Dynamische Graphologie...

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Ursula Avé-Lallemant wurde am 18.12.1913 geboren und verstarb im 91. Lebensjahr am 12.07.2004. Zu ihrem 100. Geburtstag und 10. 1 Todesjahr sollen ihre Persönlichkeit und die Grundzüge ihres Werkes gewürdigt werden. 2 Bereits die zahlreichen in der Zeitschrift für Menschenkunde (ZfM) er- schienen Artikel von Ursula Avé-Lallemant geben einen Einblick in ihre Forschungsschwerpunkte und ihre kritischen Auseinandersetzungen: Graphologie, Charakterologie und personale Anthropologie (ZFM 4/1967) Das „Unbewusste“ im Ausdruck von Schrift und Zeichentest (ZFM 1-2/1970) Die Längsschnittanalyse der Jugendhandschrift und ihre Ergebnisse für die Schriftpsy- chologie (ZFM 1-2/1973) Graphologische Forschungsergebnisse zur Jugendkrise (ZFM 4/1973) Identitätsdiffusion und Schulversagen (ZFM 2/1976) August Vetter zum Gedächtnis (ZFM 3-4/1976) Ergebnisse aus einer europäischen Enquête über die Sozialisation Jugendlicher (ZFM 3/1980) Persönlichkeitstheorie und Schriftpsychologie (ZFM 4/80) Dimensionen des Seelischen im Ausdruck des Sterne-Wellen-Tests (ZFM 3/1981) Die Jugendhandschrift als Ärgernis oder Chance der Graphologie (ZFM 4/1982) Falsifizieren als Methode – dargestellt am Thema "Grundrhythmus und kriminelles Ver- halten“ (ZFM 4/1984) Der Sterne-Wellen-Test im Vorschulalter als quantitatives und qualitatives Diagnostikum (ZFM 1/1987) Mikrostruktur und Makrostruktur der Handschrift im kulturübergreifenden diagnosti- schen Ansatz der Graphologie (ZFM 3/1987) Von der statischen zur dynamischen Graphologie (ZFM 2/1990) 1 Dr. Angelika Seibt Leo-Slezak-Str.14 D-83700 Rottach-Egern [email protected] September/Oktober 2014 Die dynamische Graphologie von Ursula Avé-Lallemant Dr. Angelika Seibt GRAPHOLOGIENEWS 1 Die Arbeit beruht u.a. auf Unterlagen desr Vereins für Dynamische Graphologie in der Psychodiagnostik (VDGP). Insbesondere kann hier auf einen Forschungsbericht vom Dezember 1985 hingewiesen werden, den Herr Dietrich Gottstein, Sohn von Ursula Avé-Lallemant, den VDGP-Mitgliedern am 10.10.2004 zur Verfügung gestellt hat. Außerdem hat Herr Henrik Wirz, Schüler von Ursula Avé-Lallemant und langjähriger Vorsitzender des VDGP, am 21.07.2004 einen Nachruf verfasst. Weitere Würdigungen für Ursula Avé-Lallemant: Dafna Yalon: A Tribute to Ursula Avé-Lallemant; Portal Grafologico 2003 Henrik Wirz: Zum 90. Geburtstag von Ursula Avé-Lallemant; Zeitschrift für Schriftpsychologie und Schriftvergleichung 2003 Helmut Ploog: Interview mit Frau Ursula Avé-Lallemant † am 18. Oktober 2003 anlässlich des Deutschen Graphologentages¸ Angewandte Graphologie und Persönlichkeitsdiagnostik 2004 Henrik Wirz: Zum Tod von Ursula Avé-Lallemant; Angewandte Graphologie und Persönlichkeitsdiagnostik 2004 Geboren vor hundert Jahren: Frau Ursula Avé-Lallemant; Angewandte Graphologie und Persönlichkeitsdiagnostik 2013 Dietrich Gottstein danke ich für das Foto seiner Mutter 2

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Ursula Avé-Lallemant wurde am 18.12.1913 geboren und verstarb im 91. Lebensjahr am 12.07.2004. Zu ihrem 100. Geburtstag und 10. 1

Todesjahr sollen ihre Persönlichkeit und die Grundzüge ihres Werkes gewürdigt werden. 2

