche Natur« zu finden und alsNorm des ursprünglichen und eigentlich geschuldeten Lebens vorzuweisen«17.Diese Gefahr besteht nun offenbar weniger in einem naiven Ursprungsdenken,

Pragmatische Formen der Daseinsfürsorge 147

15. H. Blumenberg, LuT, 45. M. Moxter greift diese Unterscheidung auf im Sinn derDifferenz von »know-how« und »knowing that« (vgl. M. Moxter, KaL, 218). Einschlä-gig ist auch I. U. Dalferth, Kombinatorische Theologie, 191, 109.

16. H. Blumenberg, LuT, 23.17. Ebenda.

das Husserl kaum unterstellt werden kann, als vielmehr in der eigentümlichenStellung der Lebenswelt, nicht nur die Ausgangsposition zu sein, die verlassenwerden muss, sondern auch das finale Ziel der Phänomenologie, die sich vomFaktischen für das Wesentliche frei zu machen sucht. In dieser idealisierten Fas-sung ist die Lebenswelt der Inbegriff einer Evidenzwelt, die auch noch ihrenlebensweltlichen Ausgangspunkt transzendentalphilosophisch zu erschließensucht. Diese Konzeption einer teleologischen Entwicklung der Lebenswelt, diesich Husserls Interesse verdankt, die Idealisierungen der neuzeitlichen Wissen-schaft im Zuge einer vollständigen Verwirklichung der Bewusstseinsintentiona-lität einzuholen, steht in Spannung zur Vorstellung der Lebenswelt als einerMitwelt. Es ist offensichtlich etwas anderes, die Lebenswelt als Ausgangs- undZielpunkt einer teleologischen Entwicklung zu begreifen, oder aber als »Uni-versum vorgegebener Selbstverständlichkeiten«18. In diesem Sinn eines mit-gegebenen Horizonts ist die Lebenswelt durch keine ihrer Thematisierungenvollständig aufzuklären, sondern sie ist der immer gegenwärtige Hintergrund,der im Handeln von Subjekten wirkt.Für Husserls Diagnose der Technik als einer pathologischen Fehlentwicklungim Gesamtprozess der Moderne ist nun aber genau der Lebensweltbegriff maß-geblich, der durch eine normative Teleologie charakterisiert ist. Die Lebensweltals geschichtlicher Ausgangspunkt und Grundschicht muss aufgelöst werden inRichtung auf eine Welt der Verständlichkeit. Nicht die Auflösung der Lebens-welt, sondern die »Inkonsequenz«19 in der Durchführung dieser Aufgabe machtdeshalb Husserls Kritik an der Technisierung als einem theoretischen Vorgangan der Lebenswelt aus. Die Technik ist deshalb eine sich selbst noch nicht odernicht mehr durchsichtige und in ihrem Vollzug verständliche Wissenschaft, weilsie die Lebenswelt immer wieder restituiert, statt sie in ihrer Kontingenz auf-zudecken.Die Pointe von Blumenbergs Husserlinterpretation hat Folgen für das Ver-ständnis der Lebenswelt. Es ist ja gerade die Unerfüllbarkeit der vollen An-schauung, die Unendlichkeitsimplikation des Durchlaufens aller möglichenPerspektiven und damit die Unmöglichkeit der vollständigen Auflösung der le-bensweltlichen Ausgangsposition, die den Blick auf ein Handeln freilegt, dassich nur im Abbruch dieses theoretischen Anspruchs etablieren kann. Das be-deutet aber für den Typus von Handlungen, den Blumenberg als »Sich-Vor-Greifen des Menschen« charakterisiert, dass Technik und Rhetorik die lebens-weltlichen Hintergründe, von denen sie sich lösen, immer wieder, wenn auchimmer wieder anders, in Anspruch nehmen. Die Lebenswelt bleibt in Technik

148 Das Rhetorische als Distanzgewinn

18. H. Blumenberg, LuT, 23 u. 27.19. H. Blumenberg, LuT, 24.

und Rhetorik ständig mitpräsent als das Verdeckte im Entdeckten, als das, wasselbstverständlich bleiben muss, damit technisches Handeln möglich ist.Das, was Husserl kritisiert, erweist sich so als die legitime Struktur von Hand-lungen, die der Lebenswelt verhaftet bleiben und die auf vollständige Durch-sichtigkeit des Tuns verzichten, damit Handeln nicht lahm gelegt wird durchden Widerspruch von unendlicher Aufgabe und endlicher Kapazität, der diephänomenologische Reaktivierung des Sinnkontinuums auszeichnet. Das be-deutet nun keinesfalls, dass der perhorreszierte Begriff der Lebenswelt als einer»natürlichen Natur« sich im Bereich der Lebenspraxis wieder einstellt. Das Ver-hältnis der Handlungen, die Blumenberg als technisch-formal kennzeichnet, istvon der Art, dass Lebenswelt als mitgegebener Horizont fungiert, als das, wasselbstverständlich bleibt, damit Handeln unter der Bedingung von Evidenz-mangel möglich ist. Es ist gerade das Mitgegebensein der Lebenswelt, die Sum-me der pragmatischen Implikationen von Handlungen, die diese von einemnatürlichen Fundament unterscheidet.Damit ist das Verhältnis von Lebenswelt und Technisierung von anderer Art, alsdies die konstitutionstheoretische Perspektive Husserls nahe legt. Die Lebens-welt, in welche die Technisierung einerseits eingebettet ist, und die andererseits»die Lebenswelt [ist], die von Technisierung jeweils gesättigt und bestimmtist«20, zeichnet sich vielmehr durch einen Widerstand aus gegen die vollständigeTransformation in die Bewegung der sich selbst verwirklichenden Bewusst-seinsintentionalität, und zwar deshalb, weil sie als mitgegebener Horizont nievollständig zu erfassen ist. Technisierung ist deshalb nicht die Alternative zurLebenswelt, noch ist sie mit dieser identisch. Sie ist bleibend auf Lebensweltbezogen und doch zu ihr in Distanz. Der Zusammenhang von Entdeckungund Verdeckung, der diese Beziehung von Technisierung auf die Lebensweltcharakterisiert, ist deshalb nicht, wie Husserl annahm, nur eine »faktische Kop-pelung«, die durch »die Appellation an den Ursprung« korrigiert werden könn-te, sondern in ihr artikuliert sich ein Gesetz der neuzeitlichen Geistesgeschichte,»dass jede ihrer Entdeckungen um den Preis einer Verdeckung errungen wur-de«21.Blumenbergs Beispiel für diesen Vorgang ist die Türklingel. In phänomenolo-gischer Perspektive ist der Druck auf den Klingelknopf die kürzeste Verbindungvon Befehl und Effekt. Hinter einem solchen Auslöser steht eine lange Ge-schichte menschlicher Entdeckungen, die allerdings durch den Auslöser »soaufgemacht ist, dass er uns dies alles in seiner abstrakten Uniformität verdecktund entzieht«22. Die Präsentationsform der Technik scheint alles zu tun, »um

Pragmatische Formen der Daseinsfürsorge 149

20. R. Campe, Blumenberg. Rhetorik und Technik, 12.21. H. Blumenberg, LuT, 34.22. A. a. O., 36.

Fragen gar nicht erst aufkommen zu lassen und zwar nicht nur solche nach demKonstruktionsgeheimnis und Funktionsprinzip, sondern vor allem solche nachder Existenzberechtigung«23. Es macht gerade die Erscheinungsform der Tech-nik aus, dass sie funktioniert, indem sie Fragen nach ihrem Sinn gar nicht erstaufkommen lässt. Die Präsenz technischer Funktionalität hat die Appräsenz derFragen und Entdeckungen zum Hintergrund, die ihr Entstehen erklären. In deräußersten Zuspitzung dieses Vorgangs ist deshalb die Technik selber von einerArt neuer Selbstverständlichkeit, so dass sie »in das Universum der Selbstver-ständlichkeiten, in die Lebenswelt«24 zurücksinkt.Von der Lebenspraxis, die mit Technisierung gemeint ist, geht deshalb so etwaswie die »Sedimentierung« von Sinn aus. Das Fragliche wird durch eine neueFraglosigkeit technischer Funktionalität überdeckt. Was an den technischen Ar-tefakten an Fragen zu entdecken wäre, sinkt zurück in das lebensweltliche Hin-tergrundwissen. Blumenberg bringt diesen Vorgang einer wiederhergestelltenSelbstverständlichkeit auf die einprägsame Formel, dass die »Sphäre, in derwir noch keine Fragen stellen, identisch wird mit derjenigen, in der wir keineFragen mehr stellen«25.Die Quintessenz von Blumenbergs immanenter Husserlkritik, den Sinnverlust,der sich mit einer technisierten Lebenspraxis verbindet, als Sinnverzicht zu be-greifen, und zwar in der Konsequenz des Anspruchs der Phänomenologie auf(letztbegründete) Sinnhaftigkeit, führt die Doppeldeutigkeit in Husserls Le-bensweltbegriff auf ein unauflösbares Sachproblem zurück. Wenn bestimmteLebenspraxis nur deshalb möglich ist, weil sie dem theoretischen Anspruch ent-zogen wird, die Selbstverständlichkeit der Lebenswelt als Ausgangsposition zubegreifen, die aufzulösen ist in »ihre transzendentalen Fraglichkeiten«26, dannkönnen diese Handlungen nicht in einer letzten Evidenz fundiert werden, son-dern bleiben eingebettet in die Lebenswelt, auch wenn sich diese in beständi-gem Abbau befindet. Die für die Verstehbarkeit von Handlungen, aber auch vonWahrnehmungen und Empfindungen relevante Lebensweltkategorie ist deshalbdie eines mitgegebenen Horizonts. Das Thema der vortheoretischen Lebens-praxis, das in der Folge des Sinnanspruchs der Phänomenologie akut wird, löstso den Lebensweltbegriff aus der konstitutionstheoretischen Perspektive undmacht ihn zu einem Horizontbegriff, nicht nur im Sinn eines Vorgegebenen,das wir verlassen sollen, sondern auch eines Mitgegebenen27, das wir beständig

150 Das Rhetorische als Distanzgewinn

23. A. a. O., 37.24. Ebenda.25. Ebenda.26. E. Husserl, Krisis der europäischen Wissenschaften, 1992, 187.27. Darauf macht M. Moxter aufmerksam: »Die Lebenswelt als Universum vorgegebener

Selbstverständlichkeit ist nämlich nicht nur Ausgangspunkt, der verlassen werden soll,

in Anspruch nehmen. Lebenswelt umfasst dann nicht nur die Ausgangsposi-tion, sondern die mitlaufenden Sinnhorizonte, das Verdeckte am Entdeckten,das, was selbstverständlich bleiben muss, damit Handlungen möglich sind, dienicht mehr im Horizont des Wissens gehalten werden können.

1.3 Verlangsamen und Beschleunigen. Zur Temporalstrukturvon Handlungen

Die bisherige Interpretation setzt umstandslos eine sachliche Verwandtschaftvon Technik und Rhetorik voraus, die auf den ersten Blick alles andere als plau-sibel ist. Vor allem, wenn man auf die technischen Produkte blickt, ist der Zu-sammenhang mit der Rhetorik in der Tat alles andere als offensichtlich. Erst dieFrage nach der »Sache selbst«28, dem Phänomen, das die technischen Aggregateenthüllen, das, was sich als Technisierung an der Technik ablesen lässt, machtauch den Zusammenhang mit der Rhetorik deutlich. Dieser phänomenologi-sche Kern der Technik ist für Blumenberg die »Trennung von Sachverstand undSachbeherrschung«29, von »knowing that« und »know how«. Die technischenAggregate zeichnen sich dadurch aus, dass sie ein Können repräsentieren, wel-ches kein Wissen über die Entdeckungen fordert, das ihm zugrunde liegt. DieseTrennung von Sachverstand und Sachbeherrschung zeigt sich in der Geschichtezum ersten Mal im Versuch der Sophisten, den Bereich von Politik und Rechts-wesen durch rhetorische Fertigkeiten zu strukturieren30. Schon die sophistischeRhetorik formulierte das Ideal eines bloßen Könnens, das nicht durch Erkennt-nis der Sache, sondern durch Erlernen von Regeln beherrscht wurde. In diesemSinn gehören Technisierung und Rhetorik zusammen, insofern es sich bei derRhetorik um ein Methodenwissen, eine tffcnh «htorikffi31, handelt. Dieser Vor-rang des »Wie« vor dem »Was«, der Sachbeherrschung vor der Sachkenntnis,charakterisiert die Technisierung als das »latente Problem der Rhetorik«32 und

Pragmatische Formen der Daseinsfürsorge 151

sondern auch ein Mitgegebenes, auf das wir beständig rekurrieren.« (M. Moxter, KAL,282)

28. H. Blumenberg, LuT, 12.29. A. a. O., 13.30. Vgl. H. Blumenberg, LuT, 13, 45; und H. Blumenberg, AAR, 105f.31. Hans Blumenberg charakterisiert auch an anderen Stellen die Rhetorik als Technik

(vgl. H. Blumenberg, AAR, 112). Als »Technik der Überzeugung« (H. Blumenberg,Paradigmen zu einer Metaphorologie, 9) wird die Rhetorik in der Antike von den So-phisten beansprucht. Die Autonomie der Rhetorik als einer Technik, diesseits derWahrheitsfindung, wird von Platon bestritten, indem er die Mächtigkeit der Überre-dung als eine Qualität der Wahrheit auslegt.

32. R. Campe, Blumenberg, Rhetorik und Technik, 14.

die Technik als den dominanten Bereich, der die Rhetorik als Paradigma einesbloßen Könnens in der neuzeitlichen Geistesgeschichte präsent hält.Doch ist mit diesem phänomenologischen Kern von Technik und Rhetoriknoch nicht die »volle Anschauung« des Problems erreicht. Die neuzeitliche Be-deutung eines bloßen Könnens, das sich mit der rhetorischen Technik verbin-den lässt, wird durch einen Gegensatz verdeckt, der in der Tradition als Anti-nomie von Natur und Technik, von Künstlichem und Natürlichem, formuliertwird. Unter diesem Gegensatz erscheint das Können nur insofern als sinnvollund legitim, als es sich in der Weise einer ins menschliche Handeln hinein ver-längerten Natur präsentiert. Technisierung aber ist als Phänomen der Neuzeitgerade nicht mehr durch Natur fundiert und scheint »in keiner verstehbarenBeziehung zur Natur des Menschen mehr zu stehen«33. Wird aber die neuzeitli-che Bedeutung der Technik als eines bloßen Könnens vor dem Hintergrund desGegensatzes von Natürlichem und Künstlichem gelesen, dann kann die Tech-nik, die keine zweite Natur mehr ist, nur noch als ein illegitimes Losreißen, alsAbstraktion des Künstlichen von seinen natürlichen Ursprüngen, interpretiertwerden.Dieses Problem wiederholt sich in gewisser Weise auch in der PhänomenologieHusserls. Auch wenn Husserl die Technisierung nicht im Gegensatz zur Natur,sondern zur Geschichte begreift, ist mit der Technik eine »Art von Ursünde«34,ein Willkürakt, verbunden, sich der Fundierung in Geschichte zu entziehen,sofern Geschichte die Selbstbestimmung und Selbstverantwortung meint, dieden sie mitvollziehenden Subjekten aufgegeben ist. Geschichte vollstreckt dieDisposition des intentionalen Bewusstseins, seine Praxis im Rahmen der Theo-rie eben jener bewussten Selbstergründung und Selbstverantwortung zu halten.Technisierung dagegen entzieht sich und »durchbricht diesen Prozess«35.Was dieser »Voluntarismus« im Denken Husserls verdeckt, ist dies, dass dieAntriebe für die »Durchbrüche« des bloßen Könnens in der Geschichte vonSelbstbestimmung und Selbstbesinnung selber zu suchen sind. Dass im Zerfal-len aller Selbstverständlichkeiten manches selbstverständlich bleibt36, manifes-tiert sich bei Husserl gerade in seinem Versuch, eine radikale Selbstergründungvon Subjektivität in Gang zu setzen. Denn die Idee einer endgültig erreichbarenEvidenz setzt voraus, dass »das geschichtlich je schon Geleistete zur Vorausset-

152 Das Rhetorische als Distanzgewinn

33. H. Blumenberg, LuT, 16.34. A. a. O., 29.35. A. a. O., 35.36. Auch der Prozess der phänomenologischen Reduktion impliziert die Auswahl einer

anfänglichen Perspektive, die mögliche andere ausblendet, auch wenn sie im Fortgangnoch durchlaufen werden sollen. Insofern setzt jede Perspektive etwas als selbstver-ständlich voraus, nämlich das, was gerade nicht thematisiert wird (vgl. M. Moxter,KaL, 296).

zung des noch zu Leistenden gemacht werden kann«37. Voraussetzung aber be-deutet, dass das Geleistete »seine Anwendbarkeit unabhängig von der Einsich-tigkeit des Vollzuges gewinnt«38, sonst käme die phänomenologische Arbeitüber ihren Anfang nie hinaus. Genau dies, Anwendbarkeit ohne Einsicht, istder Kern der Technisierung, die Anwendbarkeit ohne Einsicht dadurch erreicht,dass »ein wachsendes Fundament von Voraussetzungen zwar immer mit imSpiele ist, aber nicht immer aktualisiert werden muss«39.Der Fortgang der phänomenologischen Methode hängt also an der Behandlungdes Geleisteten als einem Vorgegebenem, das dadurch wieder den Charakter derSelbstverständlichkeit, des Undurchschauten im Durchschauten bekommt. DerEinsatz der phänomenologischen Methode beim Zerfall der Lebenswelt als Uni-versum der Selbstverständlichkeiten kann folglich nur dann in den Prozesseiner finalen Aufarbeitung der zerfallenden Selbstverständlichkeiten übergehen,wenn in ihm wiederum etwas als selbstverständlich in Anspruch genommenwird. Für diesen Sachverhalt, dass noch der Zerfall von Selbstverständlichkeitetwas Selbstverständliches in Anspruch nimmt, steht die Lebenswelt als einMitgegebenes, auf das wir beständig zurückkommen und die mit ihr verbunde-nen Formen der pragmatischen Daseinsfürsorge, nämlich Rhetorik und Tech-nik.Offenbar besteht aber nun eine gewichtige Differenz zwischen Rhetorik undTechnik darin, wie sich das rhetorische und technische Verfahren der pragma-tischen Daseinsfürsorge unterschiedlich auf die »Temporalstruktur von Hand-lungen«40 auswirken. An dieser Formulierung zeigt sich, dass Technisierungund Rhetorizität weniger ein Handeln als ein bestimmtes Verfahren darstellen,die Handlungssituation zu modellieren. Während die Technik eine Beschleuni-gung verspricht und den Zeitgewinn des kürzesten Wegs zwischen Handlungs-zwang und Handlungsvollzug anbietet, weil »alle Daten schnell verfügbar sindund der schnelle Entschluss eine sachgemäße Auszeichnung«41 gewinnt, so istRhetorik der Inbegriff der Verzögerung. Sie steht für Rituale und Verfahren,»die die unmittelbare Nutzbarmachung des Menschen erschweren, die Herauf-kunft einer Welt der kürzesten Verbindungen zwischen jeweils zwei Punkten

Pragmatische Formen der Daseinsfürsorge 153

37. H. Blumenberg, LuT, 41.38. A. a. O., 42.39. Ebenda.40. H. Blumenberg, AAR, 121. R. Campe hat im Blick auf eine Stelle in den »Paradigmen

zur Metaphorologie« Rhetorik und Technik als »Metakinetik geschichtlicher Sinnhori-zonte und Sichtweisen« (R. Campe, Rhetorik und Technik, 4) interpretiert, was nichtsmit Geschichte als »erfüllter Intentionalität« zu tun haben kann, sondern mit derenlebensweltlichen Substruktur, etwa in dem umgangssprachlichen Sinn, wenn wir sagen,dass wir in einer schnelllebigen Zeit leben.

41. H. Blumenberg, AAR, 122.

blockieren, vielleicht auch nur verlangsamen«42. Mit dieser Differenz von Be-schleunigung und Verlangsamung lässt sich die eigentümliche Entlastungsleis-tung des rhetorischen Verfahrens, auch gegenüber der Technik, profilieren.Mit der Umgehung des kürzesten Weges, die im Fall der Technik in der Sug-gestion besteht, das, was machbar ist, auch ohne Zögern zu tun, eröffnet dieRhetorik die Möglichkeit, Umwege zu gehen. Kultur als Ganzes besteht für Blu-menberg darin, solche Umwege aufzuspüren, zu beschreiben, zu empfehlen,aufzuwerten und gegenüber dem Verdacht, ineffizient und unvernünftig zusein, zu prämieren43. Kultur ist Inbegriff solcher Umwege. Sie ist deshalb nichtnur auf Rhetorik angewiesen, auf Werbung um Verständnis für die Umständ-lichkeit und Umwegigkeit, die ihren scheinbar unvernünftigen Luxus ausmacht.Kultur als Symbolwelt hat selber rhetorischen Charakter. Kulturelle Formensind als solche der Inbegriff der Verzögerung. Sie implizieren den Zweifel daran,»dass die kürzeste Verbindung zweier Punkte auch der humane Weg zwischenihnen sei«44. In dieser Werbung für Disfunktionalität, und nicht in der »Erobe-rung des Nutzlosen«45, widerspricht die Kultur und in ihr die Religion der un-gebremsten Exekution technischer und theoretischer Rationalität.Der Humanisierungsgewinn solcher Umwege besteht darin, dass sie einen Be-wegungsspielraum für individuelle Sinnerfahrung darstellen. Der kürzeste Wegist einer, den alle zu gehen haben. Der Satz des Pythagoras lässt keine Variantenzu, sondern nur dieselbe Einsicht bei allen, die ihn verstehen wollen. Umwegedagegen, die nicht durch Ausgang und Ziel, Problem und Lösung, Frage undAntwort definiert sind, gibt es unendlich viele, mehr als von Einzelnen beschrit-ten werden können. Der Spielraum für Nachdenklichkeit, für Besinnung undWeltsinn, den die Kultur im Sinn einer rhetorischen Verzögerung des Handelnsund der Entkoppelung von Reiz-Reaktionsketten stiftet, gleicht nicht dem Ho-rizont der Evidenz, in den Husserl alles Tun eingerückt sehen wollte. Rhetorikund Technik, Verzögerung und Beschleunigung, Umweg und Abkürzung sindpragmatische Formen der Daseinsbewältigung im Horizont der Lebenswelt, diesich nicht auf theoretische Einsichten reduzieren lassen.Damit verändert sich auch das Verhältnis von lebensweltlicher Praxis und phi-losophischer Selbstbesinnung. Weder kann die Philosophie die Therapie eines

154 Das Rhetorische als Distanzgewinn

42. A. a. O., 124. Betrachtet man etwa das Gottesdienstritual unter dem Gesichtspunkt rhe-torischer Verzögerung, dann wäre es genau die Pointe des Gottesdienstes, dass er langedauert und nichts passiert, jedenfalls nichts, sofern man die Rhetorik (sophistisch) anihrem verwertbaren Nutzen, nicht an ihrem pragmatischen Distanzgewinn misst.

43. Vgl. H. Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, 1987, 137f.44. H. Blumenberg, AAR. 122.45. Dieser Titel stammt von K.-M. Kodalle, Die Eroberung des Nutzlosen. Kritik des

Wunschdenkens und der Zweckrationalität im Anschluss an Kierkegaard, 1988.

sich der Selbstverantwortung entziehenden bloßen Könnens sein, noch bildenTechnik und Rhetorik ein stabiles Fundament, das die Anstrengung einer ver-antwortlichen Selbstvergewisserung obsolet erscheinen lässt. Damit bilden sichneue Bezugsverhältnisse, die schon bei Husserl in dem Gedanken einer stellver-tretenden Funktion der Philosophie für die Wissenschaft angedeutet sind. DiePhilosophie, die der Technisierung ihre Legitimität zugesteht, soll »stellvertre-tend den Schatz der durch die Technisierung übersprungenen Sinnstrukturenverwalten«46. Philosophie kann dann nicht mehr die Aufgabe haben, die ausAntrieben der Lebenswelt resultierende Praxis, die sich mit Technik und Rhe-torik verbindet, im Prozess einer transzendentalen Begründung aller Erfahrungeinzuholen, sondern nur noch, die Bedingungen, Wege, und Geschichten ein-sichtig zu machen, die zum Auseinandertreten von Wissen und Können, vonLeistung und Einsicht geführt haben.Damit deutet sich in Blumenbergs immanenter Kritik an Husserl das Problemvon Sein und Sollen, von deskriptiver Thematisierung und normativen Ge-sichtspunkten, an. Denn Handlungen im Horizont der Lebenswelt scheinensich überhaupt nicht mehr in die Verantwortung vor der Natur oder der Ge-schichte einholen zu lassen. Man kann zwar noch ihren Status der theoretischenUnbedürftigkeit verstehen und warum diese Form der lebensweltlichen Praxisin einer bestimmten geschichtlichen Situation legitim und notwendig ist, aberes lässt sich kaum noch ein Unterschied von menschenfreundlicher oder men-schenfeindlicher Technik erheben. Es sind ja gerade der Wahrheitsverzug undEvidenzmangel, die erst den Blick auf solche vortheoretischen Handlungsfor-men freilegen. Diese Skepsis gegenüber einer durchgreifenden normativenKontrolle der Technik bedeutet aber wohl kaum, dass es deshalb sinnlos ist,das Problem der Technisierung unter normativen Gesichtspunkten zu themati-sieren. Wohl aber bedeutet diese Skepsis, dass die Kritik an einer verantwor-tungslosen Technik im Hintergrund immer schon ein bestimmtes Maß anTechnisierung in Anspruch nimmt. Man kann nur davon reden, dass sich dieTechnik der Verantwortung vor der Geschichte entzieht, wenn man die Tech-nisierung sieht, die im Untergrund dieser Bemühung um Verantwortung viru-lent ist.Das zeigt gerade die Spannung im Lebensweltbegriff Husserls. Noch die Auf-lösung des Universums der Selbstverständlichkeiten muss manches als selbst-verständlich hinnehmen. Die Transformation der Lebenswelt (als Vorgege-benes) vollzieht sich ihrerseits in einem lebensweltlichen Horizont. Man kann,wie das Blumenberg in seltener Schärfe gegenüber Husserl notiert, nicht »vomWerden zum Menschentum unendlicher Aufgaben schwärmen und gleichzeitig

Pragmatische Formen der Daseinsfürsorge 155

46. H. Blumenberg, LuT, 44.

den Preis für dieses Werden verweigern«47. Der Preis aber ist die philosophischeAnerkennung der Legitimität von Technisierung und Rhetorizität, von Hand-lungen also, die den Horizont des Wissens verändern, ohne sich in ihm zu hal-ten.

156 Das Rhetorische als Distanzgewinn

47. A. a. O., 42.

2. Das Rhetorische der Lebenswelt

2.1 Zur rhetorischen Abschirmung des Selbstverständlichen

Die Lebenswelt unterscheidet Blumenberg im Sinn einer »alltäglich-subhistori-schen« sowie einer »final-posthistorischen« Lebenswelt als sekundäre Horizon-te vom Grenzbegriff einer »primär-prähistorischen Lebenswelt«1. Die primär-prähistorische Lebenswelt ist diejenige, die wir immer schon verlassen haben:»Wer in ihr lebte, wüsste von ihr nichts; wer von ihr weiß, kann in ihr nichtmehr und nicht einmal wieder leben«2. Nur indem die primäre Lebenswelt alsGrenzbegriff an jenen sekundären Lebenswelthorizonten gewonnen wurde –und das ist der positive Anschluss Blumenbergs an Husserl – können wir über-haupt verstehen, was mit einer prähistorischen Lebenswelt gemeint sein dürfte.Man muss, im Bild gesprochen, das Paradies3 verlassen haben, um zu begreifen,dass der Mensch in seiner ungesicherten Erfahrungswelt der Rückendeckungbedarf. Im sekundären Sinn einer mitlaufenden, fortgeführten Rückendeckungist die Lebenswelt die Welt der Alltäglichkeit. Nicht als eine empirische Größe,sondern als ein anonymes Syndrom von Regelungen, die, im Hintergrund blei-bend, diesseits von theoretischen Problematisierungen die Lebenspraxis be-gleiten.Die alltägliche Lebenswelt hat deshalb als einziges sie definierendes Merkmalden Charakter der Selbstverständlichkeit: »Sie [die Lebenswelt] ist es, die sichvon selbst versteht. Sie bedarf keiner Nachhilfen und gibt keine«4. Als das, wassich in Handlungssituationen von selbst versteht, ist die Lebenswelt das Gegen-modell zu den Begründungs- und Rechtfertigungsansprüchen wissenschaftli-cher Rationalität5. Sie ist eine Welt, die der Gründe nicht bedarf, weil »jede

1. H. Blumenberg, LzWz, 1986, 65. Ph. Stoellger analysiert diese dreigliedrige Unter-scheidung und ihre Folgen für das Verständnis der Lebenswelt (vgl. Ph. Stoellger,Metapher und Lebenswelt, 2000, 260 ff.).

2. A. a. O., 60.3. Die Zerstörung des Weltverhältnisses, das »Paradies« oder prähistorische »Lebenswelt«

heißt, ist nach Blumenberg diesem selbst eingeschrieben. Paradiese zerstören sich im-mer selber (vgl. B. Merker, Bedürfnis und Bedeutsamkeit, 1999, 77).

4. H. Blumenberg, LzWz, 1986, 22. Anmerkung in eckiger Klammer von mir.5. Das Phänomen des Selbstverständlichen erläutert Michael Moxter unter dem Titel:

Mobilisierung von Gegengründen ohnehin zu spät käme«6 Es ist diese »logischeUnbedürftigkeit«7, die das Selbstverständliche als Gegenspieler jeder Theorieauszeichnet. Während die Theorie sich »als Bedürfnis idealisiert, das dem Le-ben erst Grund verschafft«, steht die Lebenswelt dafür ein, dass »des Grundesnicht zu bedürfen, die Genauigkeit des Lebens selbst ist«8.Das, was sich von selbst versteht, ist, mit einer Wendung Blumenbergs, der»pragmatische Untergrund«9 jeder Handlungs-, Deutungs- und Wahrneh-mungssituation. Pragmatisch ist der lebensweltliche Hintergrund, insofern erdasjenige bezeichnet, was in der jeweiligen Situation gebraucht wird, damitHandeln möglich wird, ohne dass dieser mitgegebene Horizont im Handelnthematisiert werden kann und muss. Es ist die Brille, mit der man sieht, aberdie man nicht sieht. Phänomenologisch gesprochen bezeichnet das Selbstver-ständliche dasjenige, was in der jeweiligen Situation verborgen bleiben muss,damit etwas als verständlich gelten kann. Es ist das Appräsente im Präsenten,das Verdeckte im Entdeckten, das mit Lebenswelt umrissen wird.Was an der »Lebenswelt wesentlich Welt«10 ist, macht die Differenz von Eine-Welt-Haben und In-der-Welt-Sein geltend. Welt ist deshalb nicht nur alles, wasin ihr der Fall ist, sondern auch dasjenige, »was unsichtbar bleiben muss, damitSachverhalte bestehen können«11. Während alle wahrnehmbaren Gegenständeihre Existenz in einer Welt haben, ist diese Voraussetzung, nämlich Eine-Welt-Haben, selber nicht Gegenstand der Wahrnehmung. Welt-Haben ist deshalbwesentlich ein Horizontbegriff. Er macht diejenigen selbstverständlichen Hin-tergrund aus, der in der Wahrnehmung von Gegenständen in der Welt mitgege-ben ist, ohne selber zum Thema der Wahrnehmung zu werden. Wenn aber»Welt zu haben, immer das Resultat einer Kunst ist«12, so liefert diese Verbin-dung von Kunst und Welt, von Gemachtem und Gegebenem, einen ersten Hin-weis auf die Bedeutung des Rhetorischen für die Lebenswelt.Als pragmatischer Untergrund von Vertrautheiten, in denen Handlungen ein-gebettet sind, ist das Selbstverständliche der Lebenswelt der Inbegriff einer vor-wie auch mitgegebenen Weltvertrautheit13. Sie ist das fraglos Gegebene im Hin-

158 Das Rhetorische als Distanzgewinn

»Worüber man nicht reden muß, darüber kann man schweigen« (M. Moxter, KaL,291-300.).

6. A. a. O., 292.7. H. Blumenberg, LzWz, 1986, 350.8. H. Blumenberg, Höhlenausgänge, 1989, 168; vgl. dazu M. Moxter, Ungenauigkeit

und Variation, 1999, 191.9. H. Blumenberg, AAR, 109.

10. H. Blumenberg, LzWz, 1986, 61.11. M. Moxter, KaL, 297.12. H. Blumenberg, AaM, 13.13. Der erste Satz bei D. Rössler (Vernunft der Religion) lautet: Religion ist überall.

tergrund der Lebenspraxis und insofern Gegenbild zu einer Kontingenzwelt,die sich in der Infragestellung aller gegebenen Vertrautheiten, im Zuge des Be-gründungsinteresses der Wissenschaft, auftut.Im Sinn eines lebensweltlichen Vertrautheitsfonds ist die Lebenswelt allerdingsnicht prinzipiell fraglos. Was sich in Situationen des Handelns von selbst ver-steht, kann auch hinterfragt werden, aber nicht jederzeit alles – und nicht allesauf einmal. Jede gegebene Vertrautheit kann im Prinzip korrigiert, ersetzt undüberholt werden, wobei jede dieser Veränderung auf weitere, stillschweigendeVoraussetzungen baut. Jede Thematisierung von selbstverständlichen Vorgabennimmt eben solche in Anspruch, wenn auch andere als die, die im Augenblickthematisiert werden.Damit ist die Lebenswelt als ein apriorisches Allgemeines ausgeschlossen14. ImSinn von Horizonten, die in Handlungssituationen Selbstverständlichkeitenvor- und mitgeben, ist die Lebenswelt deshalb »kein positiver Inbegriff unhin-tergehbarer Sinn- oder Geltungsvoraussetzungen«, sondern nur der (allerdingsunhintergehbare) »Ausdruck dafür, dass eine Handlungssituation nicht belie-big viele Rückfragen zulässt«15.In dieser Zuordnung von theoretischer Reflexion und Lebenspraxis, von jeder-zeit möglichen Rückfragen und selbstverständlichen Vorgaben, von Kontin-genzwelt und Weltvertrautheit, lässt sich die Leistung der Rhetorik für dieLebenswelt verorten. Denn die Lebenswelt als »Phänomen verdeckter, einge-dämmter Kontingenz«16 unterbindet angesichts latenter und manifester Unsi-cherheiten, denen die Lebenswelt ausgesetzt ist, das Bedürfnis nach weiterenErklärungen und Begründungen. Sie leistet dies durch imaginative Verfahren,deren Inbegriff die durch Rhetorik bereitgestellten suggestiven Mittel sind. InBezug auf das theoretische Bedürfnis, den Unsicherheiten, denen der pragma-tische Untergrund von Handlungen ausgesetzt ist, mit Gründen zu begegnen,leistet die Rhetorik eine »Überredung zur Einsicht«17, und zwar zur Einsicht indie begrenzte Reichweite des eigenen Fragens.Rhetorik schirmt die Lebenswelt gegen den Hintergrund an Unbestimmtheitab, der an lebensweltlicher Vertrautheit als das Fremde und Irritierende aufbre-chen kann und macht sie so für die Lebenspraxis dienstbar, und zwar ihrerseitsnicht durch ein theoretisches, sondern durch ein imaginatives Verfahren. Dabei

Das Rhetorische der Lebenswelt 159

14. Mit der Lebenswelt ist ein schöpfungstheologisches Thema angeschlagen. Allerdingsmit der Einschränkung, dass lebensweltliche Vertrautheiten, anders als dies etwa beiD. Rössler (VdR) der Fall, ist auf keine transzendentale Struktur von Vorvertrautheitzielt, »die von einer Theologie der Schöpfung in Begründungsabsicht entfaltet«(M. Moxter, KaL, 387) werden könnte.

15. M. Moxter, KaL, 296.16. Ebenda.17. Vgl. H. Niehues-Pröbsting, Überredung zur Einsicht, 1987.

ersetzen Geschichten, Metaphern und Symbole nicht etwa die Theorie oder lie-fern anstelle einer Antwort nur eine Metapher, sondern »sie machen die Theo-rie überflüssig«18: überflüssig für genau die Situationen, in denen gehandeltwerden muss, auch wenn zureichende Gründe nicht zur Hand sind.Indem also das rhetorische Verfahren die Lebenswelt gegen die Unbestimmt-heit, die an »den Rändern und in ihrem Zentrum«19 jederzeit aufbrechen kann,abschirmt, kann man in Situationen, in denen gehandelt werden muss, man-ches auf sich beruhen lassen. Wie schon der Mythos, stiften Symbole und Me-taphern im rhetorischen Verfahren eine Welt selbstverständlicher Vertrautheit,eine hingenommene, fraglose Rückendeckung, ohne die das Leben nicht voll-ziehbar wäre.Die Suggestion der Rhetorik besteht dabei nicht nur darin, Rückfragen über-flüssig erscheinen zu lassen in Situationen, in denen »das Urteil mit seinemIdentitätsanspruch überhaupt nicht ans Ziel kommen kann, entweder weil seinGegenstand das Verfahren überfordert oder weil der Spielraum für das Verfah-ren nicht ausreicht«20. Die rhetorische Suggestion besteht auch darin, Hand-lungen zu ersetzen, also anstelle des Zwangs zu handeln, Metaphern zu setzen.Metaphern schaffen Distanz. Sie erklären nicht, was in der jeweiligen Situation(noch) nicht erklärt werden kann, aber sie helfen, sowohl das Unerklärliche alsauch das Nicht-Handeln zu verwinden21.

160 Das Rhetorische als Distanzgewinn

18. H. Blumenberg, Höhlenausgänge, 1989, 168; und H. Blumenberg, LzWz, 1986, 67.19. Ph. Stoellger weist zu Recht darauf hin, dass die Vorstellung, Unbestimmtheit sei

ausschließlich »an den Rändern« zu finden, an einem defizienten Modell von »Be-stimmheitsgenerierung und Unbestimmheitsminderung« (Ph. Stoellger, Metapherund Lebenswelt, 2000, 372 ff.) orientiert ist. Unbestimmtheit »im Zentrum« dagegenmeint nicht nur den blinden Fleck, der im Rücken jeder Aufmerksamkeit liegt, sonderneine irreduzible Vagheit, die an »Grundfragen und Grundbegriffen« (ebenda) auftritt.

20. H. Blumenberg, AAR, 116. Die Verankerung der Diakonie in der Ethik bei T. Rend-torff stellt ein Beispiel für die rhetorische Situation dar. Das diakonische Handelnkann sich nicht auf ein allgemeines Gesetz berufen, weil »uns keine solche Regel fürden Umgang mit der menschlichen Lebenswirklichkeit bekannt ist, in deren Beachtungdie der Lebensführung gestellten Aufgaben in einem abschließenden Sinn eingefangenund formell geordnet werden könnten« (T. Rendtorff, Ethik, 1981, 135). Das dia-konische Handeln in der Liebe ist deshalb durch die »Spontaneität menschlicher Zu-wendung gelenkt« (a. a. O., 35). Spontaneität aber bezeichnet die Selbstverständlichkeiteines Tuns, das keiner Begründung bedürftig oder auch fähig ist. Gleichwohl ist dieseSpontaneität keine schlichte Gegebenheit des christlichen Lebens, sondern Ausdruckeiner rhetorischen Abschirmung vor möglichen Rückfragen. Dieser Abschirmung be-darf es, damit es für die christliche Gemeinde selbstverständlich wird, Bedürftigen zuhelfen, deren Bedürftigkeit noch nicht allgemein anerkannt und Gegenstand institutio-neller Hilfe ist.

21. Vgl. H. Blumenberg, AaM, 559: »Vertrautheit erklärt nichts, aber sie macht eben diesverwindbar.«

2.2 Lebenswelt und rhetorische Distanz

Die Unausdrücklichkeit der Lebenswelt, ihr Mangel an Prädikativität, ist aufmetaphorischen Ausdruck bezogen. Anders als die Prädikativität der theoreti-schen Thematisierung, die dem Abbau der Lebenswelt entgegenarbeitet, indemsie das sinnliche Material unter die logische Form des Urteils subsumiert, stelltdie rhetorische Ausdrücklichkeit keine Thematisierung der Lebenswelt dar,sondern ein Verfahren, diese Thematisierung zu umgehen. Das Verhältnis vonlebensweltlichen Selbstverständlichkeiten und rhetorischer Metapher ist daherkein Abbildungsverhältnis einer Sache in einem Zeichen oder der Formierungeiner unmittelbaren Lebendigkeit in objektiven Gehalten, wie dies etwa das Ver-hältnis von subjektiver Religiosität und objektiven Religionsgehalten in Sim-mels22 Religionstheorie charakterisiert. Das rhetorische Verfahren ist überhauptnicht direkt auf die lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten bezogen. Es istkeine »direkte Widerspiegelung«23 oder Objektivation lebensweltlichen Wis-sens, sondern dieses ist nur indirekt im rhetorischen Verfahren präsent als das-jenige, das durch die Metaphern vor weiteren Rückfragen abgeschirmt wird.Die Lebenswelt ist »ausdruckslos für ihren notwendig von außen kommendenBetrachter«24. Sie ist das, was im Rücken des Betrachters seinen Blicken entzo-gen bleiben kann und muss. Deshalb gelingt der Blick nicht auf das, was einemselbst im Rücken liegt, wie der Mythos von Orpheus zeigt.Aber die Lebenswelt ist nicht sprachlos. Die Lebenswelt »hat ihre Geschichten,die Nachdenklichkeit stiften mögen, aber Denken als ein Bedingungsverhältnisvon Frage und Antwort überflüssig machen«25. Rhetorik ist deshalb diejenigeAusdrücklichkeit, die nötig ist, damit etwas unausdrücklich bleiben kann. In-dem das rhetorische Verfahren die Lebenswelt abschirmt gegen Irritationen, dievon dieser Ausdruckslosigkeit der Lebenswelt ausgehen, können Rückfragen,die jederzeit möglich sind, auch nicht gestellt werden. Nicht alles, was sich hin-terfragen lässt, muss dann auch hinterfragt werden. Die Anstrengung der rhe-torischen Arbeit26 bemisst sich daher an dem, was geleistet werden muss, damitetwas selbstverständlich bleiben kann. Die rhetorische Anstrengung meint denAufwand, der nötig ist, um einen Fond an fragloser Weltvertrautheit dadurchabzuschirmen, dass mögliche Handlungsvarianten aus dem Horizont der Ak-

Das Rhetorische der Lebenswelt 161

22. Vgl. G. Simmel, Die Religion, 1912/1995, 47; a. a. O., 54.23. M. Moxter, KaL 318.24. H. Blumenberg, LzWz, 1986, 59 f.25. Ebenda. 67.26. H. Blumenberg betont nicht ganz unproblematisch das konstruktive Moment und

redet von der »angestrengten Herstellung« (H. Blumenberg, AAR, 108) eines pragma-tischen Untergrunds von Handlungen. Gemeint ist aber ein Tun, das nicht etwas her-stellt, sondern Gegebenes schont.

teure ausgeblendet werden. In dieser Form ist Rhetorik eine Entlastung, einrationaler und rationeller Umgang mit den Deckungslücken der Vernunft, dieangesichts einer nie endgültig zu stabilisierenden Lebenswelt in ihrem Verfah-ren, alles mit Gründen zu rekonstruieren, überfordert wäre.Einen gewichtigen Hinweis auf dieses auf Abschirmung der Lebenswelt fokus-sierte Verfahren gibt Blumenberg im Zusammenhang mit seinen »Paradigmenzu einer Metaphorologie«27. Dort geht es, neben vielem anderen, um die Fragenach der Funktion und Leistung von Metaphern. Im klassischen Verständniswird die Funktion der Metapher, die Funktion der translatio, verstanden alsBeziehung zwischen »der metaphorischen Bezeichnung und dem so Bezeichne-ten«28, also als eine zweistellige Beziehung zwischen signum und res. Die Meta-pher »Löwe« stellt eine Analogie her zu einen Sachverhalt, etwa der Gestalt desAchill, die sich durch Mut und Kraft auszeichnet. Maßgeblich für das lehrmäßi-ge Verständnis der Funktion einer Metapher ist deshalb ihr terminus ad quem,die Sache oder der Begriff, auf den hin sich der bildhafte Ausdruck entschlüs-seln lässt. Metaphern werden von einer Rhetorik, welche die technischen Mittelder Überzeugung systematisiert, um einen Sachverhalt zu verdeutlichen, alsVorformen des Begriffs verstanden. Sie sind die Verdeutlichung eines Sachver-halts, und bringen etwas zum Ausdruck, das auch anders gesagt werden könnte.Nur um der Anschaulichkeit oder der Kürze willen wird der uneigentliche Aus-druck benutzt und nicht der eigentliche Begriff.Für die Frage nach der eigenständigen Leistung der Metapher, die nicht nurVorform des Begriffs ist, und daran hängt Blumenbergs ganzes Projekt einerMetaphorologie29, die nicht in Begriffsgeschichte aufgehen will, ist deshalb ent-scheidend, »ob das rhetorische Kunstmittel der ›translatio‹ auch noch mehrleisten könnte, als ›Gefallen‹ an der mitzuteilenden Wahrheit zu erwecken«30.Diese Fragestellung impliziert eine Umkehrung der Blickrichtung, für die Blu-menberg in seinem Mythosband den Vorschlag macht, die Leistung symboli-scher Formen nicht von ihrem terminus ad quem, sondern von ihrem terminusa quo her zu betrachten31. Damit kommen Mythos und Metapher als eigenstän-dige Leistungen sprachlicher Distanzierung in den Blick. Maßgeblich ist nichtso sehr, woraufhin die Metapher ihre translatio leistet, sondern wovon mit ihrer

162 Das Rhetorische als Distanzgewinn

27. H. Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, 1960/1998, 9 f.28. H. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, 1990, 285.29. R. Campe betont die Bedeutung dieser Stelle für die gesamte theoretische Konstruktion

der Metaphorologie (vgl. R. Campe, Rhetorik und Technik, 14).30. H. Blumenberg, Paradigmen, 1960/1998, 9.31. Vgl. H. Blumenberg, AaM, 26.186. Die Formel findet sich schon bei E. Cassirer, al-

lerdings, wie bei Blumenberg, abgelöst von der klassischen Rhetorik und bezogen aufeinen kulturtheoretischen Sachverhalt (vgl. E. Cassirer, Philosophie der symbolischenFormen 1923/1994, 63).

Hilfe Abstand32 gewonnen werden kann: »Entfernung von, nicht Annäherungan, wird dann das Kriterium der Analyse seiner [des Mythos] Funktion«33.Symbolische Formen sind dann immer auch der Hinweis, dass etwas den Bli-cken entzogen bleiben muss, damit Ordnung und Orientierung in der Lebens-welt möglich sind.Betrachtet man aber die Metapher in ihrer Entfernung von etwas, und das istnach Blumenberg das Moment einer bedrohlichen Unbestimmtheit, die an denRändern (und im Zentrum) lebensweltlicher Vertrautheit jederzeit aufbrechenkann und die ihren Entstehungsgrund im unbestimmten Horizont des Men-schen als einem weltoffenen Wesen hat, dann ist die translatio nicht mehr diezwischen signum und res. Ein vorgegebener Sachverhalt, eine Aussage, die durchdie Metapher in ihrer Wirkung gesteigert werden könnte, stellt die Beziehungauf das an den Rändern der lebensweltlichen Routine aufbrechende Unbe-stimmtheitsrisiko gerade nicht dar. Die Funktion der Metapher, ihre translatioim Blick auf ihren Ausgangspunkt, besteht dann vielmehr darin, überhaupt be-stimmte Unbestimmtheit an Stelle von Unbestimmtheit setzen. Erst in Bezugauf diese Distanzierungsfunktion, Unberechenbares aus dem Horizont lebens-weltlicher Vertrautheit fern zu halten34, zeigt sich die eigenständige Leistung derMetapher. Sie ist in dieser Perspektive nicht mehr Ausdruck für etwas, Vorformdes Begriffs, sondern sie ist dann überhaupt Ausdruck, »Form an sich«35 und alssolche Distanz gegen Unbestimmtheit und darin Abschirmung der Lebenswelt.Die Wahrnehmung dieser Distanznahme gegenüber einem unmittelbaren Ein-druck durch die Metapher, und mit ihr, das lebensweltlich Rhetorische, dessenInbegriff diese Leistung der Metapher ist, ist allerdings alles andere als offen-sichtlich. Vielmehr hat der traditionelle Gegensatz von Philosophie und Rheto-

Das Rhetorische der Lebenswelt 163

32. Um bei Achill zu bleiben, wird man sagen, dass die Metapher »Löwe« für den über-wältigenden Eindruck, den Schrecken, der von diesem Kämpfer ausging, steht. Derterminus a quo ist die Unbestimmtheit dieses Eindrucks, der erst dadurch zur Erfah-rung wird, dass für ihn ein Bild steht, also bestimmte Unbestimmtheit an Stelle vonUnbestimmtheit. Erst so gewinnt der Eindruck auch Bedeutung. In dieser Funktionder Distanznahme, dass benannt schon gebannt ist, zeigt sich die Nähe der Metapherzum Mythos, einer »urtümlich-magischen Gleichsetzung der metaphorischen Bezeich-nung mit dem Bezeichneten: ›er ist ein Löwe in der Schlacht‹ bedeutet urtümlich-ma-gisch: ›der Kämpfer war ein wirklicher Löwe, er hatte Löwennatur angenommen‹«(H. Lausberg, Handbuch, 1990, 286). Im Gegensatz zum Mythos ist die Metapherdieses »religiös-magischen Charakters entkleidet und zum poetischen Spiel geworden«(a. a. O., 286).

