Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

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Peter-Heinz Seraphim (1902-1979) ‘Judenforscher’ des Dritten Reiches

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Peter-Heinz Seraphim (1902-1979) ‘Judenforscher’ des Dritten Reiches

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Masterarbeit DuitslandstudiesUniversiteit van Amsterdam

Januar 2018

Mike Weiss Studentnummer: 5858771Begleiter: dr. M.J. FöllmerZweiter Leser: dr. W.F.B. Melching

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung__________________________________________________________2

1 Die ‘Judenforschung’ im Dritten Reich______________________________6-18

1.1 Entstehung der nationalsozialistischen ‘Judenforschung’___________________6 1.2 Institutionen der ‘Judenforschung’ ____________________________________9

1.3 Die nationalsozialistische ‘Judenforschung’____________________________12

2. Der ‘Judenforscher’ Peter-Heinz Seraphim ________________________19-32

2.1 Biografie: Peter-Heinz Seraphim, 1902 bis 1945 ________________________19

2.2 Der Weg Seraphims zum Antisemitismus und Nationalsozialismus__________25

3: Ansatz und Einflüsse:

Seraphims nationalsozialistischer ‘Judenforschung’ ___________________32-64 3.1 Seraphims ‘wissenschaftlicher’ Ansatz________________________________32

3.2 Einfluss der ‘Judenforschung’ von Seraphim auf die ‘Judenpolitik’

des Dritten Reiches __________________________________________________52

Fazit______________________________________________________________64

Bibliographie _______________________________________________________68

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Einleitung

Der Antisemitismus in Europa kennt eine lange Geschichte. Schon in der Zeit der Jahnschen Turner

und der Burschenschaftler zwischen 1815 und 1848 gab es in Deutschland Formen von

Antisemitismus. Die Mitglieder dieser Organisationen skandierten: ‘Polen, Franzosen Pfaffen,

Junker und Juden sind Deutschlands Unglück.’ In Deutschland wohnten damals, Anfang des 19. 1

Jahrhunderts, ungefähr 100.000 Juden. Diese kulturelle Vielfalt stieg 1919, als die Provinz Posen

und das neu erstandene Polen abgetreten werden musste und die dortigen jüdischen Deutschen

Richtung Berlin flohen. Damit stieg die Anzahl auf 500.000 in Deutschland, etwa doppelt soviel wie

in England und fünf Mal so viel wie in Frankreich. 2Unterstützt von einer schlechten wirtschaftlichen und politischen Situation des Landes in der

zwanziger Jahren und einer in den Augen vieler deutscher Bürger beängstigenden Anzahl von Juden

in Deutschland, breitete der Antisemitismus sich weiter aus. Dieser Antisemitismus wurde weiter

gestärkt, als die Nazis Anfang der dreißiger Jahre versuchten, an die Macht zu kommen.

Nationalsozialistische Propaganda über den Glauben an ‘den Geist von vor 1914’ ging einher damit,

die Juden als Schuldige für die wirtschaftlichen und politischen Probleme sowie als Fremdkörper

innerhalb der deutschen Bevölkerung auszumachen. Millionen von Deutschen sahen in den 3

Argumenten und den Lösungen der Nationalsozialisten die richtige Antwort auf ihre Probleme.

Mit Hilfe der Rassenkunde, die zwischen Biologie, Medizin, Anthropologie und Ethnologie in der

Mitte des 19. Jahrhunderts entstand, konnten die Nazis auf ‘wissenschaftlicher‘ Basis einen

Rangunterschied machen zwischen verschiedenen menschlichen Großgruppen und die

Diskriminierung der Juden legitimieren. Doch diese ‘Wissenschaft’ war für die Nazis nicht die 4

einzige Forschungsrichtung, die den Antisemitismus rechtfertigte. Neben der Rassenkunde gab es

nach der Machtergreifung noch eine andere einschlägige ‘Wissenschaft’: die ‘Judenforschung’.

Diese ‘Forschung’ sollte für die Nationalsozialisten eine breitere gesellschaftliche Akzeptanz

kreieren und ihren Antisemitismus legitimieren. Trotz dieser politischen Bedeutung gibt es

heutzutage merkwürdigerweise nur wenig Versuche, diese Wissenschaft und ihre Wissenschaftler zu

analysieren. Auch wird sie kaum in der allgemeinen Geschichte des Dritten Reiches genannt. Sie

wurde oft als eine ‘fragwürdige’ Wissenschaft gesehen, die geringen Einfluss gehabt haben soll auf

die Pläne des Dritten Reiches zur Beseitigen der Juden. Raul Hilberg zum Beispiel tat in seinem 5

Götz Aly, Warum die Deutschen? Warum die Juden?: Gleichheit, Neid und Rassenhass, 1800-1933 (Frankfurt am Main 2011) 10.1

Aly, Warum die Deutschen? Warum die Juden? (2011) 10.2

Richard Bessel, Nazism and War (London 2006) 82.3

Aly, Warum die Deutschen? Warum die Juden? (2011) 120.4

Dirk Rupnow, 'Judenforschung' im Dritten Reich: ‘Wissenschaft zwischen Politik, Propaganda und Ideologie’ (Baden Baden 2011) 60.5

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Werk, Die Vernichtung der europäischen Juden die ‘Judenforschung’ nur als eine reine

Propagandamachine ab, erklärte aber weiter nicht, welchen Einfluss die ‘Judenforschung’ hatte oder

wie sie sich im Dritten Reich zu einer ‘wissenschaftlichen Forschung’ entwickelt hatte. Auch Saul

Friedländer beschreibt sie in Das dritte Reich und die Juden nur beiläufig.6

Um dem Antisemitismus der Parteiideologie eine eigene geisteswissenschaftliche

Existenzberechtigung zu verschaffen und die Entwicklung der ‚Judenforschung‘ zu fördern, wurden

Akademiker aus verschiedenen Disziplinen übernommen. Einer dieser neuen ‘Wissenschaftler’ war

der Gelehrte Peter-Heinz Seraphim. Er setzte sich ein für die ‘Judenforschung’ und wurde der 7

wichtigste Träger des Instituts zur Erforschung der Judenfrage, das 1941 zur Förderung der

‘Judenforschung’ errichtet wurde. Seraphim fing in den dreißiger Jahren an mit ‘wissenschaftlichen’

Untersuchungen über das Judentum. Sein Buch Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938)

war eines der umfangreichsten Werke der neuen Richtung, womit er schnell zu einem Experten der

'Judenforschung' wurde. Auffallend ist, dass Seraphim vor seinem Hauptwerk nie etwas publizierte

über die jüdische Frage oder über die Juden überhaupt. Zuvor hatte er sich nur beschäftigt mit

volkswirtschaftlichen Analysen und Theorien zum Beispiel über Polen.

In dieser Masterarbeit wird erörtert, welchen Ansatz Peter-Heinz Seraphim als

‘Wissenschaftler’ im Dritten Reich verfolgte und warum er sich für die ‘Judenforschung’

interessierte. Die Hauptfrage wird dabei sein: Inwiefern folgte Seraphim mit seiner

‘Judenforschung’ dem Mainstream oder setzte sich von der allgemeinen ‘Judenforschung’ ab? Diese Hauptfrage wird anhand verschiedener Unterfragen beantwortet. Es wird zuerst erklärt, was

die ‘Judenforschung’ beinhaltete und wie sie sich entwickelte im Dritten Reich. Dabei werden

Beispiele gegeben von verschiedenen wissenschaftlichen Werken, die damals zur der

‘Judenforschung’ gezählt wurden. Weiter werden in diesem ersten Kapitel auch verschiedene

Institutionen genannt, die wichtig waren für die Entwicklung und die Organisation der

‘Judenforschung’.

Im zweiten Kapitel wird die Person Seraphim untersucht, wobei neben seinem biographischen

Hintergrund sein Weg zum Antisemitismus und Nationalsozialismus im Zentrum steht. Im dritten

Kapitel wird die Hauptfrage beantwortet, indem der Ansatz von Seraphim dargestellt wird anhand

einiger Studien, die sich mit dem ‘Wissenschaflter’ mit unterschiedlichen Akzenten

auseinandergesetzt haben. Diese Erkenntnisse werden durch eigene Untersuchungen ergänzt und

unterstützt, wobei das Hauptwerk Das Judentum im osteuropäischen Raum den Ausgangspunkt

Rupnow, 'Judenforschung' im Dritten Reich (2011) 60.6

Alan E. Steinweis, ‘Antisemtic Scholarship in the Third Reich and the Case of Peter-Heinz Seraphim’ in: Daniel E. Rogers und Alan E. Steinweis, 7

The Impact of Nazism: New perspectives on the Third Reich and Lagacy (Nebraska 2003) 70.

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markiert. Es werden verschiedene Stellen im Werk von Seraphim analysiert und mit der

‘allgemeinen Judenforschung’ verglichen.