Bereits die zahlreichen in der Zeitschrift für Menschenkunde (ZfM) er-schienen Artikel von Ursula Avé-Lallemant geben einen Einblick in ihre Forschungsschwerpunkte und ihre kritischen Auseinandersetzungen:

• Graphologie, Charakterologie und personale Anthropologie (ZFM 4/1967)

• Das „Unbewusste“ im Ausdruck von Schrift und Zeichentest (ZFM 1-2/1970) • Die Längsschnittanalyse der Jugendhandschrift und ihre Ergebnisse für die Schriftpsy-

chologie (ZFM 1-2/1973) • Graphologische Forschungsergebnisse zur Jugendkrise (ZFM 4/1973) • Identitätsdiffusion und Schulversagen (ZFM 2/1976) • August Vetter zum Gedächtnis (ZFM 3-4/1976) • Ergebnisse aus einer europäischen Enquête über die Sozialisation Jugendlicher (ZFM

3/1980) • Persönlichkeitstheorie und Schriftpsychologie (ZFM 4/80) • Dimensionen des Seelischen im Ausdruck des Sterne-Wellen-Tests (ZFM 3/1981) • Die Jugendhandschrift als Ärgernis oder Chance der Graphologie (ZFM 4/1982) • Falsifizieren als Methode – dargestellt am Thema "Grundrhythmus und kriminelles Ver-

halten“ (ZFM 4/1984) • Der Sterne-Wellen-Test im Vorschulalter als quantitatives und qualitatives Diagnostikum

(ZFM 1/1987) • Mikrostruktur und Makrostruktur der Handschrift im kulturübergreifenden diagnosti-

schen Ansatz der Graphologie (ZFM 3/1987) • Von der statischen zur dynamischen Graphologie (ZFM 2/1990)

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Dr. Angelika Seibt Leo-Slezak-Str.14 D-83700 Rottach-Egern [email protected]

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Die dynamische Graphologie von Ursula Avé-Lallemant !

Dr. Angelika Seibt

GRAPHOLOGIENEWS

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Die Arbeit beruht u.a. auf Unterlagen desr Vereins für Dynamische Graphologie in der Psychodiagnostik (VDGP). Insbesondere kann hier auf einen Forschungsbericht vom Dezember 1985 hingewiesen werden, den Herr Dietrich Gottstein, Sohn von Ursula Avé-Lallemant, den VDGP-Mitgliedern am 10.10.2004 zur Verfügung gestellt hat. Außerdem hat Herr Henrik Wirz, Schüler von Ursula Avé-Lallemant und langjähriger Vorsitzender des VDGP, am 21.07.2004 einen Nachruf verfasst. Weitere Würdigungen für Ursula Avé-Lallemant:

Dafna Yalon: A Tribute to Ursula Avé-Lallemant; Portal Grafologico 2003

Henrik Wirz: Zum 90. Geburtstag von Ursula Avé-Lallemant; Zeitschrift für Schriftpsychologie und Schriftvergleichung 2003

Helmut Ploog: Interview mit Frau Ursula Avé-Lallemant † am 18. Oktober 2003 anlässlich des Deutschen Graphologentages¸ Angewandte Graphologie und Persönlichkeitsdiagnostik 2004

Henrik Wirz: Zum Tod von Ursula Avé-Lallemant; Angewandte Graphologie und Persönlichkeitsdiagnostik 2004

Geboren vor hundert Jahren: Frau Ursula Avé-Lallemant; Angewandte Graphologie und Persönlichkeitsdiagnostik 2013

Dietrich Gottstein danke ich für das Foto seiner Mutter2

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Ursula Avé-Lallemant hat ihre graphologische und psychologische Ausbildung von Wilhelm Müller und Alice Enskat, Rudolf Pophal, August Vetter und Philipp Lersch erhalten. Sie stellte die Analyse der Handschrift in den Rahmen charakterologischer und anthropologischer Theorien und knüpfte einer-seits an die Ausdruckspsychologie und andererseits an die Tiefenpsychologie mit dem Konzept des Unterbewusstseins an.

Empirische Forschung zur Kinder- und Jugendhandschrift!Im Jahre 1972 erhielt Ursula Avé-Lallemant ein Forschungsstipendium der Martin-Brinkmann-Stiftung für insgesamt 4 Jahre, um eine Graphologie der Kinder- und Jugendhandschrift systematisch auszu-arbeiten. Für Ursula Avé-Lallemant stellte sich die Aufgabe, auch Entwicklungspsychologie in die Gra-phologie einzubeziehen. Die psychische Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen korrespondiert mit Schriftveränderungen in dieser Zeit.