33. H. Blumenberg, AaM, 186 (Zusatz in eckiger Klammer von mir).34. Vgl. M. Moxter, KaL, 220.35. Blumenberg greift dieses Zitat Nietzsches auf, um die elementare, leibliche Dimen-

sion der Rhetorik als reinen Ausdruck, auch als Schrei oder Laut unterhalb der Ebenedes sprachlich fixierten Ausdrucks anzuzeigen (vgl. H. Blumenberg, AAR, 106).

rik, entscheidend geprägt durch die platonische Unterwerfung der sophisti-schen Rhetorik unter das Ideal des Wahren, den Blick auf die lebensweltlicheLeistung der Rhetorik verdeckt. Weil es selbstverständlich schien, dass die Me-tapher nur uneigentliche Rede ist, die jederzeit in eigentliche Rede zu überfüh-ren ist, konnte auch nicht danach gefragt werden, ob ein »Mehr an Aussageleis-tung«36 von der Metapher erbracht wurde, mehr jedenfalls, als in derZuordnung der Metapher auf den Logos, auf einen ihr zugrunde liegendenSachverhalt, geleistet wird.Diesen Phänomenbereich von metaphorischem Ausdruck als Distanzphäno-men, der Inbegriff des rhetorischen Verfahrens ist, lebensweltliche Vertrautheitabzuschirmen und so für den Handlungsvollzug dienstbar zu machen, wollenwir, eine terminologische Differenzierung Kopperschmidts37 aufgreifend, Rhe-torizität oder das Rhetorische nennen, im Unterschied zu Rhetorik als Summeder Mittel, eine vorausgesetzte Wahrheit zu verdeutlichen. Die Dimension desRhetorischen kommt in den Blick mit der Frage, was bei der platonischen Kri-tik an der sophistischen Rhetorik, verdeckt geblieben ist.Die Umkehrung der Blickrichtung, die mit dieser Fragestellung verbunden ist,hat allerdings einen zeitlichen Index. Dass nach einer verdeckten Leistung derMetapher heute gefragt wird und gefragt werden kann, und »dass danach [bis-her] nicht gefragt wurde und nicht gefragt werden konnte«38, hat mit der Ent-wicklung der neuzeitlichen Geistesgeschichte zu tun. Die gesamte Analyse derKrisisschrift Husserls in Blumenbergs Aufsatz über die Technisierung der Le-benswelt und die Analyse des Lebensweltbegriffs in »Lebenszeit und Weltzeit«39

hat insofern einen grundlegenden Charakter, als es um die Freilegung dieserPerspektive geht, die in Husserls Phänomenologie unvermerkt angelegt ist. Erstdie phänomenologische Arbeit am Ideal einer endgültigen Evidenz lässt diesymbolischen Formen als eigenständige Ausdrucksformen einer lebenswelt-lichen Praxis ansichtig werden. Mythos, Symbol und Metapher sind dann nichtmehr nur in Blick auf ihre Leistung für die Begriffsbildung zu betrachten. Siesind als eine Distanzierungsleistung wahrzunehmen, durch die der Horizontder Unbestimmtheit, die ein weltoffenes Wesen charakterisiert, überhaupt be-setzt wird. So wird die Lebenswelt als Inbegriff selbstverständlicher Weltver-trautheit möglich.Das Rhetorische, und das lässt sich nach der bisherigen Analyse sagen, hat esmit dem lebensweltlichen Hintergrund von Handlungen zu tun. Als Hinter-grund von Selbstverständlichkeiten, die nötig sind, damit Handeln möglich ist

164 Das Rhetorische als Distanzgewinn

36. H. Blumenberg, Paradigmen, 1960/1998, 9.37. J. Kopperschmidt, Ende der Verleumdungen, 1991, 20.38. H. Blumenberg, Paradigmen, 1960/1998, 9 (Zusatz in eckiger Klammer von mir).39. H. Blumenberg, LzWz, 9-68.

in Situationen, in denen begriffliches Denken keine rasche Orientierung undkeine hinreichenden Gründe zu liefern vermag, hat das Rhetorische den Cha-rakter der Abschirmung einer »logischen Unbedürftigkeit«40 der Lebenswelt.Was sich durch Metaphern an Hintergründen in Handlungssituationen stabili-siert, ist nichts, was durch Begründungen zustande käme, sondern was durchdie suggestive Qualität der Metaphern als selbstverständlich hingenommenwerden kann.Das rhetorische Verfahren, eine Welt, die der Gründe nicht bedarf, vor reflexi-ver Thematisierung abzuschirmen, ist gleichwohl nicht irrational: »Es kann ver-nünftig sein, nicht bis zum Letzten vernünftig zu sein«41. Der Verzicht aufGründe ist seinerseits nicht grundlos, wenn im »Begründungsbereich der Le-benspraxis« das »Insistieren auf einer wissenschaftsförmigen Prozedur«42 nurzur Sistierung von Handlungsfähigkeit führen müsste. Das rhetorische Verfah-ren gleicht weder einem Postulat, das sich als Unterwerfungsforderung des Un-begründeten ausgibt, noch dem Versuch, das Unbegründete auf den Begriff zubringen43. Das entscheidende Bindeglied zwischen der Lebenswelt und demrhetorischen Verfahren besteht vielmehr in der »Dienstbarmachung des Unver-standenen«, und zwar dadurch, dass es sich beim Rhetorischen um ein habitua-lisiertes Verfahren handelt, um das anonyme Syndrom von Regelungen, das denAlltag als »fortgeführte, mitgeführte, unterlaufende Lebensweltlichkeit«44 aus-zeichnet, in Handlungssituationen auch gelten zu lassen.Dieses auf die selbstverständlichen Hintergründe von Handlungen bezogeneVerständnis von Rhetorik bedeutet eine Entgrenzung des »Gegenstands-bereichs« des Rhetorischen. Das Rhetorische lässt sich dann nicht mehr aufdie sprachlichen Mittel und Kunstgriffe der »ars bene dicendi«45 beschränken,also auf Anweisungen, wie gut zu reden ist, sondern das Rhetorische betrifftdann die Horizonte lebensweltlicher Orientierungen, die selbst noch die Rede-situation der Rhetorik umgreifen. Bearbeitet aber das Rhetorische die lebens-weltliche Einbettung von Handlungen in demjenigen Zusammenhang vonselbstverständlichen »Übereinstimmungen, die anstelle des ›substantiellen‹Fundus an Regulationen treten müssen, damit Handeln möglich wird«46, dannlässt sich die Einheit des Rhetorischen nicht mehr im Sinne eines Gegenstands-bereichs rekonstruieren. Vielmehr gewinnt das Rhetorische in einer Pluralität

Das Rhetorische der Lebenswelt 165

40. Vgl. H. Blumenberg, AaM, 177.41. A. a. O., 180 f.42. H. Blumenberg, AAR, 125.43. Das wäre der Unterschied zu dem, was D. Rössler die Vernunft der Religion bezeich-

net, nämlich der Begriff eines Unbegrifflichen zu sein.44. H. Blumenberg, LzWz, 1986, 64.45. H. Lausberg, Handbuch, 1990, 40.46. H. Blumenberg, AAR, 108.

von Handlungssituationen seine Einheit durch einen formierenden Gesichts-punkt47, nämlich den, an Stelle von (unbestimmtem) Eindruck die (bestimmteUnbestimmtheit48) des metaphorischen Ausdruck zu setzen.

2.3 Bestimmtheit und Unbestimmtheit im Horizont desweltoffenen Menschen. Blumenbergs anthropologischeAnnäherung an das Rhetorische

Blumenberg hat sein Verständnis des Rhetorischen unter die Überschrift einer»Anthropologischen Annäherung an die Aktualität Rhetorik«49 gestellt. Trotzder vorsichtigen Formulierung, die von Annäherung und nicht von Fundierungspricht, liegt die systematische Bedeutung der Anthropologie für das Rhetori-sche nicht darin, nur ein »Modell [zu sein]; eine Formel, die in diesem Aufsatznicht einfach wörtlich zu nehmen ist«50. Vielmehr geht es bei der anthropolo-gischen Annäherung an die Rhetorik um die (nicht-reduktive) Rückfrage nachBedürfnislagen, in denen die unterschiedlichen Phänomene des Rhetorischeneinen inneren Zusammenhang gewinnen.Das gilt zunächst in äußerlicher Hinsicht. In jeder Form von Rhetorik ist immerin irgendeiner Weise »Anthropologie angelegt und aufgegangen«51. Nicht zufäl-lig hat die Affektenlehre in der klassischen Rhetorik ihren Ort gefunden. Überdiese deskriptive Feststellung hinaus hat aber Anthropologie für Rhetorizitätauch eine funktionale Bedeutung. Sie stellt einen Zusammenhang her, eine Ver-knüpfung der Situationen, in denen lebensweltliche Hintergründe abgeschirmtwerden. Die Rede von der Annäherung versucht dabei den Anschein zu vermei-den, als handele es sich bei dieser Kontinuität des Rhetorischen um eine anthro-

166 Das Rhetorische als Distanzgewinn

47. Deshalb kann man, wie G. Simmel davon reden, dass Religiosität als Kategorie oderOrdnungsart »prinzipiell befähigt ist, die Ganzheit dieses (Daseins)Stoffes nach ihrenGesetzen zu bilden« (G. Simmel, Die Religion, 1912/1995, 45).

48. Es zeichnet die Metapher aus, dass sie sich der Alternative von Bestimmtheit oder Un-bestimmtheit entzieht. Die Funktion der Metapher liegt vielmehr in der »semantischparadoxen Darstellung bestimmter Unbestimmtheit« (Ph. Stoellger, Metapher undLebenswelt, 2000, 384ff.), die Blumenberg, nach Stoellgers Rekonstruktion, bei Cu-sanus und seiner konjekturalen Methode erstmals entdeckt.

49. H. Blumenberg, Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik, in:Ders., Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981,104-136 [= AAR].

50. R. Campe, Rhetorik und Technik, 5. R. Campe sieht in der anthropologischen Annä-herung an die Rhetorik nur ein »Fragezeichen« und macht deshalb den eigenwilligenVorschlag, Rhetorik und Technik bei H. Blumenberg unter diesem Gesichtspunkt derAnthropologie überhaupt nicht zu erörtern. Anmerkung in eckiger Klammer von mir.

51. H. Blumenberg, AAR, 107.

pologische Fundierung in einer substanziell gedachten Natur des Menschen.Werden dagegen die rhetorischen Konsensbildungen durch die »originäre Leis-tung des Menschen, den äußeren ›Eindruck‹ als ›Ausdruck‹ von Innerem um-zuverstehen«52, zusammengehalten, dann ist das Kontinuitätsprinzip keine imWesen des Menschen verankerte Eigenschaft, sondern eine Tätigkeit53.Anders als Blumenberg hat Cassirer für die Welt der symbolischen Formen einegeordnete Einheitlichkeit vor Augen hat, die sich aus dem Fortschreiten vonErfahrung zu Erfahrung im Sinne eines bestimmten Stils54 der Verknüpfungergibt. Dabei ist dieses Fortschreiten nicht als Fortschritt zu denken, sondernals ein Fortbestimmen der jeweils erreichten Bestimmtheit des Ausdrucks. JederAusdruck, der äußeren Eindruck umversteht, jede vor dem Hintergrund vonUnbestimmtheit stabilisierte Bestimmtheit, trägt in sich Implikationen und Vo-raussetzungen, die zu neuen Auslegungen nötigen. Cassirers Begriff der Meta-morphose charakterisiert diese Fortbestimmung als Verweisungszusammen-hang, ein »Fortschritt im selben«55. Zwar ist nie von vornherein klar, was ander jeweiligen Bestimmtheit an Unbestimmtheit aufbricht und zu erneuterAuslegung nötig, aber die »prägnant« ausgebildeten Formierungsgesichtpunkteund die Zielgerichtetheit der kulturellen Entwicklung lassen die Kultur bei Cas-sirer eher als geordnetes Ganzes, den als Dickicht oder Netz56 erscheinen.Blumenbergs anthropologische Annäherung an die Rhetorik folgt auf den ers-ten Blick im Wesentlichen diesem Arbeitsprogramm Cassirers, das von der»Philosophie der symbolischen Formen« zum »Essay on Man« führt und dieKulturphilosophie »anthropologisch grundieren soll«57. Allerdings zeigen sichauf den zweiten Blick erhebliche Modifikation, unter anderem, was Cassirersanthropologische Leitkategorie betrifft. Cassirer dient die anthropologischeLeitkategorie des animal symbolicum dazu, das Faktum, dass symbolische For-men in der Kulturwelt vorkommen, im Blick auf ein gemeinsames Ziel ver-ständlich zu machen, das alle diese verschiedenen Formen zusammenhält: »Ifthe term ›humanity‹ means anything at all it means that, in spite of all thedifferences and oppositions existing among its various forms, there are, never-

Das Rhetorische der Lebenswelt 167

52. A. a. O. 114.53. Das einigende Band der Kultur, »the common bond is not a vinculum substantiale; it is

rather a vinculum functionale« (E. Cassirer, Essay on Man, 1944/1972, 68).54. Zum Stilbegriff in der Theologie, vgl. D. Korsch, Religion mit Stil, 1997.55. M. Moxter, KaL, 289.56. Netz im doppelten Sinn von »Halt«, aber auch »Verstrickung« ist die Leitmetapher für

die Lebenswelt bei B. Waldenfels, und zwar deshalb, weil es ihm, im Unterschied zuCassirer, nicht um gerichtete Übergänge geht, sondern um Anschlüsse, die keiner all-gemeinen Regel folgen, eben um Vernetzungen (vgl. B. Waldenfels, In den Netzender Lebenswelt, 21994).

57. H. Paetzold, Ernst Cassirer, 1995, 99.

theless, all working toward a common end«58. Die symbolischen Formen, Spra-che, Mythos, Religion und Kunst und der in ihnen gemeinsam wirksame pri-märe Umsetzungsvorgang von Eindruck zu Ausdruck werden, in der FormelBlumenbergs ausgedrückt, auf ihren terminus ad quem betrachtet, auf das Zieleiner in ihren konfliktreichen Dissonanzen aufeinander bezogenen Einheit, aufdie »Menschheit«, die sich in ihren Kulturformen entwickelt. Der dynamischeGegensatz, die »Tragödie der Kultur«59, wie Simmel das nennt, der alle mensch-liche Kultur als Spannung zwischen Verfestigung und Evolution, Formaufbauund Formzerstörung charakterisiert, wird am Ende von dem Bild der Harmo-nie aufeinander bezogener Gegensätze überformt: »Harmony in contrariety, asin the case of the bow and the lyre«60. Dieses Bild Heraklits ist die ausdrücklicheGrund- und Leitmetapher von Cassirers Kulturphilosophie. Die funktionaleEinheit konfligierender kultureller Formen mündet in einem Ideal versöhnterGegensätze. Am Ende ist die Dramatik des kulturellen Konflikts entschärft,wenn denn gilt: »The dissonant is in harmony with itself«61.Blumenberg geht für das Rhetorische, wie Cassirer für die Kultur, vom Faktumder symbolischen Formen aus, die in der Kulturwelt in Erscheinung treten. DieFähigkeit zu symbolisieren macht die spezifische Differenz aus, die den Men-schen vom Tier unterscheidet62. Seine Kritik an Cassirer setzt bei der Beobach-tung an, dass Cassirer dieses Faktum zwar auf eine funktionale Einheit, auf dieTätigkeit des animal symbolicum hin durchsichtig macht, nicht aber erklärt,warum diese Formen überhaupt gesetzt werden. Warum der Mensch die Mög-lichkeit entwickelt, seine »nackte Existenz« mit kulturellen Formen zu umklei-den, steht bei Cassirer in keinem funktionalen Zusammenhang63 mit dieserExistenz selber. Man könnte im Extremfall sagen, dass die symbolischen For-men bei Cassirer eine Art Überbau darstellen, ein Luxus, den sich der Menschleisten kann, aufbauend auf einer an sich gesicherten Existenz, um sich zu bil-den und zu höheren Formen des Lebens weiter zu entwickeln.In dieser Betrachtungsweise, welche die symbolischen Formen unter dem Ge-

168 Das Rhetorische als Distanzgewinn

58. E. Cassirer, Essay on Man, 1944/1972, 70.59. G. Simmel, Der Begriff und die Tragödie der Kultur, 1911.60. E. Cassirer, Essay on Man, 1944/1972, 228.61. Ebenda.62. Das animal symbolicum bezeichnet laut Paetzold als Einheit in der Vielfalt kultureller

Erscheinungen »eine nur den Menschen charakterisierende symbolische Tätigkeit,«(H. Paetzold, Der Mensch, 1985, 472).

63. Dieser Einschätzung des Ansatzes von Cassirer durch Blumenberg widerspricht B. Re-cki mit dem Hinweis, dass bei Cassirer die Zeichen »zum Zweck der effektiven Ver-fügung über die Eindrücke gebraucht werden« (B. Recki, Der praktische Sinn der Me-tapher, 1999, 158). Damit werde die Situation des Menschen von Cassirer als die einesMängelwesen gesehen, nämlich als Lebewesen, »das Verfügung nötig hat« (ebenda).

sichtspunkt der kulturellen Entwicklung des Menschen, also ihrem terminus adquem thematisiert, ist die selbstverständliche Voraussetzung die, dass derMensch existieren kann. Er ist biologisch, wie das Tier, an sich existenzfähig.Davon geht Cassirers anthropologische Leitkategorie des animal symbolicumfraglos aus. Wird aber diese selbstverständliche Voraussetzung hinterfragt undalso vorstellbar, dass »es nicht selbstverständlich ist, dass der Mensch existierenkann«64, dann verändert sich der Blick auf die symbolischen Formen. Sie kön-nen dann nicht Zutat zu einer an sich gesicherten Existenz sein, sondern siemüssen in einem funktionalen Zusammenhang mit der Existenz selber ste-hen65.Das hat eine Umkehrung der Blickrichtung zur Folge: Symbolische Formenwerden nicht mehr im Blick auf die kulturelle Anreicherung der menschlichenExistenz, sondern im Blick auf die elementaren Distanzierungsleistungen the-matisiert, die im Daseinsvollzug erbracht werden müssen. Ist Existieren allesandere als selbstverständlich, der Mensch, anders als das Tier, von Natur ausnicht in der Lage zu leben, ein Mängelwesen jenseits der natürlichen Ordnung,in der die anderen Lebewesen existieren, dann kommt in den symbolischenFormen die elementare Ordnungsleistung, der Distanzgewinn, zum Vorschein,der nötig ist, damit der Mensch von der Unbestimmtheit seiner Umwelt nichtüberwältigt wird. In dieser Perspektive auf den terminus a quo ist die symboli-sche Form nicht Form auf dem Weg zu immer höheren Stufen der Kultivier-theit, sondern Form an sich, sprachliches Mittel der Distanz von Unbestimmt-heit. Denn Unbestimmtheit muss einerseits aus dem Horizont des Menschenausgeblendet werden, um einen Raum des Vertrauten zu schaffen, und anderer-seits wieder zugelassen werden, um in diesen vertrauten Räumen nicht zu er-starren66.Blumenbergs Kritik an Cassirers anthropologischer Grundierung seiner Kul-turphilosophie setzt die beiden wichtigsten Leitkategorien der modernen phi-losophischen Anthropologie zueinander in Beziehung. Der Mensch als animalsymbolicum (Cassirer) steht in einem funktionalen Verhältnis zum Menschen

Das Rhetorische der Lebenswelt 169

64. H. Blumenberg, AAR, 114.65. Günter Dux geht ebenfalls von einer extremen Angewiesenheit des Menschen auf eine

kulturell geschaffene Welt aufgrund seines Mangels an instinktiver Ausstattung, seiner»kulturellen Null-Lage« (G. Dux, Prozeß der Geistesgeschichte, 1994, 177) aus.

66. Ph. Stoellger unterscheidet deshalb »absurde« oder »leere« Unbestimmtheit von»bestimmter Unbestimmtheit«, die »immer nur im Verein mit Bestimmtheit auftritt«(Ph. Stoellger, Metapher und Lebenswelt, 2000, 367). Die »Rückgewinnung« be-stimmter Unbestimmtheit unter dem Titel einer »Remetaphorisierung« zielt darauf,im Rahmen begrifflich bestimmter Theologie die »Reichtümer der mehrdimensionalenreligiösen Rede zu erinnern und der Imagination (wieder) zu erschließen« (ebenda364). Zur Doppeldeutigkeit von Unbestimmtheit, vgl. außerdem Kap. IV. 1.2.

als dem »nicht festgestellten Tier«67, einem Mängelwesen, das instinktarm, aberweltoffen, für keine bestimmte Umgebung angepasst ist68. Man könnte im Sin-ne Blumenbergs sagen, der Mensch ist ein animal symbolicum, weil und inso-fern er ohne diese Fähigkeit nicht überleben kann. Er ist ein Kulturschaffender,weil und insofern er ein Mängelwesen ist69. Der primäre anthropologische Vor-gang, der die vielfältigen symbolischen Formen zusammenhält, nämlich äuße-ren Eindruck zu innerem Ausdruck umzuverstehen, ist deshalb die Antwort aufdie Frage, wie das Mängelwesen Mensch überhaupt existieren kann. Die sym-bolischen Formen der menschlichen Kultur sind keine schöne Zutat, sondernelementare Gegenmaßnahmen, die das Überleben des instinktarmen Menschensichern, angesichts des Übermaßes an Anforderungen, die eine unbestimmteUmwelt ihm abverlangt.Dies bedeutet eine wesentliche Korrektur, wenn nicht sogar eine grundlegendeRevision der Gesamtanlage von Cassirers Kulturphilosophie. Wird, wie diesBlumenberg vorschlägt, die Tätigkeit des animal symbolicum von seinem termi-nus a quo70 betrachtet, also von der »tödlichen Wirklichkeit«71, die es durchmetaphorische Abschirmung beherrscht, dann lassen sich die rhetorischen Pro-zesse nur in Beziehung auf die lebensweltlichen Horizonte begreifen, die siestabilisieren, aber auch wieder labilisieren. Symbolische Formen sind dahernicht nur ein Ausdruck für einen Gewinn, sie sind auch ein Hinweis auf einenVerzicht, auf das, was ausgeblendet bleiben muss, damit etwas Bestimmtes

170 Das Rhetorische als Distanzgewinn

67. A. Gehlen, Der Mensch, 1995, 10 u. 371. Gehlen bezieht sich auf eine FormulierungNietzsches.

68. Vgl. A. Portmann, Der Mensch – ein Mängelwesen? 1970, 205 f.69. G. Ueding u. B. Steinbrink sehen in dem Umstand, dass »Blumenberg die rhetori-

sche Anthropologie auf den Menschen als dem Wesen, dem ›Wesentliches mangelt‹,gründet, den ersten Schritt in Richtung einer neuen Rhetorik, die auch die Rhetorikdes Neuen umfaßt, getan« (G. Ueding u. B. Steinbrink, Grundriß der Rhetorik,31994, 199). Rhetorik des Neuen meint bei G. Ueding u. B. Steinbrink die Probleme,die nicht mehr durch Berufung auf Traditionen und gesicherte Erfahrung entschiedenwerden können, sondern die eines Orientierungswissens bedürfen, das »unbekannte,doch in der Zukunft konsensfähige Gemeinsamkeiten gewinnen« (a. a. O., 199). DieRhetorik des Neuen meint also das, was Blumenberg als die rhetorische Situation,zwischen Handlungszwang und Evidenzverlust, bezeichnet (vgl. H. Blumenberg,AAR, 116).

70. B. Recki unterstreicht die praktische Pointe dieser Differenz, die Blumenberg in derAuseinandersetzung mit Cassirers Mythoskonzeption herausarbeitet. Indem Blumen-berg »die Verhaltensunsicherheit des nicht-determinierten Wesens als terminus a quoherausstellt […] macht er damit den nämlichen pragmatischen Zug geltend, der auchseine Sicht der Funktion von Metaphern auszeichnet« (B. Recki, Der praktische Sinnder Metapher, 1999, 143).

71. Die dramatische Formulierung stammt von H. Blumenberg, AAR, 116.

sichtbar wird. Blumenbergs Vorschlag steht deshalb in einer gewissen Span-nung zu der harmonisierenden Tendenz Cassirers, den Kulturprozess als einenBildungsfortschritt zu begreifen, der »die Abstraktheit und Selbstvergessenheitdes mythischen Ausgangspunktes allmählich abträgt«72. Was bei Cassirer ein-seitig als Gewinn verbucht wird, der Abbau der Unmittelbarkeit des mythischenZustands, der so eine zwar notwendige, aber im Fortgang der Kulturentwick-lung überwundene Kulturstufe repräsentiert, ist für Blumenberg Gegenstandeiner bleibenden Aufgabe73. Die Arbeit des Mythos muss in der Arbeit am My-thos beständig fortgeführt werden. Deshalb steht die Kultur bei Blumenbergauch nicht auf einem ein für alle Mal gesicherten Fundament, sondern die Ab-gründe, über denen sie sich erhebt, bleiben als ein ständiges Unbehagen74 in ihrvirulent.Es wird vor dem Hintergrund dieser anthropologischen Annäherung verständ-lich, dass Blumenberg die Rhetorik nicht als ein »kreatives Talent« des Men-schen, sondern buchstäblich als ein »Armutszeugnis«75 wertet. In dieser Funk-tion, nicht die Blöße der nackten Existenz zu bekleiden, sondern nacktesExistieren zu ermöglichen, steht das rhetorische Verfahren, Eindruck in Aus-druck, die Unbestimmtheit, die an den Rändern lebensweltlicher Vertrautheitaufbricht, in unbestimmte Bestimmtheit umzuverstehen, in genauer Entspre-chung zur anthropologischen Weltoffenheitsthese, die zum Grundbestand mo-derner Kulturtheorie gehört. Die wesentliche Ungesichertheit der Erfahrungs-welt des Menschen und die Einsicht, dass rationale Verfahren der Begründungangesichts dieses Unbestimmtheitshorizontes überfordert sind, macht Blumen-bergs These plausibel, dass das Rhetorische den vernünftigen Umgang mit denDeckungslücken der Vernunft in der Moderne darstellt. Das schließt aus, dassdie Erfolge der Wissenschaft in der Lage sein könnten, die Dimension der

Das Rhetorische der Lebenswelt 171

72. M. Moxter, KaL, 165. Der Kulturprozess erscheint bei Cassirer deshalb als »objektiveBildungsgeschichte« (ebenda).

73. Auch Ernst Cassirers letztes Werk »The Myth of State« kommt zu dieser Einsicht,ohne sie für die Gesamtanlage seiner Kulturphilosophie fruchtbar zu machen (vgl.M. Moxter, KaL, 166f.).

74. Das Unbehagen, dass in der menschlichen Kultur ein Ausgeblendetes ständig mitprä-sent bleibt, diese grundlegende Einsicht der Kulturtheorie Freuds, wird von P. Ri-coeur in einer zeichentheoretischen Interpretation des Unbewussten zu einem Grund-sachverhalt der sprachlichen Darstellung von Sinn umgeformt (P. Ricoeur, Versuchüber Freud, 1974). Das Verhältnis von Präsenz und Appräsenz, das nach Ricoeur jedesprachliche Darstellung von Sinn charakterisiert, ist der entscheidende Hinweis auf dasRhetorische in der Lebenswelt. Jede Stabilisierung von lebensweltlicher Vertrautheitberuht auf einer Überredung durch vertraute Zeichen, sich von einem mitgegebenenUnbestimmten nicht weiter irritieren zu lassen. Zu P. Ricoeurs Freudinterpretationvgl. unten Kap. IV. 3.3.

75. H. Blumenberg, AAR, 130.

»theoretischen Vorläufigkeit, die sie [die Rhetorik] wahrnimmt und nutzt«76,auf lange Sicht mit den gesicherten Ergebnissen ihrer Forschung in eine theo-retische Endgültigkeit zu überführen. Da die Wissenschaft diese Aufgabe nichtmeistern wird, bleibt für die daraus resultierenden Deckungslücken kein ver-nünftigeres Arrangement als das imaginative Verfahren, mit dem die Rhetorikdie Lücken besetzt, welche die Vernunft offen lässt.

172 Das Rhetorische als Distanzgewinn

76. Ebenda. Anmerkung in eckiger Klammer von mir.

3. Tradition und Innovation.Zur Veränderbarkeit des rhetorischen Ausdrucks

3.1 Konstruktion und Destruktion der Lebenswelt

Die Leitthese der bisherigen Interpretation war, das Rhetorische als ein lebens-weltliches Verfahren zu verstehen, das die Horizonte des Selbstverständlichendurch Imaginationen vor »leerer« Unbestimmtheit abschirmt und zugleich wie-der neuer, »bestimmter« Unbestimmtheit aussetzt.Dieses rhetorische Verfahren verbindet deshalb zwei gegenläufige Momente.Zum einen bedeutet das Rhetorische einen Gewinn an Stabilität. Es schütztdie lebensweltliche Routine, die Ordnung alltäglicher Vertrautheit vor einemZuviel an Fraglichkeit. Man kann z. B. nicht jederzeit alles aus eigener Reflexi-vität rekonstruieren, wenn gehandelt werden muss. Die Abschirmung vonSelbstverständlichen im Hintergrund der eigenen Lebenspraxis, wenn sie alsdie alltägliche Ordnung der Dinge im Sinne einer »fortgeführten, mitgeführten,unterlaufenden Lebensweltlichkeit«1 verstanden werden, ist von einer Konstanzsich verschiebender Horizonte.Zwischen den Extremwerten eines hypothetischen Ausgangspunkts, der prähis-torischen Lebenswelt, die wir immer schon verlassen haben und dem uto-pischen Endzustand, der stabilen Lebenswelt einer endgültigen Evidenz, gehtes darum, »mit der Verlassenheit, zwischen den Lebenswelten – der hypotheti-schen des Ausgangs und der utopischen des Endzustands – zurechtzukom-men«2. Diesem »Zurechtkommen« des Menschen in einer Welt, zu der er die»genauen Passungen« nicht mehr hat, dient das rhetorische Verfahren »als ha-bitualisierte Technik der Konzentration auf das Lebensdringliche durch Einspa-rung von Aufmerksamkeit für funktional schon Erledigtes«3. Die rhetorischeSelektion von Handlungsvarianten aus dem Horizont des Machbaren ist inso-fern ein Verfahren der Selbsterhaltung des Menschen in einer Kontingenzwelt,in der er nur überleben kann, wenn er den Begründungsaufwand für seine Le-benspraxis limitiert.Auf der anderen Seite ist diese Stabilisierung lebensweltlicher Vertrautheit im

1. H. Blumenberg, LzWz, 1986, 64.2. Ebenda.3. Ebenda.

rhetorischen Verfahren immer nur vorläufig. An den Rändern und im Zentrumdes Vertrauten kann jederzeit die Irritation eines Fremdwerdens des Vertrautenwieder aufbrechen. Das Kind, so das Beispiel von Peter Berger4, das in dernächtlichen Dunkelheit erwacht und sich in der Finsternis ängstigt, ruft nachder Mutter, die das Chaos der Nacht bannen und eine vertraute Ordnung wie-derherstellen soll. Sie tut dies nicht durch reflexive Thematisierung der Angstdes Kindes. Die Angst eines Kindes vor dem bösen Wolf lässt sich kaum ange-messen aufnehmen mit dem Hinweis, es gäbe seit dem 19. Jahrhundert keineWölfe mehr in Deutschland. Die Mutter bannt das Chaos durch den tröstendenSatz: »Hab keine Angst; alles ist in Ordnung.«Die Angst des Kindes, die Irritation durch das namenlose Chaos der Dunkel-heit, ist auf einen unbesetzten Horizont bezogen. Angst ist »Intentionalität desBewusstseins ohne Gegenstand«5. Der Trost der Mutter bietet dagegen keineGründe, sondern eine tröstliche Imagination6, die diesen unbestimmten Hori-zont besetzt und so eine Welt der Vertrautheit vor dem Hintergrund des Unver-trauten schafft. Bestimmtheit der Lebenswelt geschieht immer vor dem Hinter-grund dieses Horizonts von »leerer« Unbestimmtheit, im mythischen Bild:Ordnung vor dem Hintergrund eines niemals endgültig gebannten Chaos.Übergänge vom Tag zur Nacht, aber auch biografische Umbruchsituationenund Lebenskrisen sind solche Irritationen des Fremden, die an Vertrautheits-horizonten aufbrechen. Selbstverständliches, das im Hintergrund eines Lebensin Geltung stehen, verliert dann den Charakter der Selbstverständlichkeit.Aber dieses Überschreiten des lebensweltlichen Vertrautheitshorizontes führtwieder zur (wiederhergestellten) Lebenswelt zurück. Das besagt die Formelvon der Destruktion und Restitution lebensweltlicher Horizontbesetzungen.Es gibt keinen Blick hinter den Horizont der Lebenswelt, sondern nur eine Ver-schiebung: Ein Fremdwerden des einen und ein Einrücken in einen anderen,aktuellen Horizont selbstverständlicher Gegebenheiten. Das Kind gewinntdurch den Satz der Mutter sein Vertrauen in die Wirklichkeit wieder und schläftein.Die Konstanz der Lebenswelt, das beharrende, konservative Moment ihrer Sit-

174 Das Rhetorische als Distanzgewinn

4. Vgl. P. Berger, Auf den Spuren der Engel, 1972, 82 f. Das Beispiel wird nicht zufälliggewählt worden sein, wenn denn der Hinweis stimmt, »daß es in jedem von uns ein zutröstendes Kind gebe« (P. Ricoeur, Versuch über Freud, 1969, 561).

5. H. Blumenberg, AaM, 10.6. Metaphern, mit denen Horizonte besetzt werden, sind nicht nur tröstlich. Sie können

beides sein, Terror oder Spiel, »und das heißt: reiner Ausdruck der Passivität dämo-nischer Gebanntheit oder imaginative Ausschweifung anthropomorpher Aneignungder Welt« (H. Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Wirklichkeitspotential des My-thos, 1971, 13). Zu S. Freuds Interpretation des Spiels eine Kindes, mit dem diesesseine Angst vor der Abwesenheit der Mutter bewältigt, vgl. unten Kap. IV. 3.3.

ten und Gebräuche, der Rituale und Geschichten ist deshalb nur die eine Seiteeiner gegenläufigen Bewegung. Die mitpräsente Unbestimmtheit, vor derenHintergrund lebensweltliche Vertrautheit steht, setzt diese Vertrautheit immerwieder neuen Risiken aus7. Für die Risiken der eigenen Biografie muss mankeine Sorge tragen. Die Auflösung von Selbstverständlichkeiten im Hinter-grund der Lebenswelt ist in der Regel nicht eine Leistung subjektiver Deutung,sondern Ausdruck einer Übergänglichkeit, die mit der Horizonthaftigkeit derLebenswelt, ihrer Bestimmtheit vor dem Hintergrund von Unbestimmtheit ge-geben ist.Dabei ist der Einbruch des Nicht-Alltäglichen in die Routine des Alltags8 nichtnur bedrohlich. Irritierende Fremdheit ist auch ein produktiver Faktor. Sie istAufbruch im doppelten Sinn einer Unterbrechung und eines Übergangs. Le-bensweltdestruktion bedeutet deshalb auch eine Dynamisierung der konser-vativen Tendenz lebensweltlicher Stabilität, die das Leben in Lebenswelten le-bendig erhält. Um Zeichen und Symbole, die das lebensweltliche Wissenabschirmen, vor der Tendenz zur »Gerinnung« zu schützen – mit dieser Meta-pher umschreibt Ricoeur9 die Erstarrung eines Symbols zum Idol – muss in derLebenswelt »um die kulturellen Formen vor einem Gerinnungszustand zu be-wahren, genau die Unbestimmtheit zugelassen und immer wieder herauf-geführt werden, gegen die diese Formen gerichtet sind«10.Die Unbestimmtheitsrisiken in der Lebenswelt üben deshalb auf die Symbole,

Tradition und Innovation 175

7. Für diesen Zusammenhang von Beharrung und Beweglichkeit, Stabilität und Labilitätder Vertrautheitshorizonte, in die wir eingebettet sind, findet Kafka eine instruktiveMetapher: »Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf,und mit kleinem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann mannicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur schein-bar« (F. Kafka, gesammelte werke Bd. 4, 35).

8. Günter Dux verortet Religion einseitig in der Beziehung auf diese außeralltäglicheUnsicherheit: »Religion liegt jenseits der Routine, jenseits dessen, was ohne weiteresbeherrschbar ist«, (G. Dux, Die Logik der Weltbilder, 158). Religion ist aber immerauch Ausdruck von lebensweltlicher Vertrautheit und dem Vertraut-Werden des Au-ßergewöhnlichen. Auch die »Veralltäglichung des Glaubens« (M. Moxter, KaL, 389)gehört zum Glauben und ist eine Bedingung seiner Kontinuität. J. Matthes redet vonder »Veralltäglichungsfähigkeit« des kirchlichen Teilnahmeverhaltens (vgl. J. Matthes,Volkskirchliche Amtshandlungen, 1975, 107).

9. P. Ricoeur spricht von Verfestigung oder Gerinnung: »Jedes Symbol ist der Ikonoklasteines anderen, wie auch jedes sich selbst überlassene Symbol dazu neigt, zu gerinnen,sich in eine Idolatrie zu verfestigen.« (P. Ricoeur, Symbolik des Bösen, 402 f.).

10. M. Moxter, KaL, 360. Die Einsicht in den produktiven Charakter des Unbestimmtenberührt sich mit M. Josuttis’ These, dass das religiöse Leben verarmt, wenn man ver-suchte Gott zu zähmen und alle Ambivalenz aus den Gottesbildern zu tilgen (vgl.M. Josuttis, Rhetorik und Theologie, 1985, 164).

die diese abschirmen, einen Transformationsdruck aus. Man muss Variantenderselben Geschichte erzählen können, soll sie vor dem Hintergrund derFremdheit, die an ihren Rändern aufbricht, die Lebenswelt erneut stabilisierenkönnen. Die Voraussetzung für dieses beständige Zurückkehren in immer an-derer Perspektive auf dieselben Metaphern und Geschichten liegt in dem Sinn-überschuss, der den metaphorischen Ausdruck auszeichnet. Unbestimmten äu-ßeren Eindruck in bestimmten inneren Ausdruck umzuverstehen, diese für dieRhetorik zentrale Fähigkeit des Menschen stabilisiert immer nur einen be-stimmten lebensweltlichen Horizont. Die Zone der Helligkeit steht vor einemdunklen Hintergrund und hält andere Horizonte appräsent, die in erneutenVariationen von Metaphern aktualisiert werden. Die durch rhetorische Stabili-sierung lebensweltlicher Horizonte erreichte Bestimmtheit der Wahrnehmungvon Lebenspraxis ist deshalb nie eindeutig.Was Rössler11 als die konstitutive Mehrdeutigkeit gelebter Religion diagnosti-ziert, lässt sich mit diesem Sinnüberschuss verständlich machen. Die alltäglicheLebenspraxis schließt bestimmte gegebene Lebensformen ein. Zugleich gehörtzur Struktur lebensweltlicher Vertrautheit, dass gegebene Formen überschrittenwerden. In horizonthafter Vertrautheit wird ein Mehr des Mitgegebenen überdas Gegebene wirksam, an dem sich der »Charakter der Selbsttranszendenz«12

des menschlichen Lebens zeigt. Mehrdeutig ist gelebte Religion deshalb nichtim Sinn eines prinzipiell unbestimmbaren, substanziellen Gehaltes, sondernim Sinn der Horizonthaftigkeit: jedes Phänomen erscheint in einem Horizont,der andere ausblendet, damit überhaupt etwas Bestimmtes wahrnehmbar wirdund zugleich auf das verweist, was hinter dem eigenen Horizont liegt oder überihn hinausgeht.

3.2 Variantenbildung. Zur Rezeption von Metaphern

Der Hintergrund an Unbestimmtheit, d. h. die Risiken, denen die lebenswelt-liche Vertrautheit immer wieder ausgesetzt ist, setzen die suggestiven Mittel derRhetorik, welche die Lebenswelt als eine Welt des Vertrauten stabilisieren,einem Transformationsdruck aus. Lebenswelt als Inbegriff des vorbereiteten,vorgängigen Lebens, ist daher zugleich sich überschreitendes Leben13. Symboleund Metaphern sind daher nie eindeutig oder endgültig fixiert. Sie eröffnen,indem sie lebensweltliche Horizonte besetzen, den Verweis auf ausgeblendete

176 Das Rhetorische als Distanzgewinn

11. Vgl. D. Rössler, VdR, 121.12. M. Moxter, KaL, 304.13. M. Moxter interpretiert diese Formel Paul Tillichs als eine Struktur im Kulturpro-

zess, welche die Kontinuität von Zeichen betrifft (M. Moxter, KaL, 397).

oder noch offene Horizonte. Die lebensweltliche Vertrautheit, die durch Meta-phern und Symbole stabilisiert wird, kommt deshalb in beweglichen, sich ver-schiebenden lebensweltlichen Horizonten zu stehen.Wird so die Wahrnehmung eines mitgegebenen Hintergrundes zentral für dieFrage nach der Bestimmtheit eines Ausdrucks, so impliziert diese Umstellungeine Art von archäologischem Vorgehen. Was ein Ausdruck als ein Mittel zurDistanz und Stabilisierung lebensweltlicher Horizonte bedeutet, das lässt sichnur sagen in Bezug auf den sedimentierten Sinn, auf die abgelagerten Sinn-dimensionen, die er verdeckt. Die Frage nach der Bestimmtheit eines Aus-drucks als einem terminus a quo ist deshalb an seine Rezeptionsgeschichte ver-wiesen, welche die konkrete und aktuelle Bedeutung eines Ausdrucks alsImagination einer Variante vor dem Hintergrund sedimentierter und vor demoffenen Horizont möglicher weiterer Varianten verstehbar werden lässt. Im-merhin kann man sagen, warum Wahrnehmung, die einen Ausdruck nichtmehr nur in Beziehung auf eine Sache entschlüsselt, einer Tiefenbohrunggleicht. Denn in der direkten Konfrontation einer frontalen Optik kommt diefür die Wahrnehmung lebensweltlicher Phänomene entscheidende »Spannungvon sich Zeigendem und sich Verbergendem«14 überhaupt nicht in den Blick.Erst der schräge Blick, der an einem Ausdruck auch die abgeblendeten Bedeu-tungsvarianten »wahrnimmt«, wird der Funktion gewahr, die Metaphern fürdie Stabilisierung einer Welt alltäglicher Vertrautheiten erfüllen.Die Spannung von »sich Zeigendem und sich Verbergendem« charakterisiertdie »Ausdruckswahrnehmung« im Gegensatz zur »Dingwahrnehmung«15. Aus-druckswahrnehmung blickt auf ein Symbol nicht im Sinn eines eindeutigenCodes, der in Beziehung auf einen Sachverhalt zu entschlüsseln ist, sondernals eine Variante, die ihre Bedeutung in Beziehung auf andere verdeckte Varia-nten durch eine bestimmte Art der Variantenbildung erhält. Ein und derselbeAusdruck kann deshalb immer wieder Verschiedenes bedeuten. In Bezug aufden Mythos hat Cassirer für diesen »gestalt-switch« im Ausdruck den Begriffder Metamorphose aufgegriffen: »Jedes Gebilde kann sich in das andere wandeln;alles kann aus allem werden«16.Der Eindruck der Leichtgängigkeit, der Cassirers Aufriss mythologischer For-menbildung erweckt, und der die Bedeutung eines Ausdrucks ins subjektiveBelieben zu stellen scheint, wird sofort konterkariert, wenn man BlumenbergsEinwand danebenhält, dass auch der subjektive Zugang zur Bedeutung, etwaeines mythologischen Ausdrucks, sich einer intersubjektiven Vermittlung ver-dankt. Wir können an der Bedeutung eines Ausdrucks, etwa eines Mythos oder

Tradition und Innovation 177

14. Failing u. Heimbrock, Gelebte Religion wahrnehmen, 1998, 292.15. H. Blumenberg, AaM, 185.16. Ebenda.

einer Metapher17, nur teilnehmen »im Modus mitgeteilter Subjektivität, in dererzählten Geschichte«18. Der scheinbar triviale Sachverhalt, dass zwischen unsund einem Ausdruck immer ein Erzählvorgang steht, wir also Mythen, Meta-phern und Symbole immer nur als rezipierte und durch diese Rezeption ge-formte Stoffe vor uns haben, hat gleichwohl gravierende Folgen für die Leicht-gängigkeit der vieldeutigen Ausdruckswahrnehmung. Denn Rezeption istbereits ein selektiver Mechanismus. Tradiert werden kann nur, was sich demKriterium einer »intersubjektiven Übertragbarkeit« fügt. Die Rezeptions-geschichte des Mythos ist deshalb eine Selektionsgeschichte, die um der Über-tragbarkeit willen das vieldeutige Material in die Nähe eines quasi objektivenGeltungszustands versetzt19.Symbolischen Ausdruck als einen Fall von Rezeption zu begreifen, diese TheseBlumenbergs besagt, dass wir »hinsichtlich der elementaren Festlegungen« ineiner Welt leben, in der »die Verfahren schon abgeschlossen, die Einspruchs-fristen abgelaufen, die Akten abgelegt«20 sind. In dieser Perspektive gleicht dieWelt nicht dem unbesetzten Horizont, angesichts dessen sich der sprachlicheAusdruck im Sinne einer »Augenblicksgottverblüffung«21 überhaupt erst for-miert, sondern sie ist die Manifestation einer Überwindung, die diesen Punktschon immer hinter sich hat. Das Problem ist deshalb auch nicht in erster Linieder Variantenreichtum des metaphorischen Ausdrucks, der gegen die »leere«Unbestimmtheit des lebensweltlichen Horizonts die »bestimmte« Unbestimmt-heit22 der Metapher setzt. Das Problem ist in viel größerem Maße die Verfesti-gung einer Bedeutungsvariante, ihr quasi »objektiver Geltungszustand«, auf diedas mythologische oder metaphorische Muster im Zuge seiner Rezeption ge-bracht worden sein kann. Man mag an einem gewissen Punkt der Entwicklung,um bei einem Beispiel Blumenbergs zu bleiben23, überhaupt nicht mehr in der

178 Das Rhetorische als Distanzgewinn

17. Zur genetischen Differenz von Mythos und Metapher äußert sich Blumenberg: »DerMythos trägt die Sanktion seiner uralt-unergründbaren Herkunft, seiner göttlichenoder inspirativen Verbürgtheit, während die Metapher durchaus als Fiktion auftretendarf und sich nur dadurch auszuweisen hat, daß sie eine Möglichkeit des Verstehensablesbar macht.« (H. Blumenberg, Paradigmen, 1960/1998, 112).

18. H. Blumenberg, AaM, 185.19. Für Blumenberg gibt es eine Konsistenz höheren Grades die Geschichten durch Re-

zeption erlangen. Das macht den metaphorischen Realismus »heiliger Texte« aus, jen-seits von »bloßer Widerspruchsfreiheit oder Wahrscheinlichkeit,« (H. Blumenberg,Matthäuspassion, 1988, 37). Kinder insistieren deshalb zu Recht auf der korrekten Ver-sion ihrer Gute-Nacht-Geschichte. Sie wollen die Rotweinflasche im Korb des Rotkäpp-chens, kein Mineralwasser.

20. H. Blumenberg, AaM, 184.21. A. a. O., 186.22. Zu dieser Unterscheidung, vgl. Ph. Stoellger, Metapher und Lebenswelt, 2000, 367 ff.23. H. Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit, 1979, 81.