Es gibt nicht viele Historiker, die sich mit Seraphim auseinander gesetzt haben. Einige haben sich

nur sehr kurz zur Seraphim geäussert, wie zum Beispiel Michael Burleigh in seinem Werk Die Zeit

des Nationalsozialismus. Dort tut er den Wissenschaftler Seraphim als einen akademischen

Antisemiten ab. Es gibt viele verschiedene Studien über den Antisemitismus, aber Werke über die 8

nationalsozialistische ‘Judenforschung’ und Seraphim viel weniger. Trotz der ständigen Debatte

über die Rolle der deutschen Historiker im Dritten Reich wurde diese ‘Judenforschung’ oft eher am

Rande besprochen. Ein Historiker, der sich aber viel beschäftigt hat mit der ‘Judenforschung’, ist Dirk Rupnow.

In seinem Buch Judenforschung im Dritten Reich: Wissenschaft zwischen Politik, Propaganda und

Ideologie hat er das Spannungsfeld der ‘Judenforschung’ eingeteilt in Wissenschaft, Propaganda

und Politik. Rupnow erörtert, welche verschiedene Institutionen die ‘Judenforschung’ entwickelt

haben und zeigt deren Anfangsphase, Hochphase und Ende, wobei er die Gründe für deren

Scheitern herausarbeitet. Auch zeigt er, welche Funktion die ‘Judenforschung’ im NS-Regime

ausübte und welche ‘Wissenschaftler’ einen wichtigen Beitrag dazu leisteten. Weil es nur wenige

Studien zur ‘Judenforschung’ gibt, ist Rupnows Buch für diese Arbeit wichtig. Ein anderer Experte, der sich nicht nur mit der ‘Judenforschung’ beschäftigt sondern auch mit der

Hauptperson Peter-Heinz Seraphim, ist Alan Steinweis. Er hat sich in verschiedenen Studien mit der

‘Judenforschung’ von Seraphim befasst, vor allem in Studying the Jew. Scholarly Antisemitism in

Nazi Germany. 9Ein weiteres Werk, dass wichtig ist bei der wissenschaftlichen Untersuchung der

nationalsozialistischen ‘Judenforschung’, ist das Werk von Hans Christian Petersen

Bevölkerungsökonomie - Ostforschung - Politik: eine biographische Studie zu Peter-Heinz

Seraphim. Dieses Werk ist eine der wichtigsten Quellen für diese Arbeit. Es zeigt nämlich, wie

Seraphim seine Studien organisierte und wie er sein wissenschaftliches Objekt bestimmte. Petersen

erläutert, wie Seraphim seine Untersuchungen einsetzte für die Lösung der ‘Judenfrage’ und welche

Position er sich zugeeignet hatte im politischen System des Dritten Reiches.10

Weiter haben Götz Aly und Susanne Heim wichtige Beiträge gelieferten für die Beurteilung von

Seraphim als eines der Mitschuldigen an der Holocaust. Auch machen sie interessante Aussaugen

über die ‘Objektivität’ seiner Werke.

Rupnow, 'Judenforschung' im Dritten Reich (20011) 61.8

Steinweis, ‘Antisemtic Scholarship in the Third Reich and the Case of Peter-Heinz Seraphim’ (Nebraska 2003).9

Hans Christian Petersen Bevölkerungsökonomie - Ostforschung - Politik: eine biographische Studie zu Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)10

(Osnabrück 2007) 127.

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Die ‘Judenforschung’ ist nicht sehr bekannt, vor allem nicht die Unterschiede zwischen den

in ihrem Rahmen tätigen Wissenschaftler. Dirk Rupnow spricht von einer großen Zahl von

‘Judenforschern’, arbeitet aber die Besonderheiten Seraphims gegenüber seinen Kollegen heraus.

Auch Petersen, Steinweis, Götz Aly und Susanne Heim zeigen nur nebenbei den Unterschied

zwischen der ‘wissenschaftlichen’ Forschung Seraphims und den anderen ‘Judenforschungen’ im

Dritten Reich. Deswegen ist es interessant, die Methode von Seraphim zu analysieren, um zu

klären, ob diese einzigartig war oder sich in den Mainstream der damaligen ‘Judenforschung’

einfügte. Die Frage dieser Masterarbeit, inwiefern folgte Seraphim mit seinen 'Judenforschung'

zwischen 1933-1945 dem Mainstream oder setzte sich von den Allgemeinen ‘Judenforschung’ ab?,

ergibt sich damit logisch aus der Beschäftigung mit dem Thema. Im Fazit wird ferner die Frage

erörtert, inwiefern Seraphim Mit-Schuld trägt am Holocaust.

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1: Die ‘Judenforschung’ im Dritten Reich

1.1: Entstehung der nationalsozialistischen ‘Judenforschung’.

Dirk Rupnow behauptet in seiner Habilitationsschrift, ‘Judenforschung’ im Dritten Reich:

Wissenschaft zwischen Politik, Propaganda und Ideologie, von 2011, dass die ‘Judenforschung’ das

Ziel gehabt habe,

“als wissenschaftliches Forschungsgebiet die antijüdischen Maßnahmen mit einer Aura der

Respektabilität zu versehen.“ 11

Die ‘Judenforschung’ sollte eine bestimmte Legitimität für das Lösen der ‘Judenfrage’ schaffen und

für das deutsche Volk begründen, dass die Erlösung vom Judentum eine Notwendigkeit für die

Zukunft eines ‘neuen’ Deutschlands sei. Denn bei den Nationalsozialisten gab es die Überzeugung,

dass die Beseitigung des Judentums für die Bürger des Dritten Reiches ‘akzeptabler’ sein würde,

wenn die Notwendigkeit, die ‘Judenfrage’ zu lösen, wissenschaftlich fundiert wäre. Diese

‘Judenfrage’ war eine lange und alte ‘Debatte’ über die sogenannten ‘Probleme’ der Emanzipation

der Juden in den verschiedenen europäischen Gemeinschaften. Die Diskussion entstand schon im

18. Jahrhundert in Großbritannien und Frankreich kurz nach der Französischen Revolution und

betonte am Anfang die politischen Probleme der Juden innerhalb der jeweiligen nationalen

Gemeinschaft. Sie wurde als ‘jüdische Frage’ oder ‘Judenfrage’ bezeichnet. Die 12

Nationalsozialisten machten daraus das Konzept, das Judentum als Hindernis der gesellschaftlichen

Entwicklung in Deutschland darzustellen.

Die ‘Judenforschung’ beschäftigte sich vor allem mit der ‘Judenfrage’, sie war aber kein

naturwissenschaftliches Studium, das sich mit Rassenkunde oder anthropologischen Fragen

befasste. Dies geschah trotz der Tatsache, dass eine biologische-rassistische Perspektive die Basis

für die Gründung der ‘Judenforschung’ war. Denn letztlich wurden die Juden im

nationalsozialistischen Deutschland unter anderem durch Charaktereigenschaften, als moralisch

korrupt und damit als ‘gefährlich’ für das deutsche Volk, definiert. 13

Die NS-‘Judenforschung’ stellte nach der Machtergreifung nicht sofort eine offiziell genehmigte

anti-jüdische ‘Wissenschaft’ dar. Die Nationalsozialisten versuchten aber, eine solche daraus zu

machen, indem sie die ‘Judenforschung’ mit Hilfe von außeruniversitären nationalsozialistischen

Institutionen und Universitäten, die jüdische Geschichte als Forschungsthema hatten, unterstützten

und förderten. Auf diese Weise versuchten sie letztendlich die ‘Judenforschung’ in der deutschen

akademischen Welt zu verankern. Das Ziel der ‘Judenforschung’, einen Lehrstuhl an bestehenden

Dirk Rupnow, 'Judenforschung' im Dritten Reich (2011) 60.11

Götz Aly, Warum die Deutschen? Warum die Juden? (2011) 46.12

Steinweis, Studying the Jew: scholarly antisemitism in Nazi Germany (Cambridge, Mass. 2006) 34.13

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Universitäten zu schaffen, wurde aber nicht erreicht, denn trotz der Gleichschaltung der

Universitäten seit 1933 und dem geringen Widerstand gegen die neuen Ansätze wurde die

‘Judenforschung’ nicht offiziell an bestehenden Universitäten etabliert. Es wurden verschiedene

konkrete Pläne, neue Lehrstühle zu errichten oder bestehende Lehrstühle zur jüdischen Geschichte

mit ‘Judenforschern’ zu besetzen, doch die meisten Versuche scheiterten an praktisch-rechtlichen,

budgetären oder hochschulpolitischen Vorgaben sowie Rahmenbedingungen der Universitäten.

Letztendlich misslangen sie wegen der fehlenden Zeit, vollständige Lehrstühle zu realisieren. Wie 14

bereits erwähnt sollte die ‘Judenforschung’ auf wissenschaftliche Weise ideologisch und politisch

die nationalsozialistische antijüdische Politik erläutern und das Feindbild der Juden legitimieren.