Die Arbeit an einer Graphologie der Kinder- und Jugendhandschrift hat Ursula Avé-Lallemant in 3 Stu-fen in Angriff genommen:

In einem ersten Schritt wollte sie Gesetzmäßigkeiten im Entwicklungsverlauf der Handschrift von ca. 10- bis 20-Jährigen anhand empirischer Erhebungen einer Längsschnittanalyse aufzeigen. Typische 3

Schriftmerkmale für eine Lebensphase sollten statistisch gefunden werden, damit sie als Norm für die individuelle Diagnostik von Kinder- und Jugendhandschriften dienen konnten. Sie untersuchte hierfür 23 Schriftmerkmale in etwa 2000 Handschriftenproben von Schülern.

In einem zweiten Schritt hat Ursula Avé-Lallemant die Grundlagen der dynamischen Graphologie erar-beitet. Aufbauend auf typischen Schriftmerkmalen einer Lebensphase als Norm hat sie Störungs4 -merkmale aufgezeigt: Raumstörungen, Formstörungen, Störungen im Bewegungsablauf und Strich-störungen. Ursula Avé-Lallemant formulierte anschließend Merkmale der Persönlichkeitseigenart im Schriftbild, welche die zentralen Aspekte ihrer dynamischen Graphologie ausmachen. Zur dynami-schen Graphologie gehört die kleine graphische Testbatterie, die neben der Handschriftenanalyse auch Baum-Test, Wartegg-Zeichentest und Sterne-Wellen-Test umfasst, da auch Zeichnungen gra-phischer Ausdruck sind und Hinweise auf die Persönlichkeitseigenart eines Menschen geben können.

In einem dritten Schritt hat sich Ursula Avé-Lallemant mit den Handschriften jugendlicher Straftäter befasst. Die hier erarbeitete Kasuistik will auf die Mannigfaltigkeit individueller Persönlichkeitsstruktu5 -ren aufmerksam machen und für die Frage sensibilisieren, was jugendlichen Straftätern fehlt, um im vollen Sinne Verantwortung tragen zu können.

Auseinandersetzung mit Ludwig Klages und Roda Wieser!Die Dynamische Graphologie konnte für Ursula Avé-Lallemant nicht lediglich eine Erweiterung der tra-ditionellen Graphologie sein, denn dies würde zu verhängnisvollen Missverständnissen führen. Es war ihr vielmehr wichtig, Fehlentwicklungen im Fachgebiet der Graphologie aufzuzeigen und zu überwin-den.

Ursula Avé-Lallemant setzte sich kritisch mit Ludwig Klages und Roda Wieser auseinander. Insbe6 -sondere war es ihr wichtig, unangemessene Begriffe wie „zentrale Minderwertigkeit“, „Unwahrhaftig-keit“ und „kriminelle Disposition“ klar zurückzuweisen. „Ohne ausdrückliche Korrektur dieser Bestand-teile des Lehrgutes mußte insbesondere die Jugendhandschrift der Gefahr gravierender Fehlurteile ausgesetzt sein mit unabsehbaren Rückwirkungen auf die beurteilten Jugendlichen. Ich sah mich des-

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Avé-Lallemant, Ursula (1970): Graphologie des Jugendlichen I – Längsschnittanalyse; München, Reinhardt3

Avé-Lallemant, Ursula (1988): Graphologie des Jugendlichen II – Eine dynamische Graphologie; München, Reinhardt4

Avé-Lallemant, Ursula (1993): Graphologie des Jugendlichen III – Straftäter im Selbstausdruck; München, Reinhardt5

Avé-Lallemant (1985) Forschungsbericht 1985, S. 25ff. 6

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halb gezwungen, zum Schutz der entstehenden Graphologie des Jugendlichen das traditionelle Lehr-gut in dieser Hinsicht einer fundamentalen Kritik zu unterziehen, und zwar durch empirisch nachge-wiesene Korrekturen und durch Widerlegung der zugrunde liegenden Theoreme“. 7