Lage sein, sich vorzustellen, dass die Natur auch anders gesehen werden könnteals unter dem Blickwinkel der Entzifferbarkeit, der Lesbarkeit der Welt, die sichin der Metapher vom Buch der Natur manifestiert.Doch gelingt dieser Vorgang der scheinbaren »Optimierung« des Ausdrucks-materials im Zuge seiner Rezeption nie vollständig. Die Welt der symbolischenFormen besteht nicht nur aus den »durch das Organ der Rezeption gegange-nen« mythologischen Mustern in ihrer quasi objektiven Geltungen. Die Weltender Symbole sind auch die Welten, die immer wieder neu durch das Organ derRezeption hindurch müssen. Man kann das mit dem prometheischen Thema inZusammenhang bringen, dass wir vor der Aufgabe stehen, »eine Welt zu ma-chen, obwohl schon eine Welt bestand«24. Sosehr die Welt nur eine Kulturweltist, insofern sie die »leere« Unbestimmtheit des lebensweltlichen Horizonteshinter sich gelassen hat, sosehr kann sie nur eine Welt der Kultur bleiben, indemsie die »bestimmte« Unbestimmtheit ihrer Formen wieder zulässt25.Für diese gegenläufige Bewegung der Tradierung des mythischen Bestandes hatBlumenberg die Formel geprägt, dass die Arbeit des Mythos in der Arbeit amMythos26 fortgeführt werden muss. Während die Arbeit des Mythos die Be-stimmtheit meint, die dem Material durch die Rezeption zuwächst, steht dieArbeit am Mythos für die gegenläufige Bewegung, sich von der Unbestimmtheitirritieren zu lassen, die an den Rändern und im Zentrum der vertrauten For-men aufbricht. Die Arbeit am Mythos ist deshalb die Imagination möglichenAndersseins. Sie bringt die Abweichungen ins Spiel, an denen die Regel derVariationsbildung überhaupt erst erkennbar wird. Variation ist aber nur mög-lich, solange die Bestimmtheit der Metapher, die sie im Prozess ihrer Rezeptiongewinnt, nicht zusammenfällt mit der Eindeutigkeit eines Begriffs.Auch im Durchgang durch die Rezeption bleibt die Differenz von Ausdrucks-wahrnehmung und Dingwahrnehmung erhalten. Denn auch die Rezeption imSinne der Arbeit am Mythos kann schon die Metapher nicht in einen abge-schlossenen Ausdruck transformieren. Die »Zurückführung auf Unbestimmt-heit«, die dem mythischen und metaphorischen Ausdruck zu Eigen ist, und dieauch zu den »Eigentümlichkeiten sakraler Texte«27 gehört, bedeutet, dass diemythologischen Muster nie »passgenau«28 sind. Wären sie passgenau, so wärees um ihre Wiederholbarkeit geschehen. Wiederholung setzt nämlich immerauch Veränderbarkeit voraus. Man muss dasselbe anders sagen können, damit

Tradition und Innovation 179

24. H. Blumenberg, AaM, 567.25. Zur trinitarischen Interpretation dieses Sachverhalts, vgl. M. Moxter, KaL, 403 f.26. H. Blumenberg, AaM, 9 ff.27. H. Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit, 1979, 87.28. M. Moxter sieht in dieser Ungenauigkeit auch eine Leistung religiöser Symbole (vgl.

M. Moxter, Ungenauigkeit und Variation, 1999, 200).

es das Gleiche bleibt. Gelänge es daher einer Rezeptionsanstrengung, den Sinn-überschuss, der sich mit der Horizonthaftigkeit des Ausdrucksphänomens ver-bindet, in eine eindeutige Bestimmtheit zu überführen, brächte sich Rezeptiondamit selber zum Erliegen.Die Momente der Metaphernrezeption, Bestimmtheit und Unbestimmtheit,Arbeit des Mythos und Arbeit am Mythos, Formaufbau und Formzerstörung,weisen das rhetorische Verfahren, die Lebenswelt vor einem Hintergrund anUnbestimmtheit zu stabilisieren, als eine dialektische Bewegung der Meta-phernrezeption29 aus. Dabei spielt die rezeptive Struktur eine übergeordneteRolle gegenüber dem produktiven Vorgang. Zwar sind kreative Akte in derSymbolschöpfung und Rollenkonzeption vorauszusetzen, aber die Erfindungeines substitutiven Symbols kann »in der reinen Kreativität doch ohnmächtigund funktionslos bleiben«30. Entscheidend ist, dass dieses Symbol rezipiert undanerkannt werden muss, um bedeutsam zu erscheinen. Es ist die Akzeptanz, dienoch dem unscheinbarsten Symbol eine objektive bzw. »intersubjektive Bedeut-samkeit«31 verleihen kann. Die Erfindung des substitutiven Symbols kann daher»der phantasieärmste Akt von der Welt sein«32. Wenn es zur Anerkennung ge-bracht wird, spielt seine Formqualität kaum eine Rolle: »Anerkennung ist hierso gut wie alles«33.Aber Anerkennung ist eben nur so gut wie alles. Ließe sich dieses Missverhältnisvon Produktions- und Rezeptionsästhetik auch als Optimierungsstrategie derWerbebranche lesen, die beide Bedingungen annähernd perfekt erfüllt, nämlichminimale Erfindungsgabe mit dem Streben nach maximaler öffentlicher Aner-kennung ihrer symbolischen Erfindungen zu verbinden, so stellt sich das Pro-blem der Wiederholung auch auf der Ebene der Tradition. Denn es genügt aufDauer nicht, ein Symbol zur Anerkennung zu bringen, wenn es nicht gelingt, esanerkannt sein zu lassen. Die dafür nötige »Rückführung auf Unbestimmtheit«impliziert eine Irritationsbereitschaft, die dem funktionalen Zugriff auf sym-bolische Formen widerstrebt.

180 Das Rhetorische als Distanzgewinn

29. Zum Rezeptionsbegriff vgl. Th. Erne, Art. Rezeption, 1998.30. H. Blumenberg, AAR, 120.31. Mit dieser Darstellung des Verhältnisses von Produktion und Rezeption »wagt er [Blu-

menberg] sich an die Genese objektiver oder intersubjektiv akzeptierter Bedeutsam-keit« (B. Merker, Bedürfnis nach Bedeutsamkeit, 1999, 86).

32. H. Blumenberg, AAR, 120.33. Ebenda.

3.3 Rhetorik als Stabilisierung und Überschreitung vonAusdruck

Blumenberg profiliert das Rhetorische als »eine Technik, sich im Provisorischenvor allen definitiven Wahrheiten und Moralen zu arrangieren«34, im Kontrastzur morale définitive, von der Descartes annahm, sie im Anschluss an die voll-endete theoretische Naturerkenntnis der Physik in Aussicht stellen zu können.Für die Zwischenzeit aber sah Descartes die morale par provision vor. Sie warvon ihm gedacht als ein Provisorium. Solange die definitive Moral auf sichwarten ließ, sollte »am seit eh und je Verbindlichen«35 festgehalten werden. Des-cartes Vorschlag, die Konvention als Provisorium zu begreifen, weist in eineRichtung, welche die Lebenswelt als »Stätte der Tradition oder ›dumpfer Sit-te‹«36 seit jeher verdächtig macht. In diese Richtung scheint auch BlumenbergsZuordnung der Rhetorik zum Syndrom provisorischer Moral zu gehen. Dochist dieser Schluss nicht zwingend. Die Konzentration auf provisorische Lösun-gen könnte im Gegenteil eine Beweglichkeit im Endlichen im Blick haben, diesich an der rhetorischen Stabilisierung wie Überschreitung alltäglicher Ver-trautheiten wahrnehmen lässt.Von welcher Art die Verlässlichkeit des Rhetorischen ist, ob Stabilität oder La-bilität im Provisorischen einer unzureichend begründeten Lebenspraxis, daszeigt Blumenbergs Analyse der »ikonischen Konstanz«37 des Mythos. Blumen-bergs entscheidende These besagt, dass die gängigen Erklärungen für die immerwieder mit Erstaunen beobachtete Zähigkeit des mythischen Materials, seineBegründungsunbedürftigkeit und Überlebensfähigkeit, auf einer Verwechslungvon »Zeitlosigkeit« und »temporaler Resistenz«38 beruht. Vom Typus der Zeit-losigkeit sind Erklärungen, welche die ikonische Konstanz des Mythos an eineabsolute Vergangenheit binden, etwa im Sinne von Archetypen oder eingebore-nen Ideen, die eine invariante zeitlose Grundstruktur der menschlichen Exis-tenz bezeichnen. Temporale Resistenz dagegen versucht die Konstanz und Zä-higkeit des mythischen Materials aus Bearbeitungs- und Formierungsregeln zuerklären, denen die mythischen Bilder und Geschichten im Zuge ihrer Rezepti-on unterworfen sind.Mythen sind nach Blumenbergs Ansicht deshalb überlebensfähig, weil sie präg-nant sind. Sie sind »so gültig, so verbindlich, so ergreifend in jedem Sinne, dasssie immer wieder überzeugen, sich immer noch als brauchbarster Stoff für jede

Tradition und Innovation 181

34. H. Blumenberg, AAR, 110.35. Ebenda.36. P. Kiwitz, Lebenswelt und Lebenskunst, 1986, 95.37. H. Blumenberg, AaM, 165 ff.38. A. a. O., 178.

Suche nach elementaren Sachverhalten des menschlichen Daseins anbieten«39.Die Prägnanz der Mythen aber verdankt sich keiner natürlichen Qualität desmythischen Materials, sondern der rhetorischen Arbeit, die in der mündlichenPhase ihrer Überlieferung in sie investiert wurde. Die schriftlose Vorgeschichteder Mythen ist die Zeit der »dichteren und intensiveren Erprobung aller Gehalteauf Sicherheit der Wirkung«, und »nichts ist schonungsloser für einen Text alsder mündliche Vortrag, noch dazu vor einem Publikum, das sich ein Fest ma-chen will und diesen Anspruch mit Sachverstand durchsetzt«40.Mündliche Überlieferung, das ist für Blumenberg die unmittelbare Anbindungder metaphorischen Mittel an den Erfolg bei den Rezipienten. Es ist die rheto-rische Situation in nuce. Nicht das Material als solches, sondern seine Bezie-hung auf die Interessen der Hörer, die Wirkung entscheidet über Fortbestandder Geschichten, die der Erzähler zu bieten hat. Die in der rhetorischen Situa-tion gegebene Anbindung der Stoffe an die Wünsche des Publikums fungiert alsein Selektionsprozess. Varianten, die sich gegenüber der Rezeption nicht be-währen, verfallen dem Vergessen. Der bewährte Stoff, der sich in dieser inter-subjektiven Geltungssphäre durchsetzt, wird durch Wiederholung prämiert,nicht nur vom »Erfinder« der Geschichten, sondern am Ende auch von denAutoren, die schriftlich fixieren, was den Zustand der Konstanz erreicht hat.Es findet eine Auslese und Limitierung von Varianten statt. Blumenberg nenntdas zugespitzt ein Stück »Darwinismus der Verbalität«41. In diesem Sinn betrifftdas Rhetorische das Problem der Institutionalisierung, also den Vorgang, Be-deutungen zu stabilisieren und auf Dauer zu stellen durch Selektion von Varia-nten.Allerdings ist die rhetorische Institutionalisierung eines Ausdrucks von andererArt als etwa die dogmatische Verbindlichkeit, die dem Modell des Urteils folgt.Auch »Prädikate sind ›Institutionen‹; etwas Konkretes wird begriffen, indem esaufgelöst wird in seine Zugehörigkeit zu diesen Institutionen«42. Die Konstanzdes Begriffs liegt im Vorgriff auf ein abschließendes Ganzes, die Konstanz derrhetorischen Institutionalisierung dagegen in einem unabschließbaren Prozessder Selektion von Bedeutungsvarianten, die nur mögliche weitere Varianten be-zugsfähig, nicht aber Variation als solche überflüssig werden lässt: »Erst an derKonfiguration als fortbestehender wird die Transfiguration freigesetzt«43.Die Institutionalisierung, also die Konfiguration als eine fortbestehende Aus-druckskonstanz, markiert so die stabile Bedeutung, an der sich die Varianten-

182 Das Rhetorische als Distanzgewinn

39. A. a. O., 166.40. A. a. O., 168.41. A. a. O., 176.42. H. Blumenberg, AAR, 115f.43. H. Blumenberg, AaM, 168.

bildung überhaupt erst abarbeiten kann. Dabei liegt im Begriff der Transfigu-ration ein Moment der Kritik an institutionalisierter Bedeutung. Die Variantewendet sich immer gegen das Gewohnte, Vertraute, das sie aufs Neue zur Dar-stellung bringen will. Man kann dasselbe nur sagen, indem man nicht das Glei-che sagt. Allerdings ist dieses zersetzende und auflösende Potenzial, das sichgegen die institutionalisierte Bedeutung wendet, seinerseits an einen bestimm-ten Ausdruck gebunden. Auch die Transfiguration vertrauter Zeichen und Sym-bole muss sich zum Ausdruck vereinseitigen, will sie sich nicht in inhaltsleererNegativität erschöpfen. Jede Transfiguration fixiert sich zu einer Konfigurationund setzt so neue Transfigurationen frei44.Transfiguration etablierter Bedeutung ist allerdings nicht an irgendeinen, son-dern an den bestimmten Ausdruck gebunden, gegen den sie sich wendet. Dennauch das Neue bedarf der Akzeptanz. Es kann sich deshalb in der Negation desVertrauten nur als dessen Fortbestimmung vollziehen, nicht, oder nur am Ran-de, als originäre Imagination, nicht als Verdrängung des Überbotenen, sondernals dessen Anreicherung. Variantenbildung ist Zuwachs innerhalb von Be-stimmtheit »gegen den Hintergrund der Unbestimmtheit«45, der an jeder Be-stimmtheit neu aufbrechen kann. Insofern ist mit jeder individuellen Aneig-nung von Bedeutungen, die im Zuge ihrer Rezeptionsgeschichte den Zustand»quasi objektiver Geltung« erreicht haben, das Wagnis verbunden, ob die indi-viduelle Variante auch in der Sphäre intersubjektiver Geltung – und das heißt,ob sie auch als Variante dieser bestimmten Geschichte – ihre Anerkennung fin-den wird.

Tradition und Innovation 183

44. Vgl. dazu unten Kap. V. Kirche als »Erzählgemeinschaft«.45. H. Blumenberg, AaM, 187.

4. Schlussreflexion

4.1 Gelebte Religion. Zur Konjunktur eines Begriffs

Der Begriff der »gelebten Religion«, der die im Alltag vorkommenden, vielfäl-tigen Formen einer individuellen Frömmigkeit meint, hat in der protestanti-schen Theologie der Gegenwart Konjunktur. Das macht schon die zunehmendeAnzahl von Publikationen deutlich, in denen dieses Thema eine gewichtige Rol-le spielt, in der Praktischen1 wie auch in der Systematischen Theologie2. Ohnedamit den Anspruch zu erheben, eine präzise begriffsgeschichtliche Genealogiezu bieten, lässt sich mit dem Thema der gelebten Religion unschwer ein Grund-motiv der Theologie Schleiermachers verbinden. In solchen Vollzügen aktualerReligiosität nimmt Schleiermachers Denken seinen Ausgangspunkt. Die mate-rialen dogmatischen Teile der Glaubenslehre, wie auch die vorgeschaltete Ex-plikation des frommen Selbstbewusstseins, dienen der Darstellung und der Be-mühung um Selbsttransparenz eines vorausgesetzten Frömmigkeitsvollzuges.Dogmatik und Religionsphilosophie stehen im Dienst der gelebten Religion,die sie weder begründen noch generieren, sondern verständlich und intersub-jektiv zugänglich machen sollen.

1. Exemplarisch seien genannt, W.-E. Failing u. H.-G. Heimbrock, Gelebte Religionwahrnehmen, 1997; K.-Fechtner/H. Haspel (Hrsg.), Religion in der Lebenswelt derModerne, 1998; W. Gräb, Lebensgeschichten, Lebensentwürfe, Sinndeutungen. Einepraktische Theologie gelebter Religion, 1998; H. Luther, Religion und Alltag. Baustei-ne zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, 1992; J. Hanselmann/D. Rössler,Gelebte Religion. Fragen an wissenschaftliche Theologie und kirchenleitendes Han-deln, 1978; A. Grözinger/J. Lott (Hrsg.), Gelebte Religion im Brennpunkt praktisch-theologischen Denken und Handelns, 1997.

2. Falk Wagner redet anstelle des Begriffs »gelebter Religion« der Sache nach identischvon »undogmatischer Religiosität,« (F. Wagner, Zur gegenwärtigen Lage des Protes-tantismus, 1995, 11-69); weiterhin seien für die Systematische Theologie einige Ent-würfe genannt, in denen das Religionsthema eine gewichtige Rolle spielt: J. Dierken,Glaube und Lehre im modernen Protestantismus. Studien zum Verhältnis von religiö-sem Vollzug und theologischer Bestimmtheit bei Barth und Bultmann sowie Hegelund Schleiermacher, 1996; D. Korsch, Religion mit Stil. Protestantismus in der Kul-turwende, 1997; U. Barth, Was ist Religion? 1996, 538-560; I. U. Dalferth, Kom-binatorische Theologie. Probleme theologischer Rationalität, 1991; M. Moxter, Kul-tur als Lebenswelt, 2000.

Mit Schleiermachers »epochaler Entdeckung der Funktionalität der dogma-tisch-theologischen Lehrstücke« verbindet sich »eine Befreiung des gelebten re-ligiösen Glaubens von dem Gängelband einer stets ungeschichtlichen, dogma-tisch-unmittelbaren Normativität«3. Diese Befreiung des religiösen Lebens vondogmatischen Vorgaben nimmt allerdings unter den Bedingungen der ausdif-ferenzierten modernen Gesellschaft eine andere Form an, als sie bei Schleierma-cher intendiert war. Während für Schleiermacher Frömmigkeitsvollzug undFrömmigkeitsdeutung, in klassischer Terminologie, fides quae und fides quacreditur, zwar irreduzibel unterschieden, aber doch nicht von einander zu tren-nen sind, zerfällt in der modernen Gesellschaft diese Gesamtperspektive in einbinnenkirchliches Christentum und die private Religiosität von Einzelnen.Es ist dieses Auseinandertreten in einen »dogmatischen Glauben« und eine»undogmatische Religiosität«4, in eine kirchliche Frömmigkeit, die sich der Zu-stimmung zu den dogmatischen Lehrformeln verdankt und einer individuali-sierten Frömmigkeit, die dem subjektiven Lebensvollzug geschuldet ist, das dieerstaunliche Resonanz und Attraktivität des Themas der gelebten Religion inder modernen Theologie ausmacht. Diese Resonanz schließt die Einsicht ein,dass Religiosität und kirchlich organisiertes Christentum auch soziologischnicht mehr deckungsgleich sind, was durch kirchensoziologische Studien5 er-härtet und von Dietrich Rössler mit seiner These von der dreifachen Gestalt desneuzeitlichen Christentums auf den Begriff gebracht wurde. Mit »gelebter Reli-gion« verbindet sich eine Pluralität individueller religiöser Vollzugsformen, einweites Feld multi-kultureller, multi-religiöser Synkretismen, durchsetzt vonchristlichen Gehalten, die eines gemeinsam haben: Es sind Vollzugsformen in-dividueller Frömmigkeit, die sich einer verbindlichen Regulierung ihres Ver-hältnisses zu einer transzendenten Instanz durch eine dogmatisch ausgerichtetekirchliche Institution verweigern.Diese Diagnose der Religion in der Moderne ist in der Tat unbefriedigend. Aufder einen Seite stehen individuelle Vollzugsformen von Religiosität, die sich derSelbstreflexion und Selbstbesinnung im Namen der »Lehre« entziehen und aufder anderen Seite steht ein dogmatisch verfasstes Christentum, das auf die Viel-falt individueller Religiosität mit größtmöglicher Eindeutigkeit seiner dogma-tischen Bestände reagiert, und das um den Preis, »die Befreiung« des religiösenVollzugs von dogmatischer Normativität zu sistieren. Auf diese Problemlagereagieren verschiedene systematische Entwürfe, die eine Alternative zu demAuseinandertreten von liberaler Religionskultur und dogmatischem Christen-tum zu formulieren versuchen.

Schlussreflexion 185

3. J. Dierken, Glaube und Lehre, 1996, 408.4. F. Wagner, Zur gegenwärtigen Lage des Protestantismus, 1995, 51 ff.5. Vgl. H. Barz, Religion ohne Institution? 1992.

Exemplarisch sei Jörg Dierken genannt, der programmatisch bei der Relationvon Glaube und Lehre als einem »strukturellen Grundproblem der Theologie«6

einsetzt. Schon die einleitenden Bemerkungen machen deutlich, dass auch derGlaubensvollzug, sofern es dabei um eine subjektive Gewissheit geht, nichtohne ein Wissen auskommt, sowenig das Glaubenswissen ein solches sein kann,ohne vollzogen zu werden. Die These, dass zwischen theologischer Lehre undsolchen Vollzügen, die mit gelebter Religion umschrieben sind, »eine nicht zutilgende kategoriale Differenz waltet, obgleich beide Faktoren auch nicht von-einander separiert werden können«7, zielt auf eine Verschränkung von auto-nomem Vollzug im Namen gelebter Religion und reflexiver Selbstbestimmungim Namen der Lehre. Dabei geht es Dierken darum, den Reflexionsbedarf, deran gelebter Religion selber aufbricht, zu bearbeiten und der Freiheit, die sich indieser Form individueller Selbsterfassung ausspricht, eine Form der Begrün-dung zu geben, die im Gottesgedanken als Grund solcher Freiheit gipfelt. Da-mit wird weder einer normativen Eindeutigkeit der Lehre, noch einer unreflek-tierten Beliebigkeit der religiösen Vollzüge das Wort geredet. Dierken, der vonder neuzeitlichen Pluralität gelebter Religion ausgeht, empfindet es gleichwohlals unabweisbares Desiderat, diese Religiosität in ihrer Vielfalt auch zu bestim-men8. Sein Ansatz ist deshalb als eine »meta-theoretische Bemühung um diepraktisch gelebte Religion« konzipiert, die in deren eigenem Interesse auf »dieGrundlegung der Geltung des Religionsvollzugs«9 abzielt.Damit zeichnet sich für die systematische Theologie das Programm ab, im An-schluss an Grundmotive Schleiermachers, aber auch Hegels, sowie Wahrheits-momente der Kritik der dialektischen Theologie am Neuprotestantismus, dasAuseinandertreten von gelebter Religionspraxis und dogmatischem Wissen ineiner komplexen Vermittlungsstruktur so zu bearbeiten, dass gelebte Religionund reflexive Selbstbestimmung, Frömmigkeitsvollzug und Frömmigkeits-bestimmtheit in eine neue Form protestantischer »Selbstdeutungskultur«10

überführt werden können.

186 Das Rhetorische als Distanzgewinn

6. J. Dierken, Glaube und Lehre, 1996, 2.7. Ebenda.8. In diese Problemstellung lässt sich auch Dietrich Korsch einordnen. Seine These

lautet, »daß es gerade unter der Bedingung des Funktionswandels der Kultur in derGegenwart [Pluralität] angezeigt ist, gesellschaftliche Selbstverständigung und religiöseSelbstaufklärung miteinander zu verknüpfen« (D. Korsch, Religion mit Stil, 1997, VI;Zusatz in eckiger Klammer von mir).

9. J. Dierken, Glaube und Lehre, 1996, 436.10. Der Begriff der Selbstdeutungskultur (U. Barth, Was ist Religion? 1996, 552) steht im

Zentrum von Ulrich Barths Ansatz, die weitgefächerten Phänomene der Religion inden gedanklich ausweisbaren Zusammenhang einer Theorie des religiösen Bewusst-seins zu stellen.

4.2 Das Interesse der Praktischen Theologie angelebter Religion

Für die Praktische Theologie hat die neuzeitliche Ausdifferenzierung des Chris-tentums in öffentliche, kirchliche und private Religion des Einzelnen konstitu-tiven Charakter. Denn im Horizont dieser Unterscheidung gewinnt die Prakti-sche Theologie ihr spezifisches Thema: die Praxis der gelebten Religion, alsoderjenigen Vollzugsgestalt von Frömmigkeit, die im Alltag von Einzelnen gelebtund die den institutionalisierten Formen der Kirche zugrunde liegt. PraktischeTheologie ist insofern »ein spezifisch neuzeitliches Produkt«11, als sie die neu-zeitliche Differenzierung in Lehre und gelebte Religion, kirchlich organisiertesChristentum und Frömmigkeitsvollzug im Alltag von Individuen, als ein gesell-schaftliches Phänomen voraussetzt. Ihrem Selbstverständnis nach gewinnt siemit dieser Unterscheidung ein eigenständiges Profil. Sie ist die Theorie jenerPraxis, die durch eine wesentliche Mehrdeutigkeit und einen untilgbaren Sinn-überschuss charakterisiert ist. Diese neuzeitliche Konstitution der PraktischenTheologie als Theorie einer mehrdeutigen Religionspraxis wird in der Debatteum das Selbstverständnis der Praktischen Theologie missverständlich als »em-pirische Wende«12 bezeichnet. Gemeint ist die »Abwendung vom Modell der An-wendungswissenschaft« seit den 60er Jahren und die damit verbundene Aufgabe,die »Durchdringung der Praxis als eigenständige Theorie auszuformulieren«13.Methodisch orientiert sich die Praktische Theologie für die Lösung dieser Auf-gabe an denjenigen Theorien, in denen generell die lebensweltliche Praxis ihrereflektierte Selbstthematisierung und Selbstdeutung gefunden hat – den funk-tionalen Ansätzen der Soziologie. Denn diese machen in Form der Religions-soziologie die religiösen Phänomene in der Gesellschaft auf eine solche Weisezum Thema, dass der Sinn subjektiver religiöser Handlungen verobjektiviertund Religion in ihrer Funktion für den Alltag und für die gesellschaftlicheWirklichkeit ansichtig wird. Trotz einer gewissen Spannung zwischen funktio-nalen Religionstheorien und dem praktisch-theologischen Anspruch, dass Re-ligion gelebte Religion von Einzelnen sein soll, sind unter den religionssoziolo-gische Theorien14 vor allem die funktionalen Theorien attraktiv. Funktionale

Schlussreflexion 187

11. V. Drehsen, Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen, 1990, 613.12. Zum Begriff der empirischen Wende in der Praktischen Theologie liegt eine Studie vor

von J. van der Veen, Entwurf einer empirischen Theologie, 1990; außerdem ist hin-zuweisen auf H.-G. Heimbrock, Empirische Hermeneutik, 1993, 49-67.

13. W.-E. Failing u. H.-G. Heimbrock, Auf dem Weg zu einer methodologischen Neu-orientierung, 1996, 159.

14. Einen Überblick über soziologische Theorien, die für die Religion und ihre Kritik auf-schlussreich sind – die Ansätze reichen von Durkheim, Simmel, Weber über Mali-nowski, Parsons bis zu Berger/Luckmann und Luhmann –, geben K. W. Dahm/

Religionstheorien versprechen der Praktischen Theologie nicht nur Anschluss-fähigkeit an sozialwissenschaftliche Theorien15, sondern sie öffnen auch dasThemenspektrum der Praktischen Theologie durch einen, allerdings nicht un-problematischen Akt der Fremdidentifikation16. Im Blick auf ihre Funktionkönnen Verhaltensweisen und Vorstellungen als religiös betrachtet werden, andenen ihr religiöser Charakter überhaupt nicht mehr explizit in Erscheinungtritt. Mit dieser Differenz von »impliziter« und »expliziter« Religion17 erweitertsich zwar der Themenbereich der Praktischen Theologie, aber um den Preiseiner »Verflüchtigung der Religion ins Religiöse«18. Was dann am Ende nochals Religion gelten kann, das ist nur noch dem religionstheoretisch gebildetenBetrachter zugänglich.Der Fortgang der Debatte um die Methode der Praktischen Theologie in Blickauf die Religionspraxis, die ihr Thema ist, wird daher durch den Einwand aus-gelöst, dass die »Irritation«19, die von der Unbestimmtheit der Lebenswelt aus-geht, in funktionaler Theorien nur als zu behebende Störung behandelt wird,die funktionale Betrachtung also einer Reduktion lebensweltlicher Phänomenegleichkommt20. Das Problem ist, paradox gesagt, gerade die hohe Erklärungs-leistung funktionaler Theorien, die das, was notwendigerweise unvollständigund uneindeutig bleiben müsste, angeblich vollständig und funktional eindeu-

188 Das Rhetorische als Distanzgewinn

V. Drehsen/G. Kehrer (Hg.), Das Jenseits der Gesellschaft. Religion im Prozess sozi-alwissenschaftlicher Kritik, 1975; außerdem H. Kippenberg, Art. Religionssoziologie,1998, 20-27.

15. Das heißt nach Volker Drehsen nicht notwendigerweise sich als Theologe willfähriganzupassen. Vielmehr verhält sich Praktische Theologie »gegenüber der sozialwissen-schaftlichen Religionstheorie teils optierend, teils diese selbst produzierend« (V. Dreh-sen, Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen, 1990, 614).

16. An der Möglichkeit solcher Fremdidentifikation von implizit religiösen Phänomenenorientiert sich eine Form der Kulturtheologie, die, wie Günter Thomas dies in seinerumfangreichen Studie vorführt, »unvermutete, inexplizite, aber dennoch öffentlicheTransformationen von Religion in der kulturellen Umwelt« (G. Thomas, Medien, Ri-tual, Religion, Klappentext) beobachtet, und folglich das Fernsehen als eine profaneLiturgie mit religiöser Färbung identifiziert.

17. Vgl. D. Rössler, GPT, 70.18. H. Knoblauch, Die Verflüchtigung der Religion ins Religiöse, in: T. Luckmann, Die

unsichtbare Religion, 31996, 7-41.19. W.-E. Failing u. H.-G. Heimbrock, Auf dem Weg zu einer methodologischen Neu-

orientierung, 1996, 162.20. Dieses Unbehagen an einer funktionalen Religionstheorie bringt Jürgen Habermas

gegenüber Niklas Luhmann in scharfer Form vor: »Eine ähnliche Ausdifferenzierungzu einem, wie N. Luhmann es sieht, auf Kontingenzbewältigung spezialisierten gesell-schaftlichen Subsystem, würde die Religion nur um den Preis der vollständigen Neu-tralisierung ihrer Erfahrungsgehalte stabilisieren« (J. Habermas, Texte und Kontexte,21992, 147).

tig bestimmen. Können denn Handlungen überhaupt verlustfrei aus den Hori-zonten der Lebenswelt abgelöst werden, vom Hintergrund an selbstverständli-chen Gewohnheiten und unausgesprochenen Vertrautheiten, vor dem das Han-deln für die Akteure erst als sinnvoll identifizierbar wird?21

Ein funktionales Verständnis gelebter Religion beantwortet diese Frage in derRegel positiv. Für dieses sind die individuellen Gewohnheiten und Gepflogen-heiten, in die Handlungen eingebettet sind, der Inbegriff von undurchschautenVorurteilen, die in einer funktionalen Rekonstruktion der gelebten Religionaufgelöst werden. Lebenswelt wird, wie das zumindest beim frühen Habermas22

der Fall ist, als eine Ressource verstanden, ein Fond an Vorvertrautheit, der imZuge einer reflexiven Interpretation der Lebenspraxis in kommunikative Ver-nunft überführt werden kann und muss.Anders stellt sich das Problem freilich dar, wenn die phänomenologische Ein-sicht in den unhintergehbaren Horizontcharakter der Lebenswelt aufgegriffenwird. Diese Einsicht besagt, dass die Lebenswelt, in die Handlungen eingebettetsind, nicht nur den Charakter eines vorgegebenen Fundamentes hat, das sichreflexiv thematisieren und so auch auflösen ließe, sondern immer auch einenmitgegebenen Horizont darstellt, der sich im Rücken jeder Thematisierung vonLebenswelt wieder einstellt. Jede reflexive Rekonstruktion von Handlungssinnist, sofern sie wieder auf Handlung abzielt, in einen solchen, wenngleich nichtimmer denselben, unthematischen Horizont eingebettet. Jeder Versuch, denHintergrund und die selbstverständlichen Voraussetzungen von Handlungenzu erhellen, also die lebensweltliche Genese von Handlungssinn zu erheben,muss mit neuen Fraglosigkeiten rechnen, die sich im Rücken dieser Themati-sierung der Lebenswelt einstellen. Lebenswelt als Mitgegebenes zu begreifen,bedeutet, dass »folglich jeder Versuch, sie auszuleuchten (sie verständlich zumachen), neue blinde Flecken erzeugen muss«23.Das Thema der Praktischen Theologie, die gelebte Religion im Verhältnis zurmanifesten, ist deshalb von einer untilgbaren Uneindeutigkeit gekennzeichnet.

Schlussreflexion 189

21. Damit ist, wie Ulrich Barth bemerkt »in der Tat ein echtes Problem berührt,« dassich allerdings noch nicht dadurch erledigt, dass eine, aber nicht die einzige Alternativezu einem funktionalen Zugang, die Barth benennt, nämlich die empirische Religion»substantialistischen und damit letztlich positionellen theologischen Kriterien zu un-terwerfen« (U. Barth, Was ist Religion? 1996, 539) als unbefriedigend verworfen wird.Vgl. J. Matthes, Volkskirchliche Amtshandlungen, 1975, 85 und sein Hinweis auf die»asymmetrische Perspektivität« von Kirche und gelebter Religion.

22. Anders stellt sich laut Düringer das Verhältnis zur Lebenswelt und damit auch zurgelebten Religion beim späten Habermas dar (vgl. H. Düringer, Universale Vernunftund partikularer Glaube, 1999, 326-327).

23. M. Moxter, KaL, 282.

Es muss in ihr mit einer »Spannung von sich Zeigendem und sich Verbergen-dem gerechnet werden«24.Man kann zwar die unausdrücklichen Selbstverständlichkeiten im Hintergrundder jeweiligen Situation reflexiv erhellen und sie damit ihrer Unausdrücklichkeitentkleiden, aber nie alle auf einmal. In diesem Sachverhalt eines unhintergeh-baren Mitgegebenseins der Lebenswelt hat der Vorschlag, das Methodenreper-toire der Praktischen Theorie um einen »phänomenologischen Wahrnehmungs-modus« zu erweitern, seinen argumentativen Rückhalt.Eingesetzt wird dannnicht bei empirischen Sachverhalten, eingesetzt wird vielmehr bei einer nurmehr deskriptiv zu erfassenden »Vielfalt«25, die sich aus der Einbettung derPhänomene in unterschiedliche lebensweltliche Horizonte ergibt. Gelebte Reli-gion ist eben nicht an eine, allen gemeinsame, Lebensform, sondern an partiku-lare Lebensformen gebunden26.Damit wird der lebensweltliche Hintergrund nicht jeder kritischen Reflexionentzogen, aber es wird doch behauptet, dass es ein Hintergrund an Traditionenist, »an denen wir arbeiten«27, ohne ihr Sinnpotenzial jemals völlig auszuschöp-fen. Das bedeutet nicht notwendigerweise eine völlige Revision der bisherigenMethoden, einen erneuten Paradigmenwechsel in der Praktischen Theologievon der »Handlungstheorie zu einer Wahrnehmungstheorie«28, aber doch eine,wenn nicht exklusive, so doch unverzichtbare Ergänzung des methodischen Zu-gangs zur Religion in den Lebenswelten, mit der die Praktische Theologie aufsystematische Ansätze29 reagiert, welche die Pluralität der modernen Kultur mitdem Reflexionspotenzial der Theologie zu vermitteln suchen. Mit dem Stich-wort der »Wahrnehmung« reagiert die Praktische Theologie auf die unhinter-gehbare Horizonthaftigkeit der Lebenswelt in ihrer Vielfalt und Spezifik. Denn»das Phänomen der Lebenswelt erzwingt eine Betrachtungsweise, die den An-

190 Das Rhetorische als Distanzgewinn

24. W.-E. Failing u. H.-G. Heimbrock, Gelebte Religion wahrnehmen, 1998, 35.25. Ebenda.26. »Daß wir in mehr als einer Welt leben« nennt Hans Blumenberg die Formel für die

»philosophische Erregung dieses Jahrhunderts« (H. Blumenberg, Wirklichkeiten indenen wir leben, 1981, 3).

27. B. Waldenfels, In den Netzen der Lebenswelt, 1986, 110.28. W.-E. Failing u. H.-G. Heimbrock, Gelebte Religion wahrnehmen, 1998, 34.29. Michael Moxter zieht deshalb für die systematische Theologie die Konsequenz, die

theologische Reflexionsarbeit auf diesen pluralen Untergrund zu beziehen und Kulturprogrammatisch als Lebenswelt (M. Moxter, Kultur als Lebenswelt, 2000) zu begrei-fen. Charakteristisch ist, dass dieser Ausgang von der Kultur im Sinn von vielfältigenund höchst spezifischen Horizonten eine Letztbegründung des Religionsvollzugs imGottesgedanken dezidiert ausschließt, wie das etwa J. Dierken vorträgt (vgl. J. Dier-ken, Glaube und Lehre, 1996).

spruch apriorischer Konstitution der Erfahrungswelt in dem Maße abbaut, indem sie die Einbettung in kulturelle Vorgängigkeiten deskriptiv erfasst«30.Allerdings gilt nun auch für den Vorgang der Wahrnehmung, dass er Bestand-teil »desgleichen kulturellen Zusammenhangs ist, in dem das, was man erhebt,möglich wird«31. Wahrnehmung kann deshalb nicht die methodische Grund-operation32 sein, die jenseits der Ambivalenz der Phänomene, auch der religiö-sen, ein eindeutiges Fundament für den Aufbau einer Kulturtheorie liefert.Denn als Vorgang ist Wahrnehmung ihrerseits eingebettet in Horizonte, diesie selbst nicht wahrnehmen kann. Das basale kulturtheoretische Phänomenist daher nicht der Vorgang der Wahrnehmung, sondern vielmehr der Zusam-menhang von Präsenz und Appräsenz33, das Ineinander von Sinnerfahrung undSinnhorizont, das die Wahrnehmung von etwas als etwas ermöglicht. Für allekulturellen Formen, auch für die der Religion, bleibt deshalb eine Ambivalenzunvermeidbar, ein »Unbehagen in der Kultur«34, das in allen kulturellen Mani-festationen mit einem Verdrängten rechnet, einem Abwesenden, das den Bli-cken entzogen bleibt und doch als ein Mitgegebenes ständig in dieser Kulturgegenwärtig ist.

Schlussreflexion 191

30. M. Moxter, KaL, 281; Hervorhebung von mir.31. J. Matthes, Auf der Suche nach dem Religiösen, 1992, 140. Joachim Matthes’ These,

Religion als »diskursiven Tatbestand« zu begreifen, sucht gerade eine solche naiveWahrnehmung zu unterlaufen, die blind ist gegenüber ihrer eigenen kulturellen Codie-rung. Im Vordergrund steht bei Matthes deshalb weniger die gesellschaftliche Kons-truktion von Religion, das »kulturelle Konstrukt« (U. Schwab, Familienreligiosität,32), als die kulturelle Codierung der Wahrnehmung von Religion. Nicht der Umstand,dass jeder Beobachter konstruktiv beteiligt ist am Zustandekommen dessen, was erwahrnimmt, sondern dass er, indem er etwas wahrnimmt, einen Hintergrund an un-durchschauten Selbstverständlichkeiten ausblendet, das scheint mir die Pointe vonMatthes’ »Suche nach dem Religiösen« zu sein. Was muss denn im Hintergrund ge-schehen sein, damit, um das Beispiel von Joachim Matthes zu zitieren, eine Sicht-weise möglich wird, die es für normal hält, nicht religiös zu sein? So antwortet einejunge Frau aus der DDR auf die Frage, ob sie ein religiöser Mensch sei: »Nein, eigent-lich nicht, ich bin eigentlich ganz normal« (J. Matthes, Auf der Suche nach dem Reli-giösen, 1992, 140).

32. Es geht nicht nur um die Wahrnehmung von Phänomenen, bei denen mit einer Span-nung von sich Zeigendem und sich Verbergendem gerechnet wird, sondern Wahrneh-mung selbst ist von dieser Spannung betroffen. Das Problem sind deshalb nicht nur diein der Wahrnehmung »wirksamen gesellschaftlichen Mechanismen« (W.-E. Failing u.H.-G. Heimbrock, Gelebte Religion wahrnehmen, 1998, 35).

33. Vgl. zu diesem Verhältnis von Präsenz und Appräsenz als Problem der Sprache, P. Ri-coeur, Versuch über Freud, 1969; vgl. auch unten Kap. IV. 3.3.

34. »Das Krokodil lebt noch mit uns«, so lautet die instruktive und plastische Metapher,die Sigmund Freud für dieses Unbehagen findet (S. Freud, Das Unbehagen in derKultur, 1939/1978, 370).

4.3 Religion, Alltag und das Rhetorische

Die gängige Perspektive, mit der die Praktische Theologie »Religion und Alltag«thematisiert, ist die einer »topographischen Zusammenordnung«35. Religionund Alltag werden als zwei getrennte Bereiche behandelt, die für die PraktischeTheologie eine Fülle an Fragen der Zuordnung aufwerfen36. Im Anschluss anBlumenberg legt sich aber eine andere, phänomenologische Perspektive auf die-sen Problemzusammenhang nahe. »Alltag als Lebenswelt«37 bezeichnet nichtnur den Ort, an dem die private Religiosität, die aus der Kirche ausgewandertist, eine neue Heimat findet. Er ist nicht nur Kontext für kleinere und mittlereTranszendenzen, mit denen sich Religion am Aufbau der gesellschaftlichenWirklichkeit beteiligt. Alltag meint vielmehr die mitgegebenen Horizonte reli-giöser Sinndarstellungen, also dasjenige, was im Hintergrund der religiösenKommunikation und Praxis als Sinnüberschuss in Geltung steht. Mit dieserVerschiebung der Aufmerksamkeit von der Religion im Alltag auf den Alltagder Religion wird nicht das Recht bestritten, sich auf die Suche nach einemreligiösen Alltag zu machen. Angesichts des Auseinandertretens von privatenund institutionalisierten Formen der Frömmigkeit, einer unübersehbaren »Mi-grationsbewegung« aus tradierten kirchlichen Formen, ist eine Auskunft, »wo-hin jene Religiosität ausgewandert ist«38, nur von einer alltagsorientierten Ana-lyse der Religion zu erwarten. Aber wenn es in dieser Situation darum geht, die»Vielfalt der produktiven Chancen einer realitätsgerechten, biografienahen undzukunftsfähigen Christentumspraxis aufzuspüren«39, dann gehört zu diesenproduktiven Chancen auch die Arbeit an den religiösen Symbolwelten.Diese Perspektive auf den Alltag der Religion, auf die Phänomene des Religiö-sen in ihren lebensweltlichen Horizonten, berührt aber auch die Frage nach derBeziehung der Religion zur Kultur insgesamt. Fokussiert man das Religiöse imIneinander von Formaufbau und Formzerstörung, dann ist Religion, indem sie,in der ihr eigenen gesteigerten Weise, diesem Problem der Darstellung von Sinnfolgt, zugleich auf ein Phänomen bezogen, das jede Darstellung von Sinn, auchin anderen Symbolwelten, betrifft. Der Umstand, dass jeder Sinn des Ausdrucksbedarf, der Vereinseitigung in einer manifesten Form, zugleich aber die Darstel-lung »in ein und demselben geistigen Akt, diese Bindung eingehen und sie zu-gleich überwinden«40 muss, wird in der christlichen Religion vollzogen und be-

192 Das Rhetorische als Distanzgewinn

35. H. Streib, Alltagsreligion, 1998, 23.36. Heinz Streib (vgl. a. a. O., 24) schnürt ein ganzes Bündel an Fragen zum Verhältnis

von Religion und Alltag.37. Zu den Gründen, die für diese Sicht von Alltag sprechen, vgl. Kap. I.38. H. Streib, Alltagsreligion, 1998, 25.39. V. Drehsen, Wie religionsfähig ist die Volkskirche? 1994, 11.40. E. Cassirer, Nachgelassene Manuskripte und Texte, 1995, 19.

wusst gemacht. Man könnte deshalb sagen, indem die Christentumspraxis beiihrer Sache bleibt – in der Sprache Rösslers: beim Zusammenhang von mani-fester und gelebter Religion – ist auch ihre Beziehung auf die Vielfalt andereralltäglicher Sinnkonstruktionen, bereits mit im Blick. Religion ist dann zwarnicht überall, aber sie ist mit dem Vollzug und spezifischen Bewusstsein derDifferenz von Darstellung und Dargestelltem für alle anderen Symbolweltenrelevant.Das Ineinander von gelebter Religion und vertrauten Symbolen und Ritualenbeschreibt eine Spannung von »sich Zeigendem und sich Verbergendem«41. ImSinne von Blumenberg kann man sagen, dass der Zusammenhang von gelebterund manifester Religion ein Hinweis ist auf diejenigen Selbstverständlichkeiten,die in der religiösen Lebenspraxis in Geltung stehen, damit das Leben erträglichbleibt, und er ist zugleich der Hinweis auf einen Sinnüberschuss, der den stabi-len Horizont religiöser Vertrautheiten irritiert. Das Rhetorische religiöser Sinn-darstellung liegt folglich nicht nur darin, ein explizites Einverständnis über diemitlaufenden Hintergrundgewissheiten zu ermöglichen, sondern auch durchimaginative Suggestionen das Übermaß an Fraglichkeit, das an den Rändernund im Zentrum der Lebenswelt aufbricht, abzublenden. Es ist eine Leistungdes Rhetorischen, die Fragen nach dem, was selbstverständlich bleiben kann inSituationen, in denen gehandelt werden muss, überflüssig zu machen. Wer etwadie Frage nach den vernünftigen Gründen für die Geltung eines Ritus aufwirft,der »hat sich verlaufen«42. Rhetorisch ist die gelebte Religion darin, dass sie denHorizont des Selbstverständlichen stabil hält und Vertrautheiten im Alltags,wenn nicht »kittet«43, so doch »partiell restituiert«44. Als Phänomen des Rheto-rischen hat es die Religion aber auch mit ihren eigenen Fremdheiten zu tun,dem verdeckten im manifesten Sinn, den noch nicht aktualisierten Varianten,die den bestehenden Konsens irritieren.Als eine solche rhetorische Eindämmung von Kontingenz ist die gelebte Religi-on einer Interpretation als Schöpfungswirklichkeit zugänglich. Die rhetorischeAbschirmung lebensweltlicher Vertrautheit im Namen der Religion lässt denAlltag als die Welt ansichtig werden, die uns gegeben ist, ohne dass wir für sieaufkommen können und müssen. Allerdings kann diese Deutung nur gehalt-voll sein, wenn die rhetorische Abschirmung lebensweltlicher Vertrautheitnicht als »Urvertrauen«45 verstanden wird, eine apriorische Voraussetzung, auf

Schlussreflexion 193

41. W.-E. Failing u. H.-G. Heimbrock, Gelebte Religion wahrnehmen, 1998, 35.42. D. Rössler, VdR, 29.43. I. Mörth, Lebenswelt und religiöse Sinnstiftung, 1986, 132.44. B. Merker versteht die partiellen Wiederherstellung der Lebenswelt als vorrangige

Funktion der Kultur (vgl. B. Merker, Bedürfnis nach Bedeutsamkeit, 1999, 82).45. W. Härle, Dogmatik, 1995, 513. Die psychologische Kategorie des Urvertrauens bei

Erikson wird von Wilfried Härle im religiösen Sinn des Wortes als Glaube, »die

die sich die theologische Deutung als festes Fundament beziehen könnte. Viel-mehr besagt der Horizontcharakter dieser rhetorischen Abschirmung, dass essich nur um eine vorläufige Ordnung handelt, die, indem sie Handlungsalter-nativen aus dem Horizont des Handelns ausblendet, diese als mitgegebenenverdeckten Sinn präsent hält. Die Irritation, die von diesem Sinnüberschussauf die Horizonte lebensweltlicher Gewissheit ausgeht, ist nicht nur Ausdruckdes (unbestimmten) Chaos, das alle Formen der Kultur ständig bedroht, son-dern auch ein Moment an »bestimmter (gutartiger) Unbestimmtheit«46, dessenSymbolsysteme bedürfen, um fortzubestehen.Für die gelebte Religion als einem rhetorischen Phänomen der Distanzierungund Eindämmung von Kontingenz ist deshalb nicht nur die Erfahrung von Ver-trautheit, sondern auch von Fremdheit charakteristisch. Es ist ein Ineinandervon Vertrautheit und Fremdheit, von Horizontabschirmung und Horizont-überschreitungen, das durch die religiösen Metaphern und Symbole mobilisiertwird. In diesem Zusammenspiel, einerseits von Suggestionen, die eine Schutz-funktion erfüllen, und andererseits eines mitpräsenten Sinnüberschusses, derzum Einrücken in immer neue Horizonte nötigt, ist die gelebte Religion alsPhänomen des Rhetorischen der Unterscheidung von Gesetz und Evangeliumzugänglich. Mit Gesetz verbindet sich nicht nur die Erfahrung der Erstarrung inOrdnungen des Lebens, sondern auch die Flucht vor solchen Ordnungen, undmit Evangelium nicht nur die Überschreitung, sondern auch der Vollzug sol-cher Formen, in denen sich das Leben gegeben ist.Gelebte Religion als ein rhetorisches Phänomen zu beschreiben ist ein Vor-schlag, die religiösen Symbole und Rituale im Sinn der Differenz zweier auf-einander bezogener Relate, von Metapher und Begriff, von Arbeit des Be-nennens und der kritischen Reflexion47 zu begreifen. Unter dem Titel des

194 Das Rhetorische als Distanzgewinn

grundlegende Erfahrung, auf der alles andere aufbaut«, interpretiert, ohne »daß es [dasVertrauen auf Gott] deswegen mit dem Urvertrauen identisch wäre« (a. a. O., 514. Zu-satz in eckiger Klammer von mir).

46. Zur Unterscheidung von leerer (unbestimmter) und gutartiger (bestimmter) Unbe-stimmtheit, vgl. M. Moxter, Ungenauigkeit und Variation, 1999, 196; außerdemPh. Stoellger, Metapher und Lebenswelt, 2000, 367, 381, 385.