Denn ohne den Juden als Feind hätte die NS-Rassenideologie keine Existenzberechtigung gehabt. 15

Um dies zu erreichen, wurden eigentlich fast alle nationalsozialistischen ‘wissenschaftlichen’

Untersuchungen, die sich mit den antijüdischen Theorien befassten, als ‚Judenforschung‘

bezeichnet. Hierzu zählten nicht die ‘Rassenwissenschaft’ oder die ‘physische Anthropologie’. Die

biologisch-rassistische Perspektive war nämlich für die ‘Judenforschung’ unwichtig. Die

Rassentheorie stellte zwar die Basis für die Wissenschaft dar, doch bezeichnete man keine

Rassenforscher als ‘Judenforscher’ oder führte rassentheoretische Untersuchungen in diesem

Rahmen aus. Es gab eher Historiker, Theologen, Germanisten, Orientalisten, klassische Philologen,

Juristen und Soziologen, die zusammen oder nebeneinander politische, kulturelle, intellektuelle und

gesellschaftliche Fragen beantworteten. Es bestanden gelegentliche interdisziplinäre Kooperationen

zwischen den ‘Judenforschern’ und den ‘Naturwissenschaftlern’ oder spezifischer den genetischen,

biologischen rassenorientierten ‘Wissenschaftlern’, doch dies führte nie zu bestimmten

gemeinsamen Arbeiten oder Projekten. 16

Rupnow behauptet weiter, dass die NS-‘Judenforschung’ zwischen ‘Wissenschaft’ und

Propaganda gestanden habe. Man könnte auch sagen, dass sie zwischen der nationalsozialistischen

Ideologie und der praktischen nationalsozialistischen ‘Judenpolitik’ stand, die sich sowohl mit der

Ausgrenzung der Juden als auch mit deren Vertreibung bis hin zum Massenmord befasste. Die

‘Judenfrage’ war im Prinzip der Ausgangspunkt des wissenschaftlichen Interesses und der Fokus

der Forschung. Dabei waren aber nicht nur Juden oder das Judentum an sich Thema, sondern auch

Antisemiten und der Antisemitismus.

Vor 1933 war es nicht die Wissenschaft des Judentums, die innerhalb der jüdischen Gemeinde

betrieben wurde und sich schwerpunktmäßig mit der Religion und biblischen Studien befasste, die

Steinweis, ‘Antisemtic Scholarship in the Third Reich and the Case of Peter-Heinz Seraphim’ (2003) 74.14

Rupnow, Judenforschung' im Dritten Reich (2011) 20.15

Steinweis, Studying the Jew (2006) 75.16

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wichtig war für die spätere Entwicklung der Organisation der ‘Judenforschung’. Es war die

Ostforschung.

Die Ostforschung bezeichnete eine multidisziplinäre Forschungsrichtung, die offiziell als

Fachgebiet erst nach dem Ersten Weltkrieg im Deutschland entstand. Sie war eine sehr etablierte

Disziplin am Anfang des 20. Jahrhunderts und entwickelte sich in den zwanziger Jahren zu einer

Forschungsrichtung, die sich auf Ost- und Mitteleuropa konzentrierte. Weiter fällt auf, dass die

Ostforschung einen sehr starken deutsch-historischen Blickwinkel auf die osteuropäischen

Regionen hatte. Dieser stellte damals noch keine direkte sinistre Verbindung zur Unterdrückung,

Vertreibung und Vernichtung der dort ansässigen Bevölkerung dar, wie wir sie heutzutage aus der

Politik des Dritten Reiches kennen. Der Ursprung der Ostforschung lag in der

Geschichtswissenschaft, genauer gesagt in der osteuropäischen Geschichte: einer Wissenschaft, die

sich im 18. Jahrhundert entwickelte und die von Anfang an in der damaligen deutschen

akademischen Welt universitär verankert war. Diesen Einfluss der osteuropäischen

Geschichtswissenschaft erkennt man sehr deutlich in der ‘Judenforschung’, weil die meisten ihrer

Arbeiten historisch ausgerichtet waren. Gegenüber der osteuropäischen Geschichte entwickelte 17

sich die deutsche Ostforschung nach dem Ersten Weltkrieg primär außeruniversitär, weil sie noch

andere Ziele behandelte als nur die Erforschung Osteuropas. Sie entwickelte historische

Legitimationen für die Revision der Nachkriegsgrenzen und wurde daher von nationalistischen

Verbänden wie zum Beispiel dem Alldeutschen Verband, dem Deutschbund (1891-1939) und dem

Deutschen Ostmarkenverein (1894-1934) gefördert. Dies geschah, um Forschungen vorzunehmen,

die deren ideologische und politische Ziele ‘wissenschaftlich’ unterstützten. Beispiele, die sich

später auch für die Entwicklung der ‘Judenforschung’ als wichtig erwiesen, waren die bekannten

Konzepte wie “Volksboden“ und „Kulturboden“. Diese Konzepte wurden unter anderem vom

Geographen Albrecht Penck (1858-1945) entworfen, der mit seinem Institut, der Stiftung für

deutsche Volks- und Kulturboden-Forschung (1920-1931), wichtige Beiträge lieferte zur

Entwicklung der Ostforschung. Penck sprach von Spuren der deutschen Kultur im Osten und

legitimierte die ‘historischen’ Ansprüche auf diese Gebiete mit seinen ‘wissenschaftlichen’ Arbeiten

wie zum Beispiel dem Buch Deutscher Volks- und Kulturboden (Breslau 1925). Pencks Konzepte

von einen bestimmten historischen deutschen Boden passten perfekt zu den späteren

nationalsozialistischen Entwürfen wie der Blut- und-Boden-Ideologie. Deshalb wurden sie von den

Nationalsozialisten angeeignet. Eine Vernichtung der osteuropäischen Bevölkerung war in der

Ostforschung noch kein Thema, es fällt aber auf, dass die dortige Bevölkerung schon Anfang der

zwanziger Jahre als minderwertig und als bloße Objekte ethnischer Politik gesehen wurden.

Steinweis, ‘Antisemtic Scholarship in the Third Reich and the Case of Peter-Heinz Seraphim’ (2003) 74.17

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Wie erwähnt, gab es schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bestimmte geopolitische

Vorstellungen eines altdeutschen Reiches, die sich auf die Zeit des Mittelalters bezogen. Die

Ostforschung trug zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zu dieser Legitimation einer eventuellen

Kolonialisierung weiter Teile Osteuropas bei. Doch diese Legitimation wurde gegen Ende der 18

zwanziger Jahre immer stärker. Zudem entwickelte die Ostforschung sich zu einer immer

dezidierter antislawischen ‘Forschung’, die auf der Theorie der Überlegenheit der nordischen Rasse,

der Herrenmenschenideologie, basierte. Der Rassenlehre und der Idee eines Lebensraumes im

Osten kam eine immer größere Rolle zu. Die Legitimation für diese Wissenschaft, vor allem die

Forschung zu Volks- und Kulturboden, wurde von diesen Ideen beeinflusst. Für die Nazis war die

Ostforschung ein interessantes Fachgebiet. Das nationalsozialistische Konzept des Lebensraums

passte zu den Versuchen, die Kolonisierung historisch, geographisch und ethnisch zu legitimieren.

Das Regime wollte diese Geisteswissenschaft im Sinnen seiner eigenen Ideologie völlig

gleichschalten, um entscheidende Probleme der deutschen Lebensordnung und der neuen

Einordnung der Bevölkerung Osteuropas zu lösen. Nach der nationalsozialistischen

Machtübernahme erfuhr die Ostforschung keine tiefe Zäsur, sondern einen umfangreichen Ausbau

ihrer Kapazitäten. Aus dieser von den Nationalsozialisten geförderten Ostforschung entwickelte

sich später die ‘Judenforschung’. Die Nationalsozialisten leisteten einen wichtigen Beitrag zu der

Entwicklung der ‘wissenschaftlichen ‘Judenforschung’. Einige Akademiker der Ostforschung

wurden nämlich von den Nazis für die ‘Judenforschung’ gebraucht und eingesetzt. Auch die

Methodik und das Vokabular wurden wiederverwendet. Ferner baute die ‘Judenforschung’ auf 19

einer langen Tradition von Antisemitismus in Deutschland aufgebaut, die von verschiedenen

Instituten, Philosophen oder Literaten geschaffen worden war.20

1.2 Institutionen der ‘Judenforschung’

Nach der Machtergreifung kam es im Dritten Reich in einer kurzen Zeitspanne zu einer

Gründungswelle von verschiedenen außeruniversitären Institutionen der ‘Judenforschung’. Die

meisten wurden zwischen 1936 und 1943 errichtet, was auch die wichtigste und aktivste Periode der

‘Judenforschung’ darstellte. In dieser Zeit wurde sie am meisten praktiziert, gefördert und von den

Nationalsozialisten geschätzt. Mit Hilfe von etablierten Wissenschaftlern und schon bestehenden

wissenschaftlichen Institutionen, die sich unter anderem mit der Ostforschung beschäftigten,

wurden neue Einrichtungen geschaffen. Allerdings geschah dies nur, wenn eine bestimmte enge

Steinweis, Antisemtic Scholarship in the Third Reich and the Case of Peter-Heinz Seraphim (2003) 69.18

Ibidem 70.19

Dirk Rupnow, Racializing historiography: anti-Jewish scholarship in the Third Reich in: Patterns of Prejudice (2008) Vol.42.1. 7.20

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Verbindung möglich war mit Menschen, die einen akademischen Abschluss hatten oder mit schon

anerkannten etablierten Wissenschaftlern, die an einer Universität tätig waren. Die 21

Nationalsozialisten wollten erreichen, dass die antijüdische Forschung sich mit wissenschaftlich

verankerten Lehrstühlen innerhalb der akademischen Welt entwickelte. Solche Änderungen und

Errichtungen kamen aber nur langsam zu Stande, weil das deutsche universitäre System damals sehr

konservativ war. Die ‘Judenforschung’ wird von Rupnow charakterisiert als

“ein dissidentes Projekt, das sich gegen den etablierten universitären Habitus von Wissenschaft und

Wissenschaftlern absetzen wollte, um so den vollständigen neuartigen Charakter der Unternehmung

zu verstärken, von dem aus die gesamte, als verstaubt, unschöpferisch und abgehoben denunzierte

akademische Wissenschaft erneuert werden sollte”.22

Weil die Errichtung von Lehrstühlen für ‘Judenforschung’ nur langsam in Gang kam und am

Ende keinen Erfolg darstellte, versuchten die Nationalsozialisten, eine transdisziplinäre

Forschungsrichtung zu entwickeln und mit außeruniversitären Einrichtungen oder Institutionen zu

verbinden. Demzufolge fanden die meisten verschiedenen entsprechenden Untersuchungen nicht an

den Universitäten statt und wurde die ‘Judenforschung’ betrieben ohne offiziellen Lehrstühle.