Ursula Avé-Lallemant setzte sich ausführlich mit Ludwig Klages auseinander. Sie lehnte das „Formni-veau“ ebenso wie diskriminierende Begriffe in den Klageschen Tabellen strikt ab. Ebenso konsequent kritisierte sie den „Grundrhythmus“ von Roda Wieser und die Annahme einer „kriminellen Disposition“. Sie suchte die Diskussion in Fachkreisen, die insbesondere im Rahmen der Symposien 8

des Studienkreises Ausdruckswissenschaft stattfand. 9

Dynamische Graphologie!Die traditionelle Graphologie basierte auf einem statischen Ansatz. Die graphologische Diagnostik diente in den tradierten graphologischen Theorien der Beschreibung von Persönlichkeitsmerkmalen, denen einerseits ein statisches Persönlichkeitsbild zugrunde lag und die andererseits noch in hohem Maße wertend hinsichtlich positiver und negativer Charaktereigenschaften waren. Demgegenüber hat Ursula Avé-Lallemant die Entwicklungspsychologie in die Graphologie einbezogen. Sie verfolgte das Ziel, die graphologische Diagnostik dahingehend zu erweitern, von einer feststellenden zu einer bera-tenden Praxis zu gelangen.

Ursula Avé-Lallemant ging es um eine Revision der Grundlagen der traditionellen Graphologie hin zu einer dynamischen Graphologie, welche den Entwicklungsaspekt in den Vordergrund rückt und durch Beratung eine psychische Entwicklung einleitet.

Für Ursula Avé-Lallemant sind bestimmte Schriftmerkmale „Notsignale“ und keine Hinweise auf nega-tive Charaktereigenschaften. Notsignale können durch einen aktuellen Anlass bedingt sein oder ei10 -nen Entwicklungsschritt anzeigen. Sie fordern dazu auf, auf einen Schüler zuzugehen und Verständnis zu gewinnen. Schon Einfühlungsvermögen, Ermutigung und Zuspruch können für einen Schüler hilf-reich sein.

Den Begriff der Dynamischen Graphologie hat Ursula Avé-Lallemant schon in ihren frühen Arbeiten verwendet und nicht nur auf Kinder- und Jugendschriften bezogen. „Denn die Entwicklung endet nicht mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter, sondern geht ein ganzes Leben hindurch weiter, weshalb auch der dynamische Aspekt für die gesamte Graphologie von Bedeutung bleibt.“ 11

Es ist das besondere Verdienst von Ursula Avé-Lallemant, dass sie den Weg „Von der statischen zur dynamischen Graphologie“ gezeigt hat. Beratung und Veränderung rücken stärker in den Mittelpunkt als lediglich Diagnostik.

Obwohl Entwicklung ein zentraler Begriff der Dynamischen Graphologie von Ursula Avé-Lallemant ist, nennt sie auch Merkmale der Persönlichkeitseigenart im Schriftbild, die auf überdauernde Eigenschaf-ten hinweisen. Ein anthropologischer Horizont diente ihr bei der Entwicklung ihrer Dimensionen zur Persönlichkeitsbeschreibung. Sie unterscheidet hier folgende Aspekte:

• Der intentionale Aspekt: Die Umweltbeziehung • Der funktionale Aspekt: Das biopsychische Gleichgewicht • Der materiale Aspekt: Die Grundvermögen • Der formale Aspekt: Die Verlaufsformen des Weltkontaktes

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Avé-Lallemant (1985) Forschungsbericht 1985, S. 37

Avé-Lallemant (1984): Falsifizieren als Methode – dargestellt am Thema "Grundrhythmus und kriminelles Verhalten (ZfM 4/1984)8

Avé-Lallemant (1985) Forschungsbericht 1985, S. 489

Avé-Lallemant, Ursula (1982): Notsignale in Schülerschriften; München, Reinhardt10

Avé-Lallemant, Ursula (1970): Graphologie des Jugendlichen I – Längsschnittanalyse; München, Reinhardt, S, 1711

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• Der essentiale Aspekt: Der Motivationsbereich • Der existentiale Aspekt: Der Selbsterleben • Der qualitative Aspekt: Die Persönlichkeitsganzheit 12

Diesen Überschriften ist wiederum jeweils eine Reihe von Unteraspekten zugeordnet. Zum Beispiel zählt Ursula Avé-Lallemant folgende Aspekte zum Grundvermögen:

• Ausdruck der Vitalität • Ausdruck der Sensibilität • Ausdruck der Affektivität • Ausdruck der Emotionalität • Ausdruck der Imaginationskraft • Ausdruck der Intelligenz • Ausdruck des Willensvermögens

Die kleine graphische Testbatterie!Auf die Fruchtbarkeit einer Ergänzung der Handschriftenanalyse durch die Auswertung von Zeichen-tests hatte bereits August Vetter hingewiesen. Ursula Avé-Lallemant stellte eine kleine graphische Testbatterie zusammen, die zusammen mit einer Handschriftenanalyse angewendet wer-den sollte. Neben dem Baum-Test und War13 -tegg-Zeichentest hat sie dazu selbst einen 14

neuen Test entwickelt, den Sterne-Wellen-Test . 15

Der Sterne-Wellen-Test (SWT) gehört zu den graphischen Ausdrucks- und Projektionstests und stützt sich auf Verfahren, die von der Aus-druckswissenschaft, der Charakterologie und der Tiefenpsychologie entwickelt worden sind. Er soll die persönliche Eigenart des Urhebers in seiner gegenwärtigen Verfassung offenbaren. „Während die Schrift in hohem Maße vom Ver-haltenshabitus des Menschen geprägt wird, gibt der SWT, bestätigend oder – oft zur Überra-schung für den Diagnostiker – als Ergänzung des Persönlichkeitsbildes die Erlebnisweise wieder.“ 16

Auswertungskriterien des SWT sind zunächst die formalen Auffassungsweisen „Sachlösung“, „ B i l d l ö s u n g “ , „ S t i m m u n g s l ö s u n g “ , „Formlösung“, „Sinnlösung“ und somit Begriffe, die auch im Wartegg-Zeichentest eine Rolle

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Avé-Lallemant, Ursula (1988): Graphologie des Jugendlichen II – Eine dynamische Graphologie; München, Reinhardt12

Avé-Lallemant, Ursula (1990): Baum-Tests; München, Reinhardt13

Avé-Lallemant, Ursula (1994): Der Wartegg-Zeichentest in der Lebensberatung; München, Reinhardt14

Avé-Lallemant, Ursula (1979): Der Sterne-Wellen-Test; München, Reinhardt15

Avé-Lallemant, Ursula (1979): Der Sterne-Wellen-Test; München, Reinhardt, S. 1716

Archetypische Funktion der Anfangszeichen

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spielen. Die formale Raumstruktur wird in Hinblick auf „Ebenmaß“, „Gleichmaß“, „Regelmaß“ und „Disharmonie“ beurteilt. Die Raumsymbolik wird zum Verständnis des vertikalen und horizontalen Auf-baus eines Bildes angewendet. Auch Sachsymbolik spielt eine Rolle bei der Auswertung eines Bildes. Schließlich werden noch Stricharten als Auswertungskriterien des SWT herangezogen.

Der Wartegg-Zeichentest (WZT) basiert auf einer Versuchsanordnung, bei der – im Unterschied zum freien Zeichen – von vornherein Reizbedingungen vorgegeben sind. Die Reizbedingungen sollen gleichsam archetypische Prägnanz haben und z.B. Selbstfindung, Kontakt, Strebung, Angst, Steue-rung, Integration, Sensibilität und Bindung ansprechen, wie die oben abgebildete Tabelle zur archety-pischen Funktion der Anfangszeichen zeigt. 17

Schließlich ist noch der Baum-Test nach Karl Koch Bestandteil der kleinen graphischen Testbatterie von Ursula Avé-Lallemant. Auch er gehört zu den projektiven Tests. Durch die Aufgabe, einen Baum zu zeichnen, „regen wir die Persönlichkeit des Zeichners zu einer unbewussten Aussage über sein eigenes Selbst an.“ 18

Studienkreis Ausdruckswissenschaft!1979 rief Ursula Avé-Lallemant den „Studienkreis Ausdruckswissenschaft – Interessengemeinschaft zur Erforschung und Lehre graphischer Ausdrucks- und Projektionsdiagnostika“ ins Leben, um insbe-sondere zu zeigen, „dass die deutsche Graphologie aufgrund der esoterisch begründeten Konzeption von Klages in großer Verbreitung zwar ein einfach zu handhabendes, aber fehlerhaftes System anbie-tet.“ Der Studienkreis veranstaltete 1979 bis 1985 Symposien zu folgenden Themen: 19 20