47. Die Religionspraxis ist deshalb der Beziehung auf Lehre und theologische Reflexionnicht entzogen. Gelebte Religion kann sich nur in Bezug auf anderes,auf positive Inhal-te manifestieren, die Gegenstand einer kritischen Selbstbesinnung im Namen der Lehr-tradition der kirchlichen Institution sind. Allerdings kann diese Reflexion in Bezug aufdie rhetorischen Phänomene der gelebten Religion nicht normativ verfahren, sondernnur so, dass sie diese als Ausdrucksgestalten einer prekären Balance von Formaufbauund Formzerstörung behandelt. Theologische Reflexion nimmt so den Charakter derStilkritik an. Jörg Dierken begreift die »unendliche Vielfalt« von religiösen Aus-drucksformen, »von religiöser Dichtung bis zu quasi mythischen Konzeptionen vonMensch, Welt und Gott«, in einem allzu weitgefassten Sinn als dogmatische Gestaltun-

Rhetorischen wird vorstellig, dass die religiöse Metaphern nicht nur Vorformdes Begriffs48, sondern eine eigenständige Leistung der Distanzierung von Un-bestimmtheit sind. Als Phänomen des Rhetorischen gehört die gelebte Religiondeshalb in den Zusammenhang derjenigen pragmatischen Formen der Daseins-fürsorge, die ein legitimes – wenngleich unzureichend begründetes – Korrelatzu den Rationalisierungsprozessen in der Moderne darstellen.Gelebte Religion ist dann einzuzeichnen in das differenzierte Bild, das HansBlumenberg von den Möglichkeiten und der Reichweite einer kritischen Ver-nunft in der Moderne entworfen hat. Als Reaktion auf die kopernikanischeWende, auf den Verlust einer natürlichen Einpassung wie einer transzendentenSicherung des Menschen, sind die Erwartungen an die Vernunft in der Neuzeitgestiegen. Die Ressourcen der Lebenswelt, die Traditionen und selbstverständ-lichen Gepflogenheiten alltäglicher Lebenspraxis, sind nicht mehr durch einenatürliche Ordnung der Dinge gesichert und müssen deshalb in eine »posttra-ditionale Alltagspraxis«49 überführt werden. Die Formel für diesen Transforma-tionsprozess lautet: »die universale Selbstverständlichkeit des Seins der Welt[… ist] in eine Verständlichkeit zu verwandeln«50. So verständlich und legitimdieses Programm einer vernünftig begründeten Lebenspraxis angesichts der na-türlichen Boden- und transzendenten Obdachlosigkeit des modernen Men-schen auch ist, es macht durch seinen hohen Anspruch, alle partikularen Le-bensformen unter dem Gesichtspunkt ihrer Universalisierbarkeit zurekonstruieren, die Lücken im Schirm der neuzeitlichen Rationalität umso be-wusster.Blumenbergs These lautet deshalb, dass sich im Rücken dieser neuzeitlichenTransformation von Lebenswelt andere Formen einer pragmatischen Daseins-fürsorge beobachten lassen, die auf eine Verzögerung oder eine Überdehnung

Schlussreflexion 195

gen und zwar dogmatisch insofern, als ihnen der Bezug auf anderes wesentlich ist, derauch »alle Dogmatik konstituierende Form der Reflexionsbezüge auf anderes« aus-zeichnet (J. Dierken, Glaube und Lehre, 1996, 443 Anm. 22).

48. H. Blumenbergs »Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit« (H. Blumenberg,Schiffbruch mit Zuschauer, 1979, 77-93) wird von Ph. Stoellger analysiert (Ph. Sto-ellger, Metapher und Lebenswelt, 2000, 264-274; außerdem B. Recki, Der praktischeSinn der Metapher, 1999, 153-156).

49. J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns Bd. 2, 1981, 487. Diese Mög-lichkeit folgt zwar nach Jürgen Habermas den Modernisierungsprozessen nur wieein Schatten oder Vorschein, deren Chancen realisiert zu werden in dem Maße schwin-det, wie die Zerstörung von »Ausdrucksformen und Kommunikationsmöglichkeitenim Privaten« (a. a. O., 487) fortschreitet. Wenn es aber etwas gibt, das bei Habermasan die Stelle der traditionellen Lebenswelt treten könnte, dann scheint es diese post-traditionale Alltagskommunikation zu sein.

50. Vgl. E. Husserl, Krisis der Europäischen Wissenschaften, 1992, 184. Anmerkung inKlammer von mir.

rationaler Verfahren in Bezug auf das alltägliche Handeln reagieren. GelebteReligion ist in dieser Perspektive ein Hinweis auf die Faktizität unseres leibli-chen Daseins, auf den Eigensinn von Selbstverständlichkeiten, die sich im Rü-cken der rationalen Rekonstruktion von lebensweltlichen Traditionen einstel-len, und die nicht alle und jederzeit kritisch hinterfragt werden können. Weil essich bei den Phänomenen der gelebten Religion um ein imaginatives Verfahrender Selbst- und Fremdüberredung handelt, ein Können mit unzureichenderBegründung pragmatisch umzugehen, die nicht im Horizont des Wissens zuhalten sind, hat Blumenberg solche Formen praktischer Daseinsfürsorge unterdem Titel »Rhetorizität« analysiert. Rhetorizität in diesem lebensweltlichenSinn ist ein Vorgang der Distanzierung – im Unterschied zur klassischen Rhe-torik, die nur die sprachlichen und literarischen Mittel systematisiert – um einevorausgesetzte Wahrheit oder Sache überzeugend darzustellen. Die Lebenswelt,als Summe derjenigen Selbstverständlichkeiten, die in unserem Rücken unbe-fragt bleiben müssen, wird rhetorisch abgeschirmt gegenüber einem Übermaßan Fraglichkeit und stabilisiert vor dem Hintergrund einer prinzipiellen Un-bestimmtheit, die sich aus der Stellung des Menschen als einem weltoffenenWesen ergibt.Die »Sinnkrise,« die sich als Folge einer durchgreifenden Rationalisierung derWelt in der Moderne als »Verlust der Selbstverständlichkeit«51 präsentiert, istdeshalb nur die eine Seite der Medaille. Zur Bilanz dieser Krise gehört nichtnur der Verlust an Selbstverständlichkeit, sondern auch, dass sich im Rückendieses Verlustes neue Formen der Vergewisserung, wiederhergestellter Selbst-verständlichkeit und lebensweltlicher Vertrautheit beobachten lassen, die sicheiner durchgreifenden Rationalisierung entziehen.Gelebte Religion widersteht daher einer durchgreifenden Rationalisierung dermodernen Lebenswelt. Eine »Entzauberung der Welt«52, wie sie Max Weber be-schrieben hat, scheitert daran, dass sich lebensweltliche Vertrautheit53 nichtvollständig in reflexive Selbstverständigung überführen lässt. Gleichwohl stehendie pragmatischen Formen der Daseinsfürsorge, die unter dem Stichwort desRhetorischen zu beschreiben sind, nicht im Dienst einer kompensatorischen

196 Das Rhetorische als Distanzgewinn

51. P. Berger/Th. Luckmann, Modernität, Pluralismus und Sinnkrise, 1995, 44 ff.52. M. Weber, Wissenschaft als Beruf, 1988, 594.53. Einseitig ist insofern auch die Wahrnehmung der Autonomie des modernen Individu-

ums als einer permanenten Wahl- und Entscheidungsfreiheit, wie sie in der EKD-Stu-die »Christsein gestalten« vorgetragen wird. Dass in dem Maße, wie Traditionen ver-loren gehen, sich neue Bindungen einstellen, etwa in einer, durch Massenmedienerzeugten Öffentlichkeit, darauf macht Michael Welker aufmerksam, allerdings inkritischer Perspektive auf diese neuen »Kräfte und Mächte« (M. Welker, Kirche ohneKurs, 1987, 28).

»Wiederverzauberung«54. Religion als rhetorisches Phänomen ist vielmehr eineAusdrucksleistung, welche in einer gesteigerten Weise vertraute Formen stabi-lisiert und überschreitet. In diesem spezifischen Umgang mit dem Grundkon-flikt der Darstellung von Sinn gleicht sie eher einem »Ferment […] als [einem]Fundament«55, das, indem es sich prägnant ausbildet, auch für andere und an-deres bedeutsam wird.

Schlussreflexion 197

54. Vgl. G. Thomas, Medien, Ritual, Religion, 1998, 638.55. Die Formel »Ferment statt Fundament« hat Peter Kiwitz geprägt (P. Kiwitz, Lebens-

welt und Lebenskunst, 1986, 95). Zur Bedeutung der Religion für die Kunst im Sinneeines Ferments ästhetischer Erfahrung, vgl. Th. Erne, Vom Fundament zum Ferment,1998, 294.

IV. Praktisch-theologische PerspektivenSeelsorge als Gespräch:Zum rhetorischen Distanzgewinn in denHorizonten der Lebenswelt

1. Das Rhetorische und die Seelsorge –eine Vorbemerkung

Der phänomenologische Blick auf die Rhetorizität der Lebenswelt stellt keingesondertes Thema dar, das als weiteres Aufgabengebiet zu den klassischenHandlungsfeldern der Praktischen Theologie hinzutritt. Mit der Rhetorizitätder Lebenswelt ist vielmehr eine bestimmte Perspektive auf die kirchliche Praxisverbunden, die Homiletik, Seelsorge und Unterricht im Blick auf die alltägli-chen Orientierungen und Selbstverständlichkeiten betrachtet, die den Hinter-grund und Horizont dieser Aufgabengebiete darstellen.Der phänomenologische Zugang zur Rhetorizität der Lebenswelt stellt mithineine Erweiterung des Methodenrepertoires der Praktischen Theologie dar, undzwar als Einstellung gegenüber der Wirklichkeit, die im Vertrauten das Verbor-gene, an den gegebenen Symbolen, mit denen sich die Menschen in ihrem All-tag orientieren, die nicht mehr und noch nicht thematisierten Varianten, wahr-nimmt. Im Sinn einer Einstellung, die immer genauer sehen will, ist derphänomenologische Blick auf die Rhetorizität der Lebenswelt ein Beitrag zueiner praktisch-theologischen Kultur der Aufmerksamkeit.Dieses Programm soll im folgenden Kapitel für die Seelsorge skizziert werden.Dazu greife ich auf die zentrale These Blumenbergs zurück, dass das Rhetori-sche eine Form der sprachlichen Distanzierung von lebensweltlicher Unbe-stimmtheit darstellt (1.2), die einen Raum vertrauter Differenzen etabliert.Der Grundkonflikt, der dann den Alltag durchzieht, ist der einer Balance von»Stabilität und Labilität«1. Die Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten,mit denen wir alltäglich leben, sind daher weder endgültig, noch in völligerAuflösung begriffen. Wird Seelsorge auf den so als Lebenswelt verstandenenAlltag bezogen (1.3), dann verändern sich ihre Aufgabe und ihre Problemstel-lung. Sie ist dann weder einseitig an einer religiösen Unterbrechung noch aus-schließlich an einer religiösen Sanktionierung alltäglicher Ordnungen interes-siert, sondern an einer Balance von »Formzerstörung und Formaufbau« 2, inder allein sich das Leben lebendig erhalten kann.

1. So lautet die Formel von Ph. Stoellger für die antagonistische Wirkung von Meta-phern auf die Horizonte der Lebenswelt. Entweder wirken Metaphern innovativ, dannbesetzen sie Horizonte neu, oder konservativ, dann stabilisieren sie bereits besetzteHorizonte (vgl. Ph. Stoellger, Metapher und Lebenswelt, 2000, 202 ff.).

2. Die Formel stammt aus der Kulturphilosophie Ernst Cassirers. Ihre religionsphi-

Diese These, die das Rhetorische und die Seelsorge ins Verhältnis setzt, soll alsAngebot verstanden werden, die Einbettung der Seelsorge in die Alltagswirk-lichkeit (2.) präziser zu fassen.Um zu sehen, ob sich diese Kopplung von Seelsorge und rhetorischer Abschir-mung wie Dynamisierung lebensweltlicher Vertrautheiten an konkreten Seel-sorge-Gesprächen bewährt, wird ein Gespräch mit Eltern interpretiert (4.), diemit der Geburt eines Kindes mit Down-Syndrom konfrontiert sind.Das vorgeschaltete Methodenkapitel (3.) entwickelt den phänomenologischenZuschnitt dieser Perspektive im Durchgang durch quantitative und qualitativeMethoden der Analyse von Gesprächsprotokollen, wie sie in der PraktischenTheologie diskutiert werden.Erklärungsbedürftig ist allerdings die Wahl des »Handlungsfeldes« Seelsorge.Näher liegend wäre beim Stichwort »Rhetorik« die Homiletik. Sie ist diejenigeDisziplin in der Praktischen Theologie, die in ihrer Geschichte die Tradition derantiken Rhetorik explizit rezipiert hat. Aber da es in dieser Arbeit wesentlichum die Differenz zwischen der Rhetorik als Theorie der Beredsamkeit und derRhetorizität der Lebenswelt geht, ist die Nähe der Homiletik zur Rhetorik eherein Nachteil. Deshalb lässt sich am Beispiel der Seelsorge die Rhetorizität in denHorizonten des Alltags genauer in den Blick zu nehmen als im Rahmen derHomiletik. Der Konvergenzpunkt liegt in einem pragmatischen Verständnisdes Wortes als einem heilenden »Sprachgeschehen«3. Worte schaffen heilsameDistanz. Sie erscheinen im seelsorgerlichen Gespräch nicht in erster Linie alsInformationsmedium, sondern als Mittel der »Distanzierung« 4. Das Wort alsAusdrucksgeschehen erlaubt es, die Unbegreifbarkeit eines Schicksals, die über-wältigende Fülle von Eindrücken, die hintergründige Triebstruktur zu fassen,ihnen einen Umriss zu geben, sie zu artikulieren und folglich zu bearbeiten.

202 Praktisch-theologische Perspektiven

losophische Bedeutung expliziert M. Moxter, Formzerstörung und Formaufbau,2000, 165-181.

3. J. Scharfenberg, Seelsorge als Gespräch, 51991, 35.4. Wie Jan Assmann am Beispiel früher Hochkulturen gezeigt hat (vgl. J. Assmann, Das

kulturelle Gedächtnis, 21997), ist das bewusste Distanzschaffen »die Vorbedingung fürdie Ausbildung personaler und individueller Identität« (a. a. O., 137) und der grund-legende Schritt, dass sich nicht nur ein »Ich-, sondern auch ein Wir-Bewusstsein auf-baut« (a. a. O., 138). Distanzierung durch das Wort ist also grundlegend für die Re-konstruktion nicht nur der Lebens-, sondern auch der Kulturgeschichte.

1.1 Zur Sprache als Distanzgewinn in lebensweltlichenHorizonten

Die lebensweltliche Orientierung des Handelns durch Metaphern und Symbole,in denen sich eine alltägliche Routine, Gewohnheit oder Konvention artikuliert,dient in der Regel als Ausgangspunkt, als Basis und Untergrund, auf dem sichdie kommunikative Vernunft, etwa in Gestalt eines Seelsorgegesprächs, auf-baut5. Folgt man dagegen der Unterscheidung Blumenbergs von terminus aquo und terminus ad quem der Metapher6, dann kommt die lebensweltlicheBedeutung von Symbolen und Metaphern nur unzureichend in den Blick, wennsie nur als Voraussetzung, als Kontext diskursiver Verständigung oder als Res-source zur Legitimation gesellschaftlicher Wertordnungen betrachtet wird,nicht aber selbst als eine maßgebliche Ordnungsleistung.In Blick aber darauf, wovon sich Metaphern abheben, besteht ihre Leistung ineinem Gewinn an Distanz. In einem mythischen Bilde gefasst: Der sprachlicheAusdruck distanziert den Paradiesgarten als eine Welt des Namens vom Chaosdes Namenlosen, vom »Absolutismus der Wirklichkeit«7, welcher ohne die Zwi-schenglieder der Sprache als nackte Unmittelbarkeit den Menschen überwälti-gen müsste. Metaphern schirmen einen Horizont vertrauter Verhältnisse ab. Esist ein rhetorisches Verfahren, das in jedem Wort und Symbol als solches liegt,dazu zu überreden, sich auf einen indirekten Umgang mit der Wirklichkeit ein-zulassen, auf den Blick in den Spiegel, nicht unmittelbar in Medusas Antlitz,weil dieser Anblick vor Schrecken erstarren ließe.Als Umweg eröffnet die sprachliche Distanz zu einer unmittelbaren Wirklich-keit einen Spielraum der vertrauten Differenzen: Benannt ist schon gebannt.Benennungen machen Unterscheidungen möglich, mit denen sich der Menschorientieren kann. In der Paradiesgeschichte wird dieser Vorgang als Namens-gebung geschildert, der vertraute Differenzen schafft. Jedes Ding bekommt sei-nen Namen, die Pflanzen im Unterschied zu den Tieren und im Unterschieddazu der Mensch.Menschliche Kultur beruht aber auch darauf, dass in ihr etwas zum Verschwin-

Praktisch-theologische Perspektiven 203

5. Ein Ansatz, der Seelsorge pointiert in der Alltagswelt verortet, wird von WolfgangSteck vertreten: »Die Ursprungssituation des pastoralen Seelsorgegesprächs ist das All-tagsgespräch. Ihm verdankt das Seelsorgegespräch seinen Stoff, die Dynamik seinesAblaufs und auch die Ziele, die ihm gesetzt sind.« (W. Steck, Der Ursprung der Seel-sorge in der Alltagswelt, 1987, 175; Hervorhebung von mir). Henning Luther siehtdagegen die Alltagssorge im Gegensatz zur Seelsorge. Die Alltagswelt ist daher die Ne-gativfolie, auch für das Seelsorgegespräch: »Der Alltag ist (fragwürdiger) Ausgangs-punkt des Nachdenkens.« (H. Luther, RuA, 301 Anm. 11; Hervorhebung von mir).

6. Vgl. H. Blumenberg, AaM, 26 u. 186; vgl. auch oben Kapitel III.2.2.7. H. Blumenberg, AaM, 10.

den gebracht wird8. Der Abstand von einer differenzlosen Unbestimmtheit istmit Anstrengung und mit Arbeit verbunden. Darauf beruht Blumenbergs Ver-teidigung der Arbeit des Mythos, die es ihm erlaubt, im Mythos die »Manifes-tation einer Überwindung, eines Distanzgewinns«9 zu sehen. Allerdings kanndiese Arbeit des Mythos nie abschließend gelingen. Das Chaos, das abge-schirmt, die Unbestimmtheit, die ausgegrenzt werden muss, damit ein Raumvon vertrauten Differenzen eingegrenzt werden kann, bleibt, wenn auch zueiner »bestimmten Unbestimmtheit«10 verwandelt, als Mitgegebenes erhalten.An den Manifestationen der Überwindung ist das Überwundene mitpräsent.Das »Unbehagen in der Kultur« ist deshalb ein untilgbares Moment in jederKultur.Mit diesem Stichwort verbindet sich nicht nur das erschreckende Gegenmotivzu kultureller Ordnung und Stabilität. Jeder Distanzgewinn leistet zwar denAbbau einer namenlosen Angst zu einer benennbaren Furcht, aber Unbe-stimmtheit ist nicht nur bedrohlich. Sie repräsentiert auch einen Horizont un-geahnter Möglichkeiten. Gegen diesen Sinnüberschuss können sich die kultu-rellen Systeme nie ganz absichern. Und sie bedürfen seiner, um nicht zuerstarren. Der Distanzgewinn durch Metaphern und Symbole muss deshalb im-mer wieder neu Distanzverzicht zulassen. Die Arbeit des Mythos bedarf derArbeit am Mythos11.Das Phänomen von lebensweltlicher Vertrautheit und von bestimmten Unbe-stimmtheitsrisiken, die an den Rändern, allerdings auch im Zentrum12 des Be-

204 Praktisch-theologische Perspektiven

8. Sigmund Freud hat bekanntermaßen die Kultur als durch Triebverzicht charakteri-siert gesehen. Die Pointe seiner Triebverzichtsthese liegt darin, dass es in der Kulturum das Verhältnis von Verzicht und Gabe geht. Insofern muss in jeder Kultur etwaszum Verschwinden gebracht werden, damit etwas, nämlich kulturelle Formen entste-hen können. Triebverzicht ist deshalb nicht reine Triebunterdrückung, denn dieser Ver-zicht bedeutet zugleich einen Gewinn. Das zeigt die »glänzend fingierte Ursprungs-geschichte menschlicher Kultur« (M. Moxter, Kultur als Lebenswelt, 348 Anm. 318),die gleichsam die psychoanalytische Variante zum Mythos des prometheischen Feuer-raubs darstellt. Nach Freud war es ein archaischer Lustgewinn des Mannes (exklusiv),das Feuer auszupissen. »Wer zuerst auf diese Lust verzichtete [Feuerlöschen durch Uri-nieren], das Feuer verschonte, konnte es mit sich forttragen und in seinen Dienst zwin-gen« (S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur,1930/1978, 386 Anm. 1).

9. H. Blumenberg, AaM, 23.10. Zur Unterscheidung von bedrohlicher, weil unbestimmter Unbestimmtheit (Chaos)

und gutartiger, weil bestimmter Unbestimmtheit, vgl. M. Moxter, Ungenauigkeit undVariation, 1999, 196; außerdem, vgl. Ph. Stoellger, Metapher und Lebenswelt, 2000,367.

11. So lautet der programmatische Titel des Buches von Hans Blumenberg (vgl. H. Blu-menberg, Arbeit am Mythos (= AaM), 51990).

12. Zu dieser Präzisierung, vgl. Ph. Stoellger, Metapher und Lebenswelt, 2000, 372f.

stimmten immer wieder aufbrechen, lässt sich so als eine Dialektik von Ver-trautheit und mitgegebener Fremdheit entschlüsseln. Ordnungen, in denensich das Leben orientiert, gibt es nicht ohne die Irritationen, die von dem aus-gehen, was abgeschirmt werden musste, damit solche Ordnungen bestehen. Al-lerdings entzieht sich dieser Zusammenhang von Stabilität und Labilität einereindeutigen Zuordnung in verschiedene biografische »Epochen«, in Zeiten derstabilen Lebensorientierung einerseits und in »Schlüsselereignisse oder Wende-punkte […] und sodann Krisensituationen«13 andererseits, in denen dann sol-che Orientierungen labil werden und zerbrechen. Der Akzent liegt bei dem, wasHans Blumenberg unter dem Titel der »Selbsterhaltung«14 thematisiert, auf derBalance lebensweltlicher Vertrautheiten, also auf dem unauflösbaren Ineinan-der von Abschirmung lebensweltlicher Ordnungen und ihrer ebenfalls notwen-digen Irritation durch neu aufbrechende (bestimmte) Unbestimmtheit.Versucht man vor diesem Hintergrund das Thema der Seelsorge im Alltag zuverankern, dann ist es unmittelbar einleuchtend, dass es in der Seelsorge primärnicht um singuläre Erfahrungen und Ereignisse, also um Sachverhalte in derWelt geht, sondern wesentlich um Weltvertrautheit, also um die Kunst, über-haupt eine Welt zu haben15. Allerdings besagt die Horizonthaftigkeit der Le-benswelt, dass in Hinsicht auf Weltvertrautheit (nicht auf Vertrauen in derWelt) die Seelsorge auf Vor- und Mitgegebenes bezogen ist, nicht aber auf Kon-stitutionsfragen. Denn die Horizonthaftigkeit von Welt im Sinn von Welt-Ha-ben, im Unterschied zu In-der-Welt-Sein, ist diejenige immer schon gegebene,nicht aber erst zu konstituierende Weltvertrautheit, die unhintergehbar jederWelterfahrung vorausliegt.Der zu bejahende Zusammenhang von Seelsorge und Weltvertrautheit wirddeshalb durch den Gedanken der Konstitution von Wirklichkeit in der Seelsor-ge eher belastet als geklärt. Denn das Immer-schon-gegeben-Sein von Horizon-ten der Weltvertrautheit ist der sachliche Grund dafür, das Lebensweltthemaauf das Schöpfungsthema zu beziehen. Problematisch ist die Konstitutions-these16 vor allem dann, wenn es bei der Realitätskonstitution durch Seelsorge

Praktisch-theologische Perspektiven 205

13. D. Rössler, GPT, 188. Anmerkung in eckiger Klammer von mir.14. Vgl. H. Blumenberg, Selbsterhaltung und Beharrung, 1976, 144-207.15. Der Gedanke, dass eine Welt zu haben einer Anstrengung bedarf, wird von Hans Blu-

menberg nicht zufällig im Zusammenhang mit der Arbeit am Mythos formuliert:»Welt zu haben, ist immer das Resultat einer Kunst. Davon eben ist unter dem Titel›Arbeit am Mythos‹ etwas zu beschreiben« (H. Blumenberg, AaM, 13).

16. Die Konstitutionsthese vertritt Th. Bonhoeffer: »Es geht also in der christlichen Seel-sorge um Realitätskonstitution« (Th. Bonhorffer, Ursprung und Wesen der christ-lichen Seelsorge, 1985, 156). Das Problem stellt sich in analoger Weise bei HenningLuther für die Beziehung von Alltag und Religion, vgl. dazu oben Kapitel I.4.4.

auch noch um eine eschatologische »Fundierung der neuen Schöpfung, im Lei-den Gottes«17 gehen soll.Trotz der unhintergehbaren Weltvertrautheit im Sinn eines Horizonts, mit demwir eine Welt haben und der uns deshalb als Gegenstand unserer Wahrneh-mung gerade nicht vor Augen steht, repräsentiert die Weltvertrautheit, den Ty-pus einer immer nur vorläufigen Ordnung. Denn die Horizonthaftigkeit derLebenswelt besagt nicht nur, dass wir uns in Horizonten vorfinden, sondernjeder Horizont dadurch bestimmt ist, dass er auf andere Horizonte bezogen ist,die er abblendet und auf die er hinausweist. Die Horizonthaftigkeit der Lebens-welt hat daher den Charakter unabschließbarer Horizontverweise18. In ihr kannes nicht um Krisenbewältigung gehen im Sinn einer definitiven Überwindungder an biografischen Wendepunkten aufbrechenden Krisen. Das Eingebettet-sein jeglicher Thematisierung lebensweltlicher Erfahrung in ein Umfeld sichverschiebender, mitfungierender und mitgegebener Horizonte widersprichtder Vorstellung, es könne in der Bearbeitung lebensgeschichtlicher Konfliktezu einer abschließenden Bewältigung19 kommen. Die Horizonte des Alltags las-sen sich nicht in einer letzten Gewissheit20 oder in einem horizontunabhängi-gen Urvertrauen gründen, das in allen folgenden Krisensituationen nur nochbeständig zu erneuern ist. Zwar ist es denkbar, dass auch der Glaube, der indiesem Sinn als »Urvertrauen« und als »grundlegende Heilserfahrung«21 begrif-

206 Praktisch-theologische Perspektiven

17. Th. Bonhoeffer, Ursprung und Wesen der christlichen Seelsorge, 1985, 22.18. Es geht also entgegen der an Gadamer orientierten Gesprächstheorie von Heinrich

Ott nicht um »Horizontverschmelzungen« (H. Ott, Gedanken zur Phänomenologiedes Gesprächs, 1987, 120), sondern um Horizontüberschreitungen. Das Göttliche istgerade nicht eine derartige Grenzerfahrung, dass es sich den Gesprächspartner an ihremGesprächskonsens, dem Verschmelzen von Horizonten, erschließt als das, was keinenHorizont hat, nämlich Gott, der »überhaupt kein Gegenstand, sondern Gott ist!«(A. a. O., 123). Die Bedeutung des Ausdrucks »Gott« wäre vielmehr an solchen Phäno-menen zu entwickeln, die zwischen abgegrenzten und abgeschlossenen HorizontenÜberschreitungen erlauben – etwa im Sinn eines Ferments und Katalysators – so dassnicht jeder nur in seiner Welt lebt, wenn nicht mehr alle in einer Welt leben. In eine ähn-liche Richtung gehen die Überlegungen von Ingolf Dalferth, der Gott als kritischeErinnerung an diejenige Lücke begreift, die in jedem der endlichen Wahrnehmungshori-zonte mitgegeben sein muss, damit keiner als letzter Wirklichkeitshorizont missverstan-den wird (vgl. I. Dalferth, Weder Seinsgrund noch Armutszeugnis, 1997, 190f.).

19. Zum Unterschied von Krisenbearbeitung und Krisenbewältigung, vgl. Kap. IV. 3.1.20. Nach Dietrich Rössler ist es die »elementare christliche Überzeugung, dass der

Mensch nicht im Vorhandenen aufgeht« (D. Rössler, GPT, 190; Hervorhebung vonmir), die im seelsorgerischen Gespräch der persönlichen Auslegung durch den Seelsor-ger bedarf.

21. Wilfried Härle charakterisiert den christlichen Glauben als »grundlegende Heils-erfahrung«, die angesichts »neu auftauchender Herausforderungen und Krisen« der»stetigen Bewährung und damit auch der Wandlung« bedarf. Diese Wandlung aber ist

fen wird, sich immer wieder anders darstellt. Aber das sind dann nur unter-schiedliche Beleuchtungen einer Letztgewissheit, die in den unterschiedlichenKrisensituationen und Übergängen des Lebens immer wieder als letzte hori-zontunabhängige Gewissheit entfaltet wird.Im unhintergehbaren Umfeld mitfungierender Horizonte, in dem die alltägli-chen Lebensvollzüge als Momente einer immer nur vorläufigen Ordnung cha-rakterisiert sind, erhalten deshalb die Erfahrungen von Formaufbau und Form-zerstörung, von gegebener Ordnung und ihrer Überschreitung, den Charaktereiner Balance22. Notwendig ist der sprachliche Ausdruck, der vor nackter Un-mittelbarkeit schützt. Notwendig ist aber auch eine bestimmte Unbestimmt-heitstoleranz, die an einem bestehendem Ausdruck wieder neue Unbestimmt-heiten zulassen kann.Der Gedanke der Balance in einem unauflösbaren Grundkonflikt des Lebensimpliziert indessen eine andere Vorstellung von Versöhnung. In einem Konzeptder Selbstentäußerung, wie etwa bei Sören Kierkegaard23, werden die verschie-denen Grundkonflikte in den Stadien des Ästhetischen und Ethischen durch-laufen. Die soteriologische Spitze liegt auf der Höhe dieser Progression in derMetapher des Sprungs, mit dem sich der Mensch ins Absurde, ins christologi-sche Paradox rettet. Von diesem letzten Punkt her versöhnen sich dann die Wi-dersprüche, auch wenn es der beständigen Arbeit an der Aneignung substan-zieller Wirklichkeit bedarf, mit der sich der Mensch im Horizont des Absolutendurchsichtig wird: »Die Ausnahme erklärt mithin das Allgemeine«24.Dagegen liegt die soteriologische »Spitze« der balancierten Selbsterhaltungnicht in der Höhe oder Tiefe eines radikalen Entweder-Oder, sondern die »Spit-ze« ist die Mitte eines nicht minder anspruchsvollen Sowohl-als-Auch25. Zur

Praktisch-theologische Perspektiven 207

ein Fortschritt im Gleichen. Sie ändert nichts am grundlegenden Charakter des Glau-bens. Insofern handelt es sich um ein »Bildungsgeschehen«, in dem sich der Glaube alsgrundlegende Heilserfahrung in den verschiedenen Lebenssituationen entfaltet(W. Härle, Dogmatik, 1995, 515).

22. Joachim Scharfenberg spricht statt von Balance von »Ausgewogenheit« (J. Schar-fenberg, Einführung in die Pastoralpsychologie, 1994, 56) zwischen widersprüchli-chen Grundkoordinaten, von denen die Grundambivalenzen des Lebens herrühren.Nur wo diese Ausgewogenheit in nicht auflösbaren Grundkonflikten des Lebensherrscht, kann von seelischer Gesundheit geredet werden.

23. Zu Sören Kierkegaards (maximaler) Soteriologie und ihre Probleme, vgl. Th. Erne,Beweglichkeit im Endlichen, 1999, 62.

24. S. Kierkegaard, Die Wiederholung, 1843/1967, 93. Das christologische Paradox istdas Jenseits des Allgemeinen, das gleichwohl dieses erklärt. Kierkegaards Stadienleh-re und ihre Zentrierung in der Christologie hat Hermann Deuser erhellend dar-gestellt (vgl. H. Deuser, Die Frage nach dem Glück in Kierkegaards Stadienlehre, 1985,165-183).

25. Eine von Kierkegaard inspirierte Kritik an solcher »stabilitätsnärrischer« Lebens-

Selbsterhaltung in einem Konflikt, der sich in Bezug auf den Aufbau und Abbaukultureller Formen als Alternative von Verweigerung oder Vollzug dieser Fort-bestimmungslogik lebensweltlicher Ordnungen präsentiert, gehört deshalbeine »minimalistische Soteriologie«26. Diese operiert nicht mit unbedingtenHeilserwartungen, sondern versucht in Zeiten der Krise Abstand zu gewinnen,ohne zu verkennen, dass dieser Distanzgewinn zwar neue Sichtweisen eröffnet,nicht aber das Problem endgültig löst.

1.2 Formaufbau und Formzerstörung:Die Vorläufigkeit menschlicher Ordnungen alsGrundkonflikt der Seelsorge

Der Alltag, als Inbegriff für lebensweltliche Gewohnheiten und Vertrautheitenist durchzogen von Irritationen, die ihn als eine vorläufige Ordnung, eine »pre-kär bleibende Balance«27 von Stabilität und Labilität charakterisiert. In Krisensi-tuationen wird dieser Zusammenhang von lebensweltlicher Vertrautheit einer-seits und dem Aufbrechen von Irritationen an den Rändern und im Zentrum desSelbstverständlichen andererseits in zugespitzter und exemplarischer Weise er-fahren. Auch die Störung selbstverständlicher Orientierung, das scheinbarNicht-Alltägliche biografischer Krisenerfahrungen bleibt insofern auf den Alltagbezogen, als der Verlust des Selbstverständlichen, der durch Krisen hervorgeru-fen wird, weitere und andere Selbstverständlichen zum Hintergrund hat.Je nach dem, wie nun der Alltag verstanden wird, ambivalent oder unproble-matisch, in sich schwankend oder als fester Boden, auf dem die Konflikte desDaseins aufruhen, verändert sich auch die Aufgabe der Seelsorge, die ihre Fra-gen und Problemstellungen im Verhältnis zu diesem Alltag gewinnt. WerdenLebenswelt und Alltag kulturoptimistisch als gegebenes und festes Fundamentbegriffen – und sei es nur als invariante Mechanismen der Wirklichkeitskons-truktion – dann sind die Konflikte im Alltag ein aufzuklärendes Missverständ-nis, das sich aus unterschiedlichen Rekonstruktionsperspektiven ergibt, aber inBezug auf eine letztlich nicht konflikthafte Voraussetzung geschlichtet werdenkann28. Werden dagegen im Alltag die elementaren Strukturleistungen für dasGegebensein von Welt selbst als ambivalent erfahren, im Sinne eines nicht zu

208 Praktisch-theologische Perspektiven

kunst hat Klaus-Michael Kodalle vorgetragen (vgl. K.-M. Kodalle, Die Eroberungdes Nutzlosen, 1988, 35).

26. M. Moxter, KaL, 359.27. M. Moxter greift einen Begriff von A. Honneth auf, um die Entlastung, welche die

Lebenswelt gewährt, zu charakterisieren als »eine vorübergehende Leistung, ein Bei-spiel für ›prekäre Balancen‹, deren Instabilität zugestanden werden muss« (M. Mox-ter, Ungenauigkeit und Variation, 1999, 194).

28. Vgl. E. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 1996, 102f. Der Konflikt, der sich – bei Hau-

sistierenden Ineinanders von Vertrautheit und Fremdheit, dann lässt sich dieInstabilität aus dem Alltag, wie aus der Kultur insgesamt, nicht mehr unterBerufung auf alltägliche Gegebenheiten eskamotieren.Die Orientierung der Seelsorgepraxis an Krisenerfahrungen könnte aber in derTat eine gewisse Einseitigkeit bedeuten. Unter Krisenerfahrungen werden näm-lich gemeinhin die Erfahrungen von Unsicherheit, von Verlust einer stabilen Le-bensorientierung in den Umbruchsituationen eines biografischen Zusammen-hangs verstanden29. Diese sind nicht nur Thema des Seelsorgegesprächs, sondernauch der Kasualpraxis. Taufe, Konfirmation, Hochzeit, Beerdigung markierenEinschnitte im Lebenslauf, in denen sich ein hohes Maß an Unbestimmtheit ein-stellt. Es sind Übergange in eine neue, ungewisse Lebensphase, die der Begleitungim Ritual, aber auch im Seelsorgegespräch bedürftig sind. Einseitig aber ist dieseOrientierung an lebensgeschichtlichen Krisen insofern, als auch die gesichertenstabilen Ordnungen, in denen das Leben diesseits seiner Krisen einen letztenRückhalt zu haben scheint, ebenfalls von einem Konflikt betroffen sind. DerSachverhalt lässt sich mit der Formel fassen, dass sich gegebenes Leben sich über-schreitendes Leben ist30. Es gibt deshalb nicht nur Krisen, die durch Unbe-stimmtheit hervorgerufen sind. Auch die (Über-)Bestimmtheiten einer Formkönnen zur Krise führen. Nicht nur der Zerfall einer tragenden Lebensorientie-rung, sondern auch ihre Erstarrung im Sinne einer konventionellen Verfestigungder Formen des Handelns und der Wahrnehmung31 stellen ein Problem dar.Es ist daher nahe liegend, die Bemühungen der Seelsorge nicht auf Krisen imengeren Sinn, sondern auf Konflikte zu beziehen32. Mit Konflikten ist nicht dieeinseitige Konzentration auf Krisenerfahrungen verbunden, sondern in den

Praktisch-theologische Perspektiven 209

schildt im Fall eines Krankenhausgesprächs – aus der Rekonstruktion unterschiedli-cher Perspektiven in einem seelsorgerischen Gespräch ergeben kann, ist durch einennicht-ambivalenten Gesprächskontext fundamental abgesichert. Hat es das Seelsor-gegespräch dagegen mit sich verschiebenden Gesprächshorizonten zu tun, dann gibt eszwar keine fundamentale Absicherung, aber doch dadurch eine Balance, dass nicht alleselbstverständlichen Voraussetzungen des jeweiligen Gesprächs gleichzeitig zum The-ma gemacht werden können. Die Ablehnung eines unhaltbaren Kulturoptimismus hatdeshalb nicht einen ebenso wenig haltbaren Kulturpessimismus zur Folge.

29. Vgl. D. Rössler, GPT, 188.30. Michael Moxter erinnert in diesem Zusammenhang an die Einsicht P. Tillichs

»dass menschliches Leben den Charakter der Selbsttranszendenz hat« (vgl. M. Mox-ter, KaL, 397).

31. Dietrich Zillessen macht die Verfestigung der Wahrnehmung zum Ausgangspunktseines religionspädagogischen Ansatzes: »Es ist eine elementare pädagogische und reli-gionspädagogische Frage, wie feste Erfahrungen und Wahrnehmungsstrukturen offenund flexibel werden können.« (D. Zillessen, Religionspädagogische Lernwege derWahrnehmung, 1991, 60).

32. So gilt auch in Bezug auf die Alltagsseelsorge die These von Joachim Scharfenberg,

Konflikten artikuliert sich eine Grundambivalenz des Lebens, die darin besteht,bestimmter Formen zu bedürfen, wie auch deren Überschreitung, um leben zukönnen. Das bedeutet gerade nicht, dass die Konflikte im Alltag deshalb nur ander Grenze33 angesiedelt werden als Einbruch eines Nicht-Alltäglichen in denAlltag, in dem sich ein Jenseits von Alltäglichkeit manifestiert. Die Konflikthaf-tigkeit lässt sich vielmehr in einer phänomenologischen Sicht so verstehen, dassin ihnen eine fragile Beweglichkeit im Endlichen thematisch wird, die den ge-samten Alltag durchzieht und nicht nur die so genannten Umbruchsituationen.Auch in den scheinbar unspektakulären Wendungen wie etwa dem Tages-anbruch, dem »kleinen Mittag«34, der Dämmerung, dem Übergang zur Traum-zeit, folgt das Leben einer riskanten und dynamischen Bewegung, in der be-stimmte Lebensformen aufgebaut und wieder unbestimmt werden35.Wird nun im Folgenden auf eine Lebenssituation Bezug genommen, die in ge-radezu klassischer Weise eine Krise im Leben einer Familie thematisiert, so ge-schieht dies nicht in der Absicht, solche dramatischen Umbrüche als konstitutivfür die Seelsorge zu behaupten. Auch der umgekehrte Fall der Ermüdung undErstarrung in lebensweltlicher Routine und Gewohnheit wäre denkbar, um dieBeziehung der Seelsorge auf den Grundkonflikt der Fortbestimmung alltäg-licher Vertrautheiten zu illustrieren. Weder ist unter dem Titel der Alltagsseel-sorge exklusiv mit stabilen Ordnungen und ihrer Bestätigung im seelsorgeri-schen Gespräch zu rechnen36, noch mit einer ebenso einseitigen Labilität,verursacht durch den extramundanen Einbruch des Religiösen in den Alltag.

210 Praktisch-theologische Perspektiven

dass der Pastoralpsychologe mit Konflikten umzugehen hat. »Immer sind es Erfahrun-gen konflikthafter Art, die pastoralpsychologische Bemühungen erforderlich machen«(J. Scharfenberg, Einführung in die Pastoralpsychologie, 1994, 51).

33. Anders argumentiert Henning Luther, auch in Bezug auf die Seelsorge (vgl. H. Lu-ther, Alltagssorge und Seelsorge, 1992, 231ff.).

34. Kleiner Mittag meint bei Hermann Timm den Kulminationspunkt der Sonnenbahnam Mittag als Bild für Kehren und Wendungen im Alltag. Kleiner Mittag steht alsonicht für den »Äonen wendenden Klimax großen Stils«, sondern mit diesem Bild solldas »Maximum des überhaupt Erdenklichen, die Höchstform religiöser Geistigkeit«(H. Timm, Zwischenfälle, 1983, 73) ins Minimum alltäglicher Begebenheiten herab-geholt werden.

35. Das bedeutet sicher nicht, dass die Beweglichkeit im Endlichen eine natürliche Gege-benheit des Lebens ist, etwa im Sinne Goethes »Stirb und werde«. Beweglichkeit imEndlichen ist vielmehr, wie Hans Blumenberg bereits mit dem Buchtitel »Arbeit amMythos« prägnant zum Ausdruck bringt, mit Arbeit an den stabilen Metaphern undSymbolen verbunden, in denen sich das Leben vorfindet und orientiert.

36. Vgl. E. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 1996, 135. Sicher nicht zufällig wählt Hau-schildt als exemplarische Gesprächssituation den Geburtstagsbesuch. So wird der An-schein vermieden, die Seelsorge sei exklusiv auf Krisen jenseits der Alltäglichkeit bezo-gen. Allerdings ist bei Hauschildt ganz allgemein wenig von der Konflikthaftigkeit zu

Vielmehr ist das Thema der Seelsorge eine lebensnotwendige Balance von Ver-trautheit angesichts von Fremdheit wie von Fremdheit angesichts erstarrterVertrautheiten.Leben bedarf der festen Formen und muss sie doch immer wieder überschrei-ten. Man kann vor der bleibenden Ungenauigkeit und Ambivalenz37 des Lebensin doppelter Hinsicht ausweichen: Man flieht vor dem Aufbau bestimmter For-men oder verweigert sich deren notwendiger Destruktion. An beiden Momen-ten, die mit der Vorläufigkeit menschlicher Ordnungen gegeben sind, mussSeelsorge im Gespräch interessiert sein, an »Formzerstörung und Formauf-bau«38. Gelingt es beide Momente auszubalancieren, so ist das einer Interpreta-tion durch die Kategorie des Evangeliums zugänglich, so wie das Scheitern die-ser Balance, die Flucht vor Formaufbau wie die Verweigerung von Formabbau,einer Deutung durch die Kategorie des Gesetzes. Beide Momente muss die Seel-sorge in Blick haben, sofern sie dazu beitragen will, dass sich die Betroffenen inden Horizonten ihres Alltags orientieren können.Wie gehen also Menschen mit der Vorläufigkeit alltäglicher Ordnungen um, mitden notwendigen Symbolen und Metaphern, in denen sich ihr Leben orientiert,mit den Überschreitungen und Übergängen, die diese Orientierung lebendighält? Wie werden alltägliche Selbstverständlichkeiten destruiert und restituiertunter dem Eindruck, dass es Erfahrungen gibt, die sich einer rationalen Bewäl-tigung entziehen und die gleichwohl nicht einfach übergangen werden können?

Praktisch-theologische Perspektiven 211

verspüren, die sich unweigerlich mit dem Alltagsthema dann verbindet, wenn man dieLebenswelt phänomenologisch als Pluralität spezifischer Horizonte fasst. Wesentlich istdann nicht nur das alltägliche Orientierungswissen, sondern auch dasjenige Wissen,das zum Verschwinden gebracht werden muss, damit Orientierung möglich ist.

37. Joachim Scharfenberg unterscheidet drei Grundambivalenzen: das Verhältnis vonzeitlicher Regression und Progression, von unverwechselbarer Identität und Partizipa-tion an einem Ganzen, von Realitätssinn und Fantasie (vgl. J. Scharfenberg, Einfüh-rung in die Pastoralpsychologie, 1994, 54 ff.). Allen Grundambivalenzen gemeinsamist, dass sie gegensätzliche Pole repräsentieren, zwischen denen ein gewisses Maß derAusgewogenheit herrschen muss, wenn man von seelischer Gesundheit reden will. DieGrundambivalenz, die wir im Blick haben, betrifft das Problem der Kontinuität vonsolchen Balancen, die zwischen allen drei Gegensatzpaaren notwendig sind. Da dieAusgewogenheit zwischen den Polen nicht zeitinvariant sein kann, sofern sie einen le-bendigen Zusammenhang charakterisiert, bedarf es einer u. U. riskanten Fortbestim-mung ihrer nur momentan gewonnenen Stabilität. Die lebensnotwendigen Balancenwerden deshalb ihrerseits immer wieder selbst ambivalent. Darin ist die Grundambi-valenz zu sehen, die in phänomenologischer Sicht die Lebenswelt bestimmt.

38. Zur Bedeutung dieser Formel Ernst Cassirers für eine lebensweltliche Rhetorizität, vgl.Kap. III.3.3: »Rhetorik als Stabilisierung und Überschreitung von Ausdruck«. Zur reli-gionsphilosophischen Relevanz, vgl. M. Moxter, Formzerstörung und Formaufbau,2000, 165-181.

2. Zum Begriff und geschichtlichen Hintergrundvon Seelsorge

2.1 Kirchlicher und gesellschaftlicher Kontext

Seelsorge gehört neben Predigt und Unterricht zu den elementaren Aufgabender kirchlichen Praxis. Die geschichtlichen Wurzeln der Seelsorge reichen bis indie Anfänge des Christentums. Allerdings ist die Ausdifferenzierung der Wir-kungsgebiete in Seelsorge, Predigt und Unterricht keine Aufgabenteilung, dieauf das Urchristentum zurückgeht. Diese Aufteilung, und mit ihr die Seelsorgeals eigenständige Form kirchlichen Handelns, »verdankt sich erst späteren ge-schichtlichen Epochen«1.Als Grundaufgabe kirchlichen Handelns steht die Seelsorge nicht nur im ge-schichtlichen Horizont der Ausdifferenzierung des neuzeitlichen Christentums.Sie ist auch den spezifischen Wandlungen unterworfen, die in der modernenGesellschaft die Lebensumstände und Lebensgeschichten von Menschen be-stimmen. In diesem Spannungsfeld von theologischen Grundlagen und gesell-schaftlichen Rahmenbedingungen entwickeln sich die neuzeitlichen Transfor-mationen im Verständnis von Seelsorge.Auffälliges Merkmal dieser Veränderungen, die durch gesellschaftliche Umbrü-che angestoßen wurden, ist die Fülle der Veröffentlichungen, die seit dem19. Jahrhundert zur Seelsorge erscheinen. Das neuartige Interesse an Seelsorgeist nicht etwa »von ihrer theologischen Bestimmung durch Schleiermacher aus-gelöst worden. Es geht vielmehr zurück auf die Bewegung, die durch die InnereMission begründet und bezeichnet ist«2. Im Rahmen der Inneren Mission, dieauf die sozialen Veränderungen einer beginnenden Klassengesellschaft reagiert,wird die Seelsorge ein Instrument, um die Kirchenfernen wieder in die kirchli-che Gemeinschaft einzugliedern, und zwar in den pluralen Horizonten der per-sönlichen Religiosität. War für die Seelsorge mit dieser Hinwendung zum Ein-zelnen und seinen persönlichen Lebensumständen immer schon die Forderungverbunden, Menschenkenntnis zu besitzen, so erwächst ihr auf dem Gebiet der

1. D. Rössler, GPT, 155. Ein knapp gehaltener und vorzüglicher Abriss der geschicht-lichen Entwicklung der evangelischen Seelsorge findet sich bei Dietrich Rössler; vgl.D. Rössler, GPT, 154-173.