Eines der ersten Institute, an dem die ‘Judenforschung’ betrieben wurde, war das Institut zum

Studium der Judenfrage (1934), welches dem Propagandaminister Joseph Goebbels (1897-1945)

unterstellt war. Dieses wurde ab 1939 unter dem Namen Antisemitische Aktion und 1942 als

Antijüdische Aktion weitergeführt. Das Institut wurde errichtet mit dem Ziel, die ‘Judenfrage’ zu

bereinigen. Weiter bestand die Aufgabe des Instituts darin, die Beobachtung, Registrierung und

Erfassung des ‘Weltjudentums’ zu bewerkstelligen. Dazu gehörten Projekte wie einer Bibliographie

mit Namen von jüdischen Autoren, die in den Rechts- und Wirtschaftswissenschaften tätig waren,

um sie in der Zukunft aus deren Diskurs auszuschließen. Ein anderes Institut war das Reichsinstitut

für Geschichte des neuen Deutschlands. Es wurde 1935 bei einem Festakt an der Berliner

Universität in Anwesenheit unter anderem von Rudolf Hess und Alfred Rosenberg gegründet.

Dieses Institut war eingegliedert in das Reichswissenschaftsministerium und sollte die neue

Geschichte, beispielsweise die der Französischen Revolution bis zur ‘nationalsozialistischen

Revolution’, erforschen. Es hatte verschiedene Abteilungen, unter anderem die 1936 errichtete

Forschungsabteilung Judenfrage. Diese Abteilung wurde errichtet von Walter Frank (1905-1945).

Am Anfang war einer der wichtigsten Mitarbeiter Wilhelm Grau (1910-2000), der mit gerade

Rupnow, Judenforschung' im Dritten Reich (2011) 63.21

Ibidem 63.22

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Page 13: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

einmal 26 Jahren Leiter der Forschungsabteilung wurde. Zuvor hatte er sich schon mit seiner

Dissertation über die Vertreibung der Regensburger jüdischen Gemeinde im Jahr 1450-1519 (1939)

als vielversprechender ‘Judenforscher’ stark profiliert.23

Ein anderes war das Institut zur Erforschung der ‘Judenfrage’ (1939) in Frankfurt am Main,

welches von Alfred Rosenberg (1893-1946) geleitet wurde. Es beherbergte eine große jüdische

kulturelle Sammlung, darunter eine Judaica- und Hebraica-Sammlung aus dem Ende des 19.

Jahrhunderts, die die National-Sozialisten von jüdischen Bürgern geraubt hatten. Viele verschiedene

beschlagnahmte Werke von Juden oder aus jüdischem Besitz wurden hier gesammelt. Peter-Heinz

Seraphim arbeitete unter anderem für dieses Institut als wissenschaftlicher Mitarbeiter und 1941 als

Schriftleiter der institutseigenen Zeitschrift Der Weltkampf, die 1941 in einer Auflage von 6000

Exemplaren erschien. Später wechselte Wilhelm Grau zu diesem Institut, da bestimmte Konflikte

bestanden mit Walter Frank, dem Leiter der Forschungsabteilung ‘Judenfragen’. Es stellte ein

wichtiges Institut dar, weil die Nationalsozialisten aus ihm heraus versuchten, die ‚Judenforschung’

zentral zu organisieren. 24

Ein anderes Institut, welches sich mehr auf die religiösen Aspekte der ‘Judenforschung’

konzentrierte, war das Institut zur Erforschung und Beseitigung der jüdischen Einflüsse auf das

deutsche Kirchliche Leben in Eisenach. Dieses Institut wurde am 6. Mai 1939 errichtet und stand

unter der Leitung des Theologen Walter Grundmann (1906-1976). Es hatte als Aufgabe die

‘Entjudung’ des religiösen Lebens. Diese ‘Entjudung’ wird in einem der wichtigsten Werke von

Grundmann, Die Entjudung des religiösen Lebens als Aufgabe deutscher Theologie und Kirche

(1939) deutlich gezeigt. In seinen weiteren Werken erstellte er ein neues Testament, welches keine

hebräischen Worte enthielt. So lieferte er eine bestimmte sogenannte wissenschaftliche, aber auch

religiöse Legitimation zur Judenvernichtung. Im Reichssicherheitshauptamt, welches von Reinhard Heydrich (1904-1942) geleitet wurde

und sechs verschiedene Abteilungen umfaßte, förderte man unter der Abteilung II Gegnerforschung

(1939) die ‘Judenforschung’. Diese Abteilung war primär darauf eingerichtet, wissenschaftliche

Untersuchung über ideologische Feinde innerhalb des Dritten Reiches zu analysieren. Unter 25

Einfluss von Heydrichs Chef, Heinrich Himmler (1900-1945), konzentrierte man sich vor allem auf

die Erforschung der Juden im deutschen Mittelalter. Unter anderem vom Historiker Hermann

Löffler (1908-1978) wurden Themen erforscht wie zum Beispiel: Judentum und Handel im Zeitalter

der Fugger und Welser, Der Hofjude, Führende Juden im Kampf um die Emanzipation, Die

Rupnow, Judenforschung' im Dritten Reich (2011) 68.23

Ibidem 75.24

Robert Gerwarth, Hitlers beul leven en dood van Reinhard Heydrich 1904-1942 (Amsterdam 2012) 47.25

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Verbindung des Judentums mit den Führenden Männern des II. Reiches, Der Jude in den

Kriegsgesellschaften, Judentum und Revolution und Judentum und Bauerntum. 26

Weiter gab es noch das Institut für Deutsche Ostarbeit (IDO), welches 1940, am Geburtstag des

„Führers“, vom Generalgouverneur Hans Frank (1900-1946) errichtet wurde. Im IDO wurde das

Referat ‘Judenforschung’ errichtet. Weiter hatte das Institut zwei verschiedene ‘wissenschaftliche’

Publikationsorgane, die Vierteljahreszeitschrift Die Burg (30.000 Exemplare 1941) und das

Mitteilungsblatt Deutsche Ostforschung aus dem Osten (2000 Exemplaren 1940). Josef 27

Sommerfeldt, der Leiter dieses Referats, war zusammen mit Peter-Heinz Seraphim der wichtigste

und produktivste Mitarbeiter dieser ‘historisch’ ausgerichteten ‘Ostjudenforschung’.

1.3 Die national-sozialistische ‘Judenforschung’

Es gab viele verschiedene Ostforscher, aber die Zahl der nichtjüdischen und pro-

nationalsozialistischen Wissenschaftler, die die Regierung gebrauchen konnte zur Lösung der

‘Judenfrage’, war am Anfang begrenzt. Trotzdem kam es innerhalb kurzer Zeit zu verschiedenen

Initiativen bei der Errichtung der ‘Judenforschung’. Dies geschah durch einige wichtige Akteure.

Ein Beispiel ist Wilhelm Grau (1910-2000), der mit seinen Werken Die Vertreibung der

Regensburger jüdischen Gemeinschaft im Jahr 1519 (1934) und Wilhelm Humboldt und das

Problem des Juden (1935) ein Vorreiter war für die nichtjüdische deutsche und antisemitische

‘Judenforschung’. Weiter gab es noch Jozef Sommerfeldt (1914–1992), einen Historiker, der 28

Werke schrieb wie Das Schicksal der jüdischen Bauernkolonisation Josefs II. in Galizien (1941).

Oder Reinhart Maurach (1902-1976), ein Jurist, der sich auf osteuropäisches Recht konzentrierte.