• 20.–22.07.1979: Konstitutiv Benachteiligte als Problem und Aufgabe; Gesamthochschule Eichstätt • 22.–23.02.1980: Weltanschauliche Einflüsse auf die Ausdrucksdiagnostik; Deutsches Museum

München • 26.–28.09.1980: Möglichkeiten der Beratung und Therapie; Universität Eichstätt • 20.–21.02.1981: Grundrhythmus und kriminelle Disposition in der Handschrift: Entdeckung oder

Irrtum? Deutsches Museum München • 12.–14.10.1981: Jugendhilfe durch Frühdiagnose; Psychotherapeutisches Kinderheim Zürich • 10.–13.06.1982: Ausdrucksdiagnostik und Ausdruckstherapie; Heckscher-Klinik München • 17.–19.06.1983: Zwischenbilanz: 50 Jahre deutsche Graphologie. Klages, Pophal, Pulver, Heiss und

Deutsch-französische Perspektiven; Heckscher-Klinik München • 28.–29.09.1985: Stufen des Unbewussten im Ausdruck von Handschrift und graphischem Projekti-

onstest; Heckscher-Klinik München

Verein für Dynamische Graphologie in der Psychodiagnostik (VDGP) e. V.!Aus dem „Studienkreis Ausdruckswissenschaft“ ging der „Verein für Dynamische Graphologie in der Psychodiagnostik (VDGP) e. V.“ hervor, der halbjährlich in München Seminare veranstaltet. Ursula Avé-Lallemant war viele Jahre Vorsitzende des VDGP, dessen Gemeinnützigkeit anerkannt ist.

Der VDGP basiert auf dem Lehrgut von Ursula Avé-Lallemant. Der Zweck des Vereins ist einerseits die Förderung wissenschaftlicher Forschung im Bereich der Graphologie sowie graphischer Testverfahren. Andererseits sollen qualifizierte Fachkräfte – insbesondere Pädagogen, Psychologen, Therapeuten, Ärzte – weitergebildet werden. Der VDGP will Fachdiskussionen auch auf internationaler Ebene för-dern und Forschungsergebnisse veröffentlichen.

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Entnommen aus: Wartegg, Ehrig (1976): Schichtdiagnostik – der Zeichentest (WZT); Göttingen, Hogrefe, S. 27/2817

Avé-Lallemant, Ursula (1990): Baum-Tests; München, Reinhardt, S. 1318

Avé-Lallemant (1985) Forschungsbericht 1985, S. 2519

Avé-Lallemant (1985) Forschungsbericht 1985, S. 4820

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Der VDGP setzt sich ein für die Anwendung und Weiterentwicklung einer graphognostischen Bera-tung, die auf der Handschriftenanalyse und der kleinen graphischen Testbatterie basiert. Die pädago-gische und psychologische Beratung soll vorrangig für die Lebenshilfe eingesetzt werden, z.B. für El-ternberatung bei Schulproblemen der Kinder und für Familienberatung.

Der VDGP steht Fachkräften offen, die einen psychosozialen Beruf oder genügend Kenntnisse und Interesse an der Zielsetzung des Vereins haben. Neben Vorträgen werden bei den VDGP-Seminaren praktische Beispiele der kleinen graphischen Testbatterie besprochen. Durch wissenschaftliche For-schung und Erfahrungsaustausch will der VDGP den Anschluss an die heutige Zeit gewährleisten.

Der Wert der dynamischen Graphologie heute!Die große wissenschaftliche Leistung von Ursula Avé-Lallemant ist unbestreitbar. Gleichwohl wird das Lehrgut von Ursula Avé-Lallemant heute nicht mehr genügen, um Handschriften und Zeichnungen in der Beratung zu nutzen.

Sinnvoll waren ihre Forschungen zur Kinder- und Jugendhandschrift, die heute andere Merkmale auf-weisen als damals. Hier ergeben sich Anregungen für neue Forschungen, die auch unter Einbeziehung der aktuellen Diskussionen zu Schulvorlagen ergiebig sind.