2. A. a. O., 169.

Seelenkunde aus dem Entstehen der Psychologie als einer wissenschaftlichenDisziplin sowohl Konkurrenz als auch Hilfe. Die Geschichte der Seelsorgelehreim 20. Jahrhundert ist deshalb immer auch vom Nachdenken über das Verhält-nis von Seelsorge und Psychotherapie geprägt3.Eine der wesentlichen gesellschaftlichen Veränderungen, die in der Modernedie Aufgabe und das Selbstverständnis der Seelsorge betrifft, ist der Verlusteines einheitlichen Horizontes aller Lebensverhältnisse. Wir leben nicht mehrin einer Welt, sondern in vielen Welten. Geht man wie Peter L. Berger undTh. Luckmann davon aus, dass »die moderne Form des Pluralismus dann vollentfaltet ist«, wenn Sinnbestände, Lebensgewohnheiten, lebensweltliche Orien-tierungen und Ordnungen »nicht mehr gemeinsamer Besitz aller Gesellschafts-mitglieder sind«4, dann besteht in diesem Verlust an selbstverständlichen Ge-meinsamkeiten die eigentümliche Sinnkrise in der Moderne. Mit diesemVerlust ist aber auch ein Gewinn an Freiheit verbunden. Ein »eigenes Leben«5

zu leben ist nicht mehr nur an traditionelle Vorgaben und Prägungen gebun-den, sondern nimmt den Charakter einer Gestaltungsaufgabe an.Mit dieser Aufgabe stellt sich auch ein erhöhter Bedarf an Beratung und Beglei-tung ein. Es versteht sich eben nicht von selbst, wie sich die eigene Identitätausbilden kann, wie die widersprüchlichen Grundkoordinaten des Lebens ineine ausgewogene und ausbalancierte Form zu bringen sind. Wie jemand »ganzkonkret sein eigenes Leben führen soll, wenn die selbstverständliche Geltungüberkommener Ordnungen erschüttert ist«6, darüber geben die unterschiedli-chen Formen der Lebensberatung und Lebenshilfe Auskunft. Auch die Kirchenhaben auf diesen neuzeitlichen Beratungsbedarf reagiert, indem sie ein Netzvon Beratungsstellen etabliert haben, das eine Form von Religion in der Öffent-lichkeit7 darstellt und zwar im kirchlichen Auftrag, aber doch außerhalb der imengeren Sinn kirchlichen Frömmigkeit.Diese Ausdifferenzierung der Seelsorge, in der sich die neuzeitliche Ausdifferen-

Zum Begriff und geschichtlichen Hintergrund von Seelsorge 213

3. Vgl. M. Jochheim, Seelsorge und Psychotherapie, 1998, 2. Einschlägig sind hier auchdie Ausführungen bei Otto Haendler; vgl. O. Haendler, Tiefenpsychologie, Theo-logie und Seelsorge, 1971. Eine geschichtliche Darstellung des Verhältnisses von Seel-sorge und Psychologie findet sich bei Dietrich Rössler; vgl. D. Rössler, GPT, 173-180.

4. P. Berger/Th. Luckmann, Modernität, Pluralismus und Sinnkrise, 1995, 32.5. Vgl. U. Beck, Eigenes Leben, 1995, 9-174.6. P. Berger/Th. Luckmann, Modernität, Pluralismus und Sinnkrise, 1995, 33.7. Thomas Henke weist darauf hin, dass das dichte Netz kirchlicher Beratungsstellen »zu

einer selbstverständlichen und unverzichtbaren Einrichtung im Sozialstaat bundes-republikanischer Prägung geworden ist« (Th. Henke, Seelsorge und Lebenswelt, 1994,26; Hervorhebung von mir). Entsprechend wird das dichte Netz kirchlicher Beratungs-stellen mit öffentlichen Geldern bezuschusst.

zierung des Christentums in kirchliche, öffentliche und private Formen der Re-ligion widerspiegelt, bringt nicht nur einen institutionalisierten Dauerkonfliktzwischen therapeutischer Professionalität und kirchlicher Bindung8 mit sich.Die Institutionalisierung einer professionellen Beratungspraxis, die an den the-rapeutischen Standards psychologischer und psychoanalytischer Beratungs-konzepte orientiert ist, bedeutet auch eine Entlastung der kirchlichen Seelsor-gepraxis.

2.2 Ursprung der Seelsorge im Alltag

Die Chance, die in diesem Nebeneinander von professioneller Beratungsarbeitund Seelsorge in Kirche und Gemeinde liegt (was deren Professionalisierungnicht ausschließt), ist die, dass sich die Seelsorge ihres »Ursprungs in der All-tagswelt«9 der Menschen bewusst wird. Die Seelsorge spielt sich nämlich nichtprimär in professionellen Beratungspraxen, auch nicht in erster Linie im Stu-dierzimmer des Pfarrers ab, sondern auf der »Bühne des Alltagslebens«. Sie ge-winnt deshalb ihre Themen auch nicht aus einer dogmatischen Tradition, son-dern findet diese in den Lebenserfahrungen und der Gestaltungskompetenzvor, die Menschen in ihrer Lebenswirklichkeit ausbilden.Der Unterschied zwischen der psychologischen Beratungsarbeit und der Seel-sorge liegt folglich in einer situativen Differenz10. Dabei handelt es sich nichtnur um äußerliche Unterschiede, etwa dass der Pfarrer Hausbesuche macht

214 Praktisch-theologische Perspektiven

8. H. Lemke sieht sich durch diese Ausdifferenzierung genötigt, Seelsorge als eine Formder Beratungspraxis zu entwerfen, in der wieder Glaubensfragen thematisiert werdenkönnen. Zwar gilt das im Grunde für jede Psychotherapie, sofern der Klient seinenGlauben zum Thema macht, aber Lemke geht es darum, dass eine bestimmte dogma-tisierte Frömmigkeit die therapeutischen Essentials liefert (vgl. H. Lemke, Seelsorgerli-che Gesprächsführung (Kapitel »Jesus als Seelsorger«), 1992, 29 ff.).

9. Die von Wolfgang Steck programmatisch vertretene Verortung der Seelsorge in derAlltagswelt (vgl. W. Steck, Der Ursprung der Seelsorge in der Alltagswelt, 1987, 175-183) beschränkt sich nicht auf den Bereich der Praktischen Theologie. Die Bedeutungdes Alltags und der Alltagssprache (Dialekt), die einen »vertrauten Lebensbereich« ver-bürgt und den Menschen konkret sein lässt, hat auf dem Gebiet der neutestamentlichenExegese Ernst Fuchs für die Gleichnisse Jesus eingeschärft (vgl. E. Fuchs, Das NeueTestament und das hermeneutische Problem, 1961, 210f.). Kennzeichen eines jedenDialekts sind Intensität, Emotionalität und Konkretheit.

10. Nach Walter Bernet unterscheidet Seelsorge und Psychotherapie nur der Anlass desGesprächs: »Was die beiden, Seelsorge und Psychotherapie, unterscheidet, ist also vielmehr von der occasio, von der Gelegenheit her zu verstehen, aus der heraus einer zumSeelsorger oder zum Psychotherapeuten geht« (W. Bernet, Weltliche Seelsorge, 1988,130).

und der Therapeut nicht, dass das therapeutische Gespräch eine Leistung dar-stellt, die bezahlt werden muss und der Eintritt des Leistungsfalls sich an Symp-tomen festmacht, die einer klinischen Diagnostik unterworfen sind. Diese äu-ßerlichen Unterschiede machen nur auf einen tieferliegenden Sachverhaltaufmerksam: das Seelsorgegespräch ist nicht nur auf alltägliche Orientierungs-leistungen bezogen, sondern bewegt sich auch im Horizont der alltäglichen Da-seinsfürsorge. Ein Seelsorgegespräch geht in der Regel davon aus, dass es in denKrisen, die in solchen Gesprächen thematisiert werden, an der Selbsttätigkeitder Gesprächspartner anknüpfen kann und an ihrer Fähigkeit, die Ambivalen-zen und Konflikte im Alltag selbst zu bearbeiten11.In diesem Sinn geht es im Seelsorgegespräch um eine Form des Orientierungs-wissens. Orientierungswissen ist dadurch ausgezeichnet, dass es sich nicht aufbestimmte Wissensgegenstände bezieht, sondern auf die Art und Weise, wiediese Gegenstände für den Einzelnen gegeben sind und ihm helfen, sich in sei-ner Welt zu verorten und diese zu ordnen. Zu diesem »Ordnen und Orten«gehört daher »ein spezifisches Einbezogensein in dieses Wissen«12, und deshalbkann Orientierungswissen nicht geklärt oder gesteigert werden ohne die Per-son, für die es diese Orientierungsleistung erbringen soll.Auf dieses Orientierungswissen im Alltag bezieht sich das Seelsorgegespräch(und) zwar nicht nur als sein Thema, sondern als seine Form. Die äußerlichenGegebenheiten, in die das Seelsorgegespräch eingebettet ist, sind dafür wieder-um nur ein Indiz. So ist das Seelsorgegespräch nur eine Situation unter mehre-ren, in denen alltägliche Konflikte besprochen und bearbeitet werden. DieÜbergänge zwischen Konversation und orientierendem, konfliktbearbeitendemGespräch sind fließend13. An diesem äußeren Umstand zeigt sich, dass auch dasSeelsorgegespräch eine Form des Alltagsgesprächs darstellt, sich also im Hori-zont des Orientierungswissens hält, wie es für den Alltag charakteristisch ist,und dieses Orientierungswissen fortführt und steigert. Thema des seelsorgeri-

Zum Begriff und geschichtlichen Hintergrund von Seelsorge 215

11. Wolfgang Steck betont beim Seelsorgegespräch die Orientierung an der Selbsttätig-keit und Selbsterhaltung des Gesprächspartners: »Thema des Seelsorgegesprächs istdeshalb nicht eine Lebenskrise in ihrer allgemeinsten Form, sondern die Art und Weise,in der einer die Krisen seines Lebens selbst formuliert, selbst bearbeitet und auch selbstzu bewältigen versucht« (W. Steck, Der Ursprung der Seelsorge in der Alltagswelt,1987, 177; Hervorhebung von mir).

12. I. U. Dalferth, Kombinatorische Theologie, 1991, 109 f. Zum Begriff des Orientie-rungswissens sind einschlägige Ausführungen zu finden bei Ders., Theology and Phi-losophy, 1988, 205ff.

13. Wolfgang Steck spricht davon, dass die Dauer eines spezifisch seelsorgerlichen Ge-sprächs »aufgrund einer stillschweigend getroffenen Vereinbarung« zustande kommt,die »zwischen den Gesprächspartnern in der Schwebe« bleibt (W. Steck, Der Ursprungder Seelsorge in der Alltagswelt, 1987, 178).

schen Alltagsgesprächs ist folglich nicht die prinzipielle Störung der Fähigkeit,sich in seinem Leben zu orientieren und die Konflikthaftigkeit des Alltags zubearbeiten, worin etwa ein Kennzeichen schwerwiegender psychischer Erkran-kungen zu sehen wäre14. Thema ist die im Alltag eingelagerte Lebensweisheit,die Kunst, die konfligierenden Grundkoordinaten des Lebens in einem aus-gewogenen Verhältnis zu halten. Diese alltägliche Lebenskunst wird im Seelsor-gegespräch aktiviert und im besten Fall intensiviert und gesteigert.

2.3 Seelsorge oder Alltagssorge?

2.3.1 Seelsorge als Kritik alltäglicher Sorge bei H. LutherMit der Entdeckung der engen Verwobenheit von Seelsorge und Alltag15 stelltsich die Frage, was Seelsorge von alltäglichen Gesprächen unterscheidet, nocheinmal neu und anders in Bezug auf den religiösen Charakter des Seelsor-gegesprächs. Es gibt in der neueren Seelsorgeliteratur unterschiedliche Modelle,in Blick auf die Bedeutung der »Seelsorge als Gespräch«16 Alltag und Religionaufeinander zu beziehen.Henning Luther folgt in seinem Aufsatz »Alltagssorge und Seelsorge«17 auch für

216 Praktisch-theologische Perspektiven

14. Natürlich gibt es bei einer solchen Unterscheidung von Seelsorge und Psychotherapiefließende Übergänge in beide Richtungen. Für ihr Recht spricht aber schon der Um-stand, dass die Bearbeitung einer im engeren Sinne psychischen Erkrankung, wie dieBehandlung der Gottliebin Dittus durch Joh. Chr. Blumhardt, nicht schulbildend ge-worden ist für die alltägliche Seelsorgepraxis. Joachim Scharfenberg sieht aber imBlick auf das zentrale geistige und geistliche Motiv (»Jesus ist Sieger«) bei Joh. Chr.Blumhardt eine Möglichkeit der Übersetzung in psychoanalytische Begrifflichkeit:»Was er aus dieser Geistigkeit heraus getan hat, läßt sich jedoch ohne Schwierigkeit ineinen für uns heute verstehbaren Sinnzusammenhang eingliedern, sobald man einedafür geeignete Begrifflichkeit gefunden hat« (J. Scharfenberg, Seelsorge als Ge-spräch, 1991, 39). Dieses Eingliedern in einen heute verstehbaren Sinnzusammenhangmit Hilfe der geeigneten Begrifflichkeit lässt sich nicht nur tun, sondern muss auchgetan werden, soll Seelsorge nicht als eine naive Bearbeitung psychischer Erkrankungendurch biblisch-mythologische Vorstellungen erscheinen.

15. Als thematisch einschlägig sind hier zu nennen: W. Steck, Der Ursprung der Seelsorgein der Alltagswelt, 1987, 175-183; Th. Henke, Seelsorge und Lebenswelt, 1994;E. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 1996; H. Luther, alltagssorge und Seelsorge, 1986,436-458; Chr. Möller, Alltägliche Seelsorge in der christlichen Gemeinde, 1979, 239-251.

16. So lautet der programmatische Titel von J. Scharfenberg, Seelsorge als Gespräch,51991.

17. H. Luther, Alltagssorge und Seelsorge – Zur Kritik am Defizitmodell des Helfens, in:Ders., Religion und Alltag (RuA), 1992, 224-238.

die Seelsorge dem Interesse an einer kritischen Unterscheidung von weltlicherAnpassung und religiösem Weltabstand. Dieses Interesse prägt insgesamt seineBeiträge zur Praktischen Theologie, die unter dem Titel »Religion und Alltag«gesammelt worden sind. Die für Luther grundlegende These, dass Religion eine»bezugnehmende Differenz zur Welt«18 sei, bestimmt deshalb auch sein Ver-ständnis von Seelsorge im Alltag. Dieser Generalthese verdankt sich Lutherseinseitiges Verständnis von Alltag. Im Alltag geht es nach Luther ausschließlich»um das Gelingen der Anpassung an die konventionellen, gesellschaftlich nor-mierten Verhaltenserwartungen«19, dessen Inbegriff menschliche Selbsterhal-tung ist, »das machtförmige, sich selbst erhalten wollende Leben«20. Und Lutherscheut sich nicht, solch alltägliches Leben unmittelbar mit Gesetz und Sünde zuidentifizieren. Religion und damit Seelsorge im Unterschied zur Alltagssorgehat nach Luther mit einer anderen Perspektive zu tun, einem überschießendenMoment, das dieses Verhaftetsein im Alltäglichen transzendiert. Evangelium inder Seelsorge ist nach Luther ganz traditionell Wiedergeburt, Befreiung aus to-ter Routine durch das Leben, das uns der Sohn schenkt. Im Jargon der Eigent-lichkeit lautet dies dann: »Seelsorge ist immer kritische Seelsorge, kritisch gegenKonventionen des Alltags im Interesse eines ›eigentlichen‹ (oder religiös aus-gedrückt: ewigen) Lebens«21.Das alltägliche Gespräch wird in der Konsequenz dieses Seelsorgeverständnisseszum Seelsorgegespräch, wenn es an seine Grenze stößt. Erst an den Grenzenmenschlicher Selbsterhaltung wird deshalb das Gespräch überhaupt eigentlichGespräch, und bleibt nicht nur Gerede, in dem sich die zwanghafte Wieder-holung von Konventionen und die machtförmige Selbsterhaltung, repro-duziert. Das Seelsorgegespräch dagegen kennt Worte des (ewigen) Lebens, dieeine eschatologische Erneuerung aus einem transzendenten Jenseits der Weltbewirken.Das seelsorgerliche Gespräch hat deshalb bei Luther die Form der Kritik. Es istgeladen mit Metaphern der Sprengung, des Fremdseins, der Verunsicherung,des Aufbruchs, der Unruhe, der Suche, eben der Unterbrechung von Alltags-kommunikation22. Zwar stellt sich Luther das Verhältnis von Seelsorge und All-

Zum Begriff und geschichtlichen Hintergrund von Seelsorge 217

18. Vgl. dazu oben Kapitel I.4.19. H. Luther, Alltagssorge und Seelsorge, 1992, 227.20. A. a. O., 230.21. A. a. O., 231.22. Eberhard Hauschildt sieht in diesem radikalen Eigentlichkeitsgestus eine Parallele

zu der Kategorie des »echten Gesprächs« (E. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 1996, 287-290), die H. Müller-Schwefe in der Interpretation von Kriegsgesprächen entwickelt.Das echte Gespräch unterscheidet sich vom Gerede durch einen Transzendenzbezug,der in die Alltagssprache einbricht. In der Unterbrechungsfigur dokumentiert sich al-lerdings nicht nur das Erbe der dialektischen Theologie. Diese Figur findet sich bereits

tag als Vermittlungsaufgabe vor. Die Differenz, die Religion zum Alltag auf-macht, muss »sich in die je konkrete, spezifische Lebenswelt der Betroffenen,in ihre Fragen, Ängste, Hoffnungen vermitteln lassen«23. Aber diese Einschrän-kung betrifft nicht die Art des Gegensatzes, der vermittelt werden soll. Religionist zu vermitteln als ein Transzendentes, dessen transzendentaler Charakter sichdarin andeutet, dass die Religion einen Punkt thematisiert, der über den Alltaghinausgeht und eine umfassendere Sorge als die Alltagssorge betrifft. Religionbedeutet Bezogensein auf ein Letztes, das die Realität des Alltags kritisch auf-bricht.Auch wenn Luther kritisiert, dass »die abstrakte Behauptung kirchlich-dogma-tischer Satzwahrheiten noch lange keine Lebenswahrheiten für die betroffenenMenschen darstellt«24, so kann er doch dem Streit in der modernen Seelsorgeum den Gegensatz von Glaubenswahrheit oder Lebenswahrheit, von Seelsorgeals Verkündigung oder als Therapie, wie ihn etwa das biblisches Seelsorgekon-zept von Tacke25 aufmacht, einiges abgewinnen. Luther stimmt Tacke darin zu,dass im biblischen Seelsorgekonzept etwas von dem spezifischen Gegensatz vonSeelsorge und Alltag aufscheint, der unverlierbar ist, da sonst die Seelsorge inGefahr ist, banal zu werden.Diese Einsicht in eine spezifische Perspektivität, die die Seelsorge, bei aller Nähezu psychologischen und humanwissenschaftlichen Methoden, auszeichnet, istso richtig wie selbstverständlich. Kaum ein ernst zu nehmendes Seelsorgekon-zept verzichtet darauf, ein Mehr oder Anderssein von Seelsorge gegenüber an-deren Formen der Konfliktbearbeitung festzuhalten. Die Frage ist vielmehr die,ob das Differenzbewusstsein, das den christlichen Glauben bestimmt, sachge-recht auf den Alltag bezogen wird, wenn Gesetz mit immanentem Alltag undEvangelium mit einem transzendenten Extramundanen identifiziert wird26.Eine differenzierte, phänomenologisch gehaltvolle Auffassung von Alltag könn-

218 Praktisch-theologische Perspektiven

bei Schleiermacher, der den Gottesdienst und darin das Fest überhaupt als »Unter-brechung des übrigen Lebens« charakterisiert (vgl. D. Rössler, Unterbrechung des Le-bens, 1993, 36 f.; vgl. außerdem E. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 1996, 289 Anm. 50).

23. H. Luther, Alltagssorge und Seelsorge, 1992, 225.24. Ebenda.25. Vgl. H. Tacke, Glaubenshilfe als Lebenshilfe, 31993.26. Das Evangelium einseitig mit dieser destruktiven Seite der Weltnegation zu identifizie-

ren ist alles andere als selbstverständlich. Das zeigt schon ein Blick auf die klassischeDefinition des Teufels in Goethes Faust: »Ich bin der Geist, der stets verneint! Und dasmit Recht, denn alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht«. Kann man indiesem Lob einer berechtigten Zerstörung von Formen den Teufel noch als »Teil jenerKraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft« erkennen, so macht die Schluss-folgerung, die er aus dem notwendigen Vergehen kultureller Formen zieht, seine ei-gentliche Niedertracht aus: »Drum besser wär’s, dass nichts entstünde«. Die »Sünde,Zerstörung, kurz das Böse«, liegt daher in einer Einseitigkeit: im notwendigen Zugrun-

te die Alternative von Alltagsaffirmation oder Alltagskritik, von Anpassungoder religiösem Widerstand aufbrechen. Zu Recht weist Luther auf die Tendenzzur Erstarrung hin, auf den »sozialen Tod« im Alltäglichen. Aber die These, dass»seelsorgerelevante Situationen per definitionem gerade solche sind, in denender fraglose und reibungslose Lebensvollzug eben nicht mehr gesichert undnicht mehr selbstverständlich ist«27, wirft die Frage auf, ob solche einseitigeVerortung der Seelsorge nicht eine andere Form des Eskapismus darstellt, näm-lich eine Flucht vor unvermeidlichen Festlegungen.Denn auch die religiöse Kritik der selbstverständlichen Formen und Gewohn-heiten des Alltags muss neue Formen aufbauen, die dann so alltäglich werden28,wie diejenigen, von denen sie sich kritisch abwandte. Evangelium kann deshalbnicht nur das Moment der Transzendierung gegebener Formen sein, sondernmuss auch der Wahrnehmung einer vor- und mitgegebenen Weltvertrautheitgelten, für die wir nicht aufkommen müssen noch können. Religiös formuliert,geht es hierbei um Dankbarkeit gegenüber der Schöpfung. Beides auszubalan-cieren, einerseits die Bestimmtheit, derer das Leben bedarf, um sich zu orien-tieren, und andererseits die Unbestimmtheit, um nicht in Formen zu erstarren,ist dann ein anderer Ausdruck für Gnade.

2.3.2 Seelsorge als Wahrnehmung von Transzendenz imAlltagsgespräch bei E. Hauschildt

In anderer Weise als bei H. Luther sind für E. Hauschildt der Alltag und dieGespräche im Alltag Ausgangspunkte für seine Überlegungen, Religion undTranszendenzerfahrung im Alltag zu verorten. Während der Alltag für Lutherder »(fragwürdige) Ausgangspunkt des Nachdenkens«29 ist, und zwar fragwür-dig im wörtlichen Sinn, weil sich in ihm die Frage nach dem ganzen Menschen,einer umfassenden Wirklichkeit, einem transzendierenden Punkt jenseits derKonvention gerade nicht stellt, ist für Hauschildt das Alltagsgespräch der (un-hintergehbare) Zusammenhang, innerhalb dessen sich die Frage nach demTranszendenzbezug von Alltag selbst stellt, und innerhalb dessen sich auch dieFrage beantworten lässt, ob etwa Luthers Differenzmodell die tatsächlichen Er-fahrungen von Transzendenz im Alltagsgespräch sachgerecht bestimmen kann.Transzendenzerfahrungen stellen neben anderen Erfahrungshintergründen

Zum Begriff und geschichtlichen Hintergrund von Seelsorge 219

degehen von Formen eine neue Bestimmtheit, und in der Bestimmtheit ein notwendi-ges Vergehen zu verweigern (J. W. von Goethe, Faust, 1998, 47)

27. H. Luther, Alltagssorge und Seelsorge, 1992, 231.28. Der Glaube hat immer auch mit dem Vertraut-Werden des Außergewöhnlichen zu tun.

Seine Fähigkeit zur »Veralltäglichung« (M. Moxter, KaL, 389) ist eine Bedingung reli-giöser Traditionsbildung wie auch kirchlichen Teilnahmeverhaltens (vgl. J. Matthes,Volkskirchliche Amtshandlungen, 1975, 107).

29. H. Luther, Alltagssorge und Seelsorge, 1992, 301 Anm. 11.

einen Kontext für Gespräche dar, der in der spezifischen Gesprächssituation alsdie soziale Wirklichkeit dieses Gesprächs rekonstruiert wird. Was also Trans-zendenz im Alltag bedeutet, lässt sich deshalb nicht mehr ohne weiteres vonder jeweiligen Gesprächssituation ablösen. Denn jede Rekonstruktion von Kon-texten verfährt auch kontexterneuernd. Der Vorzug dieses methodischen An-satzes bei der kommunikativen Rekonstruktion sozialer Wirklichkeit liegtdarin, dass er Hauschildt erlaubt, die Variation und Modifikation von Trans-zendenzaussagen in alltäglichen Gesprächen zu verfolgen.Die Transzendenzerfahrungen, die in den spezifischen Situationen von Alltags-gesprächen rekonstruiert und artikuliert werden, sind allerdings bei weitemnicht alles Rekonstruktionen, die sich der christlichen Tradition und ihren Vor-stellungen von Transzendenz verdanken. Die Analyse von Alltagsgesprächen beiHauschildt fördert vielmehr eine Fülle unterschiedlicher Vorstellungen zu Tage,in denen sich die synkretistische Tendenz gelebter Religion, auch im Gesprächunter evangelischen Christen30 in aller wünschenswerten Deutlichkeit wider-spiegelt31.Die Verortung des Transzendenzbezugs im Alltagsgespräch, eine Art immanen-ter Transzendenz, und nicht wie bei Luther als Abstand und Differenz vonImmanenz und Transzendenz, zeigt sich bei Hauschildt in der aus der sozial-phänomenologischen Tradition bekannten Kategorie der »religiösen Sinnpro-vinz«32. In der Soziologie des Alltags tritt diese abgegrenzte Sinnprovinz desReligiösen in Form einer »Enklave« auf, einer geschlossenen Sinnstruktur, dieohne kontinuierliche Übergänge, beziehungslos zu anderen Regionen derWirklichkeit, wie eine Insel in den Strom des alltäglichen Bewusstseins einge-lagert ist. Symbole sind nach dieser Theorie diejenigen Darstellungsformen, diezwischen solchen abgegrenzten Enklaven vermitteln. Sie kommen in der All-tagswelt vor und gehören doch einer anderen Wirklichkeit an, auf die sie ver-weisen. Symbole sind »wesentlich Verkörperungen einer anderen Wirklichkeitin der alltäglichen«33.Die religiöse Symbolwelt erscheint daher, anders als dies bei H. Luther der Fallist, »als Ausdruck eines Überschusses, der im Alltag über den Alltag hinweg-greift, ohne eine transzendente Welt zu hypostasieren«34. Mit religiösen Sym-

220 Praktisch-theologische Perspektiven

30. Vgl. E. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 1996, 279. Alle Gesprächspartner erfüllten zweiBedingungen: sie hatten Geburtstag und waren formell Mitglied der evangelischen Kir-che.

31. Vgl. A. a. O. (»Gespräch D1«), 297-303. Auf Synkretismen, die sich nicht mehr alsRanderscheinungen der Häresie verbuchen lassen, hat Volker Drehsen hingewiesen(vgl. V. Drehsen, Wie religionsfähig ist die Volkskirche? 1994, 313-345).

32. E. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 1996, 277.33. A. Schütz/Th. Luckmann, Die Strukturen der Lebenswelt, 1994, 179.34. M. Moxter, KaL, 324.

bolen verbindet sich die Erfahrung einer Schnittstelle, eines »Zwischenfalls«35,der im Alltag das, was über den Alltag hinweggreift, wie etwa die Erfahrung desTodes, reintegriert. Es sind deshalb die »kleinen Transzendenzen«, die eine Dif-ferenz innerhalb der Immanenz des Alltäglichen aufmachen und nicht in Dif-ferenz zum Alltag als solchem stehen. Hauschildt ist es daher darum zu tun,»die in den Gesprächen selbst wahrnehmbare Funktion von Religion nicht au-ßerhalb des Gesprächs zu verorten«. Vielmehr geht es darum zu fragen, »welcheLeistung die religiösen Äußerungen für das Gespräch selbst haben«36.Folgt man der Vorstellung von Religion als einer abgegrenzter Sinnprovinz imAlltag, dann besteht die Funktion der Religion für das Gespräch darin, dass diereligiösen Symbole eine »Lücke« innerhalb des alltäglichen Gesprächs offen hal-ten, in der uneinholbare und untilgbare Transzendenzen, wie etwa der Tod,symbolisch in die Rekonstruktion sozialer Wirklichkeit eingeholt werden kön-nen.Hauschilds Frage, welche Bedeutung die religiöse Transzendenzerfahrung fürdas Gespräch selber hat, lässt sich allerdings noch in anderer Weise aufgreifen,wenn man phänomenologisch den »Alltag als Lebenswelt«37 interpretiert, unddas heißt als Gesprächshorizont und nicht, wie bei Hauschild, als Gesprächs-kontext. Dann nämlich gibt Religion einen Hinweis, wie es zu Übergängen undkontinuierlichen Fortbestimmungen von Gesprächssituationen in einer Biogra-fie oder Gesprächsgemeinschaft kommen kann. Diese Fragerichtung abersprengt die Vorstellung von Transzendenz im Alltag als einer abgegrenztenSinnprovinz und verweist auf eine andere Fassung des Transzendenzbezugs ineinem phänomenologisch verstandenen Alltag, der nicht in Sinnprovinzen,sondern Sinnhorizonte gegliedert ist. Darauf wird noch zurückzukommensein38.

2.3.3 J. Scharfenbergs Arbeit an Symbolen in der SeelsorgeObwohl bei J. Scharfenberg die Seelsorge und Pastoralpsychologie nicht aus-drücklich im Zusammenhang mit Alltag thematisiert wird, ist sein Ansatz derSache nach aufs Engste mit der Lebenswelt vermittelt. Für Scharfenbergs Kon-

Zum Begriff und geschichtlichen Hintergrund von Seelsorge 221

35. Hermann Timm charakterisiert diesen Widerstand als Zwischenfall: »Wie das Religiö-se im Alltäglichen stattfinden kann, soll erläutert werden an dem eminenten Fall vonWirklichkeit, der Zwischenfall genannt wird«. Die »Einhalt gebietende Mächtigkeit derZwischenfälle verhindert, dass man weitergehen könnte, als ob nichts passiert sei. DasKontinuum des Bewusstseins, mit der wir die Welt normalerweise zu deuten wissen,um uns sicher zu fühlen, bricht urplötzlich zusammen« (H. Timm, Zwischenfälle, 1986,12 f.).

36. E. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 1996, 278 (Hervorhebung von mir).37. Zur dieser phänomenologischen Auffassung von Alltag, vgl. Kap. I.38. Vgl. unten Kap. IV. 3.2.

zept der Seelsorge als Gespräch ist nämlich ein Verständnis von Sprache cha-rakteristisch, das diese nicht hinsichtlich ihres Informationswertes bedenkt,sondern in Bezug auf ihre pragmatische Funktion, eine Übereinstimmung inden Lebensformen zu ermöglichen. Im Anschluss an die moderne Sprachphi-losophie begreift Scharfenberg deshalb Sprache als ein »Sprachgeschehen«39,mit anderen Worten: er misst der Sprachlichkeit als solcher eine heilsame Wir-kung bei. Diesem Zusammenhang von Sprache und Heilung, von Seelsorge alsGespräch ist nach Scharfenberg zu wenig Aufmerksamkeit beigemessen wor-den. Das sei umso verwunderlicher, »da doch der gesamte biblische Sprach-gebrauch dem Wort die schlechterdings entscheidende heilende Funktion zu-misst«40.Worin liegt nun diese heilende Wirkung des Wortes? In einem elementarenSinn darin, dass Worte Distanz schaffen gegenüber »triebhafter Gebundenheit«.Wenn es gelingt »Empfindungen und Gefühle«, also namenlose, leere Unbe-stimmtheit, die sich in diesen wortlosen Gefühlen anmeldet, »in Worte zu ver-wandeln, bedeutet dies zweifellos einen Zuwachs an Freiheit«41. Genauer ist mitder verwandelnden Kraft des Wortes ein Ausdrucksgeschehen gemeint, das dieAmbivalenzen in der Lebenswelt ausdrückbar und sie so einer Bearbeitung zu-gänglich macht. Seelsorge als Gespräch hat deshalb die Aufgabe, »eine festeStruktur anzubieten, die eine strukturierte Beziehung ermöglicht, in der Ambi-valenzen und Konflikte in Symbolen aufhebbar, ausdrückbar, bearbeitbar ge-macht werden«42.In der Charakterisierung des Alltags als durchzogen von Grundambivalenzen43

macht sich bei Scharfenberg der Einfluss der psychoanalytischen Tradition gel-tend. Alltag ist für Scharfenberg als solcher konflikthaft. Alltag ist nicht wie beiLuther der fraglose und deshalb fragwürdige Ausgangspunkt eines Konflikts imGegenüber von Alltag und Religion, oder wie bei Hauschildt der unhintergeh-bare Gesprächskontext, innerhalb dessen sich Konflikte auftun können.Freuds44 Einsicht, dass in aller Kultur etwas zum Verschwinden gebracht wird,

222 Praktisch-theologische Perspektiven

39. J. Scharfenberg, Seelsorge als Gespräch, 51991, 35.40. Ebenda. Der Zusammenhang von Wort und Heilung ist für Scharfenberg auch der

Konvergenzpunkt von Theologie und Psychologie.41. A. a. O., 42.42. J. Scharfenberg, Pastoralpsychologie, 21994, 72.43. Vgl. a. a. O., 54 ff.44. Die Interpretation der berühmten Passage bei Sigmund Freud über das Spiel eines

Kindes mit der Garnrolle (S. Freud, Jenseits vom Lustprinzip, 1920/1978, 198f.),bleibt bei Scharfenberg allerdings eher vage: »In diesem Spiel geht es also sozusagenum die letzten und tiefsten Dinge des Menschseins, und wir haben allen Grund, es ernstzu nehmen« (J. Scharfenberg, Pastoralpsychologie, 1994, 98). Die Verknüpfung die-ser Passage mit der Liturgie als heiligem Spiel ist einleuchtend. Aber dieser Hinweis

das gleichwohl mitpräsent bleibt, äußert sich bei Scharfenberg darin, dass erschwere Konflikte, etwa Zwangshandlungen, auf ein Vergessen, Verdrängen,ein sprachlich nicht mehr »Verflüssigen«-Können eines erstarrten Symbols45

zurückführt. Die Virulenz eines starken Gefühlskonflikts, wie etwa im Fall desunmittelbaren Schocks der Trauer, liegt darin, dass ein überwältigendes Gefühlstumm macht und in ihm gegenüber Sprache erstarrt. Der Schock bleibt sounzugänglich für den sprachlichen Ausdruck. Was nicht benannt werden kann,lässt sich nicht bannen und führt zu zwanghaften Wiederholungen46.Mit Freud setzt Scharfenberg dagegen auf die befreiende Wirkung des Wortes,und zwar nun nicht als Zuspruch einer objektivierbaren Größe, die »den Men-schen von außen als das ganz andere trifft«47, sondern als Variation derjenigenSprachformen, die unter dem Eindruck überwältigender Gefühle erstarrenmussten. Diese Leistung erbringen nun in besonderem Maße religiöse Sym-bole48, allerdings nur – und das ergibt sich als Konsequenz aus der Ablehnungeiner dogmatisch fixierten Eindeutigkeit des religiösen Sinns –, wenn an ihnen

Zum Begriff und geschichtlichen Hintergrund von Seelsorge 223

wird erst dann fruchtbar, wenn die Ablösung von der unmittelbaren Fixierung auf dieMutter einbezogen wird, die Freud im Distanzgewinn des kindlichen Spieles jenesKindes erkennt. Überträgt man diese Beobachtung auf den Gottesdienst und das dortinszenierte Gottesverhältnis, so könnte auch das heilige Spiel der Liturgie als ein Frei-heitsgewinn verstanden werden. Das Ritual distanziert von der Fixierung auf ein un-mittelbares Gottesverhältnis und ermöglicht so erst Nähe zu Gott.

45. Paul Ricoeur hat diese Differenz von (erstarrtem) Idol und lebendigem Symbol inseiner Freudinterpretation herausgearbeitet (vgl. P. Ricoeur, Versuch über Freud,1996, 556; und vgl. unten Kap. IV. 3.3).

46. Kulturtheoretisch einschlägig ist der Hinweis Scharfenbergs, dass diese Erstarrungnicht nur die Zwangshandlung im Leben Einzelner, sondern auch in ganzen Symbol-gemeinschaften hervorrufen kann (Vgl. J. Scharfenberg, Pastoralpsychologie, 1994,86). Martin Luthers reformatorischer Protest liest sich in diesem Zusammenhang alsWiderstand gegen die Überbestimmtheit eines erstarrten Sinnsystems, das sich in ritu-eller Zwanghaftigkeit erschöpfte. Für den Protestantismus als Symbolwelt hatte das zurKonsequenz, dass er die Weise seiner eigenen Kontinuitätsbildung dementsprechendals beständigen Übergang von Bestimmtheit und Unbestimmtheit, von Erstarren undVerflüssigen derjenigen Symbolgehalte entwickeln musste, die ihm als Gehalt der Tra-dition vorgegeben waren (Vgl. Th. Erne, Art. Rezeption, 1998, 153f.).

47. J. Scharfenberg, Seelsorge als Gespräch, 1991, 35. Symptomatisch für diese Dogma-tisierung der Psychotherapie ist ihre Grundvoraussetzung, »dass Gottes Offenbarungin die Wirklichkeit des Menschen hineingesprochen ist« (H. Lemke, SeelsorgerlicheGesprächsführung, 1992, 28).

48. In diesen Zusammenhang gehört das Beispiel von Herrn A., bei dem die Auslösungseiner biografischen Erstarrung allerdings nicht mit Hilfe religiöser Symbole gelang.J. Scharfenberg bemerkt dazu, dass er heute etwas kühner sei mit der Behauptung»dass es auch in der christlichen Überlieferung etwas geben müsste, was es Herrn A.vielleicht hätte ersparen können, die besten Jahre seines Lebens mit einem so außer-

gearbeitet wird. »Rückgewinnung von Unbestimmtheit«49 ist zwar eine spe-zifische Leistung religiöser Symbole, aber dieser Gewinn kann auch verspieltwerden.Sprachliche Symbole sind generell in der Lage, solche »Sprach-Regression« zubearbeiten, weil sich in ihnen zwei gegenläufige Momente von Sprache ver-einen. Symbole sind zum einen charakterisiert durch Bestimmtheit. Sie bieteneine feste Struktur, in der »Ambivalenzen und Konflikte in Symbolen aufheb-bar, ausdrückbar, bearbeitbar sind«50. Gefühle werden in Symbolen überhaupterst zu solchen. Sie gewinnen ihre Gestalt durch Ausdruck und lassen sich dannaufheben in sprachlicher Kommunikation. Aber diese Erfahrung kann sichdann wieder verfestigen, zur Eindeutigkeit »eines bloßen Zeichens erstarren«.Zum Symbol gehört deshalb zum anderen auch seine Rückführbarkeit auf (be-stimmte) Unbestimmtheit, denn es ist nie »auf einen eindeutigen Begriffsinhaltfestzulegen«51.Erlöst das Symbol durch die Bestimmtheit seines Ausdrucks »aus der Einsam-keit narzisstischer Grunderfahrung und vermag es innere Erfahrung mitteilbarund damit teilbar zu machen«52, so verflüssigt es durch die unvermeidliche Un-genauigkeit, welche die Bestimmtheit von Symbolen charakterisiert. Die (be-stimmte) Unbestimmtheit des Symbols bezeichnet diese Bedeutungsungenau-igkeit des Unbegrifflichen, die geronnene Klischees, in denen sich traumatischeKonflikte vor sprachlicher Darstellung und vor dem Kontakt mit einer Symbol-gemeinschaft und ihren Ursprungsgeschichten abkapseln, für neue Bedeutsam-keitsvarianten öffnen kann.Nur als Frage formuliert Scharfenberg53, worin der entscheidende Hinweis aufden spezifisch religiösen Charakter von Symbolen liegt und damit auf dieTranszendenzerfahrung in dem als Symbolwelt strukturierten Alltag. Dennwas religiöse Symbole auszeichnet, ist eine bestimmte Zuspitzung der Bezie-hung von gegebenen Formen und ihren Überschreitungen, und das nicht als

224 Praktisch-theologische Perspektiven

ordentlich quälenden Symptom [einer Zwangshandlung] zuzubringen« (J. Scharfen-berg, Pastoralpsychologie, 1994, 67. Zusatz in eckiger Klammer von mir).

49. Ph. Stoellger, Metapher und Lebenswelt, 2000, 363; vgl. M. Moxter, Ungenauigkeitund Variation, 1999, 200.

50. J. Scharfenberg, Pastoralpsychologie, 1994, 72.51. A. a. O., 87.52. A. a. O., 92.53. Scharfenberg ahnt die therapeutische Leistung, die den religiösen Symbolen eigen-

tümlich ist, aber er kann sie zeichentheoretisch nicht fassen. Daher bleibt es bei derFrage: »Lässt sich damit [mit der Dialektik von Bestimmtheit und Unbestimmtheit]auch der spezifisch religiöse Charakter von Symbolen definieren?« (J. Scharfenberg,Pastoralpsychologie, 1994, 87; Zusatz in eckiger Klammer von mir).

ein zufälliger, sondern als wesentlicher Ausdruck des Gottesverhältnisses, dassie thematisieren54. Nur solche religiösen Symbole sind angemessen, die nichtnur das Unbedingte, sondern zugleich ihren eigenen Mangel an Unbedingtheitzum Ausdruck bringen55.

Zum Begriff und geschichtlichen Hintergrund von Seelsorge 225

54. Insofern stellt sich die Kritik von Isolde Karle an Scharfenberg nicht in den Umhofder Stärke seines Ansatzes. Zwar insistiert Karle zu Recht auf die »Fremdheit« derchristlichen Symbolsprache, aber die von ihr exponierte Alternative, religiöse Symboleentweder auf »allgemein menschliche Grundkonflikte« (I. Karle, Seelsorge in der Mo-derne, 1996, 124) zu beziehen oder sie in ihrem »spezifisch christlichen Profil undspezifisch christlichen Wahrheits- und Wirklichkeitsverständnis« (Ebenda) wahr-zunehmen, suggeriert ein äußerliches Verhältnis von allgemein menschlichen Grund-konflikten und religiöser Symbolsprache, so als gäbe es diese Konflikte jenseits ihrerDarstellung in Symbolen. Religiöse Symbole aber artikulieren Grundkonflikte als Kon-flikte der sprachlichen Darstellung von Sinn – und zwar auf eine spezifisch religiöseWeise. Das christliche Wirklichkeitsverständnis kommt darin so zum Ausdruck, dassdie Differenz von Gesetz und Evangelium das Ineinander von Formaufbau und Form-kritik in gesteigerter Weise orientiert. Die Fremdheit und das spezifische Wirklichkeits-verständnis, auf das es Karle ankommt, ist deshalb nicht jenseits der Dialektik vonmanifestem und verdecktem Sinn zugänglich, die jede Sinndarstellung auszeichnet.Darin besteht die Artikulation menschlicher Grundkonflikte als Konflikte der Darstel-lung von Sinn, dass sie im Vertrauten das Fremde, im Sagbaren das Unsagbare aufspü-ren gegen eine Tendenz, das Fremde, welches das spezifische Profil der christlichenÜberlieferung ausmachen soll, abstrakt aus dem Gegensatz zum Vertrauten zu bestim-men. Eine systemtheoretische Perspektive, die Karle favorisiert, unterschreitet dieseEinsicht von Phänomenologie und Psychoanalyse in die Konflikthaftigkeit, die jedersprachlichen Darstellung von Sinn eingeschrieben ist. Auch der zweite Vorwurf,Scharfenbergs Betonung des inneren Selbst verstärke nur eine gesellschaftliche Se-mantik, die »alles vom Individuum erwartet und alles dem Individuum zurechnet«(Ebenda), greift zu kurz, wenn man sieht, dass der psychoanalytische Ansatz die Frageder individuellen Identität als Problem von Präsenz und Appräsenz, Bewusstem undUnbewusstem in der Sinndarstellung durch Sprache behandelt. Die individuellen Kon-flikte sind daher Ausdruck eines kulturtheoretischen Sachverhalts, der Einzelne wieganze Symbolwelten betrifft. Nicht zufällig erweitert Freud die Psychoanalyse in Rich-tung auf eine Kulturtheorie.

55. Vgl. P. Tillich, Dynamics of Faith, 1957, 226.

3. Methoden der Erforschung von Seelsorge imAlltag

3.1 Quantitative Analyse von Handlungsmodellen

Um der Frage nach der Seelsorge im Alltag nachzugehen, bieten sich unter-schiedliche methodische Verfahren an. So hat Claudia Dalbert in ihrer psycho-logischen Studie »Über den Umgang mit Ungerechtigkeit«1 eine quantitativeMethode vorgeschlagen, die individuellen Unterschiede im Umgang mit Kri-sensituationen in eine messbare Systematik zu überführen. Krisen sind für sie»schema-diskrepante Ereignisse«. Hinter dieser Formulierung verbergen sichSituationen von Ungewissheit, die bedrohlich auf die bestehende Lebensgewiss-heit wie etwa auf den Glauben an eine gerechte Welt oder auf das Selbstwert-gefühl und das Selbstverständnis wirken, in denen Individuen ihre personaleIdentität gefunden haben. »Schema-diskrepante Ereignisse, also solche die etwaden Gerechte-Welt-Glauben oder den Selbstwert der Individuen bedrohen,schaffen ungewisse Situationen und wecken bei den Betroffenen den Wunsch,die Ungewissheit zu reduzieren oder ganz zu beseitigen«2.Dalberts Studie verfolgt die Hypothese, dass es einen messbaren Zusammen-hang gibt zwischen einem von ihr so bezeichneten Autoritarismus, einer, anein festes Weltbild gebundenen Ich-Stabilität, und der Fähigkeit, mit Ungewiss-heit im eigenen Leben umzugehen. Autoritativ geprägte Personen neigen dazu,in ungewissen Situationen auf alten Überzeugungen zu beharren und dieseWeltanschauung gegenüber Situationen der Ambiguität zu verteidigen. Die Ri-gidität des Autoritarismus, sein Schwarz-Weiß-Denken, sein Interesse an Über-schaubarkeit und Klarheit erweisen sich als intolerant gegenüber Ungewissheitund suchen diese zu verdrängen oder zu vermeiden.Der Korrelation von Autoritarismus und Ungewissheitsintoleranz entsprichtdie Korrelation von Ambiguitätstoleranz und nicht-autoritativ geprägten Per-sönlichkeiten. Menschen, die nicht darauf angewiesen sind, ihr Leben in klareRaster zu gliedern, Freund-Feind-Unterscheidungen zu treffen, Informationenzu kategorisieren, statt neue Informationen zu verarbeiten, haben nach Dal-

1. C. Dalbert, Über den Umgang mit Ungerechtigkeit, 1996, 5-240.2. A. a. O., 189.

berts Studie eine Ungewissheitstoleranz, die es ihnen in Krisensituationen er-möglicht, Ungewissheit zuzulassen und produktiv zu verarbeiten.Obwohl solch ein empirischer Ansatz unvermeidlich etliche skurrile Verein-fachungen produziert3, so ist doch die Ausgangsüberlegung dieses Verfahrensaufschlussreich. Krisen werden als Irritationen einer Ordnung begriffen, in dersich Menschen orientieren. In diesen Krisen bricht eine »schema-diskrepante«leere Unbestimmtheit4 im Zentrum von Bestimmtheit auf. Und Dalberts Inte-resse richtet sich darauf, welche Persönlichkeitsmerkmale welche Reaktionenauf eine solche abgründige Unbestimmtheit erlauben. Es geht ihr daher umKrisenbewältigung, um die Leistungskraft eines Verhaltens und die Optimie-rung einer Beratungspraxis, die auch in Situationen von überwältigender Un-bestimmtheit die Handlungskompetenz von Individuen stärken will.Dalbert bewegt sich mit ihrer Untersuchung primär auf der Ebene der Bewälti-gung5 von Handlungssituationen. Sie fragt deshalb auch nicht, in welchen Ho-rizonten sich die Situationen ausbilden, in denen gehandelt werden muss. DasHauptproblem dieses quantitativen Verfahrens liegt deshalb darin, dass dieAmbivalenz der Krisenbewältigungen nicht in den Blick kommt, die sie unter-sucht. Es geht ja in der Bewältigung von Ungewissheit nicht nur um mehr oderweniger optimale persönliche Handlungsdispositionen. Es geht bei dem, wasDalbert unter dem Stichwort der Ungewissheit fasst, um die Dimension einernie endgültig fassbaren und deshalb auch nie abschließend zu »bewältigenden«Irritation, um eine untilgbare Unbestimmtheit, die Freud mit der Formel vom»Unbehagen in der Kultur«6 umschreibt.Der vielleicht äußerliche Gesichtspunkt, dass in diesem Typus einer empirischverfahrenden quantitativen Methode die Tiefendimension der psychoanalyti-

Methoden der Erforschung von Seelsorge im Alltag 227

3. Die Skala signifikanter Merkmale des Autoritarismus zeigt laut Claudia Dalbert etwaeine Relation zur politischen Orientierung an Parteien, die dazu angetan ist, sämtlicheKlischees hinsichtlich Parteienbindung zu bestätigen. Autoritär strukturierte Personenneigen demnach zur CDU, Ungewissheitstolerante zu SPD/Grüne (vgl. C. Dalbert,Über den Umgang mit Ungerechtigkeit, 1996, 199).