Er schrieb aber auch Werke über die ‘Judenpolitik’ im Osten, wie zum Beispiel Die Russische

Judenpolitik (München 1938). Ein anderes Beispiel war Gerhard Kittel (1888-1948). Er kam

ursprünglich aus einem ganz anderem Fachgebiet, der Theologie, war aber ein sehr starker

Antisemit. Nach der Machtergreifung war er der theologische Experte für die ‘Judenfrage’ und

Mitbegründer des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands in 1935. Weiter war er wie

Peter-Heinz Seraphim Mitarbeiter des Instituts zur Erforschung der Judenfrage in Frankfurt. Er

schrieb Werke wie Die Judenfrage (1933) und Die historischen Voraussetzungen der jüdischen

Rassenmischung (1939). Ein anderer ‘Judenforscher’ war Walter Frank (1905-1945). Er war ursprünglich Historiker

und wurde bei der Errichtung 1935 Präsident des Reichsinstituts für Geschichte des neuen

Rupnow, Judenforschung' im Dritten Reich (2011) 111.26

Ibidem 11227

Ibidem 193.28

�12

Page 15: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

Deutschlands. Er errichtete die Forschungsabteilung zur ‘Judenfrage’. Weiter bemühte er sich 1936,

die Historische Zeitschrift gleichzuschalten und gründete innerhalb dieser Zeitschrift ein Referat zur

Geschichte der ‘Judenfrage’. Ebenfalls Historiker war Klaus Schickert (1909-unbekannt), der genau

wie Peter-Heinz Seraphim in Königsberg gewohnt und studiert hatte. Er brach seine historische

Dissertation 1933 ab, um später, 1937, mit der Dissertationsschrift Die Judenfrage in Ungarn.

Jüdische Assimilation und antisemitische Bewegung im 19. und 20. Jahrhundert zu beginnen und

sich so mehr auf die ‘Judenforschung’ zu konzentrieren. Weiter übernahm er außerdem 1943 von

Peter-Heinz Seraphim die Schriftleitung der dazugehörigen Zeitschrift Der Weltkampf. Andere

nationalsozialistische Wissenschaftler die einen Beitrag lieferten zur ‘Judenforschung’, waren:

Theodore Schieder (1908-1984), Werner Conze (1910-1986), Franz Alfred Six (1909 1975),

Theodore Oberländer (1905-1998), Fritz Arlt (1912-2004), Heinz Ballensiefen (1912-unbekannt),

Hans F.K. Günther (1891-1968) und Konrad Mayer (1901-1973).

Trotz der großen Verschmelzung von Propaganda und Wissenschaft in der ‘Judenforschung’

und seiner engagierten ‘Wissenschaftler’ gab es keine spezifische, einheitliche Methode. Dies

betont Dirk Rupnow sehr deutlich. Ungeachtet des spezifischen Themas und des allgemeinen Fokus

auf die ‘Judenfrage’ war der Ansatz der verschiedenen Forscher keineswegs derselbe. Die anti-

jüdischen Gelehrten und Institutionen richteten sich oft auf verschiedene Fragen und verwendeten

unterschiedliche Methoden. Auch gab es verschiedene Untersuchungen über Juden in verschiedenen

Ländern, wie zum Beispiel bei Klaus Schickert in Ungarn mit seinem Werk Die Judenfrage in

Ungarn: Jüdische Assimilation und antisemitische Bewegung (Essen 1937) und Heinz Ballensiefen

in Juden in Frankreich (Berlin 1939) oder über verschiedene Zeiten wie bei Kurt Hoenig in seinem

Werk Entwicklung des Reichseinheit des Ghettos im Rahmen des Judenrechts des Deutschen

Mittelalters (Münster 1942). Weiter gab es auch noch Untersuchungen nach dem Verhältnis von

wichtigen historischen nichtjüdischen Personen zu Juden wie zum Beispiel bei Franz Koch in

Goethe und die Juden (Hamburg 1937) oder Karl Richard Ganzer mit seiner Arbeit Richard Wagner

und das Judentum (Hamburg 1939). Daneben gab es Arbeiten, welche die Geschichte

antisemitischer Strömungen und Bewegungen analysierten, wie zum Beispiel Fritz Schmidt

Clausings (1902-1984) Judengegnerische Strömungen im deutschen Katholizismus des 19.

Jahrhunderts. Weiter entstanden auch Arbeiten, die sich mit der Rolle der Juden im kulturellen

Leben befassten, wie zum Beispiel von Fritz Kynass (1908-unbekannt) Die Juden im deutschen

Volkslied (Greifswald 1934), Der Jude im Sprichtwort (Berlin 1942) oder von Elisabeth Frenzel

(1915-2014), Judengestalten auf der deutschen Bühne. Ein notwendiger Querschnitt durch 700

Jahre Rollengeschichte (München 1940) oder Der Jude im Theater (München 1943). 29

Diner, Dan, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur: Im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Band 3, hrsg 29

Ulrich Wyrwa (Heidelberg 2012) 368.

�13

Page 16: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

Die Disziplin hatte dadurch keine festen Grenzen und umfasste ein Feld mit interdisziplinären

Überlappungen. Trotzdem kann man einige gemeinsame Merkmale von Forschung und Stil

erkennen.30

Als erstes gab es das allgemeine Ziel, die schon bestehenden Forschungen über jüdische

Geschichte und Kultur zu ‘entjuden’. Die Forschung zum Judentum war nach der Überzeugung der

‘Judenforscher’ bis zur Machtergreifung nur von jüdischen Wissenschaftlern und aus jüdischem

Blickwinkel betrieben worden. Diese ‘Entjudung‘ bedeutete vor allem, dass die wissenschaftlichen

Quellen und Arbeiten, die von jüdischen Wissenschaftler zusammengestellt und gesammelt waren,

neu interpretiert wurden unter einem nationalsozialistischen Blickwinkel. Die ‘Judenforschung’ ist

damit ein Beispiel der Arisierung der jüdischen Wissenschaft, indem Quellen und Arbeiten

jüdischer Wissenschaftler erneut ‘erforscht’ wurden von nicht-jüdischen Wissenschaftlern. Weiter gab es bei den ‘Judenforschern’ eine sehr starke allgemeine Überzeugung, zu Politik und

Propaganda einen bestimmten Abstand zu wahren. Sie waren davon überzeugt, immer an einer

‘bestimmten’ Methode, die ‘streng wissenschaftlich’ war, festzuhalten. In der Praxis funktionierte

dies aber nicht, denn intern kritisierten sie ihre Kollegen oft, indem sie einander beschuldigten,

unwissenschaftlich zu sein, obwohl im Grunde genommen fast alle ‘Judenforscher’ Propaganda,

Politik und Wissenschaft vermischten. Das ist wiederum selbstverständlich, denn letztendlich folgte

die ‘Wissenschaft’ unmittelbar aus der nationalsozialistischen Ideologie und der Mission, zur

Beseitigung des ‘Judentums’ einen wichtigen Beitrag zu leisten. Sie wurde daher auch die

‘kämpfende Wissenschaft’ genannt, ein Begriff, den Walter Frank einführte und der nach seiner

Meinung den ‘Judenforschern’ einen bestimmten Ausrichtung, aber vor allem einen Spitznamen

geben musste.31

Wie erwähnt, versuchte die ‘Judenforschung’, sich auf die ‘Judenfrage’ zu konzentrieren.

Aber hinzu kamen weitere Merkmale. Denn die ‘Judenforscher’ beschäftigten sich neben der

‘Judenfrage’ auch mit der jüdischen Geschichte, anstatt die damals ‘einzigartige und wichtigere’

deutsche Geschichte zu untersuchen. Es war für sie wichtig, die jüdische Geschichte innerhalb der

deutschen Geschichte neu zu vermessen und die zuvor verfassten Arbeiten der jüdischen oder pro-

jüdischen Wissenschaftler zu ‘entjuden’. Bei der Erforschung der ‘Judenfrage’ ging es vor allem

auch um die Geschichte dieser ‘jüdischen Frage’, wobei das Verhältnis zwischen dem jüdischen

Leben und dem nicht-jüdischen Leben in Europa und Deutschland dargestellt wurde. Dabei war es

nicht nur wichtig, in diesen Arbeiten die Ideologie der Nationalsozialisten zu legitimieren, sondern

auch einen wichtigen Beitrag zu liefern zur neuen deutschen Identität und Geschichte, in der die

Rupnow, Racializing historiography: anti-Jewish scholarship in the Third Reich (2008) 35.30

Rupnow, Judenforschung im Dritten Reich (2009) 154.31

�14

Page 17: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

jüdische Geschichte einen neuen Platz bekam. Dies zeigt die Erklärung des Historikers Wilhelm

Grau zum Ansatz der ‘Judenforschung’. Hierin sagte er, dass es nicht möglich sei, eine deutsche

oder europäische Geschichte der Moderne zu schreiben, ohne die jüdische Geschichte oder die

‘jüdische Frage’ zu berücksichtigen. Walter Frank teilte diese Auffassung, aber er ging noch einen 32

Schritt weiter, indem er behauptete, dass es eine Verbindung gebe zwischen der neu entstandenen

Geschichte, hervorgebracht von der ‘Judenforschung’, und der Aufklärung des deutschen Wesens in

der neuen nationalsozialistischen Welt:

“We will be brought much closer to an understanding of our German character (deutschen Wesens)

by exploring the hard and victorious battle between our German nation and the racially foreign

element of Judaism. And, by doing so, we not only increase our knowledge, but strengthen our

commitment to a völkisch life.”33

Damit zeigte die ‘Judenforschung’ auf verschiedenen Ebenen, dass die jüdische Geschichte ein

wichtiger Teil der deutschen Geschichte und Identität war. Eine Umformulierung der jüdischen

Geschichte und die historischen Untersuchungen nach der ‘Judenfrage’ waren damit die wichtigsten

Aufgaben und konnten gleichzeitig die ‘Lösung’ der jüdischen Frage legitimieren. Grau behauptete

zum Beispiel, dass eine korrekte historische Wiedergabe der jüdischen Geschichte für eine Lösung

der jüdischen Frage sorgen würde, sowohl in der Gegenwart als auch für die kommenden

Generationen.