Ursula Avé-Lallemant hat einen eigenen anthropologischen Ansatz zur Persönlichkeitsbeschreibung vorgestellt, dessen Begriffe sehr weit sind. Für die Forschung ist es unumgänglich, neue Modelle der Persönlichkeitsdiagnostik einzubeziehen.

Außerdem sind heutige Theorien der Beratung erforderlich, um den praktischen Nutzen einer Analyse von Handschriften und Zeichnungen zu verbessern.

Die kleine graphische Testbatterie ist kein valides Instrument psychologischer Diagnostik. Gleichwohl können Zeichnungen ein erhellendes Medium der Selbsterfahrung sein. Es wäre denkbar, die Deutung von Zeichnungen ähnlich zu verstehen und einzusetzen wie psychoanalytische Traumdeutung. Zeich-nungen können mit dem Zeichner besprochen werden, um den Ausdruck von Gefühlen, Haltungen und Konflikten besser zu verstehen und eine persönliche Weiterentwicklung einzuleiten.

Es ist sinnvoll, sich nicht auf die kleine graphische Testbatterie zu beschränken, sondern freie Zeich-nungen mit einzubeziehen. 21

Ursula Avé-Lallemant als Persönlichkeit!Ursula Avé-Lallemant war eine starke und faszinierende Persönlichkeit. Sie hat ganz in ihrer wissen-schaftlichen Arbeit gelebt und setzte sich gern für ihre Ziele ein. Dabei referierte sie nicht mit abstrakter Distanziertheit, sondern vertrat ihre Anliegen mit Leidenschaft und Überzeugungswille. Sie war ener-gisch, streitbar, mischte sich ein, vertrat ihre Argumente, verschaffte sich Respekt.

Ursula Avé-Lallemant hat die kleine graphische Testbatterie als Möglichkeit verstanden, Lebenshilfe zu geben. Mit Einfühlungsvermögen und Kompetenz hat sie Handschriften und Zeichnungen von Kindern und Jugendlichen gedeutet, um Hilfestellung geben zu können. Dabei war sie sich der Vorläufigkeit einer Deutung bewusst und hat immer auch eine bessere wissenschaftliche Absicherung der kleinen graphische Testbatterie angestrebt.

Mit ihrem Ehemann Dr. phil. habil. Eberhard Avé-Lallemant, Honorarprofessor für phänomenologische Philosophie an der Universität München, verband sie das Interesse für Anthropologie. Beide waren Forscherpersönlichkeiten mit jeweils anderen Schwerpunkten, aber auch guten Möglichkeiten wech-selseitigen Austausches.

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Sehringer, Wolfgang (2013): Mit Kinderzeichnungen kommunizieren – Theorie und Taxonomie, http://graphologie-news.net/cms/upload/archiv/Kinderzeichnungen.pdf21

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Auch die Handschrift von Ursula Avé-Lallemant offenbart ihre Dominanz und Stärke, die sie sogar noch in hohem Alter hatte. Sie war eine sehr kreative und willensstarke Persönlichkeit, nicht immer einfach im Umgang, aber ein ganz besonderer Mensch.

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!!!!!!!!!!!!!!!!!Bücher von Ursula Avé-Lallemant!• Avé-Lallemant, Ursula (1970): Graphologie des Jugendlichen I – Längsschnittanalyse; München,

Reinhardt • Avé-Lallemant, Ursula (1979): Der Sterne-Wellen-Test; München, Reinhardt • Avé-Lallemant, Ursula (1982): Notsignale in Schülerschriften; München, Reinhardt • Avé-Lallemant, Ursula (1983): Pubertätskrise und Handschrift; München, Reinhardt • Avé-Lallemant, Ursula (1988): Graphologie des Jugendlichen II – Eine dynamische Graphologie;

München, Reinhardt • Avé-Lallemant, Ursula (Hrsg., 1989): Die vier Schulen der Graphologie – Klages Pophal Heiss Pul-

ver; München, Reinhardt • Avé-Lallemant, Ursula (1990): Baum-Tests; München, Reinhardt • Avé-Lallemant, Ursula (1993): Graphologie des Jugendlichen III – Straftäter im Selbstausdruck;

München, Reinhardt • Avé-Lallemant, Ursula (1994): Der Wartegg-Zeichentest in der Lebensberatung; München, Reinhardt

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