4. Es geht in den von Dalbert analysierten Situationen nur vordergründig um Wissen(Gibt es einen gerechten Gott?), und deshalb auch nur vordergründig um die Fragevon Gewissheit oder Ungewissheit. Dahinter steht die Erfahrung von leerer (schema-diskrepanter) Unbestimmtheit in den Horizonten der Lebenswelt, die aufgrund unter-schiedlicher Dispositionen zu bestimmter Unbestimmtheit transformiert werden kannoder auch nicht, vgl. Interview und Kommentar in Kap. IV. 4.2 und 4.3.

5. Aus phänomenologischer Sicht gibt es Bedenken gegen den Gedanken der Bewältigungvon Situationen, der für Dalberts Konzept leitend ist und der im Übrigen der Optionfür eine nicht-fundamentalistische Unbestimmtheitstoleranz widerspricht. Der Phäno-menologie geht es mit dem Horizontbegriff gerade darum, die Unabschließbarkeit vonSituationen und die prinzipielle Vorläufigkeit ihrer »Bewältigung« zu betonen.

6. S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, 1930/1978, 367-424.

schen Theorietradition nicht einmal im Literaturverzeichnis eine Rolle spielt7,führt schon auf ein Theoriedefizit. Denn die Frage nach der Verarbeitungskom-petenz von Ungewissheit setzt ihrerseits bereits eine Transformation von leerer(unbestimmter) Unbestimmtheit in bestimmte Unbestimmtheit voraus, diesich mit Blumenberg als Entängstigung beschreiben lässt. Im Leben des Einzel-nen wie in der Geschichte der Menschheit muss »Angst immer wieder zurFurcht rationalisiert werden«8.Die spezifische Bewältigungspraxis, die Dalbert quantitativ-empirisch unter-sucht, ist mit anderen Worten bereits Ausdruck und Ergebnis einer kulturellenTransformation von Angst in Furcht, von differenzloser Unbestimmtheit in be-stimmte Unbestimmtheit. Diese Kulturarbeit liegt im Rücken der Bewälti-gungspraxis, die Dalbert im Blick hat. Sie bildet den Horizont, in dem sich die»Bewältigung« von Unbestimmtheit entweder als Risikoverarbeitung rationa-ler, an ihrer Selbsterhaltung orientierter Handlungssubjekte – bzw. als Abwehrsolcher Risikoverarbeitung – durch ein autoritär fixiertes (fundamentalisti-sches) Bewusstsein beobachten lässt. Unbestimmtheitstoleranz setzt bereits einespezifische Entdramatisierung von Gefahren voraus, die es erlaubt, in Unbe-stimmtheit vermeidbare und auch unvermeidliche Risiken zu differenzieren,gegen die man sich absichern kann oder auch nicht, aber die jedenfalls einerrationalen Umgangsweise, einem Wahrscheinlichkeitskalkül, zugänglich sind9.Die handlungsbezogene Verarbeitung von Risiken setzt deshalb die sprachlicheArbeit an einer namenlosen Gefahr voraus: das Wort als elementare Gegen-maßnahme gegen eine leere und abgründige Unbestimmtheit.Das entscheidende methodische Defizit des empirischen Quantifizierens vonHandlungsdispositionen liegt daher darin, dass es die kulturellen Kontexte,den Horizont, in dem die empirisch quantifizierten Handlungsoptionen zustehen kommen, nicht reflektiert. Denn diese kulturelle Codierung des Gefah-renbewusstseins ist kein empirisches Faktum, sondern der deskriptiv zuerschließende Sinnhorizont der jeweiligen »Bewältigungsstrategie« von Unbe-stimmtheit. Ein entscheidender Punkt in der Analyse des Umgangs mit Unbe-stimmtheit müsste deshalb sein, was durch diese Transformation von Angst inFurcht in der jeweiligen Situation ausgeschlossen werden muss, damit gehan-delt werden kann.Im Horizont der Transformation von Angst in Furcht, in dem sich der Selbst-

228 Praktisch-theologische Perspektiven

7. Das Literaturverzeichnis bei Claudia Dalbert (vgl. C. Dalbert, Über den Umgangmit Ungerechtigkeit, 1996, 231-240) weist keinen Titel von Freud aus.

8. H. Blumenberg, AaM, 11. Blumenberg bezieht sich an dieser Stelle auf eine Formu-lierung von K. Goldstein.

9. Im Interview mit Herrn und Frau K. (vgl. Kap. IV. 4.2) wird diese Transformation vonAngst in Furcht, von Schicksal in Risiko deutlich ausgesprochen: »Ich denk’, das ganzeLeben ist ein Risiko« (Sp.279 f.).

erhaltungswille neuzeitlicher Subjekte formiert, sind dann die von Dalbert er-hobenen Daten zur Handlungsfähigkeit von Subjekten in Krisen, zu ihrer Un-bestimmtheitstoleranz und (fundamentalistischen) Unbestimmtheitsintole-ranz, erhellend.

3.2 Sozialempirische Methoden der Gesprächsanalyse

Gespräche zwischen Menschen können unter verschiedenen Blickwinkeln the-matisiert werden. Nahe liegend ist die Untersuchung der Inhalte, die in Gesprä-chen vermittelt werden. Diese inhaltliche Ebene war lange auch für das Seelsor-gegespräch leitend10. »Seelsorge als Verkündigung« lautet die programmatischeFormel für diese Perspektive auf den Inhalt, der im Seelsorgegespräch vermitteltwerden sollte. Nicht weniger programmatisch ist das Gegenprogramm, dasScharfenberg unter dem Titel »Seelsorge als Gespräch«11 initiiert. Mit dieserÜberschrift verbindet sich ein Perspektivenwechsel, der die sprachphilosophi-sche Einsicht aufgreift, dass Sprache auf unterschiedlichen Ebenen inhaltlich,intentional und pragmatisch funktioniert. Gespräche sind deshalb nicht nurunter dem Gesichtspunkt der in ihnen mitgeteilten Inhalte zu würdigen, son-dern ebenso hinsichtlich der Wünsche, Erwartungen und Absichten der betei-ligten Sprecher und auch hinsichtlich der Art und Weise, wie sprachliche Inter-aktionen – auch in der Seelsorge – strukturiert sind. Mit diesem Interesse ander »Oberfläche« von Sprache, also nicht nur an dem, was inhaltlich gesagtwird, sondern an dem, wie das Seelsorgegespräch als Gespräch verfährt, begibtsich die Seelsorge in die Nähe dessen, was unter Rhetorizität zu verstehen ist12.Was aber sind die geeigneten Methoden, um die intentionale und pragmatischeFunktion von Sprache in der Seelsorge als Gespräch zu beschreiben und zu ana-lysieren?Eberhard Hauschildt hat in seinem Buch »Alltagsseelsorge«13 die wichtigstenMethoden der sozialempirischen Gesprächsanalyse auf ihre Tauglichkeit fürdas Seelsorgegespräch untersucht. Hauschildt unterscheidet fünf Typen der Ge-

Methoden der Erforschung von Seelsorge im Alltag 229

10. Exemplarisch sei auf Hans Asmussen verwiesen, der sein Buch über Seelsorge mit demprogrammatischen Satz einleitet: »Die praktische Theologie hat nur ein Recht in engs-tem Zusammenhang mit den Fragen der Dogmatik. […] Das vorliegende Buch möchtedarum den Beweis liefern, dass es keine wesentliche Frage auf dem Gebiete der Seel-sorge gibt, welche nicht sorgfältig an der Lehre unserer Kirche abgewogen werdenmüsste« (H. Asmussen, Die Seelsorge, 1935, XIV-XV). Anmerkung in eckiger Klam-mer von mir.

11. J. Scharfenberg, Seelsorge als Gespräch, Göttingen, 51991, 9-153.12. Vgl. oben Kapitel II.2.2.13. E. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 1996, 79-105.

sprächsanalyse: Die »quantitative Gesprächsanalyse«, die »Klassifizierung kom-munikativer Redeabsichten« in der Sprechakt-Theorie, die »Hierarchisierungvon Handlungen« in Bezug auf einen übergeordneten Wirkungszusammen-hang, die »Diskursgrammatik« und schließlich das von Hauschildt für seineAnalyse von Geburtstagsgesprächen favorisierte Modell: die »ethnomethodolo-gische Konversationsanalyse«. Gemeinsam ist diesen fünf Typen, dass sie keineInhaltsanalyse von Gesprächen vornehmen, sondern ihre Methoden die inten-tionale bzw. pragmatische Funktion von Sprache untersuchen. Handelt es sichbei den genannten Methoden um Theorien ohne oder nur mit schwachen nor-mativen Annahmen, nicht aber um Theorien der Letztbegründung der empiri-schen Wirklichkeit, sondern um Modelle zu deren Beschreibung, dann lassensich die Stärken und Schwächen ihrer Erklärungsleistungen auch additiv ver-binden. Je nach Frageinteresse bietet sich der eine oder andere Typus an oderauch eine Kombination von mehreren14. Empirisch sind die genannten Model-le, weil sie sich an konkreten Sprachgestalten, an sprachlichen Interaktionsfor-men und Gesprächsmechanismen orientieren, also an Daten, die sich mit Ge-sprächsprotokollen, Interviews oder Tonbandaufzeichnungen erheben lassen.Ein wesentliches Kriterium zur Beurteilung dieser sozialempirischen Analyse-modelle besteht in der Differenz von quantitativem oder qualitativem Verfah-ren. Quantitativ verfährt etwa die Gesprächsanalyse, welche die Faktoren zumessen versucht, die in einem Gespräch so etwas wie eine Gesprächsbindung,ein »conversational bond« erzeugen: »Sprachintensität, nach Häufigkeit sowieUmfang und Wortlänge gemessenes Vokabular, Körperverhalten von Augen,von Gesichtsmuskeln und Kopf – alle diese Größen erweisen sich als isolierbareEinzelfaktoren jener Gesprächsbindung«15. Das Ziel dieses Verfahrens ist es,eine mathematische Gesetzmäßigkeit in der Beziehung und Intensität der Fak-toren anzugeben, die ein Gespräch bestimmen, und zwar in einer Formel, diefür jedes Gespräch in allen Kulturen Gültigkeit hat. Dieses quantitative Verfah-ren nähert sich damit dem Ideal naturwissenschaftlicher Theoriebildung, aller-dings um den Preis, »von der Innenperspektive der Teilnehmenden selbst völligabstrahiert«16 zu sein.Ist folglich eine »reduktive Tendenz unausweichlich«, solange quantifizierendgearbeitet wird, so ist ein qualitatives Verfahren zwar in der Lage, komplexeZusammenhänge zu beschreiben, steht aber dann, wenn es nicht-reduktiv ver-fahren will, vor dem Problem der Überkomplexität. Das zeigt sich an der qua-

230 Praktisch-theologische Perspektiven

14. So begründet Hauschildt seine (pragmatische) Option für die Konversationsanalyseauch damit, »dass sie sich für unsere Zwecke als die geeignetste erweist« (a. a. O., 104).

15. A. a. O., 81.16. A. a. O., 82.

litativen Methode, wenn sie, wie in der Tradition der Sprechakt-Theorie17,kommunikative Redeabsichten klassifiziert. Die Sprechakt-Theorie versuchtdie Intention zu klären, die ein Sprecher mit seiner Aussage verbindet. Werdendiese Typen von Sprecherintentionen nur auf universale und fundamentale Ty-pen reduziert, so geben sie die konkreten Gespräche in ihrer Vielfalt und Un-schärfe nur ungenau wieder. Der entgegensetzte Weg, Hauschildt nennt dieZahl von 500 Sprechakten18 im Deutschen, führt zu einer Überkomplexität,die über die Erfassung und Lexikalisierung immer neuer Sprechakte kaumhinauskommt. Zudem ist die Zuordnung der intentionalen Typen zu den je-weiligen Aussagen kein objektivierbares Verfahren. Selten ist die Intention, diesich mit einer Aussage verbindet, eindeutig zu bestimmen. Es sind nicht nurMischformen, sondern »indirekte Aussagen« wie Ironie, die eine intentionaleKlassifikation von Gesprächen mit Schwierigkeiten belastet. Denn Ironie fälltnicht mit der eindeutigen »sprachlich-grammatikalischen Oberflächen-gestalt«19 der Sprache zusammen und wird erst durch die Interpretation desKontexts verständlich.Gemeinsam ist den sozialempirischen Methoden ein Theorie-Praxis-Problem.Denn diese Theorieansätze haben es bei ihrem Versuch, die Strukturen undMerkmale von Gesprächen zu klassifizieren, mit einem wenig strukturierten,vagen und unscharfen Beobachtungsfeld zu tun, vor allem, wenn es um Gesprä-che im Alltag geht. Das Verhältnis von Klassifizierung und konkreten Ge-sprächsdaten, von Gesprächstheorie und empirischem Datenmaterial, ist des-halb in der Regel wenig passgenau. Die Klassifizierungen der unterschiedlichenGesprächstheorien werden »dem Phänomen Gespräch nicht ausreichend ge-recht«20. Hauschildt schlägt deshalb einen anderen Weg vor, um Gespräche inihrer Eigenlogik zu beschreiben: die ethnomethodologische21 Konversations-analyse.»Ethnie« steht in diesem Modell für »die Mitglieder einer konkreten Gruppe

Methoden der Erforschung von Seelsorge im Alltag 231

17. Vgl. J. Austin, How to do Things with Words, 1962/151997, 148-164.18. E. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 1996, 84. Hauschildt bezieht sich bei dieser Zahl

auf eine Studie von Th. Ballmer.19. A. a. O., 87.20. A. a. O., 98.21. Th. Henke kritisiert an der ethnomethodologischen Untersuchung der Alltagspraxis,

dass sie vorgibt, methodisch indifferent zu sein, da nur die von den Beteiligten selberangewendeten Mechanismen der Wirklichkeitskonstruktion beschrieben werden sol-len. Eine Manipulation sei deshalb »theorieimmanent nicht auszuschließen« (vgl.Th. Henke, Seelsorge und Lebenswelt, 1994, 141 f.). Das ist richtig, sofern die ethno-methodologische Untersuchung der Alltagspraxis tatsächlich den kaum haltbaren An-spruch erhebt, methodisch indifferent zu sein. Gegen diese Verkürzung wendet sichallerdings Hauschildt (vgl. E. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 99 Anm. 86).

von Personen, die durch ihre gemeinsame Hervorbringung einer bestimmtensozialen Wirklichkeit bestimmt ist«, und das Stichwort »methodologisch« für»die Methoden, die jene Mitglieder selber verwenden, um eben jene sozialeWirklichkeit zu erzeugen«22. Die ethnomethodologische Konversationsanalysehat folglich den theoretischen Anspruch23, streng induktiv zu verfahren. Sieklassifiziert nicht die Gespräche unter Gesichtspunkten, die sich aus theoreti-schen Vorüberlegungen ergeben, sondern sie beschreibt »die Mechanismen,Einteilungen und Erklärungen, die die Beteiligten selbst anwenden zur Lösungder sich ihnen stellenden Aufgaben«24. Diese Form der Gesprächsanalyse hat esdaher auch nicht mit einer Menge vorgegebener Strukturmerkmale oder fest-stehender Interaktionsformen zu tun, sondern mit einer Ordnung, die in jedemGespräch eigens erst hergestellt wird – und zwar von den Beteiligten selbst.Diese Mechanismen zur Herstellung von Ordnungen in Gesprächen sind nunganz einfach. Es sind Mikrostrukturen des Gesprächs, wie etwa die Verteilungdes Rederechts, das so genannte »turn-taking«25. Soll sich allerdings das Pro-blem der Klassifizierung nicht unter der Hand wieder einstellen, dann könnendiese Mechanismen nicht invariante Momente in jedem beliebigen Gesprächsein. Sowohl die Genese dieser Mechanismen – sie werden im Gespräch erlernt– wie ihre Funktion müssen kontextabhängig sein. Die Gesprächsordnung öff-net den spezifischen Gesprächskontext »mit großer Flexibilität für den Einzel-fall« als diejenige soziale Wirklichkeit, die im jeweiligen Gespräch rekonstruiertwerden kann und muss. Jedes Gespräch »erzeugt« den Kontext, auf den es sichbezieht. Gespräche sind deshalb »kontexterneuernde Aktionen«26.Unschwer ist die Herkunft der Konversationsanalyse aus der sozialphänomeno-logischen Theorietradition27 zu erkennen. Doch unterscheidet sich sozialphä-

232 Praktisch-theologische Perspektiven

22. E. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 1996, 98 Anm. 85; Hervorhebung von mir.23. Hauschildt hält in der Tat die Auffassung für erkenntnistheoretisch unhaltbar, dass es

sich bei der ethnomethodologischen Untersuchung um eine Methode handelt, die kei-nerlei Theorie voraussetzt (vgl. E. Hauschildt, a. a. O., 99 Anm. 86).

24. A. a. O., 99.25. A. a. O., 100.26. A. a. O., 100. Allerdings ist dieser Punkt bei Hauschildt nicht ganz klar. Die Konver-

sationsanalyse soll nämlich in der Lage sein, »Gesprächsmechanismen sowohl unterAbsehung von seiner situativen Verortung verallgemeinernd (!) zu erfassen wie auchden singulären Fall zu beschreiben« (E. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 104f.; Hervor-hebung von mir). Wie aber soll einerseits verallgemeinernd und unter Absehung derSituation der reine Mechanismus des Gesprächs erfasst und andererseits nichts als dieEigenlogik des singulären Falls beschreiben werden?

27. Hauschildt bezieht sich explizit auf A. Schütz, P. Berger und Th. Luckmann (vgl.E. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 14 f.). Ihn interessiert an dieser Theorietradition ihr»mittleres Abstraktionsniveau«, das an formalen Mechanismen der Wirklichkeitskons-truktion orientiert ist. Phänomenologie heißt deshalb für ihn, die Phänomene unter

nomenologisches und phänomenologisches Verständnis der symbolischenStrukturiertheit der Lebenswelt im Blick auf den Horizontbegriff. Die Redevom Gesprächskontext28 ist vom Gesprächshorizont, der für eine phänomeno-logische Einstellung charakteristisch ist, unterschieden. Der Horizont ist nichtnur Rahmen, Ort oder Umwelt, in denen ein Gespräch geführt wird. Der Hori-zont thematisiert die gegebenen Einstellungen und bestehenden Überzeugun-gen wesentlich unter dem Verhältnis von Präsenz und Appräsentation29, inso-fern in einem Gespräch erst dadurch etwas zum Thema wird, dass anderes nichtthematisiert wird.Damit kommt die Ambiguität von Gesprächen in den Blick, von Ungesagtemim Gesagten, von Unausgesprochenem im Gesprochenen. Erst der Horizont-begriff lässt die unterschiedlichen Gesprächssituationen nicht bloß als ein iso-liertes Nach- und Nebeneinander erscheinen, sondern als eine Kontinuität auf-einander bezogener und voneinander unterschiedener Gesprächshorizonte.Jede Gesprächssituation ist mit dem, was in ihr gesagt wird, auf Nicht-mehr-Gesagtes und auf Noch-nicht-Gesagtes bezogen, das in der jeweiligen Situationals dasjenige mitgegeben ist, was sich sprichwörtlich in der Intuition ausdrückt,dass etwas »über meinen Horizont« geht.Gespräche sind deshalb in der Tat, wie Hauschildt bemerkt, »mehr als die Sum-me von Intentionen«30. Sie sind aber auch mehr als die Gesprächsmechanismenund Gesprächskontexte, die im Gespräch rekonstruiert werden. Um diesenÜberschuss deskriptiv zu erfassen, reichen die von Hauschildt genannten fünfMethoden der sozialempirischen Gesprächsanalyse nicht hin. Es bedarf einerweiteren Methode bzw. einer Erweiterung des Fragehorizonts. In dieser Erwei-terung geht es dann um eine phänomenologische Beschreibung des Ineinandersvon Sinnhorizont und Sinnerfahrung.

Methoden der Erforschung von Seelsorge im Alltag 233

den Gesichtspunkt der alltäglichen »Konstruktion der Wirklichkeit« in Blick zu be-kommen.

28. Analog zu Hauschildt bestimmt Wilfried Härle die »gegenwärtige Lebenswelt alsKontext (!) des christlichen Glaubens« (W. Härle, Dogmatik, 1995, 168-192; Hervor-hebung von mir). Dem entspricht bei Härle die Rede von Glauben als »Urvertrauen«und »grundlegender Heilserfahrung«, die in unterschiedlichen Kontexten konkretisiertund bewährt werden muss (vgl. W. Härle, a. a. O., 511-515).

29. M. Moxter sieht das anders. Nach seiner Auffassung unterscheidet sich das sozialphä-nomenologische vom phänomenologischen Verständnis der Lebenswelt durch einenunterbestimmten, zweistelligen Zeichenbegriff. Unterbestimmt, weil zweistellig, ist dieZeichenrelation in der Sozialphänomenologie aber gerade deshalb, weil sie dort auftritt»als Korrelation zwischen Präsenz und Appräsentation, zwischen Gesetztem und Mit-gesetztem« (M. Moxter, KaL, 321).

30. E. Hauschildt, Alltagsseelsorge, 1996, 90.

3.3 Phänomenologie und Psychoanalyse

Um der Grundambivalenz alltäglicher Ordnungen nachzugehen, von Horizon-ten des Selbstverständlichen und den Risiken und Irritationen, die an ihnenaufbrechen, von gegebenen Formen, die das Leben orientieren und zugleich zuÜberschreitungen nötigen, wird deshalb für die Frage, wie Menschen mit Kon-flikten und Krisen im Alltag umgehen, ein anderes Verfahren vorgeschlagen. Esist die aus der phänomenologischen Theorie bekannte Intentionsanalyse. An-ders als etwa die intentionalen Klassifizierungen in der Sprechakt-Theorie31 istsie nicht nur an der grammatikalischen Oberflächenstruktur der Sprache ori-entiert. Mit der Intentionsanalyse ist ein methodisches Verfahren gemeint, dasam jeweils gesetzten Sinn den mitgegebenen Sinnhorizont wahrzunehmensucht. Dieses phänomenologische Verfahren ist von der Entdeckung bestimmt,dass zur Lebendigkeit und Dynamik lebensweltlicher Ordnungen und Orientie-rungen gerade diejenigen Fragen gehören, die im Dunkel bleiben, also das, wasverdeckt bleibt, damit etwas klar werden kann.Beim Blick auf das Ineinander von Sinnhorizont und Sinnerfahrung handelt essich nicht, wie in der Konversationsanalyse, um Gesprächskontexte, sondernum Gesprächshorizonte, in denen die Phänomene in einer untilgbaren Ambi-valenz und Ambiguität erscheinen. Phänomene unterscheiden sich auch vonbloß subjektiven Empfindungen und Wahrnehmungen, die zwar nicht abge-stritten werden können, die aber erst durch sozialempirische Methoden32 einerquantifizierbaren Beschreibung zugeführt werden müssen, um eine – an denStandards der mathematischen Naturwissenschaft orientierte – Objektivitätund Intersubjektivität zu erreichen.Ein phänomenologisches Verfahren hat allerdings eine offensichtliche Nähe zurPsychoanalyse. Der Vergleichspunkt zwischen Phänomenologie und Psycho-analyse, den Ricoeur in seiner eingehenden Freudstudie33 herausgearbeitet hat,

234 Praktisch-theologische Perspektiven

31. Eine Klassifizierung von Redeabsichten (Sprechakt-Theorie) findet sich bei E. Hau-schildt, Alltagsseelsorge, 1996, 83-88; vgl. auch J. Austin, How to do Things withWords, 148-164.

32. Vgl. die quantitative Gesprächsanalyse bei E. Hauschildt, Alltagsseelsorge,1996, 81 f.bzw. die quantitative Messung von Handlungsdispositionen bei C. Dalbert, Umgangmit Ungerechtigkeit, 1996, 71-176.

33. Vgl. P. Ricoeur, Versuch über Freud, 1969. Die Konzentration auf eine Annäherungvon Phänomenologie und Psychoanalyse setzt allerdings einen anderen Akzent als diein der Theologie vorherrschende Ricoeur-Rezeption, die, vor allem am Problem desSchuldbewusstseins orientiert, sich deshalb auf Ricoeurs Symbolik des Bösen konzen-triert. Dem entspricht eine Freud-Lektüre, die vor allem seine Religionskritik undseine Anthropologie, nicht aber die psychoanalytische Kulturtheorie rezipiert. Die Wir-kungsgeschichte Freuds in der Theologie stellt erhellend D. Rössler dar (D. Rössler,

ohne deshalb die Differenz zwischen dem Unbewussten bei Freud und demUnbewussten in der Phänomenologie zu verwischen, liegt in der phänomeno-logischen Entdeckung der Horizontstruktur des Bewusstseins. Diese Ent-deckung besagt, dass »das Mitimplizierte, ›Mitgemeinte‹, nicht völlig zur Klar-heit des Bewusstseins kommen kann, gerade aufgrund der Textur desBewusstseinsaktes«34. In diesem »Primat des Unreflektierten über das Reflek-tierte, des Vollzogenen über das Ausgesprochene, des Effektiven über das The-matische« in der Phänomenologie sieht Ricoeur »eine neue Stufe in Richtungauf das Freudsche Unbewusste«35.Für Ricoeur ist diese für die Phänomenologie zentrale Entdeckung, dass dasBewusstsein auf etwas bezogen ist, das sich ihm entzieht, zunächst eine Ausdeh-nung der Wahrnehmung. Die Uneinholbarkeit der vollständigen Selbstpräsenzwird als Wahrnehmungsphänomen von Appräsenz beschrieben. Das Feld derWahrnehmung erweitert sich an diesem Phänomen des sich selbst entzogenenSelbstbewusstseins um das Verhältnis von Präsenz und Appräsentation36.Dieses Verhältnis von Präsenz und Appräsentation, und das ist die entscheiden-de These Ricoeurs, wird aber erst dann sachgerecht entfaltet, wenn es als ein

Methoden der Erforschung von Seelsorge im Alltag 235

Art. Freud, 1983, 580ff.). Als Beispiel für eine solche, an der psychoanalytischen An-thropologie orientierte Freud-Lektüre sei auf W. Gräb hingewiesen (W. Gräb, Le-bensgeschichten, 1998, 213ff.), der in seiner Auslegung von Thurneysens Lehre vonder Seelsorge das Verhältnis von Unbewusstem und Bewusstem bei Freud auf das klas-sische Gegensatzpaar von Sünde und Vergebung bezieht und das Unbewusste als Indizdafür nimmt, dass der Mensch nicht Herr im eigenen Haus ist. Diese, im Anschluss anSchleiermacher als Störung menschlicher Selbstbestimmung verstandene Sünde,wird auf einen tiefer liegenden Grund menschlicher Freiheit bezogen. Vergebung istdann die Befreiung von einer verzweifelten Selbstbestimmung. Sie ist, positiv gesagt,Selbstakzeptanz in Gott.

34. P. Ricoeur, Versuch über Freud, 1969, 388.35. Ebenda.36. Genau diese Ausdehnung der Wahrnehmung um die Dimension von Präsenz und Ap-

präsentation, in der sich ihre Unerschöpflichkeit, ihr produktives, innovatives, wieauch ihr konservatives, stillstellendes Potenzial widerspiegelt, spielt für Dietrich Zil-lessen eine zentrale Rolle. Es geht ihm darum »die Wahrnehmung von der Zwang-haftigkeit der Erfahrung zu befreien, in ihren Selektionen des Verborgenen ansichtigzu werden, in dem was Wahrnehmung einschließt, zu suchen, was sie ausschließt«(D. Zillessen, Religionspädagogische Lernwege der Wahrnehmung, 1991). In diesemSinn ist für ihn »Bilddidaktik die Grundlage religionspädagogischer Bild-dung«(D. Zillessen, a. a. O., 62 f.). Dagegen kommt bei A. Grözinger diese zentrale Dialek-tik der Wahrnehmung nicht in Blick, obwohl gerade das Verhältnis von Präsenz undAppräsentation in der Wahrnehmung seine These unterstützt, dass die »PraktischeTheologie als Kunst der Wahrnehmung Platzhalter fruchtbarer Innovationen ist«(A. Grözinger, Praktische Theologie als Wahrnehmung, 1995 158).

Problem von Darstellung, also als Problem der Sprache37, behandelt wird. Spra-che nämlich bringt durch jedes gesprochene Wort »die Ambiguität aller Zei-chen zutage«. Denn jedes Zeichen verdeckt, indem es etwas Bestimmtes aussagt,ein »unbestimmtes Sinnpotenzial«. Der Gebrauch von Wörtern ist deshalbdurch einen Kontext im Sinn eines Horizonts begrenzt, der nur eine bestimmteSinndimension aktualisiert und dadurch andere unbestimmt sein lässt. »Nurein Teil des Sinns wird vergegenwärtigt, indem der übrige mögliche Sinn über-deckt wird«38.Dieser »überdeckte, mögliche Sinn« ist der abwesende Sinn, der im anwesendenSinn mitgegeben bleibt. Appräsentation wird also von Ricoeur nicht als stum-me Unbestimmtheit, als ausgegrenzte Nicht-Sprache verstanden, sondern alsmitgegebener nicht aktueller, aber jederzeit möglicher Sinn von Sprache. »Fak-tisch interpretiert Ricoeur damit das [phänomenologische] Verhältnis von Prä-senz und Appräsentation als ein Verhältnis von Präsenz und Apräsenz […] Wiejedes Erscheinen etwas zum Verschwinden bringt, so bezieht sich Bewusstseinauf Unbewusstes.«39. Deshalb »verstärkt der Rückgriff auf Sprache den Paralle-lismus zwischen Phänomenologie und Psychoanalyse«40, weil die Sprache dieDialektik von Anwesenheit und Abwesenheit als ein Verhältnis von vor- undmitgegebenem Sinn freilegt. Die Sprache enthüllt so »die volle Bedeutung desWahrnehmungsmodells des Unbewussten für die Phänomenologie«41, weil siedas Unbewusste, parallel zur Psychoanalyse, als verschwundenen Sinn verständ-lich macht, und nicht, wie die Phänomenologie, die Appräsentation nur alseine stumme Wahrnehmung begreift. Das Zeichen ist »überall Verzicht auf dienackte Gegenwart«. Was es deshalb zum Verschwinden bringt, indem es etwassagt, sind wiederum Zeichen, auf die es als möglichen »überdeckten Sinn« be-zogen bleibt.Ricoeurs Rückgriff auf Sprache für das Verhältnis von Anwesenheit und Abwe-senheit ist nicht nur der entscheidende Hinweis auf den sachlichen Zusammen-hang von Phänomenologie und Rhetorizität. Dieser Rückgriff ermöglicht vorallem, »die Dialektik von Anwesenheit und Abwesenheit, welche die Sprache insWerk setzt, nachträglich in allen Formen des Implizierten oder Mitgemeintenwieder zu finden, in jeder menschlichen Erfahrung und auf allen Ebenen«42,

236 Praktisch-theologische Perspektiven

37. Diese Dialektik von Präsenz und Appräsenz, von Anwesenheit und Abwesenheit ist diePointe von Ricoeurs Symbolbegriff. Peter Biehl hat ihn für die Religionspädagogikals Symboldidaktik fruchtbar gemacht (vgl. P. Biehl/G. Baudler, Erfahrung – Symbol– Glaube, 1980, 72 ff.).

38. P. Ricoeur, Versuch über Freud, 1969, 394.39. M. Moxter, KaL, 349; Einfügung in eckiger Klammer von mir.40. P. Ricoeur, Versuch über Freud, 1969, 395.41. Ebenda.42. Ebenda.

nicht zuletzt auf der Ebene der religiösen Erfahrung43. Das »Wahrnehmungs-modell des Unbewussten« wird so im Rückgriff auf Sprache zu einem basalen,kulturtheoretischen Sachverhalt weiterentwickelt. Generell werden dann alleVerhältnisse von Mitgemeinten, Implizierten, von Bewusstsein und Unbewuss-tem, von ästhetischer Apparition oder theologischer Offenbarung als Grund-momente von Darstellung entschlüsselt. Die kulturellen Symbolwelten kom-men in den Blick hinsichtlich der rhetorischen Basisfunktion von Sprache, einMittel der Distanz zu sein, das in »der Ausrichtung auf die Anwesenheit in derAbwesenheit«44 einen Substitutionsakt vollzieht, der den Verlust des Abwesen-den vergessen sein lassen kann45. Als ein solches Distanzmittel, das etwa, wie inder Psychoanalyse vermerkt, die Abwesenheit eines ursprünglich lustvoll be-setzten Objektes bewältigt46, ist die von der Sprache ins Werk gesetzte Dialektik

Methoden der Erforschung von Seelsorge im Alltag 237

43. Im Bilderverbot sind nach A. Grözinger »Erscheinung und Verborgenheit, Unsicht-barkeit und Sichtbarwerden hier keine Gegensätze; zusammen gehören sie zum WesenGottes« (A. Grözinger, Praktische Theologie als Ästhetik, 1987, 91). Zur Dialektikvon Anwesenheit und Entzug finden sich bei ihm ferner instruktive Ausführungena. a. O., 103. 132. Zentral ist das Verhältnis von Abwesenheit und Anwesenheit als Pro-blem der Sprache und der Sagbarkeit Gottes bei Eberhard Jüngel (vgl. E. Jüngel,Gott als Geheimnis der Welt, 1977, 12. 313). In Bezug auf die Frage nach dem Zeichen-charakter der Kunst lässt es Jüngel allerdings dahingestellt sein, ob das Schöne »eherim Sinn einer nota praesentis rei oder eher im Sinn einer nota absentis rei zu verstehenist« (E. Jüngel, ›Auch das Schöne muss sterben‹ 1984, 111). Die Frage wäre aber gera-de, ob nicht die moderne Kunst darin ihre spezifische Eigenart hat, dass sie genau die-sem Bezug auf eine Sache, sei sie abwesend oder anwesend, ihren Widerstand entgegen-setzt. Das moderne Kunstwerk verweist als Anwesendes nur auf sich selber – als einAbwesendes – und auf nichts anderes. Deshalb bedeutet das moderne Kunstwerk auchnichts, im Sinn von: es be-deutet auf nichts anderes (vgl. dazu auch D. Zillessen, Re-ligionspädagogische Lernwege der Wahrnehmung, 1991, 75 ff.).

44. P. Ricoeur, Versuch über Freud, 1969, 395.45. Alles andere wäre auch nicht auszuhalten, wie sich an Zwangsneurosen studieren lässt,

die im Alltag keine Ungenauigkeit zulassen und deshalb nichts dem Vergessen und demVerschwinden anheim stellen können.

46. Freuds berühmtes Beispiel ist das eines Kindes mit seinem o-o-o-o Spiel (vgl.S. Freud, Jenseits des Lustprinzips, 1920/1978, 189-192). Es wirft, nachdem die Mut-ter gegangen ist, eine am Faden gehaltene Spule weg, sagt dazu »o-o-o-o« und zieht dieSpule wieder zu sich her, um sie mit einem erwartungsvollen »Da« zu begrüßen. DiePointe dieses Spiels liegt nach Freud nicht darin, dass das Kind die Abwesenheit derMutter beständig wiederholt und sich mit der Freude über ihre fingierte Wiederkehrbelohnt, sondern die kulturelle Leistung des Kindes besteht darin, dass es diesen Vor-gang mit den für ihn erreichbaren Gegenständen selbst in Szene setzt. Das Spiel selbertritt an die Stelle des Abwesenden. Es ist für das Kind ein Freiheitsgewinn, der für denTriebverzicht entschädigt. Im Spiel entdeckt das Kind seine Fähigkeit, das lustbesetzteObjekt durch ein Sprachspiel zu ersetzen und es löst sich so, wenigstens für die Dauerdes Spiels, von der Bindung an die Mutter. Für diese Stelle aus Jenseits des Lustprinzips

von Anwesenheit und Abwesenheit von der Art, dass sie das Vergessene undVerschmerzte als Abwesendes mitanwesend hält. Was Ricoeur somit aus demParallelismus von Phänomenologie und Psychoanalyse herauspräpariert, istdie Beschreibung der Dialektik von Anwesenheit und Abwesenheit als Werkder Sprache, in der er die Grundlage einer Theorie kultureller Formen sieht.Das zeigt sich an seinem Begriff des Symbols47. Die symbolischen Formen, indenen sich kulturelle Welten manifestieren, werden gewonnen aus Abwesen-heit. Es sind Formen, die Distanz schaffen und ein Abwesendes dem Blickentziehen, das gleichwohl als Abwesendes nahebleibt48. Die Einsicht in diesendialektischen Charakter des Symbols zeigt das Kulturgeschehen als eine kon-tinuierliche Progression, die zum Verschwinden bringen muss, was so zugleichmitanwesend bleibt. Als ein elementares Mittel der Distanz beruht die Kulturdeshalb auf Triebverzicht. Aber es ist ein Verzicht, der Formen der Orientierungund Ordnung schafft, in denen Leben erst möglich wird49. Damit diese kultu-rellen Formen aber lebendig bleiben, muss das, was als Abwesendes ausgegrenztworden ist, immer wieder an den Rändern, wie auch im Zentrum des Vertrau-ten zugelassen werden.Blickt man vor diesem Hintergrund auf die Seelsorge als Gespräch, so lässt sichdeutlicher sehen, worin der Beitrag des seelsorgerischen Gesprächs in der Ver-arbeitung dieser Grundambivalenz menschlicher Kultur liegen könnte. Wennes, wie Scharfenberg anmerkt, »gelingt, im Gespräch Empfindungen und Ge-fühle in Worte zu verwandeln, bedeutet dies zweifellos einen Zuwachs an Frei-heit gegenüber triebhafter Gebundenheit«50. »Worte verwandeln« unbestimmteÄngste, Gefühle, Unbewusstes in bestimmte Geschichten und eröffnen so einenRaum der Freiheit. In diesem Freiheitsgewinn artikuliert sich das, was Ricoeurals Distanzierung, als elementare sprachliche Form der Gegendarstellung ver-steht. Sprache bringt als solche etwas zum Verschwinden, was ohne sie, in nack-

238 Praktisch-theologische Perspektiven

haben nach Ricoeur die Phänomenologen eine besondere Vorliebe, da es die durch»Sprache bemeisterte Versagung« treffend veranschaulicht (vgl. P. Ricoeur, Versuchüber Freud, 1969, 394).

47. Vgl. dazu Kapitel II.3.2.48. Die Depotenzierung des Schreckens hat noch an seiner Mächtigkeit teil. An diese Ein-

sicht erinnert die schöne Geschichte aus der jüdischen Mystik, die Jacob Taubes er-zählt (vgl. J. Taubes, Terror und Spiel, 1971, 538 f.). Diese chassidische Geschichtemacht nach Taubes deutlich, dass das Erzählen über ein Geschehen, das schon langeher ist, zwar nur ein Ersatz für dieses Geschehen darstellt, aber im Erzählen noch »einZipfel des sich verflüchtigenden Geschehens selbst ergreift« (a. a. O., 539).

49. Die Auflistung der kulturellen Errungenschaften, auf die der Mensch zu Recht stolzsein kann, macht allerdings das Unbehagen in der Kultur, das gleichwohl herrscht, des-to erklärungsbedürftiger (vgl. S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, 1930/1978,386 ff.).

50. J. Scharfenberg, Seelsorge als Gespräch, 1991, 42.

ter Unmittelbarkeit, nicht zu ertragen wäre. Das seelsorgerische Gespräch istdeshalb nicht in erster Linie hinsichtlich seines Informationsgehalts interessant,sondern vor allem in Blick auf das, wovon es zu distanzieren erlaubt. Seelsor-gegespräche erschöpfen sich auch nicht in der Weitergabe von Heilsgütern oderstellen eine bestimmte Technik der Gesprächsführung dar, um in den Worten,die Menschen in ihren Krisen finden, auch noch das Wort Gottes als einer zu-sätzlichen Information51 zur Geltung zu bringen, sondern sie sind »Seelsorgeals Gespräch,« als »Sprachgeschehen«52 der Distanzierung und Verwandlungvon namenloser Unbestimmtheit durch Benennung.Aber das ist nur die Bewegung der Transformation in die eine Richtung. Sie hatzum Hintergrund eine Krisenerfahrung, welche die vertraute Ordnung erschüt-tert, wie etwa die Abwesenheit der Mutter den gesicherten Lebensraum einesKindes bedroht. Aufgabe der Seelsorge als Gespräch kann aber auch die Bewe-gung in die entgegengesetzte Richtung sein, nämlich die Suche nach dem Frem-den im Vertrauten, dem Ungesicherten im Gesicherten, nämlich dann, wenndie »Krise«53 nicht nur in der Erfahrung einer untergründigen Bedrohung, son-dern in der Erstarrung54 einer bestehenden Ordnung besteht.

Methoden der Erforschung von Seelsorge im Alltag 239

51. Vgl. a. a. O.; 25 ff.52. A. a. O., 35.53. Fasst man den Begriff Krise in einem weiten Sinn als Ausdruck von konflikthaften

Grundambivalenzen, die das gesamte Leben durchziehen, dann ist der GeneraltheseScharfenbergs zuzustimmen, dass es »Erfahrungen konflikthafter Art sind, die pas-toralpsychologische Bemühungen erforderlich machen« (J. Scharfenberg, Einfüh-rung in die Pastoralpsychologie, 21994, 51).

54. Bei diesem Leiden an der Erstarrung von Lebensordnungen handelt es sich auch um einspezifisch religiöses Problem. Darauf weist die Inschrift auf Höldrlins Grab hin: »Imheiligsten der Stürme falle zusammen meine Kerkerwand. Und herrlicher und freierwalle mein Geist ins unbekannte Land«.

4. Gesprächsanalyse

4.1 Dokumentationsform des Gesprächs und Annäherungan die Daten

Für die Analyse des Umgangs mit Unbestimmtheit in den Konflikten des Le-bens bietet sich als Dokumentationsform das aus der Seelsorge-Praxis und-Ausbildung bekannte offene Interview an. In diesem »qualitativ-inhalts-ana-lytischen Verfahren«1 besteht für die Befragten ein Spielraum, der es ihnen er-laubt, »ihre subjektiven Deutungen im Sinne narrativer Sequenzen zu entfal-ten«2.Ein Argument für diese narrative Form des »offenen Gesprächs«, und nicht fürdie »geschlossene Befragung«3 oder andere in sozialempirischen Gesprächsana-lysen bevorzugte Dokumentationsformen, liegt darin, dass Geschichten zu er-zählen nicht nur eine etwas langatmige und umständliche Weise darstellt,Handlungsoptionen darzustellen oder Sprecherintentionen wortreich ein-zukleiden. Diese beiden Gesichtspunkte sind einer standardisierten Form derBefragung leichter zugänglich. Narrative Sequenzen sind vielmehr selber schoneine spezifische Form der Verarbeitung. Gerade an der Umständlichkeit desErzählerischen4 lassen sich sprachliche Horizontbesetzungen ablesen, die aufdas Umfeld von sich verschiebenden und mitgegebenen Horizonten verweisen,ohne die keine Erzählung auskommt.Wie keine andere Redeform trägt das Erzählen einen Zeitindex. Das gilt nichtnur für den Umstand, dass Erzählen Zeit braucht, um sich zu entfalten, sondernvor allem dafür, dass das Erzählen eine Verbindung herstellt zwischen den ver-schiedenen Dimensionen des Zeitstroms: »Das Ego konstituiert sich für sichselbst sozusagen in der Einheit einer Geschichte«5. Erzählen ist daher nie punk-tuell, sondern eingebettet in verborgene, mitfungierende Horizonte, die da-

1. H.-G. Heimbrock, Gottesdienst, 1993, 87.2. Ebenda.3. Zu dieser Differenz äußert sich H.-G. Heimbrock, Gottesdienst, 1993, 87 Anm. 20.

Dort finden sich weitere Angaben zur umfangreichen Diskussion über die Bedeutungdes Narrativen in der Sozialforschung.

4. Zur Bedeutung des Erzählens, vgl Kap. V.: Kirche als »Erzählgemeinschaft«.5. P. Ricoeur, Versuch über Freud, 1969, 389.

durch, dass etwas erzählt wird, anderes ausblenden. In jeder Erzählung sind sogleichsam Vergessenes und noch nicht Erwartetes mitpräsent als erst nachträg-lich sichtbare Varianten, die durch diese bestimmte Geschichte möglich wer-den. Das »Ego« verschafft sich im Erzählen nicht nur seine Einheit in einernarrativen Verknüpfung von Vergangenheit und Zukunft, die seine wider-sprüchlichen Erfahrungen in eine Rundung und Ganzheit6 bringt. Jede Erzäh-lung impliziert darüber hinaus ein Mitgegebenes, das in jeder Geschichte alsSinnüberschuss präsent bleibt. Dieser Sinnüberschuss erlaubt es, zu immerneuen und anderen Varianten fortzuschreiten.Anhand solcher narrativer Sequenzen soll deshalb im folgenden Interview derThese nachgegangen werden, dass der Konvergenzpunkt von Seelsorge undRhetorizität in einem pragmatischen Verständnis des Wortes als einer elemen-taren Distanzierungsleistung liegt. Eine am Alltag und seinen Konflikten prag-matisch ausgerichtete Rhetorizität verweist auf eine Grundkonflikt in der sym-bolischen Struktur der Lebenswelt. Diese bedarf gegenüber einer bedrohlicheUnbestimmtheit der bestimmten Metaphern und Bilder, die wiederum auf einebestimmte Weise unbestimmt7 werden müssen, damit das Leben in den For-men, in denen es sich gegeben ist, nicht erstarrt.Das Interview stammt aus einer Reihe von zehn umfangreichen Gesprächen mitEltern, die ein Kind mit Down-Syndrom haben. Diese Interviews sind Teil einerStudie8, die den Zusammenhang von lebensgeschichtlichen Krisen und den in-dividuellen Deutungsprozessen untersucht, die Betroffene zur Verarbeitungihrer Krise in Anschlag bringen. Die Interviews haben deshalb nicht primärden Charakter von Seelsorgegesprächen, sondern sind Gespräche über »Seel-sorge«, also zumindest auch Befragungen »ex post« über einen vergangenenProzess der Verarbeitung einer Krisenerfahrung, die sich mit der Geburt eines

Gesprächsanalyse 241

6. R. Musil sieht die Funktion des Erzählens darin, in einer »perspektivischen Verkür-zung« dem Leben den Schein der Rundung und Ganzheit zu verleihen, vgl. dazuTh. Erne, Vom Fundament zum Ferment, 1998, 283-285.

7. Programmatisch vertritt Ph. Stoellger die These der »Unbestimmtheitsrückgewin-nung durch die Phänomenologie« (Ph. Stoellger, Metapher und Lebenswelt, 2000,363).

8. Das Interview hat freundlicherweise Wolfhard Schweiker zur Verfügung gestellt. Erarbeitet an einer Dissertation, die am Beispiel von Eltern mit Kindern mit Down-Syn-drom den Zusammenhang von Krisenerfahrung und individueller Deutung vor demHintergrund der Lebensanschauung der Betroffenen untersucht. Das von W. Schwei-ker geführte Interview ist Teil des Forschungsprojekts »Mitteilung der DiagnoseDown-Syndrom an die Eltern«, das am FB Sonderpädagogik der FH Ludwigsburg inVerbindung mit der Universität Tübingen durchgeführt wird. Einen Einblick in diesesForschungsvorhaben gibt die (an dem genannten Fachbereich 1995 eingereichte) Di-plomarbeit von W. Schweiker, Deutung und Krise, 1995.

Kindes mit Down-Syndrom in einer Familie verbindet. Das schließt nicht aus,dass auch so in diesen Interviews eine therapeutische Verarbeitung von Krisen-erfahrung stattfindet, aber die Akzentverschiebung erklärt doch, warum derInterviewer, anders als in einem offenen Seelsorgegespräch, ein bestimmtesFrageinteresse verfolgte.Dieses Frageinteresse zielt im Unterschied zu unserer Ausgangsthese auf dieVermutung, dass Wissen, etwa eine Antwort auf die Theodizeefrage9, neue Ge-wissheit schaffen und lebensgeschichtliche Krisen bewältigen hilft. Das Religiö-se liegt daher für den Interviewer nicht so sehr in der Transformation einerabgründigen Unbestimmtheit in eine bestimmte Unbestimmtheit, in der aucheine Leistung religiöser Symbole liegt. Das Religiöse liegt für den Interviewer inerster Linie auf der Ebene möglicher religiöser Antworten auf die Frage »warumich?«, die sich mit der Geburt eines Kindes mit Down-Syndrom den Elternstellt. Gleichwohl ist das folgende Interview relevant für den Zusammenhangvon Seelsorge und Rhetorizität, weil in Zustimmung und Distanz zu einem un-mittelbaren Zusammenhang von Krisenbewältigung und Gotteserfahrung dieEltern ihre eigene, distanziertere Form der Verarbeitung von Unbestimmtheitprofilieren.Es liegt auf der Hand, dass die Interpretation eines Interviews keine repräsen-tative Erhebung darstellt. Das würde sich auch dann nicht ändern, wenn dieAuswertung sämtliche zehn Interviews umfasste, die Wolfhard Schweiker mitEltern von Kindern mit Down-Syndrom geführt hat. Für die These einer rhe-torischen Verarbeitung von Krisen im Alltag im Sinne einer Abschirmung undÜberschreitung lebensweltlicher Horizonte ist die Frage nicht entscheidend,wie repräsentativ ihre Ergebnisse – statistisch gesehen – sind. Insofern geht esum ein qualitatives Verfahren, das auch an einem einzelnen Gespräch exempla-risch die phänomenologische Erweiterung des Fragehorizontes vorführt.