“Nothing can teach the world the universal validity of Germany’s legislation towards the Jews

(Judengesetzgebung) better than a historical view of the Jewish problem. If we make this political

statement from the position of scholarship, we do so because the political beliefs of the German

people today are confirmed and attested by history itself.”34

Die Geschichte wurde wegen der zentralen ‘Judenfrage’ zu einer der wichtigsten wissenschaftlichen

Disziplinen innerhalb der ‘Judenforschung’. Nicht nur versprach eine Analyse der historischen

Versuche, die ‘jüdische Frage’ zu ‘lösen’ und insbesondere von deren Scheitern eine Antwort auf die

nationalsozialistische ‘Judenfrage’, sondern man konnte dadurch auch die immer radikaleren

Rupnow, Racializing historiography: anti-Jewish scholarship in the Third Reich (2008) 38. 32

Volkmar Eichstädt, ‘Die Judenfrage in den deutschen Bibliotheken’, Forschungen zur Judenfrage, vol. 6, 1941, 253 /64 (264). zitiert nach: 33

Steinweis, Studying the Jew (2006) S 61.

Rupnow, Racializing historiography: anti-Jewish scholarship in the Third Reich (2008) 41.34

�15

Page 18: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

Lösungen des sogenannte ‘Judenproblems’ rechtfertigen.‑ 35

Die historische wissenschaftliche Disziplin innerhalb der ‘Judenforschung’ hatte neben der

legitimatorischen Funktion, der ‘Entjudung’ der Wissenschaft und der ‘Lösung’ der ‘Judenfrage’

noch eine andere Bedeutung für die Nationalsozialisten. Als die antijüdischen Maßnahmen auch in

den eroberten europäischen Ländern in Kraft gesetzt wurden, gab es mehrere Probleme bei der

Kategorisierung verschiedener Bevölkerungsgruppen, die aus der Sicht der Rassenklassifizierung

entweder einen Sonderstatus oder einen nicht ganz offensichtlichen Status hatten. Es wurde nach

1939 deutlich, dass die Rassenwissenschaft bestimmte Bevölkerungsgruppen nicht eindeutig

klassifizieren konnte. In solchen Fällen wurde die ‘Judenforschung’ beauftragt, sich mit der

Geschichte einer Bevölkerung zu beschäftigen, wobei nicht nur Historiker eingesetzt, sondern auch

Theologen und Genealogen zu solchen Untersuchungen herangezogen wurden. Ein Beispiel war der

Status der Sephardis in den besetzten Niederlanden, dort bekannt als die ‘portugiesischen Juden’,

wobei es lange Zeit unklar war, in welcher Gradation sie jüdischer Abstammung waren. Die

nationalsozialistischen Rassenforscher benötigten die Geschichte für ihren antisemitischen

Kategorisierungen. Umgekehrt wendeten übrigens auch die ‘Judenforscher’ die rassischen

‘Wissenschaften’ an, wenn sie nicht zu erfolgreichen Ergebnissen kamen. So wurden Lücken in der

Theorie gefüllt und die Legitimation des Antisemitismus aufrechterhalten.36

Im Grunde genommen waren die ‘Judenforscher’ mehr interessiert an der Historisierung der

‘Judenfrage’ als daran, eine Basis für den Antisemitismus zu schaffen. Dies zeigen die

verschiedenen Werke von Franz Alfred Six(1909-1975) und Wilhelm Grau. Diese Studien fangen

oft strukturiert und ummauert mit wissenschaftlichen Daten jüdischen Wissenschaftler an, doch sie

beenden ihre Arbeiten mit zirkulären Argumenten und konzeptionellen Unklarheiten, ohne zu klaren

antisemitischen Aussagen gelangen zu können. Die Schlussfolgerungen basierten oft auf

Neuinterpretationen alter, von jüdischen Wissenschaftlern erarbeiteten Daten. Man darf aber nicht

vergessen, dass diese Neuinterpretationen vollkommen antisemitisch waren und dass diese Werke

einen wichtigen Beitrag zum Antisemitismus lieferten. Auch das Fehlen von direkten Aussaugen

über Massenmorde als mögliche Lösung für das ‘Judenproblem’ bedeutet keineswegs, dass das

Forschungsfeld weniger antisemitisch gewesen wäre. Dirk Rupnow argumentiert nämlich, dass

innerhalb des Kreises der ‘Judenforscher’ Massenmord implizit als eine mögliche Lösung

anerkannt, aber nie öffentlich genannt wurde.37

Rupnow, ‘Judenforschung' im Dritten Reich (2011) 193.35

Rupnow, Racializing historiography: anti-Jewish scholarship in the Third Reich (2008) 51.36

Ibidem 48.37

�16

Page 19: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

Trotz des Fehlens eines akademischen Lehrstuhls für ’Judenforschung’ wird diese von Dirk

Rupnow als die Musterwissenschaft des Dritten Reiches beschrieben. Sie erzeugte verschieden

starke Verbindungen mit den ideologischen Zielen der Nationalsozialisten, wobei die völkische

Neuorientierung eine der wichtigsten war. Mit ihren historischen Untersuchungen ergänzte die

‘Judenforschung’ oft die Arbeit der Geschichtswissenschaften; sie sorgte dafür, dass die

nationalsozialistische Ideologie einen Resonanzraum bekam und die Legitimation für ihre ‘Arbeit’

wuchs. Daher war die ‘Judenforschung’ das beste Beispiel einer Anstrengung, eine eigene

nationalsozialistische Wissenschaft zu schaffen. Auch Michael Grüttner behauptet in seinem 38

Artikel Wissenschaftspolitik im Nationalsozialismus, dass die ‘Judenforschung’ als eine

Musterwissenschaft des Dritten Reiches gesehen werden konnte. Er nennt dabei die folgenden

Merkmale, welche die Wissenschaft von anderen Disziplinen im Dritten Reich unterscheidet.

“(1) die Ablehnung der Voraussetzungslosigkeit von Wissenschaft, (2) die Aufhebung der Trennung

von Wissenschaft und Leben, der gegenüber die Forderung nach Nützlichkeit erhoben wird, (3) die

zentrale Bedeutung des Rassenbegriffs, (4) der Anspruch einer ganzheitlichen Beachtung gegen

eine disziplinäre Spezialisierung und Abgrenzung, (5) die Frontstellung gegen Internationalität

sowie, (6) die Einführung des Volkes als Forschungsgegenstand bzw. Bezugspunkt sind konstitutive

Momente ihres Selbstverständnisses und werden in ihren grundlegenden und programmatischen

Schriften ständig diskutiert.”39

Aus all dem geht hervor, wie wichtig die ‘Judenforschung’ für die Nationalsozialisten wurde. Sie

erhielt innerhalb kurzer Zeit eine zentrale Rolle und rekrutierte junge und motivierte Akademiker,

die sich mit voller Hingabe der neuen Forschung widmeten. Sie waren davon überzeugt, dass die

‘Judenforschung’ dabei war, zu einer Leitdisziplin innerhalb einer genuin nationalsozialistischen

Wissenschaft zu avancieren, mit dem Ziel, die ‘heroischen’ antisemitischen Taten des Regimes

durch das Feindbild des Juden zu legitimieren. Sie wurde vom Nationalsozialismus gefördert, der

eine günstige Atmosphäre und Rahmenbedingungen schuf. Dies ermöglichte es, bedeutende

Wissenschaftler an sich zu binden, die mit wissenschaftlichen Arbeiten die ‘Judenforschung’

fördern konnten.40

Einer der wichtigsten ‘Judenforscher’ war Peter-Heinz Seraphim. Er trug mit seiner sozial-

historischen wissenschaftlichen Studie Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938), die mit

Rupnow, ‘Judenforschung' im Dritten Reich (2011) 184.38

Micheal Grüttner, Wissenschaftspolitik im Nationalsozialismus in, Doris Kaufmann (Hg.), Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im 39

Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung (Göttingen 2000), Bd 2 S. 136.

Rupnow, ‘Judenforschung' im Dritten Reich (2011) 184.40

�17

Page 20: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

zahlreichen Statistiken, Grafiken und Karten eines der umfangreichsten Werke innerhalb der

‘Judenforschung’ war, zur wissenschaftlichen Etablierung der antijüdischen Forschung bei. Er

verhalf damit den ‘Judenforschern’ innerhalb des Dritten Reiches zu einem anerkannten

wissenschaftlichen Status.