242 Praktisch-theologische Perspektiven

9. Vgl. Kap. IV. 4.2 Interview Nr. 10.

4.2 Interview Nr. 10: Herr und Frau K.10

I.: Also, mich interessiert, wie es am Anfang war. D. ist jetzt ja fünf Jahre alt,knapp sechs. Und es ist auch schon eine Weile zurück. Versuchen Sie sich zuerinnern, wie es war, als Sie zum ersten Mal erfahren haben, dass die D. dasDown-Syndrom hat.

5 Frau K.: Ja, gut. Das ist nie in Vergessenheit geraten. Das ist klar. Es warschlimm. Es war schon schlimm. Weil, gut, einerseits, wie ich ihnen vorhersagte, war die Befürchtung da. Also, es war eine Befürchtung. Es war alsokeine Ahnung in dem Sinn. Und, ja dann bestätigt sich dieser Verdacht, ahVerdacht.

10 I.: Sie haben befürchtet, dass es vielleicht das Down-Syndrom ist?Frau K.: Ich dachte, es könnte evtl. sein und auch wieder nicht. Ich doch nicht!

Dieses ganz normale Denken, wie es wahrscheinlich jeder hat. Wir dochnicht! Und dann war es im Prinzip eine ganz schnelle Geburt. Es ging allesrasend schnell, wunderbar. Und es war eine Wiederholung von vor acht Jah-

15 ren. Es ist ein großer Abstand bei unseren Kindern. Und dann war erst ’malalles ganz toll. Und es war allerdings beklemmend ruhig im Kreißsaal. Es istmir allerdings zu dem Zeitpunkt nicht aufgefallen. Erst im Nachhinein, alsich drüber nachgedacht habe. Hh, die haben es also gleich gemerkt, die Heb-amme und der Arzt. Die haben es gleich gemerkt, ich nicht.

20 Herr K.: Ich hab’ es auch nicht gemerkt. Ich war zu sehr mit ihr beschäftigt undmit gucken wie alles…

Frau K.: (reden ineinander): Ich hab nur, ich hab nur. … Sie war winzig. Siewar sehr klein.Sie kam auch ein bisschen zu früh. Und sie war verknittertund ein bisschen blau und all das. Und ich hab’ gedacht, sie ist winzig. Das

25 ist es. Und mir ist noch aufgefallen: Sie hat riesige Hände gehabt. Das Kindwar so klein. Es war so winzig. Und die Hände waren groß, enorm groß.Und die Füße waren so am Schienbein angelegt.

I.: Haben Sie da Verdacht geschöpft?Frau K.: Ich habe gedacht: Mein Gott, das Kind hat Gummibeine, Gummifüße,

30 dacht’ ich so für mich. Aber, ich hab’ das alles gesehen und aufgenommen,aber ich hab’s nie wahrhaben wollen. Und dann ist sie versorgt worden. Eshat endlos gedauert. Es hat gedauert und gedauert. Und dann hab’ ich ’mal

Gesprächsanalyse 243

10. Das Interview, das am 21. 8. 1995 stattfand, liegt hier in einer stark gekürzten Fassungvor. Eigenwilligkeiten, auch solche der Zeichensetzung, wurden weitgehend belassen.Lediglich offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Das Kind D. mitDown-Syndrom war zu diesem Zeitpunkt 5 Jahre alt. Das Ehepaar K. hat außerdemeinen 8 Jahre alten nicht-behinderten Sohn.

da rübergerufen: Ist ’was? Ne, ne, die wird abgesaugt. Die Frau Doktor mussabsaugen, sie nur noch absaugen. Und dann brachten sie sie…

35 Und dann hat sie meinen Finger umklammert. Genau wie der Florian zuseiner Zeit. Und dann lag sie so im Bärenbett, weil sie war ja so klein. Unddann hab’ ich sie halt so angeguckt. Dann, zu dem Zeitpunkt, kam meinMann und guckt so rüber. Und dann sagt er: Sag ’mal, hat die irgendwie soeinen mongoloiden Touch. So, das sagt er. Da hätt’ ich ihn würgen können.

40 Da dacht’ ich: Wie kann er so ’was sagen? Dann kam die Ärztin und hat dasmitgehört. Hat sich über uns gebeugt. Und ich dachte: Jetzt muss doch diewidersprechen. Jetzt muss doch die irgendwas sagen: Na ja, die ist jetzt haltverknittert. Und die (Geburt) war halt anstrengend und all das, ne. Was manhalt so sagt in diesen Augenblicken. Und dann hat sie uns so in den Arm

45 genommen und eine Weile gar nichts gesagt. Und dann meinte sie: Aber essind ja so liebe Kinder. Und das war’s dann. Und dann war’s erst ’malschlimm. Also, ein unsagbar tiefes Loch. Was anderes fällt mir da gar nichtein. Das ist, so viel Angst und, ja Angst, Angst war’s Größte. Angst vor derZukunft, vor der Aufgabe… Fragen, keine Antworten, ja, schon ’ne ganz

50 schlimme Phase. Und dann ist erstmal alles abgewiegelt worden. Ja, Ver-dacht, ist ja alles erst ’mal nur ein Verdacht zu dem Zeitpunkt. … Ja, wiegesagt, das kam alles so scheibchenweise hinterhergekleckert. Aber, da warsie schon, ja, was war passiert? Wir hatten sie angenommen, ganz einfach.Und da ging auch schon der Kampf um sie los, um ihr Leben, um ihr Über-

55 leben. Sie hat ein paar Mal sehr, sehr, sehr, ah… nahe dem Tod gestanden,mit Sicherheit.

I.: Was meinen Sie, wenn Sie sagen, Sie hatten sie angenommen?Frau K.: Ja, ich muss ganz ehrlich sagen: In der ersten halben Stunde, wie ge-

sagt, in diesen bangen Minuten voller Angst und und und, ja Angst, es ist60 glaub’ nur Angst gewesen, dacht’ ich schon für ’nen Moment: Es wär’ wohl’s

Beste, wenn das Kind sterben würde, dachte ich. Und es erschreckt mich jetztauch nicht. Ich mein, wenn ich heut’ s’Letzte gäb für die D., aber es wardamals so. Es war einfach (Frau S. weint).

I.: Wie war es bei ihnen Herr K.?65 Herr K.: Es trifft eigentlich alles in gleicher Weise zu. Die gleichen Ängste; es

gab so… Vierzig Jahre voraus gedacht, völlig unsinnig: Was wird einmalsein, wenn wir einmal nicht mehr sind?

I.: Das war schon ganz am Anfang?…Herr K.: Also, die ersten Tage waren sehr, sehr, sehr hart. Also, dieses schwarze,

70 tiefe Loch, in das wir da gefallen sind. Das war irgendwie wie endlos. Und ichkonnt’ also gar nicht alleine sein oder von meiner Frau weg sein… Ich konnt’nicht weg, ging nicht. Ich weiß nicht, ich war vielleicht zwei Nächte da. Unddann (haben wir) zusammen ein Zimmer. Und was wir da zusammen gere-

244 Praktisch-theologische Perspektiven

det haben in der Zeit, weiß ich gar nicht mehr. Wahrscheinlich immer wieder75 dasselbe. So nach dem Motto: Warum wir? Also, der Gedanke ist …

Frau K.: Der war schon da.Herr K.: … ist aufgefallen, auch ausgesprochen »Warum gerade wir?« Ja, aber,

die Antwort konnten wir uns auch nicht geben.Frau K.: Ja, aber man muss auch gleichzeitig sagen, dass wir sehr früh, eigent-

80 lich schon im Krankenhaus auch gesagt haben: Warum eigentlich nicht wir?Warum sind’s eigentlich immer nur die anderen? Ja? Das beinhaltet ja dieseFrage, nicht? Man fragt sich: »Warum denn wir?« Und in dem Momentdachte ich: Wenn ich’s nicht haben will, muss es ja zwangsläufig einen ande-ren treffen.

85 Herr K.: Ja, richtig. Aber in unserer Arroganz haben wir dann auch gesagt: Ja,gut, wenn schon jedes 600. oder 700. Geburtenkind mit Down-Syndromkommen muss, dann wenigstens zu uns rein. Dann hat’s es wenigstens gut.So ungefähr.

Frau K.: Ja gut, also das sagen wir jetzt heute. Ich muss ganz ehrlich sagen. Es90 war auch im Krankenhaus noch. Da hat mich ’ne sehr gute Freundin be-

sucht, die äußerst gläubig ist. Was mir persönlich, uns persönlich abgeht.Wir haben nicht diesen tiefen Glauben in uns, den vielleicht die Religionvorschreibt.

Herr K.: Überhaupt nicht, wir haben überhaupt keinen Glauben, …95 Frau K.: Doch, ich glaub an irgendetwas…

Herr K.: … nicht ’mal peripher …Frau K.: … an irgendetwas, nenn’s aber nicht Gott, ist egal. Aber auf jeden Fall,

die besagte Freundin ist äußerst gläubig, tief religiös. Und sie hat mich be-sucht, am ersten, zweiten Tag und hat also nichts besseres mehr zu sagen

100 gewusst als: Ja, der liebe Herrgott schenkt nur solch einer Familie so einKind, von der er auch weiß, dass es dort das Kind gut haben wird. Ich dacht’zum zweiten Mal - erst im Kreißsaal mein Mann und jetzt ihr - ich dacht’ ichmuss ihr die Augen auskratzen. Ich dacht: Mein Gott, B., wie kannst du mirnur so ’was antun? Wie kannst du so etwas sagen. Ich war sprachlos. Und je

105 mehr Zeit verging, desto besser konnt ich das verstehen. Und genau so ha-ben wir es im Laufe der Zeit auch versucht zu sehen. Ich denke, es gibt einenGrund. Ich weiß nicht, ob der Herrgott dafür verantwortlich ist. Das lass icheinmal dahingestellt. Es gibt irgendein’ Grund, einen ganz ganz wichtigen,warum die D. just bei uns gelandet ist. Und dann denke ich, dann ist es eben

110 auch unsere Aufgabe, sie so gut als möglich zu erfüllen. Das haben wir unshalt zum Ziel gesetzt. Weil wir dachten: Mein Gott, was sollen wir machen?Kopf in den Sand stecken und uns bedauern und uns bemitleiden, nacheinem Schuldigen suchen? Den gibt’s eh nicht. Ja, dafür sind wir auch Rea-listen zu sehr, wir beide…

Gesprächsanalyse 245

115 Herr K.: Und s’ging eigentlich recht schnell.Frau K.: S’ging schnell, s’ging schnell, ja, ja. Es ist uns dann, wie gesagt, haben

wir uns dann einfach…Herr K.: Noch in der Klinik haben wir uns dann nach und nach, so nach den

ersten zwei Stunden, Tag…120 Frau K.: Ja, ja, also, die Zeit war sicherlich wichtig, wie gesagt…

I.: Sie haben vorher gesagt: Glauben tu ich eigentlich schon, aber nicht an Gott.Da ist irgendetwas anderes. Können Sie…

Frau K.: Ja, ich bin. Ja, ich bin irgendwie überzeugt davon, dass irgendwie allesvorbestimmt ist. Unser Leben und wie gesagt, dass die D. bei uns und nicht

125 bei Nachbars gelandet ist. Ja, bin ich davon überzeugt, dass das so gewollt istvon, ja von irgendjemand oder irgendetwas. Ja, ich sträub’ mich…

I.: Und es ist auch offen für Sie, ob es eher ein Wesen ist, etwas Personhaftesoder eher etwas Abstraktes.

Frau K.: Ja, ach ja, das ist auch nicht wichtig für mich. Ich brauch’ da nicht, wie130 gesagt, diese Figur, diese weißhaarige oder gar die Kirche oder was, wenn ich

in mich gehe oder über solche Dinge nachdenke, dann tu ich das immer undüberall. Wie gesagt, wir sind keine Kirchgänger oder.

I.: Aber Sie haben Bezug zu diesem Etwas.Frau K.: Ah, Bezug, ich weiß nicht. Ja, was meinen Sie mit Bezug?

135 I.: Das es für Sie etwas bedeutet, dass es Relevanz hat für ihre Anschauung.Frau K.: Es erklärt für mich manches. Ich verfalle da nicht so ins Verzagen und

ins Sich-selber-Bemitleiden. Sondern ich sag’ mir einfach: Es ist so, weil es sozu sein hat aus irgendeinem Grund, den ich jetzt momentan vielleicht nichtverstehe und nicht nachvollziehen kann. Aber der mir vielleicht später ’mal

140 klar wird, ja. Oder vielleicht ist es auch ein Stückchen Selbstbetrug, natür-lich. Dass ich es mir ein bisschen einfacher mache.

I.: Steckt irgendwie ein Plan hinter der Sache und im Nachhinein könnte esauch sein, dass man den erkennt?

Frau K.: Ja.145 I.: Und war es bei D. jetzt so, dass Sie ein stückweit so etwas erkannt haben?

Frau K.: Erkannt? Ja, ich denk’ mir, sie hat uns einfach ganz ganz neue Perspek-tiven eröffnet. Sie hat uns gelehrt, viel aufmerksamer viele Dinge zu sehen,auch viel liebevoller in manchen Dingen, in gewissen Bereichen auch mit-einander umzugehen. Das ist sicherlich eine Bereicherung. Also, so traurig

150 eigentlich die ganze Geschichte war und so aussichtslos zu Beginn. Dafürhat’s auch durchaus positive Aspekte. Nichts desto trotz wär’s natürlichschön, wenn die D. nicht behindert wär, schon. Also, wenn Sie mir jetzt dieFrage stellen würden: Wenn sie die Möglichkeit hätten zu wählen, würd’ ichhalt wahrscheinlich doch das andere wählen. Einfach in Hinblick auf ihre

155 Zukunft und all das.

246 Praktisch-theologische Perspektiven

I.: Und die Frage, die Sie sich am Anfang im Krankenhaus gestellt haben: »Wa-rum, warum gerade wir?«

Frau K.: Spielt keine Rolle.I.: Spielt keine Rolle mehr. Hm ? (zu HerrN K.)

160 Herr K.: Jetzt mehr?Frau K.: Hat sehr früh keine Rolle mehr gespielt.Herr K.: Ach, was haben wir gebraucht? Drei Tage, vier Tage, am fünften Tag

war alles vorbei, so ungefähr.Frau K.: Also, das ist jetzt ein bisschen arg schnodd’rig, aber es ist wirklich…

165 Herr K.: Ja doch, das war halt so, weil sie halt solche massiven Probleme gehabthat.

Frau K.: Wissen Sie, es war dann so…Herr K.: Sie hat einen Herzfehler gehabt, wo das Operationsteam gesagt hat, da

können wir nicht mehr operieren. Das ist aussichtslos. Und wo dann der170 zuständige Professor, weil er gar nicht auf die Station gegangen wäre. Das

war ja so ein Zufall, ja doch, weil ich eine Geschichte machen wollte über’sHerzzentrum in München haben wir halt Kontakt mit dem Professor ge-kriegt. Und dann kam der und hat die D. angeguckt. Und da war die dreiMonate alt.

175 Frau K.: Vier Monate alt.Herr K.: Vier Monate alt, ja. Der hat das Kind gesehen. Und hat die Dynamik

gespürt und diesen Lebenswillen, den das Baby hatte. Und hat gesagt: Dasgeht nicht. Das können wir nicht einfach so sterben lassen. Da müssen wiretwas tun. Und hat dann entgegen den Werten, nachdem dieses OP-Team,

180 die seh’n ja die Kinder gar nicht. Die seh’n nur Werte, die seh’n nur Diagno-sebilder, diese Röntgenbilder, alles Mögliche, das Fleisch und Blut sehen dienicht. Und aufgrund dieser Werte haben sie gesagt: Nein, können wir nichtwagen, ist zwecklos. Und der hat dieses Kind gesehen und gesagt: Wir ma-chen es doch. Und sie haben es geschafft mit riesigem Erfolg. Sie gilt heut’ als

185 herzgesund, auch wenn immer noch das Risiko da ist…Herr K.: Wir haben uns eben gar keine Zeit zur Trauer gelassen.Frau K.: Ne, vor allem…Herr K.: Zur Hoffnungslosigkeit oder was auch immer, sondern uns gleich

reingestürzt so nach dem Motto: Was können wir tun?190 Frau K.: So, genau.

I.: Die praktischen Fragen.Frau K.: Ja und wir waren, denk’ ich auch, abgelenkt durch diese Zusatz-

geschichten. Die Behinderung war gar nicht mehr so vordergründig, ja.Der Herzfehler war plötzlich so wichtig. Und dann kam diese Art Darmver-

195 schluss… Das war dann alles viel wichtiger als die eigentliche Behinderung,ja. Und…

Gesprächsanalyse 247

Herr K.: Ja, z.B. auch anstrengende Operationen…Frau K.: Ja, eben, nicht, und da ist schon sehr früh aufgefallen, das Kind hat

einen Lebenswillen. Die hat das alles so im Handumdrehen gemacht und ist200 nach jeder wirklich schwierigen OP aufgewacht, Augen aufgeschlagen. Das

erste, was sie gemacht hat, war lachen, gelt. Und das ist, so, das hat einfachKraft gegeben. Uns, für sie weiter zu kämpfen. Und sie hat wahrscheinlichdiese Kraft wiederum aufgesaugt, gespürt, so denke ich, ist es ein Kreislaufgewesen zwischen uns, dass sich das so halt ergänzt hat…

205 I.: Und in der Auseinandersetzung mit dieser Frage »Warum?« und mit demschwarzen Loch, waren da Leute, da, mit denen sie reden konnten? Oderwaren sie gar nicht so in der Lage, diese persönlichen Dinge mit anderen …?

Frau K.: Doch, wir haben sehr viel geredet. Ich glaub, wir haben alle erschlagenmit unseren Worten. Und ich denk’, ich persönlich, du musst jetzt sagen,

210 wenn… Ich denke, ich hab’s mir von der Seele geredet. Und Sie merken jetztauch, ich denk’, mit jedem Mal drüber reden wird’s für mich einfacher.

Herr K.: Also, das ging mir genau so. Das ging mir genau so. Also, ich hätt’ amliebsten in die Zeitung geschrieben: Ich hab’ ein Kind mit Down-Syndrom.Also, nicht das Sich-Zurück-Ziehen, sondern das Nach-Draußen-Gehen.

215 Und das jedem sagen, dass es jeder weiß.Frau K.: Ja, und dann ist es auch gesagt.Herr K.: Und damit ist es okay.I.: Also, es war keine Lähmung, die Sie da erlebt haben im »schwarzen Loch«?Herr K.: Nein, nein.

220 Frau K.: Nö, nö.Herr K.: Ne, das war einfach… Vielleicht ist das entstanden durch zu viele Fra-

gen, die gleichzeitig da waren, ja. Und wir dann irgendwo nicht so viele Ant-worten gefunden haben. Ich weiß nicht, wie man das umschreiben soll. Wirhaben sicherlich viel miteinander geredet. Aber was von Außenstehenden

225 und von Eltern gekommen ist, das ist klar, das waren tröstende Worte und:Das schafft ihr schon. Und: Wir halten alle zusammen.

Frau K.: Aber es kam…Herr K.: Aber es war natürlich nichts Konkretes. Woher soll’s auch kommen. So

’was kann ja höchstens kommen und das ist ja unser Anliegen. Und deshalb230 führen wir ja zum Beispiel dieses Interview. Das kann ja nur von Leuten

kommen, die das halt ’mal selber mitgemacht haben.Frau K.: Nicht ganz, nicht ganz…Herr K.: Doch, das denk’ ich schon.Frau K.: … ich hab’ mich also wirklich gewundert. Es kam wirklich von Nach-

235 barn, von Leuten, die ich flüchtig, wirklich nur, man grüßt sich und mehrauch nicht, da kamen Hilfsangebote undzwar wirklich ernst gemeinte.

248 Praktisch-theologische Perspektiven

Herr K.: Das ist ja wieder etwas anderes. Ich hab’ jetzt gemeint auf ’s ThemaDown-Syndrom bezogen.

240 Frau K.: Ja, ne…Herr K.: So, weil wir halt so, ja, sachlich sind. Das einzige was uns wirklich

wichtig war, war Information.Frau K.: Ja.Herr K.: Input, Input, Input…

245 Frau K.: Und dadurch haben wir…Herr K.: …über das Down-Syndrom: Chancen, Risiken, was auch immer. Er-

fahrungen. Wir sind gleich, kaum dass wir springen konnten, da haben wiran einem Seminar der Lebenshilfe in Marburg teilgenommen über Down-Syndrom. Weil wir halt wissen wollten: Was können wir tun?… Wir waren

250 auch gleich im Kindergarten.Frau K.: Wir waren gleich da. Und da ist uns allen gleich aufgefallen, das haben

die auch gleich betont und toll gefunden, dass wir uns gleich kümmern undBescheid wissen wollen. Also, unmittelbar. Ich mein’, die D., die ist im Sep-tember, Anfang September geboren, vierzehn Tage später haben wir schon

255 geguckt, was wir machen können. Und Anfang des kommenden Jahres ha-ben wir auch unsere Gruppe gegründet. Ist jetzt allerdings inzwischen einbisschen eingeschlafen. Also, da haben wir nicht so unbedingt…

I.: Und diese Anschauungsfragen: Da bricht erst einmal eine Welt zusammen,man fällt ins schwarze Loch. Haben Sie sich da in erster Linie gegenseitig

260 helfen können?Frau K.: Mmhh (Richtung ja).I.: Sie haben da noch erwähnt, dass diese religiöse, die gläubige Freundin kam

und noch etwas gesagt hat. Aber ansonsten war das eher ein Thema für Sieselber !?…

265 Herr K.: Ja, das kann man wohl sagen, ja.I.: Wär’ Ihnen das da ein Bedürfnis gewesen von außen jemand zu haben?Frau K.: Also, es wär’ nicht unangenehm gewesen. Es war jetzt nicht unbedingt

ein dringendes Bedürfnis für mich, für dich.Herr K.: Also, ich überleg’s mir grad. Aber wenn ich so spontan drauf antworte

270 und wenn ich sag’ eher nein, glaub’ ich. Also, wenn da jetzt einer gekommenwäre und auf mich eingeredet hätte. Also, wir reden jetzt von den ersten zweiTagen. Ich weiß nicht, ich hätt’s vielleicht als Belästigung empfunden. Ichwar froh, als wir allein im Zimmer waren und die Schwestern nicht reinkamen und nichts. Weil ich hab’ dann doch… weiß nicht, aber vielleicht

275 nur, weil ich gespürt hab’, sie würden gern ’was sagen, wissen aber nichtwelche Worte die richtigen sind. Und dann sagen die lieber gar nichts…

I.: Wer hätte da als Erstes kommen können, sollen, dürfen?Herr K.: Die Eltern.

Gesprächsanalyse 249

I.: Die Eltern.280 Herr K.: Ja, das mit Sicherheit, ja.

I.: Die kamen auch?Herr K.: Die kamen. Aber es konnten nur ihre Eltern damit umgehen und meine

nicht. Und seitdem haben wir auch den Kontakt abgebrochen. Weil für sie daauch ’ne Welt zusammengebrochen war. So nach dem Motto: »Um Himmels

285 Willen geistig behindert«! Wahrscheinlich wär’ ein körperlich Behinderterohnehin schlimmer gewesen, aber. … Geistig behindert auch, eben einfachnicht perfekt, nicht. Und da kam da gar nichts so an Trost oder an Gehaltvol-lem. Das kam nur von den Schwiegereltern, die dann auch, ich weiß es nichtmehr inhaltlich, aber so, die hatten in irgendeiner Weise so empfunden, die

290 richtigen Worte gefunden. Das waren so die ersten zwei, drei Tage.Frau K.: Ja, gut. Mein Bruder kam gleich mit der Familie.Herr K.: Da standen sie alle so ums Bett rum.Frau K.: Ja sicher.Herr K.: Auf der einen Seite betretene Gesichter, auf der anderen Seite Scherze

295 gemacht.Frau K.: Im Prinzip, aber…Herr K.: Das war so ’ne ambivalente Sache.Frau K.: Ja, sicher. Es ist natürlich auch schwierig. Das sind so Situationen, die

hat man ja nie irgendwie erlernt. Wie geht man um mit so einem Moment?300 Aber alles in allem, eigentlich war’s doch relativ wie ungezwungen, nicht?

Herr K.: Ich wollt’ grad’ sagen: Alles in allem war’s eigentlich normal. Man hatdie gleichen dummen Sachen geredet wie bei jeder Geburt: Ach guck ’maldie Augen von Papa, die Nase von der Mutter. Obwohl man’s noch gar nichterkennen konnte. So ungefähr. Abgelenkt einfach…

305 I.: Haben Sie sich irgendwann die Frage gestellt: Wodurch kam das eigentlich?Frau K.: Ne, das war das einzige, was mich wirklich sehr gekränkt hat als ’mal

’ne Frau gefragt hat, woher denn das komme: Ob ich denn getrunken habein der Schwangerschaft. Also, das hat mich sehr gekränkt.

I.: Und Sie wussten auch gleich, dass es nicht selbst verursacht war?310 Frau K.: Das wusste ich. Und ich muss sagen, das erleichtert mir auch unheim-

lich den Umgang damit. Also, wenn ich z.B., eben um auf den Arzt noch malzurückzukommen, durch ein Versagen des Arztes oder so ’ne Behinderungjetzt hätte, dann könnte ich, glaub’ ich, schlechter damit umgehen. Also,einfach zu wissen, da ist einer, der hat es verursacht, würd’ mir also arg,

315 würd’ mir arg Bauchschmerzen bereiten. Aber so…I.: Also, nicht zu wissen, wer es verursacht hatte, war für Sie dann eher eine

Erleichterung.Frau K.: Ja, unbedingt, unbedingt.I.: Weil Sie wussten, dass doch irgendetwas dahinter steckt, so als Plan…

250 Praktisch-theologische Perspektiven

320 Frau K.: Wie halt mal… Auch die Ärzte bezeichnen das Ganze ja gerne als dieLaune der Natur.

I.: Und das war es für Sie auch?Frau K.: Ja, weil ich mir einfach auch denke: Mein Gott, wir wollen ein Kind,

aber wir haben mit Sicherheit kein Recht zu entscheiden wie wir das Kind325 wollen oder: dieses Kind wollen wir nicht, nur, weil uns die Nase nicht passt

oder weil eine Behinderung da ist. Ich denk, das ganze Leben ist ein Risiko.Also, wenn ich mich dafür entscheide, dann muss ich halt auch mit der letz-ten Konsequenz, denk ich, sagen: Ja gut, wenn’s halt nicht so ganz optimal istwie ’s unsere Gesellschaft heutzutage gerne vorschreibt, muss ich halt auch

330 damit klar kommen.I.: Herr K.: für Sie: Wodurch kam die Behinderung? Ist es auch eine Laune der

Natur?Herr K.: Ja, ich mein, da müssen wir halt sehr der Literatur vertrauen. Aber es

war eben auch für mich eine Erleichterung. Also nicht, sich selber irgend-335 welche Vorhalte machen zu müssen: Du hast nicht aufgepasst, du hättest in

diesem Alter doch ein bisschen mehr oder egal wie. Natürlich die Ursachen-forschung, ja, abgekürzt. Ist okay, passiert halt.

I.: Und dann steckt für Sie die Natur dahinter? Ich mein, das ist auch ein be-stimmtes Modell, dies zu erklären. Aber das wäre für Sie ein stimmiges Mo-

340 dell.Herr K.: Na, sagen wir einmal so: Dadurch, dass - ich weiß nicht wie diese

statistische Zahl da zustande kommt. Es ist so ’ne Frage mit diesen Durch-schnittszahlen, 600 oder 700 zu jeder Geburt. Aber, wir haben festgestellt,auch durch die Zeit in den Kliniken, in den Kinderkliniken, dass es eigent-

345 lich so gut wie kein Kind gibt, das gesund ist heutzutage. Vielleicht war dasschon immer so. Aber heutzutage durch die Möglichkeit der Diagnostikkommt man da viel stärker dahinter, und dass es eigentlich nur die Frage ist:welche Krankheit, welche Behinderung hat mein Kind. Dass es für michirgendwo eine arithmetische Geschichte ist. Okay, also das andere Kind hat

350 halt ein Augenleiden, das nächste hat einen Kropf und das nächste hat haltSchwierigkeiten überhaupt, ein verkürztes Bein oder…

I.: So dass Sie gar nicht unterscheiden wollen…Herr K.: Nö.I.: … zwischen normal und unnormal.

355 Herr K.: Richtig, richtig. Obwohl wir uns dagegen wehren, wenn man von derBehinderung als Krankheit spricht. Eine Krankheit ist normalerweise be-handelbar, vielleicht sogar heilbar oder vielleicht auch eine temporäre Ge-schichte. Die Behinderung bleibt halt. Da sprechen eben viel von Krankheit.Entweder wissentlich oder unwissentlich, um sich damit zu helfen - weiß ich

360 nicht - aber das versuchen dann wir immer gleich zurechtzurücken. …

Gesprächsanalyse 251

I.: Sie haben vorher angedeutet, so eine höhere Wirklichkeit oder etwas, washinter der ganzen Sache steckt, nehmen Sie nicht an, oder?

Herr K.: Ich glaube nicht an höhere Wesen oder an höhere Wirklichkeit. Wennüberhaupt, dann bin ich diesem Fatalismus anhänglich, dass ich sage: Wir

365 können in unserem Leben machen, was wir wollen. Wenn etwas passierensollte, dann passiert’s einfach. Zum Beispiel: Ich denk’ mir das manchmal für’nen Bruchteil von einer Sekunde, wenn ich mit 200 oder 210 über die Auto-bahn rase und ich mir immer denke, also, wenn jetzt ein Reifen bricht, dann»gut’ Nacht«. Und dann sag’ ich mir halt: gut, wenn das Ding platzt, dann

370 platzt’s halt. Dann soll’s halt passieren und wenn’ s nicht heute passiert, dannfall ich morgen von der Leiter, ja. Die meisten schweren Unfälle, tödlichenUnfälle, passieren ja nur im Haushalt, und das ist, eigentlich durch die Ge-burt sind wir da in diesem fatalistischen Denken, glaub’ ich, auch noch einpaar Fortschritte weiter gekommen.

375 I.: Heißt dann Fatalismus auch, dass das Leben nicht zu planen ist?Herr K.: Richtig!I.: … dass es so genommen werden muss, wie’s kommt?Herr K.: Genau so, genau so. Das heißt: Füge dich in dein Schicksal. Wenn jetzt

andere Leute dieses Schicksal Gott nennen, dann sollen sie es so nennen,380 aber…

I.: … aber das Schicksal ist für Sie von niemandem geschickt.Herr K.: So ist es.

4.3 Kommentar zum Interview

Die Geburt ihrer behinderten Tochter D. hat für das Ehepaar K. den Charaktereines Schocks11. Als sie kurz nach der Geburt damit konfrontiert werden, dassihre Tochter an dem Down-Syndrom12 leidet, fallen sie in ein »unsagbar (!)tiefes Loch« (Frau K. 40; Hervorhebung von mir), ein »schwarzes, tiefes Loch,irgendwie endlos« (Herr K. 59 f.). Mit dieser Erfahrung, die alle ihre bisherigenDeutungsmuster unterläuft, verbindet sich deshalb nicht die Furcht vor einerkonkreten Gefahr, sondern eine unsagbare, endlose Angst (vgl. die Häufung des

252 Praktisch-theologische Perspektiven

11. Die Ziffern im Kommentarteil beziehen sich auf die Ziffern am Rande des Interviews.12. Down-Syndrom (nach dem brit. Arzt J. Down) ist die medizinisch korrekte Bezeich-

nung für eine Abweichung im Chromosomensatz, die umgangssprachlich »Mongolis-mus« genannt wird. Das Ehepaar K., wie im Übrigen alle betroffenen Eltern, Ärzte,Therapeuten bestehen auf der medizinisch korrekten Bezeichnung Down-Syndromfür diese Behinderung, auch um die rassistischen Anklänge, die sich mit dem Ausdruck»Mongolismus« verbinden, zu vermeiden.

Begriffs 41-55). Eine entsichernde Angsterfahrung, mit den Worten Dalberts,ein »schema-diskrepantes Ereignis«, bei dem man den Boden unter den Füßenverliert (Loch!). Deshalb ist dieser Schock bei den Eltern mit Fragen verbunden,die sich in der theologischen Tradition mit dem Lehrstück der Theodizee ver-binden: »Warum wir?« (Herr K. 64; Frau K. 69 f.) und »Wodurch kam das ei-gentlich?« (I. 270).Der Interviewer ist derjenige, der an diesen Fragen im Gespräch beharrlichfesthält (I. 136. 180. 228) oder gar solche Fragen initiiert (270 wird die Fragenach der Ursache von I. eingeführt), weil er von der Annahme ausgeht, dass siein »einer höheren Wirklichkeit, was hinter der ganzen Sache steckt« (I. 317 f.)eine zureichende Antwort finden könnten. Dagegen ist der Umgang der Elternmit diesen Fragen signifikant von dieser theologischen Hintergrundsver-mutung unterschieden. Für die Eltern sind dies Fragen, die sich am Anfang,unter dem Eindruck des Schocks gestellt haben (Herr K. 59-64), auf die siesich aber keine (zureichenden) Antworten geben konnten (Herr K. 66) unddie daher nach kurzer Zeit nicht mehr relevant sind. »Ach, was haben wir ge-braucht? Drei, vier Tage, am fünften Tag war alles vorbei« (Herr K. 142). Mitdiesen Fragen verschwindet auch die unsagbare Angst, die diese evozierten(Frau K. 138; 141).Fragt man sich, wie diese Verarbeitungspraxis zustande kommt, die unbeant-wortbare Fragen nicht auf eine letzte Gewissheit zurückführt, sondern auf sichberuhen lassen kann, dann zeigt sich der rhetorische Charakter dieser Abschir-mung einer abgründigen Unbestimmtheit darin, dass das Ehepaar Wert auf dieFeststellung legt, viel und ausführlich miteinander geredet zu haben (Herr K.63 ff. und 197 ff.). Vor allem Frau K. äußert sich geradezu emphatisch: »Doch,wir haben sehr viel geredet. Ich glaub, wir haben alle erschlagen mit unserenWorten. Ich denk, ich hab’s mir von der Seele geredet. Ich denk, mit jedem Maldrüber reden, wird’s für mich einfacher« (Frau K. 183-186). Das Reden, dasFrau K. so betont, hat dabei nicht den Charakter von Antworten, die den Ab-grund erklären, der sich vor dem Ehepaar aufgetan hat, sondern der Abblen-dung dieser Angst. Das Reden, nicht als Information, sondern als Mittel derDistanzierung ist selber die Verarbeitung einer Angst, die keiner rationalen Be-gründung zugänglich ist. Mit Worten besetzen die Ehepartner einen Horizont,der ihnen durch den Schock der Behinderung verloren gegangen ist. Das»Loch«, das sich vor ihnen auftat, war grenzenlos, »endlos«, »unsagbar tief«.Der Blick in diese horizontlose Tiefe würde lähmen, weil nichts den Blick hält.Deshalb redet das Ehepaar nicht nur viel miteinander, sondern es tut dies auchmit einer Intensität, dass »wir alle erschlagen haben mit unseren Worten«. Andieser Metapher ist noch die Anstrengung der Horizontbesetzung spürbar, dieArbeit der Distanzierung, die sich gegen die differenzlose Endlosigkeit einerunfassbaren Angst stemmt. Worte schaffen Distanz. Mit jedem Mal wird des-

Gesprächsanalyse 253

halb die Last leichter. Geradezu sprichwörtlich redet sich Frau K. »von derSeele«13, was ohne Worte erdrückend wäre.Was aus dieser Art zu reden folgt, ist die Eröffnung eines Horizonts, in demwieder gehandelt werden kann. Neue Perspektiven tun sich auf. Nicht minderemphatisch äußert sich Herr K.: »Input, Input, Input. Über das Down-Syn-drom: Chancen, Risiken, was auch immer»(Herr K. 216. 218). Nicht zufälligfällt in diesem Zusammenhang das Stichwort »Risiko«. Es bezieht sich nichtnur auf Risiken, die mit der Behinderung durch das Down-Syndrom gegebensind, die Behinderung selber verwandelt sich von einem unfassbaren Schick-salsschlag, der eine endlose, unsagbare Angst auslöst, in ein Risiko. Weil »dasganze Leben ein Risiko« ist (Frau K. 289), gehört auch die Möglichkeit dazu,ein behindertes Kind zu bekommen. Ausdrücklich nennt Herr K. die statisti-sche Zahl von 600 bis 700 Geburten, auf die ein behindertes Kind kommt(Herr K. 301). Risiken aber sind einem rationalen Wahrscheinlichkeitskalkülzugänglich. Es gibt zwar unvermeidbare Risiken, die es hinzunehmen gilt(Herr K. 319 ff.), aber »schema-diskrepante Ereignisse« als Risiken begreifenzu können, bedeutet, sie einer vertrauten Differenz zu unterwerfen. Es ist dannkeine differenzlose Unbestimmtheit mehr, wie die Eltern ihre anfängliche Er-fahrung nach der Geburt beschrieben haben, sondern eine bestimmte Unbe-stimmtheit14, die zugeordnet werden kann und sich in vermeidbare und unver-meidbare Gefahren aufteilt – solche, gegen die man sich versichern kann undandere, die einfach zu erdulden sind. Der anfängliche Schock wandelt sich so ineine kalkulierbare Größe, eine rhetorische Transformation von »danger inrisk«15. Deshalb ist diese spezifisch neuzeitliche Verarbeitungspraxis in der La-ge, in Krisenerfahrungen die eigene Handlungsfähigkeit zu erhalten, ohne di-rekte Anleihen bei einem »höheren Wesen oder einer höheren Wirklichkeit«(Herr K. 319) machen zu müssen.Das bedeutet nun keinesfalls, dass sich dieser Verarbeitungspraxis Fragen, diekeiner zureichenden Begründung fähig sind, einfach nicht stellen. »Also, derGedanke ist – der war schon da – ist aufgefallen, auch ausgesprochen: Warumgerade wir?« (Herr und Frau K. 64 ff.). Irrig aber ist die Annahme, solche Fra-

254 Praktisch-theologische Perspektiven

13. Dieser Rhetorizität der Sprache als Mittel der Distanzierung, also »sich eine Last vonder Seele zu reden«, gleicht in religiöser Sicht am ehesten das Gebet, dessen Rhetorizitätebenfalls darin liegt, sich nicht in der Antwort auf gestellte Fragen, sondern im Ver-stummen dieser Fragen zu erfüllen.

14. Es gibt zwei Arten von Unbestimmtheit, eine bedrohliche, die abgründig, differenzlosund daher unbestimmt ist und eine gutartige, bestimmte Unbestimmtheit, die unver-zichtbar für die Lebendigkeit von Ordnungen ist. Bestimmte Unbestimmtheit kenn-zeichnet die (unbegrifflichen) Metaphern, vgl. dazu M. Moxter, Ungenauigkeit undVariation, 1999, 196; außerdem Ph. Stoellger, Metapher und Lebenswelt, 2000, 367.

15. Vgl. M. Douglas, Risk and Blame, 1992, 3-54.

gen ließen sich nur im Rückgriff auf ein transzendentes Urvertrauen, eine ele-mentare Grunderfahrung, jenseits der Oberfläche von Worten, verarbeiten.Dabei ist die rhetorische Abschirmung nicht beantwortbarer Fragen ihrerseitsnicht beliebig. Es gibt zwar keine zureichenden Gründe für die Beantwortungder Frage »Warum gerade wir?« Deshalb finden auch die Eltern von Herrn K.,für die durch die Geburt einer behinderten Enkelin »eine Welt zusammen-gebrochen war« (Herr K. 250 f.), nicht die »richtigen Worte«. In der Haltungder Großeltern spiegelt sich gerade nicht ein hilfreicher Abstand wieder, son-dern der permanente Blick in den Abgrund, der nicht davon loskommt, nachzureichenden Gründen für diesen Schicksalsschlag zu fragen. Es sind die Groß-eltern, in denen der Abgrund virulent bleibt (»um Himmels willen geistig be-hindert!« Herr K. 251).Die richtigen Worte dagegen finden die Schwiegereltern, der Bruder, auch Au-ßenstehende. Es sind konkrete Hilfsangebote (Frau K. 209), Worte, die ablen-ken (Herr K. 268). Aber es sind nicht nur Worte im engeren Sinn, die demEhepaar helfen, sich von Warum-Fragen zu lösen. Was die Angst in den Hinter-grund treten lässt, ist Ausdruck im weitesten Sinn, auch das Kind selber, seinkonkretes Dasein, das die Aufmerksamkeit auf sich zieht: »Aber, da war sieschon, ja, was war passiert? Wir hatten sie angenommen, ganz einfach (!)«(Frau K. 45 f.; Hervorhebung von mir). Es ist der Anblick seines Lachens, derAusdruck von Lebenswillen, der Kraft gibt (175), neue Perspektiven eröffnet(128), und ablenkt von dem Blick in den anfänglichen Abgrund: »Wir habenuns eben gar keine Zeit zur Trauer gelassen« (Nicht bedauernd Herr K. 163).Auch wenn es im »Begründungsbereich der Lebenspraxis«16 keine zureichendenGründe gibt, so bedeutet das nicht, dass das Ehepaar gänzlich ohne Gründeauskäme. Die Frage »Warum wir?« hat sich dem Ehepaar gestellt. Sie habennur keine (zureichende) Antwort gefunden (66 f.). Was sie gefunden haben,sind vielmehr unzureichende Gründe, die nicht im streng logischen Sinn aufeine Ursache zurückzuführen sind, aber in einer Situation, wie sie im Interviewvorliegt, dem Ehepaar erlauben, ihr Schicksal »anzunehmen« (Frau K. 45; 91 ff.;119). Darin liegt ihr rhetorischer Charakter17.Ein solcher unzureichender Grund wird von Frau K. genannt. Sie findet diesenGrund im Gespräch mit einer Freundin, die sie als »äußerst gläubig, tief religi-ös« (84) bezeichnet, deren »äußerst« religiöse Einstellung Frau K. aber nichtteilt, obwohl sie, anders als ihr Mann, an »irgendetwas« glaubt. Herr K. lehntdezidiert jegliche religiöse Vorstellung ab: »Wir (!) haben überhaupt keinenGlauben« (Herr K. 80; Hervorhebung von mir). Seine Frau widerspricht:

Gesprächsanalyse 255

16. H. Blumenberg, AAR, 125.17. Vgl. H. Blumenberg, AAR, 124: »Der Hauptsatz aller Rhetorik ist das Prinzip des un-

zureichenden Grundes«.

»Doch, ich glaub an irgendetwas« (Frau K. 81), worauf er seine Ablehnung be-kräftig: »nicht ’mal peripher« (Herr K. 82; deutlich auch 319: »Ich glaub nichtan höhere Wesen oder höhere Wirklichkeit«).In einem Gespräch, kurz nach der Geburt, äußert nun die Freundin: »Ja, derliebe Herrgott schenkt nur solch einer Familie so ein Kind, von der er weiß, dasses dort das Kind gut haben wird« (Frau K. 85 f.). Frau K. reagiert auf diese Aus-sage sprachlos, ja aggressiv: »Ich dacht’, ich muss ihr die Augen auskratzen«(87 f.). Aber mit der Zeit meint sie, diese Aussage besser zu verstehen und sieerweist sich als entscheidend, um die Aufgabe, die sich mit diesem Kind stellt,wahrnehmen und akzeptieren zu können (93).Frau K. versteht allerdings diese Aussage in einem anderen Sinn, als sie von dertief religiösen Freundin gemeint war. Nicht die Rückführung des blindenSchicksals auf den »lieben Herrgott« (Frau K: »Ich weiß nicht, ob der Herrgottdafür verantwortlich ist.«) ist für sie entscheidend, sondern dass es »irgend-einen Grund gibt, einen ganz wichtigen, warum D. just bei uns gelandet ist«(Frau K. 93). Es ist daher kein grundloses Vertrauen, die es Frau K. erlaubt,ihr Schicksal anzunehmen, aber eben auch keine wohlbegründete, zureichendeGewissheit, etwa in dem Sinn, dass die Geburt ihres Kindes auf den liebevollenRatschluss Gottes zurückzuführen sei. »Es ist so, weil es so zu sein hat aus ir-gend einem Grund, den ich jetzt momentan vielleicht nicht verstehe und nichtnachvollziehen kann. Aber der mir vielleicht später ’mal klar wird, ja« (Frau K.120-122).Dass es sich dabei um ein »Stück Rhetorik« handelt, also eine Form der Selbst-überredung, sich damit zu begnügen, dass es einen wichtigen Grund gibt, ohnezu wissen, welchen, zeigt sich an dem Einwand, den Frau K. selber macht, dieskönnte »auch ein Stückchen Selbstbetrug« (123) sein. Die Angewiesenheit aufrhetorische Mittel ist immer mit einer Anfälligkeit verbunden, in ihnen nurRhetorik zu sehen, nur Schein, wo eigentlich ein Sein zu erwarten wäre (etwader liebe Gott).Die Schwäche des Arguments, das Frau K. vorträgt, ein Vertrauen, das miteinem Nicht-Wissen verbunden ist, ein Grund, der zwar bestimmt (ganz wich-tig), aber nicht bestimmbar ist (irgend einer), ist aber gerade die Stärke dieserPosition. Denn sie erlaubt es Frau K., rational mit den Folgen der Behinderungihres Kindes umzugehen (»unsere Aufgabe so gut als möglich zu erfüllen«,Frau K. 93 f.), ohne die Reichweite der Vernunft zu überfordern, indem sie dieseauf Fragen anwendet, die einer zureichend rationalen Begründung nicht zu-gänglich sind.An dieser Form einer schwachen, rhetorischen Begründung fällt aber noch einzweiter Aspekt auf. Mit dem Stichwort des Selbstbetrugs wird gleichsam dergesamte Vorgang rhetorischer Abschirmung reflexiv. Frau K. äußert sich so,dass es keine Gewissheit ist, die sie wieder neu handeln lässt, sondern nur eine

256 Praktisch-theologische Perspektiven

Vertrautheit, eine vorläufige Ordnung, an der jederzeit neue Fragen (»vielleichtnur Selbstbetrug?«) aufbrechen können. Deshalb wäre gerade diese Balance vonBestimmtheit und (bestimmter) Unbestimmtheit einer gesteigerten Orientie-rung in einem religiösen Horizont zugänglich, allerdings nicht in dem Sinn,wie es die tief religiöse Freundin tut, indem sie versucht, die Erfahrung derKontingenz menschlicher Krisen in einem nicht-kontingenten transzendentenJenseits aufzuheben. Näher liegt vielmehr das Ineinander von gegebener Form(»Es ist so und es gibt einen wichtigen Grund«) und mitgegebenem Wider-spruch (»aber ich weiß nicht welchen und vielleicht ist dies nur Selbstbetrug«)zum Anlass zu nehmen, auf eben diese Dialektik in den symbolischen Formenhinzuweisen, denen sich der Glaube bedient, um den Sinn des Religiösen dar-zustellen.Auch Gott ist für den Glauben nur in bestimmten Bildern und zugleich nur,indem diese überschritten werden. In dieser Perspektive hätte Frau K. etwasvon dem erfasst, was der Glaube als Gnade versteht, nämlich sich dieser Dyna-mik von Formaufbau und Formabbau nicht zu verweigern, sondern darin einegewisse Gelassenheit zu entwickeln, dass »Gott das letztlich will und mir daseine gewisse Ruhe gibt«18.

18. Das Zitat stammt aus einem Privatbrief von S. Becker vom 19. Aug. 1979. Das voll-ständige Zitat lautet: »Was wir tun können, ist doch immer nur: das, was das Leben vonuns verlangt, ganz einfach anpacken. Das stellt sich für mich so dar, als würde ein Mo-saik konstruiert, zu dem wir Steinchen sind oder welche liefern, ohne zu wissen, wiedas Ganze eines Tages wird. Und meine Hoffnung ist, dass Gott das auch so gedachthat, dass er das letztlich so will und mir das eine gewisse Ruhe gibt« (zit. bei T. Koch,Mit Gott leben, 1989, 102).

V. Ausblick: Kirche als Erzählgemeinschaft

260 Praktisch-theologische Perspektiven

»Die meisten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler.«Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften

Blickt man auf die Ausdifferenzierung des neuzeitlichen Christentums vor demHintergrund der bisherigen Überlegungen zur Phänomenologie des Rhetori-schen als einer praktisch-theologischen Theorie gelebter Religion, dann stelltsich das Auseinandertreten von privaten und institutionalisierten Formen derFrömmigkeit in einem anderen Licht dar. Denn für beide, für die Religion desEinzelnen, wie für die kirchlich organisierte Religion, stellt sich das gleiche Pro-blem: Der Einzelne wie die Kirche sind auf manifeste Formen angewiesen, aufTraditionen, die durch Konstanz und Wiederholbarkeit ausgezeichnet sind –und zugleich darauf, diese immer wieder zu überschreiten. Die Symbole, indenen eine Biografie ihren Sinn und ihre Identität1 findet, müssen ebenso fort-bestimmt werden wie die Symbole, mit denen die Institution Kirche zu ihrerIdentität gefunden hat. Zu dieser Fortbestimmung bedarf der Einzelne in seinerindividuellen Lebensgeschichte der Beziehung auf andere. Eine eigene Lebens-geschichte lässt sich nur erzählen, weil bereits erzählt worden ist und andereihre Geschichten miterzählen.Jeder Einzelne ist daher notwendigerweise auf eine Erzählgemeinschaft2 bezo-gen. Das Auseinandertreten von individueller und institutioneller Frömmig-keit, von gelebter Religion und Kirche, hat deshalb auch damit zu tun, dassder Einzelne in der Kirche nicht die Erzählgemeinschaft findet, die seinem Be-

261

1. Es geht, wie Scharfenberg richtig sieht, in der Kirche (als Erzählgemeinschaft) umdie Rekonstruktion individueller Biografien im Sinne einer variierenden Aneignungder Geschichte Jesu im Horizont der je eigenen Lebensgeschichte (vgl. J. Scharfen-berg, Einführung in die Pastoralpsychologie, 1994, 94). Scharfenberg redet aller-dings in diesem Zusammenhang etwas missverständlich von »Verschmelzung« zweierGeschichten. Zum Zusammenhang von Erzählen und biografischer Identität vgl.V. Drehsen, Lebensgeschichtliche Frömmigkeit, 1990, 33-62; einschlägig ist außer-dem W. Gräb, Lebensgeschichte als religiöse Selbstauslegung, 1990, 79-89; W. Sparn,Einführende Bemerkungen zum Thema: Religion und Biographie, 1990, 11-29;F. Schweitzer, Lebensgeschichte und Religion, 41999.

2. Zum Verständnis des Hintergrunds des Begriffs »Kirche als Erzählgemeinschaft« ist aufJ. B. Metz hinzuweisen (vgl. J. B. Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft, 1977,181-203). Dem § 12 in diesem Buch liegt der Entwurf einer narrativen Theologie zu-grunde, die Metz 1972 im Herausgeberkreis der »Evangelischen Theologie« vortrugund 1973 als »Kleine Apologie des Erzählens« erstmals veröffentlichte (vgl. dazuE. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 1978, 427 Anm. 53). In der katholischen Seel-sorgetheorie wird die »Erzählgemeinschaft Kirche« im Zusammenhang von Seelsorgeals Rekonstruktion von Lebensgeschichten wieder virulent (vgl. Th. Henke, Seelsorgeund Lebenswelt, 1994, 478 ff.).

dürfnis nach festen Formen und nach Überschreitung dieser Formen entgegen-kommt. Dazu müsste sich das Leben der Kirche in einem Ineinander von Tra-ditionsbildung und Traditionskritik vollziehen, das der Logik von Formaufbauund Formkritik entspricht, mit der sich bei Einzelnen die symbolische Darstel-lung eines lebensgeschichtlichen Sinns entwickelt3. Zu den »produktiven Chan-cen einer realitätsgerechten Christentumspraxis«4 gehört deshalb auch die naheliegende Vermutung, dass die unbestrittenen »institutionellen Gerinnungen«5,die das heutige Erscheinungsbild der Kirche prägen, einer Verflüssigung nichtnur bedürftig, sondern auch zugänglich sind – und zwar aus innerem Antrieb.Wird Kirche so als »Erzählgemeinschaft«6 begriffen, in der nicht wieder-, son-dern weitererzählt wird7 – und zwar aufgrund der Wahrnehmung eines Sinn-überschusses, der an den bestehenden Ausdrucksformen ein Nochnichtgesagtesaktualisiert – dann, so ist zu vermuten, wird die Kirche wieder anschlussfähigfür die gelebte Religion.Ist Kirche eine Erzählgemeinschaft in pluralen Horizonten8, dann hat das Fol-gen für ihre institutionelle Gestalt. Diese kann dann nicht mehr nach dem Mo-

262 Ausblick: Kirche als Erzählgemeinschaft

3. Zu Recht betont Friedrich Schweitzer, dass die biografische Entwicklung auch dasSymbolverständnis selbst betrifft. Man kann etwa mit Fowler lebensgeschichtlichePhasen unterscheiden, in denen sich das Verständnis religiöser Symbole von einemeindimensional-wörtlichen zu einem mehrdimensional-symbolischen Verständnisweiterentwickelt (vgl. F. Schweitzer, Lebensgeschichte und Religion, 41999, 214).

4. V. Drehsen, Wie religionsfähig ist die Volkskirche? 1994, 11.5. H. Streib, Alltagsreligion, 1998, 29.6. Mit diesem Begriff ist nach Eberhard Jüngel die spezifische Überlieferung und Kon-

tinuitätsbildung einer reformatorischen Kirche umrissen, die nach CAVII eine creaturaverbi und congregatio sanctorum ist, in der qua evangelium pure docetur, »eine Insti-tution des Erzählens existiert« (E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 1978, 426). Indieser Erzählgemeinschaft, die sich als Kirche nur erhält, indem sie »dieses Erzählenerhält«, wird nicht wiedererzählt (Repetition), sondern weitererzählt (Rezeption), undzwar, wie Konrad Stock präzisiert, nicht irgendetwas, sondern eine bestimmte, ein-malige Geschichte, die »lebensbedeutsame Szene« der Passion Jesu (vgl. K. Stock,Grundlegung der protestantischen Tugendlehre, 1995, 141).

7. Der Grund dafür, immer wieder neu zu erzählen, liegt nach Ingolf Dalferth in derDifferenz von Darstellung und Dargestelltem (vgl. I. U. Dalferth, KombinatorischeTheologie, 1991, 35). Keine Darstellung des Glaubens ist deshalb erschöpfend, obwohlder Glaube sich nur in konkreter Darstellung artikulieren kann. Diese Differenz vonDarstellung und Dargestelltem, nicht aber das Verbot jeglicher Darstellung, ist diePointe des Bilderverbots.

8. Michael Welker unterscheidet zwischen einem gefährdeten und einem »schöpferi-schen Pluralismus« (M. Welker, Kirche im Pluralismus, 1995, 28), in der komplexenund differenzsensiblen Einheit des Geistes Gottes. Das Risiko – Kennzeichen desSchöpferischen – die eigene Tradition über Traditionsabbrüche hinweg fortzubestim-men, wird damit für den Geist Gottes gerade ausgeschlossen.

dell einer vorausgesetzten Einheit verstanden werden, die in ihren individuellenManifestationen nur noch exekutiert wird. Dagegen spricht schon die traditio-nelle pneumatologische Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kir-che. Vielmehr muss sie ihre Kontinuität in unabschließbaren Horizonten ent-falten. Diese interne Vielfalt, die oft von katholischer Seite als institutionellerMangel des Protestantismus kritisiert wird, ist daher näher betrachtet sein ei-gentlicher Vorzug. Wenn die je individuelle Aneignung des Heils sich nur imBezug auf andere Horizonte fortbestimmen kann, dann muss die Kirche einvitales Interesse an ihrer internen Vielfalt haben. Sie muss geradezu als eineInstanz der Pluralisierung von Aneignungsformen9 begriffen werden.Dass sich das dynamische Moment der Horizontüberschreitung, das Ekstati-sche, das üblicherweise als Kennzeichen des Geistes verstanden wird, auch insChaotische kehren kann, ist angesichts der Geschichte der protestantischen Kir-che und ihrer schwärmerischen Ableger unbestritten. Aber dieses Chaos, dasnur die Kehrseite einer unvermeidbaren Kritik des Institutionellen zugunstenseiner lebendigen Fortbestimmung darstellt, lässt sich nicht durch einen starkenEinheitsbegriff eindämmen. Die Stabilität einer protestantischen Kirche, dienicht zufällig im dritten Glaubensartikel als Gestalt des Geistes interpretiertwird, beruht vielmehr auf der Einsicht, dass jede Kritik an der Institution Kir-che selber institutionellen Charakter hat. Es kann deshalb in der Ekklesiologienicht darum gehen, ein mitunter ermüdendes Dilemma10 aufzulösen und einenabstrakten Gegensatz von Ordnung und Anomalie aufzumachen. Vielmehrmuss es darum gehen, das Werk des Geistes als eine Balance zu begreifen –wenngleich als eine »prekär bleibende Balance«11 von Institutionenkritik undInstitutionenbildung.

9. Zur Rezeption (Aneignung) als Vorgang kirchlicher Überlieferung, vgl. Th. Erne, Art.Rezeption. Praktisch-theologisch, 1998, 153 f.

10. Sehr schön führt von Matt dieses Dilemma von Institutionenbildung und Institutio-nenkritik, von Geregeltem und Ungeregeltem am Beispiel von Liebe und Ehe vor. Werliebt, hat immer Recht, aber das »Recht« der regellosen Liebe zersetzt die Ordnung, dieallein in der Liebe leben lässt (vgl. P. von Matt, Liebesverrat, 1991, 422 f.).

11. Diese Wendung findet sich bei M. Moxter, der sich an dieser Stelle auf Axel Hon-neth bezieht (vgl. M. Moxter, KaL, 362; vgl. außerdem Ders., Ungenauigkeit undVariation, 1999, 194).

Literatur

Einige viel zitierte Werke Hans Blumenbergs, Henning Luthers, Michael Moxtersund Dietrich Rösslers werden nach den in eckigen Klammern angegebenen Siglaoder gegebenenfalls mit Angabe des vollständigen Titels zitiert. Die weitere Literaturwird jeweils mit abgekürztem Titel (ohne Untertitel) zitiert. Zeitschriften, Serien,Lexika und Quellenwerke sind abgekürzt nach: Siegfried Schwertner, IATG2 Interna-tionales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete. Zeitschriften, Se-rien, Lexika, Quellenwerke mit bibliographischen Angaben, 2. überarbeitete underweiterte Auflage, Berlin/New York 1992.

I. Schriften Hans Blumenbergs

Hans Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos, in: M. Fuhr-mann (Hg.), Terror und Spiel (Poetik und Hermeneutik 4), München 1971, 11-66.

–, Selbsterhaltung und Beharrung. Zur Konstitution der neuzeitlichen Rationalität, in: H. Ebe-ling (Hg.), Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne (stw1211), Frankfurt a. M. 1976, 144-207.

–, Lebenswelt und Technisierung, in: Ders., Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze undeine Rede, Stuttgart 1981, 7-54 [= LuT].

–, Anthropologische Annäherung an die Rhetorik, in: Ders., Wirklichkeiten, in denen wir le-ben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981, 104-136 [= AAR].

–, Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 51990 [= AaM].–, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt a. M. 31986 [= LzWz].–, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 21988.–, Die Lesbarkeit der Welt (stw 592), Frankfurt a. M. 31993.–, Schiffbruch mit Zuschauer (stw 289), Frankfurt a. M. 1979.–, Matthäuspassion (Bibliothek Suhrkamp Bd. 998), Frankfurt a. M. 1988.–, Höhlenausgänge, Frankfurt a. M. 1989.–, Die Sorge geht über den Fluß (Bibliothek Suhrkamp Bd. 965), Frankfurt a. M. 1987.–, Die Vollzähligkeit der Sterne, Frankfurt a. M. 1997.–, Ein mögliches Selbstverständnis. Aus dem Nachlass, Stuttgart 1997.–, Begriffe in Geschichten (Bibliothek Suhrkamp Bd. 1303), Frankfurt a. M. 1998.–, Paradigmen zu einer Metaphorologie (stw 1301), Frankfurt a. M. 1998.–, Repräsentant mit Sinn fürs Mythische. Thomas Mann in seinen Tagebüchern, in: Neue

Rundschau 109 (1998), 9-29.–, Lebensthemen. Aus dem Nachlass, Stuttgart 1998.–, Goethe zum Beispiel, Frankfurt a. M. 1999.

264

II. Sonstige Literatur

Adorno, Theodor Wiesengrund, Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen (stw 74),Frankfurt a. M. 1962.

Apel, Karl-Otto, Transformation der Philosophie Bd. 2. Das Apriori der Kommunikations-gemeinschaft (stw 165), Frankfurt a. M. 1976.

Arendt, Hanna, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 101998.Aristoteles, Rhetorik, übersetzt u. mit Bibliographie, Erläuterungen und einem Nachwort

hg. von Franz G. Sieveke (UTB 159), München 51995.Asmussen, Hans, Die Seelsorge. Ein praktisches Handbuch über Seelsorge und Seelenfüh-

rung, München 31935.Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frü-

hen Hochkulturen, München 21997.Austin, J. L., How to Do Things with Words, second edition, ed. by J. O. Urmson and

M. Sbisá, Cambridge/USA 151997.Bahr, Petra, Ritual und Ritualisation. Elemente zu einer Theorie des Rituals im Anschluß an

Victor Turner, in: PTh 33 (1998), 143-158.Barth, Karl, Die kirchliche Dogmatik, Bde. I-IV, Zürich 1932-1967 [= KD].–, Ethik II, Vorlesung in Münster 1928/29, in: GA II. Akademische Werke 1928/29, hg. von

Dietrich Braun, Zürich 1978.–, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte,

Zürich 1947.Barth, Ulrich, Was ist Religion?, in: ZThK 93 (1996), 538-560.Barz, Heiner, Religion ohne Institution? Eine Bilanz der sozialwissenschaftlichen Jugendfor-

schung (Forschungsbericht »Jugend und Religion« 1), Opladen 1992.–, Postmoderne Religion. Die junge Generation in den Alten Bundesländern (Forschungs-

bericht »Jugend und Religion« 2) Opladen 1992.Benjamin, Walter, Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von TH. W. Adorno u. G.

Scholem, hg. von R. Tiedemann u. H. Schweppenhäuser, Bd. I-VII, Frankfurt a. M.1978-1989.

Beck, Ulrich, Eigenes Leben. Skizzen zu einer biographischen Gesellschaftsanalyse, in: Ul-rich Beck/Wilhelm Vossenkuhl/Ulf Erdmann Ziegler, Eigenes Leben. Ausflüge in dieunbekannte Gesellschaft, in der wir leben, München 1995.

Behrenberg, Peter, Endliche Unsterblichkeit. Studien zur Theologiekritik Hans Blumen-bergs (= Epistemata: Reihe Philosphie Bd. 148), Würzburg 1994.

– /Adams, David, Bibliographie Hans Blumenberg, in: Franz Josef Wetz/Hermann Timm(Hg.), Die Kunst des Überlebens. Nachdenken über Hans Blumenberg, Frankfurt a. M.1999.

Berger, Peter L., Auf den Spuren der Engel. Die moderne Gesellschaft und die Wiederent-deckung der Transzendenz, Frankfurt a. M. 1972.

– /Luckmann, Thomas, Modernität, Pluralismus und Sinnkrise. Die Orientierung des mo-dernen Menschen, Gütersloh 1995.

Bernet, Walter, Weltliche Seelsorge. Elemente einer Theorie des Einzelnen, Zürich 1988.Biehl, Peter, Der phänomenologische Ansatz in der deutschen Religionspädagogik, in: Hans-

Günter Heimbrock (Hg.), Von der empirischen Wendung zur Lebenswelt, Weinheim1977.

– /Baudler, Georg, Erfahrung – Symbol – Glaube. Grundfragen des Religionsunterrichts(Religionspädagogik heute = Rph. Bd. 2), Frankfurt a. M. 1980.

Bonhoeffer, Thomas, Ursprung und Wesen der christlichen Seelsorge (BevTh 95), München1985.

Literatur 265

Bühler, Karl, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache (UTB 1159), Stuttgart1934/1982.

Campe, Rüdiger, Blumenberg. Rhetorik und Technik (unveröffentlichtes Vortragsmanu-skript), Tutzing 1998.

Cassirer, Ernst, Philosophie der symbolischen Formen, Bde. 1-3, Darmstadt, 1923-1929/9.u. 10.; unveränd. Aufl.; reprograph. Nachdr. der 1. u. 2. Aufl.; Darmstadt 1953-1994.

–, Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien, 1942/6., unveränd. Aufl.; Darmstadt1994.

–, An Essay on Man. An Introduktion to a Philosophy of Human Culture, New Haven/USA1944/1972.

–, Zur Metaphysik der symbolischen Formen. Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. 1,hg. von John Michael Krois u. Oswald Schwemmer, Hamburg 1995.

Dalbert, Claudia, Über den Umgang mit Ungerechtigkeit. Eine psychologische Analyse,Bern 1996.

Dalferth, Ingolf Ulrich, Theology and Philosophy (= Signposts in Theology), Oxford/UK1988.

–, Kombinatorische Theologie. Probleme theologischer Rationalität (Quaestiones DisputataeBd. 130), Freiburg 1991.

–, Weder Seinsgrund noch Armutszeugnis. Gott und »die philosophische Erregung dieses Jahr-hunderts«, in: Ders., Gedeutete Gegenwart. Zur Wahrnehmung Gottes in den Erfahrungender Zeit, Tübingen 1997, 160-192.

Deuser, Hermann, Die Frage nach dem Glück in Kierkegaards Stadienlehre (Ästhetik, Ethik,Religion), in: Peter Engelhardt (Hg.), Glück und geglücktes Leben. Philosophische undtheologische Untersuchungen zur Bestimmung des Lebensziels, Mainz 1985, 165-183.

Diem, Hermann, Warum Textpredigt? Predigten und Kritiken als Beitrag zur Lehre von derPredigt, München 1939.

Dierken, Jörg, Glaube und Lehre im modernen Protestantismus. Studien zum Verhältnis vonreligiösem Vollzug und theologischer Bestimmtheit bei Barth und Bultmann sowie Hegelund Schleiermacher (BHTh 92), Tübingen 1996.

Dober, Hans-Martin, Die Moderne wahrnehmen. Über Religion im Werk Walter Benjamins(bislang unveröffentlichte Habilitationsschrift), Tübingen 2001.

Douglas, Mary, Risk and Blame. Essays in Cultural Theory, London/New York 1992.Drehsen, Volker, Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen der Praktischen Theologie. Aspek-

te der theologischen Wende zur sozialkulturellen Lebenswelt christlicher Religion, 2 Bde.,Gütersloh 1988.

– /Dahm, Karl Wilhelm/Kehrer, Günter (Hg.), Das Jenseits der Gesellschaft. Religion imProzess sozialwissenschaftlicher Kritik, München 1975.

–, Lebensgeschichtliche Frömmigkeit. Eine Problemskizze zu christlich-religiösen Dimensio-nen des (auto-)biographischen Interesses in der Neuzeit, in: Walter Sparn (Hg.), Werschreibt meine Lebensgeschichte?, Gütersloh 1990, 33-62.

–, Praktische Theologie als Kunstlehre im Zeitalter bürgerlicher Kultur, in: Karl Ernst Nip-kow, Dietrich Rössler/Friedrich Schweitzer (Hg.), Praktische Theologie und Kulturder Gegenwart. Ein internationaler Dialog, Gütersloh 1991, 103-116.

–, Wie religionsfähig ist die Volkskirche? Sozialisationstheoretische Erkundungen neuzeitlicherChristentumspraxis, Gütersloh 1994.

–, Bürger-Eucharistie. »Wrapped Reichstag« im Spiegel der Pressereaktionen: ein Lehrstückästhetischer Kulturreligion, in: Religion wahrnehmen. Festschrift für Karl-Fritz Daiber,hg. von Kristian Fechtner, Marburg 1996, 185-200.

– /Sparn, Walter, Im Schmelztiegel der Religionen. Konturen des modernen Synkretismus,hg. von V. Drehsen u. W. Sparn, Gütersloh 1996.

266 Literatur

Düringer, Hermann, Universale Vernunft und partikularer Glaube. Eine theologische Aus-wertung des Werkes von Jürgen Habermas, Leuven/B 1999.

Dux, Günter, Die ontogenetische und historische Entwicklung des Geistes, in: Ders./UlrichWenzel (Hg.), Der Prozeß der Geistesgeschichte. Studien zur ontogenetischen und histori-schen Entwicklung des Geistes (stw 1119), Frankfurt a. M. 1994, 173-224.

–, Die Logik der Weltbilder. Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte (stw 370), Frankfurta. M. 31982.

Dyck, Joachim/Jens, Walter/Ueding, Gerd (Hg), Jahrbuch Rhetorik Bd. 5: Rhetorik undTheologie, Tübingen 1986.

Elm, Ralf, Klugheit und Erfahrung bei Aristoteles, Paderborn 1996.Erne, Thomas, Barth und Mozart, in: ZDT 2 (1986), 234-248.–, Die Kunst der Aneignung in der Aneignung der Kunst. Lebenskunst als Thema der Theo-

logie im Anschluß an Kierkegaard, in: ZThK 93 (1993), 149-162.–, Lebenskunst. Aneignung ästhetischer Erfahrung. Ein theologischer Beitrag zur Ästhetik im

Anschluß an Kierkegaard, Kampen/NL 1994.–, Die theologische Großzügigkeit der Musik. Ästhetische und religiöse Erfahrung am Beispiel

von Hans Blumenbergs »Matthäuspassion«, in: MuK 67 (1997), 223-229.–, Vom Fundament zum Ferment. Religiöse Erfahrung mit ästhetischer Erfahrung, in: Jörg

Herrmann/Andreas Mertin/Eveline Valtink (Hg.), Die Gegenwart der Kunst. Ästheti-sche und religiöse Erfahrung heute, München 1998, 283-295.

–, Art. Rezeption III. Praktisch-theologisch, in: TRE (1998) 29, 149-155.–, Die Poesie der Volkskirche. Vom Umgang der Protestanten mit Bildern, Musik und Texten,

in: PTh 33 (1998), 276-281.–, Beweglichkeit im Endlichen. Kierkegaards Beitrag zur Krise der Potentialität, in: Ralf Elm/

Kristian Köchy/Manfred Meyer (Hg.), Hermeneutik des Lebens, Freiburg 1999, 44-64.Failing, Wolf-Eckart/Heimbrock, Hans-Günter, Gelebte Religion wahrnehmen. Auf dem

Wege zu einer methodologischen Neuorientierung Praktischer Theologie, in: Bernd Beu-scher/Harald Schroeter/Ralf Sistermann (Hg.), Prozesse postmoderner Wahrneh-mung. Kunst – Religion – Pädagogik, Wien 1996, 159-181.

– /Heimbrock, Hans-Günter, Gelebte Religion wahrnehmen. Lebenswelt – Alltagskultur –Religionspraxis, Stuttgart 1998.

Fechtner, Kristian/Haspel, Michael (Hg.), Religion in der Lebenswelt der Moderne,Stuttgart 1998.

Freud, Sigmund, Jenseits des Lustprinzips, in: Werkausgabe in zwei Bänden, hg. und kom-mentiert v. Anna Freud u. Ilse Grubrich-Simitis, Bd. 1: Elemente der Psychoanalyse,Frankfurt a. M. 1920/1978, 184-226.

–, Das Unbehagen in der Kultur, in: Werkausgabe in zwei Bänden, hg. und kommentiert v.Anna Freud u. Ilse Grubrich-Simitis, Bd. 2,:Anwendungen der Psychoanalyse, Frankfurta. M. 1930/1978, 367-424.

Fuchs, Ernst, Das Neue Testament und das hermeneutische Problem, in: ZThK 58 (1961),198-226.

–, Hermeneutik, Tübingen 41970.–, Zum hermeneutischen Problem in der Theologie. Die existentiale Interpretation, Tübingen

21965.–, Zur Frage nach dem historischen Jesus, Tübingen 21965.Gamm, Gerhard, Die Flucht aus der Kategorie. Die Positivierung des Unbestimmten als Aus-

gang aus der Moderne, Frankfurt a. M. 1994.Geertz, Clifford, Dichte Beschreibungen. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme (stw

696), Frankfurt a. M. 51997.Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (UTB 1995), Wies-

baden 131995.

Literatur 267

Goethe, Johann Wolfgang von, Goethes Werke (Hamburger Ausgabe), hg. v. Erich Trunz,Bde. 1-14, München 1948ff.

Gräb, Wilhelm/Korsch, Dietrich, Selbsttätiger Glaube. Die Einheit der praktischen Theo-logie in der Rechtfertigungslehre, Neukirchen-Vluyn 1985.

–, Der hermeneutische Imperativ. Lebensgeschichte als religiöse Selbstauslegung, in: WalterSparn (Hg.), Wer schreibt meine Lebensgeschichte?, Gütersloh 1990, 79-89.

–, Die Praktische Theologie auf der Suche nach ihrer Einheit und der Bestimmung ihres Ge-genstandes, in: Karl Ernst Nipkow/Dietrich Rössler/Friedrich Schweitzer (Hg.),Praktische Theologie und Kultur der Gegenwart. Ein internationaler Dialog, Gütersloh1991, 77-88.

–, Lebensgeschichten, Lebensentwürfe, Sinndeutungen. Eine praktische Theologie gelebter Re-ligion, Gütersloh 1998.

Graf, Friedrich Wilhelm, Art. Kulturprotestantismus, in: TRE 22 (1990), 230-243.–, Theonomie. Fallstudien zum Integrationsanspruch neuzeitlicher Theologie, Gütersloh

1987.Groddeck, Wolfram, Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens, Basel/Frankfurt

a. M. 1995.Grözinger, Albrecht, Das Verständnis von Rhetorik und Homiletik, in: Theologia practica

(= ThPr1) 4, (1979), 265-274.–, Praktische Theologie und Ästhetik. Ein Beitrag zur Grundlegung der Praktischen Theologie,

München 1987.–, Die Sprache des Menschen. Ein Handbuch. Grundwissen für Theologinnen und Theologen,

München 1991.–, Praktische Theologie als Kunst der Wahrnehmung, Gütersloh 1995.– /Lott, J. (Hg.), Gelebte Religion. Im Brennpunkt praktisch-theologischen Denkens und

Handelns, Rheinbach 1997.–, Die Kirche – ist sie noch zu retten? Anstiftungen für das Christentum in postmoderner

Gesellschaft, Gütersloh 1998.Grosshans, Hans-Peter, Theologischer Realismus. Ein sprachphilosophischer Beitrag zu

einer theologischen Sprachlehre (Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie 24),Tübingen 1996.

Gutzen, D./Ottmers, M., Art. Christliche Rhetorik IV. Protestantismus, in: HistorischesWörterbuch der Rhetorik 2 (1994) 216-222.

Habermas, Jürgen, Die neue Unübersichtlichkeit. Kleine politische Schriften V (es 1321),Frankfurt a. M. 1985.

–, Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 1988.–, Texte und Kontexte (stw 944), Frankfurt a. M. 21991.–, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen

Rechtsstaats, Frankfurt a. M. 21992.–, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde. (stw 1175), Frankfurt a. M. 41987/1995.Haendler, Otto, Tiefenpsychologie, Theologie und Seelsorge, ausgewählte Aufsätze, hg. von

Joachim Scharfenberg u. Klaus Winkler, Göttingen 1971.Härle, Wilfried, Dogmatik (GLB), Berlin/New York 1995.Hanselmann, Johannes/Rössler, Dietrich, Gelebte Religion. Fragen an wissenschaftliche

Theologie und kirchenleitendes Handeln (TEH NF 201), München 1978.Hauschildt, Eberhard, Alltagsseelsorge. Eine sozio-linguistische Analyse des pastoralen Ge-

burtstagsbesuches (Arbeiten zur Pastoraltheologie 29), Göttingen 1996.Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Tübingen 151979.Heimbrock, Hans-Günter, Empirische Hermeneutik in der Praktischen Theologie, in:

Paradigmenentwicklung in der Praktischen Theologie, hg. von Johannes van der Ven u.Hans-Georg Zieberts, Kampen 1993, 49-67.

268 Literatur

–, Gottesdienst: Spielraum des Lebens. Sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen zumRitual in praktisch-theologischem Interesse, Kampen/NL 1993.

Henke, Thomas, Seelsorge und Lebenswelt. Auf dem Weg zu einer Seelsorgetheorie in Aus-einandersetzung mit soziologischen und sozialphilosophischen Lebensweltkonzepten,Würzburg 1994.

Henrich, Dieter, Fichtes ursprüngliche Einsicht, Frankfurt a. M. 1967.Hofmann, Werner, Die Geburt der Moderne aus dem Geist der Religion, in: Ders. (Hg.),

Luther und die Folgen für die Kunst (Ausstellungskatalog Hamburger Kunsthalle), Mün-chen 1983, 23-71.

–, Anhaltspunkte. Studien zur Kunst und Kunsttheorie, Frankfurt a. M. 1989.Husserl, Edmund, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phä-

nomenologie, in: Husserl Gesammelte Schriften, hg. von Elisabeth Ströker, Bd. 8, Ham-burg 1992.

Jetter, Werner, Symbol und Ritual. Anthropologische Elemente im Gottesdienst, Göttingen21986.

Jochheim, Martin, Seelsorge und Psychotherapie. Historisch-systematische Studien zur Leh-re von der Seelsorge bei Oskar Pfister, Eduard Thurneysen und Walter Uhsadel, Bochum1998.

Josuttis, Manfred, Eine Renaissance der Rhetorik, in: PTh 10 (1975), 22-48.–, Rhetorik und Theologie in der Predigtarbeit. Homiletische Studien, München 1985.–, Der Weg ins Leben. Eine Einführung in den Gottesdienst auf verhaltenswissenschaftlicher

Grundlage, München 1991.–, Die Einführung in das Leben. Pastoraltheologie zwischen Phänomenologie und Spirituali-

tät, Gütersloh 1996.Jüngel, Eberhard, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreu-

zigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 31978.–, ›Auch das Schöne muß sterben‹ – Schönheit im Lichte der Wahrheit. Theologische Bemer-

kungen zum ästhetischen Verhältnis, in: ZThK 81 (1984), 106-126.–, Metaphorische Wahrheit. Erwägungen zur theologischen Relevanz der Metapher als Beitrag

der Hermeneutik zu einer narrativen Theologie, in: Ders., Entsprechungen. Gott – Wahr-heit – Mensch, München 1980, 103-157.

Kafka, Franz, Gesammelte Werke in sieben Bänden (Bd. 4, Erzählungen), hg. von Max Brod,Frankfurt a. M. 1976.

Karle, Isolde, Seelsorge in der Moderne. Eine Kritik der psychoanalytisch orientierten Seel-sorgelehre, Neukirchen-Vluyn 1996.

Kierkegaard, Sören, Die Wiederholung, in: Gesammelte Werke, übersetzt u. hg. von Ema-nuel Hirsch/Heino Gerdes/Hayo Martin Junghans, 5. u. 6. Abteilung, Düsseldorf1843/1967.

Kippenberg, Hans, Art. Religionssoziologie, in: TRE 29 (1998), 20-33.Kiwitz, Peter, Lebenswelt und Lebenskunst. Perspektiven einer kritischen Theorie des sozia-

len Lebens, München 1986.Knoblauch, Hubert, Die Verflüchtigung der Religion ins Religiöse. Thomas Luckmanns Un-

sichtbare Religion, in: Thomas Luckmann, Die unsichtbare Religion, Frankfurt a. M.31996, 7-41.

Koch, Traugott, Mit Gott leben. Eine Besinnung auf den Glauben, Tübingen 1989.Kodalle, Klaus-Michael, Die Eroberung des Nutzlosen. Kritik des Wunschdenkens und der

Zweckrationalität im Anschluß an Kierkegaard, Paderborn 1988.Konersmann, Ralf, Aspekte der Kulturphilosophie, in: Ders. (Hg.), Kulturphilosophie,

Leipzig 1996, 9-24.Kopperschmidt, Josef, Das Ende der Verleumdung. Einleitende Anmerkungen zur Wir-

Literatur 269

kungsgeschichte der Rhetorik, in: Ders. (Hg.), Rhetorik, Bd. 2: Wirkungsgeschichte derRhetorik, Darmstadt 1991, 1-33.

–, Argumentationstheoretische Anfragen an die Rhetorik. Ein Rekonstruktionsversuch der an-tiken Rhetorik, in: Ders. (Hg.), Rhetorik, Bd. 2: Wirkungsgeschichte der Rhetorik, Darm-stadt 1991, 359-389.

Korsch, Dietrich, Religion mit Stil. Protestantismus in der Kulturwende, Tübingen 1997.Krötke, Heike, Selbstbewußtsein und Sünde. Eine Untersuchung der Spekulativen Theologie

Richard Rothes unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses von Anthropologieund Theologie, Dissertation (unveröffentlicht) Berlin 1997.

Lange, Ernst, Predigen als Beruf, Stuttgart 1976.Langer, Susanne K., Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in

der Kunst, Frankfurt a. M. 1965.Lausberg, Heinrich, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literatur-

wissenschaft, Stuttgart 31990.Leeuw, Gerardus van der, Phänomenologie der Religion (NTG), Tübingen 1956, 4. Aufl.,

unveränd. Nachdr. d. 2., durchges. u. erw. Aufl., Tübingen 1977.Lemke, H., Seelsorgerliche Gesprächsführung. Gespräche über Glauben, Schuld und Leiden,

Stuttgart 1992.Luckmann, Thomas, Die unsichtbare Religion (stw 747), Frankfurt a. M. 1991.Luhmann, Niklas, Funktion der Religion (stw 407), Frankfurt a. M. 1977.Luther, Henning, Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Sub-

jekts, Stuttgart 1992 [= RuA].Magass, Walter, Rhetorik und Philosophie in der Patristik, in: Helmut Schanze/Josef

Kopperschmidt (Hg.), Rhetorik und Philosophie, München 1989, 75-97.Marquard, Odo, Lebenszeit und Lesezeit. Bemerkungen zum Oeuvre von Hans Blumenberg,

in: Hans Blumenberg zum Geburtstag, Akzente (Juni) (1990), 268-271.–, Entlastung vom Absoluten. In memoriam, in: Franz Josef Wetz/Hermann Timm (Hg.),

Die Kunst des Überlebens. Nachdenken über Hans Blumenberg, Frankfurt a. M. 1999,17-27.

Matt, Peter von, Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur, München 1991.Matthes, Joachim, Religion und Gesellschaft. Einführung in die Religionssoziologie Bd. 1,

Hamburg 1967.–, Kirche und Gesellschaft. Einführung in die Religionssoziologie Bd. 2, Hamburg 1969.–, Volkskirchliche Amtshandlungen, Lebenszyklus und Lebensgeschichte. Überlegungen zur

Struktur volkskirchlichen Teilnahmeverhaltens, in: Ders. (Hg.), Erneuerung der Kirche.Stabilität als Chance? Konsequenzen aus einer Umfrage, Gelnhausen/Berlin 1975, 83-112.

–, Auf der Suche nach dem »Religiösen«. Reflexionen zu Theorie und Empirie religionssozio-logischer Forschung, in: Sociologia internationalis 30 (1992), 129-142.

Mädler, Inken, Kirche und die bildende Kunst der Moderne. Ein an F. D. E. Schleiermacherorientierter Beitrag zur theologischen Urteilsbildung (BHTh 100), Tübingen 1997.

Melenk, H., Alltagssprache. Semantische Grundbegriffe und Analysebeispiele (UTB 800),München 1979.

Merker, Barbara, Bedürfnis nach Bedeutsamkeit. Zwischen Lebenswelt und Absolutismusder Wirklichkeit, in: Franz Josef Wetz/Hermann Timm (Hg.), Die Kunst des Überlebens.Nachdenken über Hans Blumenberg, Frankfurt a. M. 1999, 68-98.

Metz, Johann Betz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischenFundamentaltheologie, Mainz 1977.

Möller, Christian, Alltägliche Seelsorge in der christlichen Gemeinde, WPKG 68 (1979),239-251.

Mörth, Ingo, Lebenswelt und religiöse Sinnstiftung. Ein Beitrag zur Theorie des Alltags-lebens, München 1986.

270 Literatur

Moxter, Michael, Die schönen Ungenauigkeiten. Hans Blumenbergs phänomenologischeVariationen, in: Neue Rundschau 109 (1998), 83-92.

–, Ungenauigkeit und Variation. Überlegungen zum Status phänomenologischer Beschreibun-gen, in: Franz Josef Wetz/Hermann Timm (Hg.), Die Kunst des Überlebens. Nachdenkenüber Hans Blumenberg, Frankfurt a. M. 1999, 184-203.

–, Kultur als Lebenswelt. Studien zum Problem einer Kulturtheologie (HUTh 38), Tübingen2000 [= KaL].

–, Formzerstörung und Formaufbau. Zur Unterscheidung von Mythos und Religion bei ErnstCassirer, in: Matthias Jung/Michael Moxter/Thomas M. Schmid (Hg.), Religionsphi-losophie. Historische Positionen und systematische Reflexionen, Würzburg 2000, 165-181.

Nicol, Martin, Gespräch als Seelsorge. Theologische Fragmente zu einer Kultur des Ge-sprächs, Göttingen 1990.

Niehues-Pröbsting, Heinrich, Überredung zur Einsicht. Der Zusammenhang von Philoso-phie und Rhetorik bei Platon und in der Phänomenologie, Frankfurt a. M. 1987.

–, Platonvorlesungen. Eigenschaften – Lächerlichkeiten, in: Franz Josef Wetz/HermannTimm (Hg.), Die Kunst des Überlebens. Nachdenken über Hans Blumenberg, Frankfurta. M. 1999, 341-368.

Oesterreich, Paul, Fundamentalrhetorik, Hamburg 1990.Ott, Heinrich, Gedanken zur Phänomenologie des Gesprächs, in: ThZ 43 (1987), 117-123.Otto, Gert, Grundlegung der Praktischen Theologie, Bd. 1, München 1986.–, Predigt als rhetorische Aufgabe. Homiletische Perspektiven, Neukirchen-Vluyn 1987.–, Handlungsfelder der Praktischen Theologie, Bd. 2, München 1988.–, Homiletik zwischen Theologie und Rhetorik – Ein Problembericht –, in: PTh 24 (1989),

214-227.–, Zur gegenwärtigen Diskussion in der Praktischen Theologie. Thesen und Texte als Rahmen

und Orientierung, in: Ders. (Hg.), Praktisch-Theologisches Handbuch (PThH), Hamburg1970, 9-24.

–, Von geistlicher Rede, Gütersloh 1979.–, Predigt als Rede. Über die Wechselwirkung von Homiletik und Predigt, Stuttgart 1986.–, Sprache als Hoffnung. Über den Zusammenhang von Sprache und Leben, München 1989.–, Die Rede ist der Mensch. Drei Thesen zur Bedeutung der Rhetorik für die (Praktische)

Theologie, in: ZThK 89 (1992), 485-502.–, Art. Rhetorik. Praktisch-Theologisch, in: EKL3 3 (1992), 1654-1657.–, Die Kunst, verantwortlich zu reden. Rhetorik – Ästhetik – Ethik, Gütersloh 1994.–, Art. Christliche Rhetorik I u. II. Antike und Mittelalter, in: Historisches Wörterbuch der

Rhetorik 2 (1994), 197-208.Otto, Rudolf, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhält-

nis zum Rationalen (1917), München 1963.Paetzold, Heinrich, Der Mensch, in: Herbert Schnädelbach (Hg.), Philosophie. Ein

Grundkurs, Hamburg 1985, 440-479.–, Ernst Cassirer – Von Marburg nach New York. Eine philosophische Biographie, Darmstadt

1995.Perpeet, W., Art. Kultur, Kulturphilosophie, in: HWP 4 (1976), 1309-1324.Plessner, Helmuth, Die Frage nach der Conditio humana. Aufsätze zur philosophischen

Anthropologie (stw 361), Frankfurt a. M. 1976.–, Husserl in Göttingen. Rede zur Feier des 100. Geburtstages Edmund Husserls, in: Ders.,

Gesammelte Schriften Bd. 9: Schriften zur Philosophie, hg. von Günter Dux, Odo Mar-quard u. Elisabeth Ströker, Frankfurt a. M. 1985/1959.

Portmann, adolf, Der Mensch ein Mängelwesen? in: Ders., Entläßt die Natur den Men-schen? Gesammelte Aufsätze zur Biologie und Anthropologie, München 1970.

Recki, Birgit, Der praktische Sinn der Metapher. Eine systematische Überlegung mit Blick

Literatur 271

auf Ernst Cassirer, in: Franz Josef Wetz/Hermann Timm (Hg.), Die Kunst des Über-lebens. Nachdenken über Hans Blumenberg, Frankfurt a. M. 1999, 142-163.

Rendtorff, Trutz, Religion – Umwelt der Gesellschaft. Theoretische Voraussetzungen derDeutung des empirischen Verhältnisses von Kirche und Gesellschaft, in: Joachim Matthes(Hg.), Erneuerung der Kirche. Stabilität als Chance? Konsequenzen aus einer Umfrage,Gelnhausen/Berlin 1975, 57-81.

–, Ethik. Grundelemente, Methodologie und Konkretionen einer ethischen Theologie, 2 Bde.(Theologische Wissenschaft 13), Stuttgart 1980f.

Rentsch, Thomas, Der Augenblick des Schönen. Visio beatifica und Geschichte der ästheti-schen Idee, in: Jörg Herrmann/Andreas Mertin/Eveline Valtink, Die Gegenwart derKunst. Ästhetische und religiöse Erfahrung heute, München 1998, 106-126.

Reschke, Thomas/Thiele, Martin, Predigt und Rhetorik (Studien zur praktischen Theo-logie 39), St. Ottilien 1992.

Ricoeur, Paul, Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt a. M. 1969.–, Symbolik des Bösen, Freiburg/München 1971.–, Hermeneutik und Psychoanalyse. Der Konflikt der Interpretationen, Bd. 2, München 1974.Ringleben, Joachim, Dornenkrone und Purpurmantel. Theologische Betrachtungen zu Bil-

dern von Grünewald bis Paul Klee, Frankfurt a. M. 1996.Rössler, Dietrich, Die Vernunft der Religion, München 1976 [= VdR].–, Art. Freud, in: TRE 11 (1983), 578-584.–, Grundriß der Praktischen Theologie, De-Gruyter-Lehrbuch (GLB), Berlin/New York 1986

[= GPT].–, Die Einheit der Praktischen Theologie, in: Karl Ernst Nipkow/Dietrich Rössler/Fried-

rich Schweitzer (Hg.), Praktische Theologie und Kultur der Gegenwart. Ein internatio-naler Dialog, Gütersloh 1991, 43-51.

–, Unterbrechung des Lebens. Zur Theorie des Festes bei Schleiermacher, in: Peter Cornehl/Martin Dutzmann/Andreas Strauch (Hg.), ›… in der Schar derer, die da feiern‹. Festeals Gegenstand praktisch-theologischer Reflexion, Göttingen 1993, 33-40.

Rorty, Richard, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a. M. 1989.Rothacker, Ernst, Philosophische Anthropologie, Bonn 51982.Rothermundt, Jörg, Der Heilige Geist und die Rhetorik. Theologische Grundlinien einer

empirischen Rhetorik, Gütersloh 1984.Ruddies, Hartmut, Karl Barth im Kulturprotestantismus. Eine theologische Problemanzeige,

in: Ders./Dietrich Korsch (Hg.), Wahrheit und Versöhnung. Theologische und philoso-phische Beiträge zur Gotteslehre, Gütersloh 1989, 193-231.

Scharfenberg, Joachim, Seelsorge als Gespräch. Zur Theorie und Praxis der seelsorgerlichenGesprächsführung, Göttingen 1972/51991.

–, Einführung in die Pastoralpsychologie (UTB 1382), Göttingen 21994.Scheliha, Arnulf von, Der Glaube an die göttliche Vorsehung. Eine religions-soziologische,

geschichtsphilosophische und theologiegeschichtliche Untersuchung, Stuttgart 1999.Schleiermacher, Friedrich, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangeli-

schen Kirche im Zusammenhang dargestellt, Bd. 1 u. Bd. 2, hg. von Martin Redeker, Ber-lin 1960.

–, Kurze Darstellung des Theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, hg.von Heinrich Scholz (Quellenschriften zur Geschichte des Protestantismus 10), Leipzig1910 (Nachdruck Darmstadt 1982).

Schmitz, H., Das Göttliche und der Raum. System der Philosophie III/4, Bonn 1977.Schröer, Henning, Art. Hermeneutik IV, in: TRE 15 (1986), 150-156.Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas, Strukturen der Lebenswelt, 2 Bde., Frankfurt a. M.

51994, 31994.

272 Literatur

Schwab, Ulrich, Familienreligiosität. Religiöse Traditionen im Prozeß der Generationen,Stuttgart 1995.

Schweiker, Wolfhard, Deutung und Krise. Der religiöse und weltanschauliche Umgang vonMüttern und Vätern mit der Diagnose Down-Syndrom (Diplomarbeit am FB Sonderpäda-gogik der PH Ludwigsburg in der Verbindung mit der Universität Tübingen), Reutlingen1995.

Schweitzer, Friedrich, Religion und Lebensgeschichte. Religiöse Entwicklung und Erzie-hung im Kindes- und Jugendalter, Gütersloh 41999.

Simmel, Georg, Der Begriff und die Tragödie der Kultur (1911), in: Ralf Konersmann(Hg.), Kulturphilosophie, Leipzig 1996, 25-57.

–, Die Religion (1906/21912), in: Ders., Gesamtausgabe, Bd 10, hg. v. Michael Behr, Volk-hard Krech u. Gert Schmidt (stw 810), Frankfurt a. M. 1995, 39-118.

Sommer, Manfred, Lebenswelt und Zeitbewußtsein, Frankfurt a. M. 1990.Soosten, Joachim von, Arbeit am Dogma. Eine theologische Antwort auf Hans Blumenbergs

»Arbeit am Mythos«, in: Oswald Bayer (Hg.), Mythos und Religion. InterdisziplinäreAspekte, Stuttgart 1990, 80-100.

Sparn, Walter, Dichtung und Wahrheit. Einführende Bemerkungen zum Thema: Religionund Biographie, in: Walter Sparn (Hg.), Wer schreibt meine Lebensgeschichte?, Gütersloh1990, 11-29.

Steiger, Johann Anselm, Rhetorica sacra seu biblica. Johannes Matthäus Meyfart und dieDefizite der heutigen rhetorischen Homiletik, in: ZThK 92 (1995), 517-558.

Steck, Wolfgang, Der Ursprung der Seelsorge in der Alltagswelt, in: ThZ 43 (1987), 175-183.

Steinen, Ulrich von den, Rhetorik – Instrument oder Fundament christlicher Rede? EinBeitrag zu Gert Ottos rhetorisch-homiletischem Denkansatz, in: EvTh 39 (1979), 101-127.

Stoellger. Philipp, Metapher und Lebenswelt. Hans Blumenbergs Metaphorologie als Le-benswelthermeneutik und ihr religionsphänomenologischer Horizont (HUTh 39), Tübin-gen 2000.

Stock, Konrad, Grundlegung der protestantischen Tugendlehre, Gütersloh 1995.Stollberg, Dietrich, Seelsorge durch die Gruppe. Praktische Einführung in die gruppen-

dynamisch-therapeutische Arbeitsweise, Göttingen 1971.Streib, Heinz, Entzauberung der Okkultfaszination. Magisches Denken und Handeln in der

Adoleszenz als Herausforderung an die Praktische Theologie, Kampen/NL 1996.–, Alltagsreligion oder: Wie religiös ist der Alltag? Zur lebensweltlichen Verortung von Religion

in praktisch-theologischem Interesse, in: IJPT 2 (1998), 23-51.Tacke, Helmut, Glaubenshilfe als Lebenshilfe. Probleme und Chancen heutiger Seelsorge,

Neukirchen-Vluyn 31993.Taubes, Jacob, Mythos und Dogma. Erste Diskussion, in: Manfred Fuhrmann (Hg.), Poetik

und Hermeneutik, Bd. IV: Terror und Spiel, München 1971, 527-547.–, Vom Kult zur Kultur. Bausteine zu einer Kritik der historischen Vernunft. Gesammelte Auf-

sätze zur Religions- und Geistesgeschichte, hg. von A. u. Jan Assmann/Wolf-DanielHartwich/Winfried Menninghaus, München 1996.

Thilo, Hans-Joachim, Beratende Seelsorge. Tiefenpsychologische Methodik dargestellt amKasualgespräch, Göttingen 1971.

Thomas, Günter, Medien – Ritual – Religion. Zur religiösen Funktion des Fernsehens (stw1370), Frankfurt a. M. 1998.

Thurneysen, Eduard, Die Lehre von der Seelsorge, München 1948.Tillich, Paul, Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip, in: Ders. (Hg.),

Protestantismus als Kritik und Gestaltung, Darmstadt 1929, 3-37.–, Systematische Theologie, 3 Bde., Stuttgart 1956ff.–, Dynamics of Faith (1957), in: Ders., Main Works 5, 1988, 231-290.

Literatur 273