Doch nicht immer wurde dies international so gesehen. Ein Beispiel ist der schwedischer

Historiker Sven Ulric Adalverd Palme (1912-1977), welcher die deutsche ‘Judenforscher’ in einem

Stettiner Archiv bei der Arbeit beobachtet hatte und sie in einer Stockholmer Zeitung 1938 doch

wesentlich anders beschrieb:

“Diese Art ‘Judenforschung’ hat für die deutsche Geschichtswissenschaft sicherlich keine

besondere Bedeutung, sie ist eine politisch motivierte Modesache, und im übrigen ganz

oberflächlich. Eine ähnliche Erscheinung können wir auch bei uns hier in Schweden beobachten,

soweit es sich um die Wirtschaftsgeschichte handelt, die auch nun auf einmal politisch begründet

und als eine Erneuerung der Geschichtswissenschaft hingestellt wird, schließlich aber auch nur

reine Disziplin wie alle anderen ist. Aber ganz unabhängig hiervon setzt diese etwas lächerliche

Propaganda ihren mühsamen Weg fort. Und so ist es auch mit der Geschichtswissenschaft im

Dritten Reich, soweit es sich um die ‘Judenforschung’ handelt - die Gefahren, welche der

Wissenschaft möglicherweise vom gegenwärtigen Regime drohen, stehen auf einem anderen

Blatt.”41

Rupnow, ‘Judenforschung' im Dritten Reich (2011) 29.41

�18

Page 21: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

2. Der ‘Judenforscher’ Peter-Heinz Seraphim:

Zygmunt Bauman(1925-2017) Die Entmenschlichung beginnt dort, wo die Objekte des bürokratischen Prozesses auf rein

quantitative Einheiten reduziert werden. [...] Menschen verlieren die Eigenschaft des Menschseins, wenn sie auf Zahlen oder Nummern reduziert werden.”42

2.1 Biografie: Peter-Heinz Seraphim, 1902 bis 1945

Peter-Heinz Seraphim wurde am 15. September 1902 in Riga geboren und kam aus einer adligen

Familie. Seine Familie, die lange Zeit zur deutschsprachigen Oberschicht im alten Livland und

Kurland gehörte, lebte schon seit dem 18. Jahrhundert im Baltikum, und die Mutter besaß ein

Rittergut in Livland. Die ersten drei Jahre nach seiner Geburt lebte Seraphim in Sassenhof, einem

Vorort Rigas. Um die Jahrhundertwende wohnten in Riga circa 300.000 Menschen. 43 Prozent

dieser Bevölkerung waren 1867 von deutsch-baltischer Herkunft, diese Anzahl sank aber 1897 auf

nur noch ein Viertel der Bewohner. 1913 gab es bereits über 200.000 lettische Einwohner, dagegen

war nur noch 69.000 Deutsch-Balten, die drittgrößte Gruppe nach den 100.000 russischen

Bewohnern. Riga hatte sich damals, so könnte man sagen, in eine Vielvölkerstadt verwandelt.

Weiter war Seraphim Mitglied einer Familie, die bekannte Akademiker hervorbrachte. Sein Vater,

Ernst Seraphim (1862–1945), war ein deutsch-baltischer Historiker, Journalist und Chefredakteur

mehrerer deutscher Zeitungen, und sein Großvater, Ferdinand Seraphim (1827–1894), war ein

erfolgreicher Jurist. Seine Brüder waren ebenfalls erfolgreich in der akademischen Welt. So war

sein älterer Bruder Hans Jürgen Seraphim (1899–1962) Volkswirt und während des Dritten Reiches

für einige Zeit Direktor des Osteuropa-Instituts Breslau. Sein jüngerer Bruder Hans-Günther 43

Seraphim (1903–1992) war Historiker und Bibliothekar und arbeitete nach dem Krieg als

Sachverständiger bei den NS-Prozessen.

Die Kindheit und Jugendzeit von Seraphim war geprägt von verschiedenen Ortswechseln,

die aus verschiedenen Gründen stattfanden: die beruflichen Veränderungen des Vaters ab 1914, die

militärischen und politischen Ereignisse in Riga, aber auch sein eigenes Studium und seine eigenen

beruflichen Wechsel sorgten dafür, dass er bereits mit 30 Jahren viel gereist war. Die Familie zog 1905 zum ersten Mal um. Wegen der Unruhe auf dem Baltikum, die durch die

revolutionären Entwicklungen im russischen Zarenreich verursacht wurden, zogen sie vom Land in

die Stadt. Es ist wichtig zu erwähnen, dass Peter-Heinz Seraphim sich fast bei jedem Umzug in eine

deutsch-baltische Umgebung begab und dass die deutsch-baltische Kultur in seiner Umgebung

Zygmunt Bauman, Dialektik der Ordnung ‘Die Moderne und der Holocaust’ (Hamburg 2002) 117. 42

Steinweis, Studying the Jew (2006) 144.43

�19

Page 22: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

immer dominierte. In Riga wurde er mit fünf Jahren auf eine private Vorschule geschickt, und schon

nach drei Jahren bestand er als einer der besten Schüler die Eingangsprüfung zum

deutschsprachigen Gymnasium Albertschule. Dort lernte er unter anderem Russisch und Polnisch,

was bei seiner späteren Tätigkeit als ‘Ostforscher’ und ‘Judenforscher’ hilfreich sein würde.

Das Leben der Familie Seraphim veränderte sich entscheidend, als in 1914 der Erste

Weltkrieg begann. Sie zog in das kurländische Mitau um, weil viele deutsch-baltische

Organisationen in Riga sowie die Albertschule sich zwangsweise auflösen mussten. Der Vater

wollte seinen Kindern unbedingt eine deutsche Erziehung zuteil werden lassen, die sie in Mitau

noch erhalten konnten. Im September 1917 wurde Riga von deutschen Truppen besetzt, was aus der

Sicht der pro-deutsch-monarchistischen Familie Seraphim eine Erlösung war. Doch als die

Novemberrevolution in 1918 für das Ende des Kaiserreichs sorgte, veränderte vieles. Es wurde zum

Beispiel in Riga eine freiwillige ‘Landeswehr’ errichtet, um das Baltikum für das deutsche Volk zu

erhalten. Wie viele Naziführer und -funktionäre war Peter-Heinz Seraphim zu spät geboren, um im

Ersten Weltkrieg gekämpft zu haben, und genau wie viele Angehörige der deutschen Minderheiten

schloss sich Seraphim nach dem Krieg einem Freikorps an. 1919 meldete er sich bei der 44

Landeswehr und wurde im März deren Stoßtruppe zugeordnet, die im April im Libauer Putsch die

Regierung Ulmanis stürzte. Abgesehen von dem Sturz der Regierung und der Eroberung von Riga

konnten diese Truppen nicht viel ausrichten. Kurz nach der Eroberung wurde Riga nämlich von

Sympathisanten der Ulmanis-Regierung zurückerobert, wonach Peter-Heinz und seine Familie in

das deutsche Königsberg flohen. In Königsberg absolvierte er, nach wiederholten Unterbrechungen wegen der

Nachwirkungen des Krieges im Baltikum, im März 1921 sein Abitur am Wilhelmsgymnasium und

studierte danach an der Albertus-Universität Ökonomie. An dieser Universität kam er zum ersten

Mal in Kontakt mit der ‘Ostforschung’, da diese einen Schwerpunkt seines Studiums Ökonomie

darstellte. Die ‘Ostforschung’ hatte ihren Ort am Institut für Ostdeutsche Wirtschaft (IOW), das

1916 gegründet worden war und während des Ersten Weltkriegs wissenschaftliche Grundlagen für

einen möglichen späteren Wiederaufbau Ostpreußens lieferte. Während seines Studiums verbrachte

er 1922 ein Semester in Graz, woher er nach einem Jahr an die schlesische Friedrich-Wilhelms-

Universität Breslau wechselte. Dort schrieb er seine Dissertation über Das Eisenbahnwesen

Sowjetrusslands (1925). Nach seiner Dissertation arbeitete er von 1924 bis 1926 als Assistent in der

Wirtschaftsabteilung der Universität in Breslau. Bevor er in 1927 seine Verlobte Irmgard Remus heiratete, zog er im Oktober 1927 zurück

nach Königsberg, um eine neue Arbeit aufzunehmen. Dieser Umzug erfolgte wegen einer

Steinweis, Antisemtic Scholarship in the Third Reich and the Case of Peter-Heinz Seraphim (2003) 71.44

�20

Page 23: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

unerwarteten Nachricht von seinem Vater, der ihm mitteilte, dass es eine Stelle als zweiter

Lokalredakteur bei der Königsberger Allgemeinen Zeitung gebe. 1930 gab er die Stelle als

Lokalredakteur wieder auf. Die Arbeit war für ihn „je länger desto weniger befriedigend

gewesen”. Trotz der Weltwirtschaftskrise, die auch im Osten des Deutschen Reiches zu 45

drastischen Arbeitslosenzahlen führte, entschied er sich für eine andere Karriere. Er versuchte es in

der Politik. Da sein Gehalt als Redakteur noch einige Monate weitergezahlt wurde, wurde er

Mitglied der neu gegründeten ‘Volkskonservativen Vereinigung’ (VKV), einer in Juli 1930

entstandenen Absplitterung der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) in Königsberg. Die VKV

hatte einige inhaltliche Gemeinsamkeiten mit der NSDAP. So waren beide für eine Umwandlung

des modernen Parlamentarismus in ein autoritäres System und standen in einer unversöhnlichen

Frontstellung gegen die politische Linke. Weiter waren die VKV und die NSDAP gegen den

Versailler Vertrag und waren Verfechter einer Expansion des Deutschen Reichs auf Kosten Polens

und anderer osteuropäischer Staaten. Nach der Machtübernahme der NSDAP in 1933 wurde die

VKV in Königsberg zum Teil aufgelöst und der NSDAP eingegliedert. Doch dies sollte Seraphim

als Mitglied der VKV nicht mehr erleben, denn schon Ende 1930 bekam er die Möglichkeit, als

Referent an dem bereits erwähnten Königsberger Institut für Ostdeutsche Wirtschaft (IOW) zu

arbeiten. Damit konnte er seine Kenntnisse, die er in Breslau erworben hatte, wieder anwenden,

wobei er sich in erster Linie mit Polen beschäftigte. Die Machtergreifung drei Jahre später sorgte nicht sofort für eine erfolgreiche Karriere von

Seraphim, trotz des interessanten Fachgebiets, in dem er schon arbeitete. Es dauerte noch einige

Jahre bevor er offiziell unterstützt wurde und anfing mit einer seiner wichtigsten Arbeiten.

Zuerst wurde nämlich, was auch wichtig war für Seraphim, im Mai 1933 der Bund Deutscher Osten

(BDO) gegründet, um verschiedene Ostverbände zu fördern, die aus der Weimarer Zeit stammten,

wie den Deutschen Ostmarkenverein (1894) und Deutschen Ostbund. Der BDO hatte als Ziel,

Einfluss auf die verschiedenen Ostinstitute zu nehmen, wie zum Beispiel das IOW in Königsberg.

Für Seraphim gab es dabei am Anfang keinen Grund, den Verlust seiner Stelle zu befürchten, trotz

der nationalsozialistischen Gleichschaltung. Die einzige Veränderung, die er mitmachte war, dass

der Leiter des IOW, Oswald Schneider, Opfer der nationalsozialistischen Gleichschaltung oder

‘Arisierung’ der Hochschulen wurde und man ihn entlieβ. Für Seraphim veränderte sich dadurch am

Anfang nichts. Ende April 1933 trat er selbst der NSDAP bei und am 1. Oktober desselben Jahres

der SA. Auch dem Volksbund für das Deutschtum im Ausland (VDA) und dem BDO trat er offiziell

bei, aber erst Anfang 1934. Damit gehörte Seraphim zu den sogenannten Märzgefallenen, ein

Hans-Christian Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik, ‘Eine biographische Studie zu Peter-Heinz Seraphim’(Osnabrück 2007) 45

91.

�21

Page 24: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

Begriff für diejenigen, die erst kurz nach der Machtergreifung im März 1933 Mitglied der Partei

wurden.

Unter dem Dach der BDO fing Seraphim an sich mit seinen Untersuchungen auf Polen zu

fokussieren mit der zweite Habilitationsschrift über Die agrarische Überbevölkerung Polens

(1934). Doch Ende 1934 gab es für Seraphim und seine Familie dann doch Probleme. Sie wurden

von verschiedenen Seiten mit der Anschuldigung konfrontiert, jüdischer Abstammung zu sein.

Daraufhin wurde eine Untersuchung hinsichtlich der Abstammung eingeleitet. Das

Reichsministerium des Innern (RMDi) kam am 26. November 1934 zu folgendem Ergebnis:

“Professor Seraphim ist Balte aus Kurland. Sein jüdischer Name stammt daher, dass um 1790

herum aus humanitären Gründen von Balten eine Reihe jüdischer Waisenkinder, deren Eltern in

Russland bei Pogromen umgekommen sind, in ihre Familien aufgenommen und erzogen worden

sind. Diese heirateten später Balten und sie und ihre Nachkommen vermischten sich mit den

deutschen Balten.”46

Nach der Untersuchung war der Weg für Seraphim frei, um seine Habilitationsarbeit zu beenden,

und Ende 1935 wurde seine Habilitation vom Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und

Volksbildung anerkannt. Es blieb aber ein gewisses Misstrauen gegen ihn bestehen, da er der

Entlassung von Oswald Schneider 1933 nicht zugestimmt hatte. Auch die Anschuldigung, er sei

jüdischer Abstammung, blieb weiterhin bestehen. Dies bewirkte, dass seine Einstellung als

offizieller Dozent bei der IOW lange auf sich warten ließ. Erst als die Leitung des IOW sich des

Potentials von Seraphim bewusst wurde, verbesserte sich seine Situation:

“Die persönlichen Bedenken, die wir s. Zt. gegen ihn hatten, müssen der Tatsache gegenübergestellt

werden, daß Seraphim auf die Dauer nur beim Institut für osteuropäische Wirtschaft gehalten

werden kann, wenn er die Dozentur erhält. Da leider Lehrkräfte, die die erforderliche Kenntnis der

Randstaaten in sprachlicher und wirtschaftlicher Hinsicht besitzen [...] ausserordentlich selten

sind, so muss die Universität Wert darauf legen, daß Seraphim dem Institut für osteuropäische

Wirtschaft erhalten bleibt.“47

Diese Empfehlung wurde aber erst im Oktober 1939 ausgesprochen. Vielleicht war dies kein Zufall,

da Seraphim ein Jahr zuvor sein größtes Werk, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938),

Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik (2007) 114.46

Ibidem 117.47

�22

Page 25: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

veröffentlicht hatte, das sich völlig auf die wirtschaftliche und demographische ‘Lage’ der Juden im

osteuropäischen Raum konzentrierte, ein Thema, dem er sich zur Zeit seiner Habilitationsarbeit in

1934 zugewandt hatte. Aus diesen Gründen kann man sagen, dass kurz nach der Machtergreifung

seine Karriere als ‘Judenforscher’ begann. Antisemitismus war Peter-Heinz Seraphim nicht fremd,

aber wahrscheinlich gab es für die thematische Ausrichtung seiner Arbeit andere als nur

wissenschaftliche Gründe, da keine seiner bisherigen Studien zu diesem in 1938 veröffentlichten

Werk passten. Beispiele dafür sind: Das Eisenbahnwesen Sowjetrusslands (Berlin 1925), Rumänien

(Breslau 1927), Der Etatismus in Polen (Tübingen 1932), Die Bevölkerungsentwicklung in

Westpreussen und Posen und die deutsche Abwanderung (Berlin 1934), Die Handelspolitik Polens

(Berlin 1935), Wirkungen der Neustaatenbildung in Nachkriegseuropa auf Wirtschaftsstruktur und

Wirtschaftsniveau (Königsberg1935) Die Ostseehäfen und der Ostseeverkehr (Berlin 1937) und

Polen und seine Wirtschaft (Königsberg 1937). Was dabei auffällt ist, dass nur in Wirkungen der

Neustaatenbildung in Nachkriegseuropa auf Wirtschaftsstruktur und Wirtschaftsniveau (Königsberg

1935) einmal das Wort Judentum gebraucht wird im Kontext der Wohnsitzbeschränkung des

Judentums in Russland durch Ansiedlungsrayons in den 20er Jahren. Fest steht, dass der Betreuer 48

seines großen und umfangreichen Werkes, Theodor Oberländer (1905-1998), eine wichtige Rolle

spielte. Er war 1933 Direktor des IOW an der Albertina in Königsberg geworden. Theodor

Oberländer war einer der wichtigste Vermittler für die nationalsozialistische Siedlungs- und

Bevölkerungspolitik. Er und seine Mitarbeiter analysierten, wie Seraphim, unter anderem die

deutschen, polnischen und jüdischen Bevölkerungsgruppen und untersuchten die volks- und

betriebswirtschaftlichen Verluste der deutschen Volksgruppe in Posen und Pommerellen nach 1918.

Seraphim baute nach Oberländers Zwangsversetzung nach Greifswald 1937 dieses umfangreiche

Werk weiter aus. Er war bis dahin der einzige, der so ein umfangreiches Werk über das Judentum 49

verfasste. Erst nach der Veröffentlichung von Das Judentum im osteuropäischen Raum 1938 50

erschienen mehrere stark antisemitische Werke von ihm wie Die Wanderungsbewegung des

jüdischen Volkes (1940), Die Bedeutung des Judentums in Südosteuropa (1941), Die

Wirtschaftsstruktur des Generalgouvernements (1941), Das Judentum: seine Rolle und Bedeutung

in Vergangenheit und Gegenwart (1942), Bevölkerungs- und wirtschaftspolitische Probleme einer

europäischen Gesamtlösung der Judenfrage (1943) und Das Judentum. Seine Rolle und Bedeutung

in der Vergangenheit und Gegenwart (1944). Neben die antisemitischen Arbeiten, gab es auch noch

einige Werke wie zum Beispiel Die Strukturwandlungen im Ostseeverkehr 1914-1940 (1942), Die

Peter-Heinz Seraphim, Wirkungen der Neustaatenbildung in Nachkriegseuropa auf Wirtschaftsstruktur und Wirtschaftsniveau Königsberg (1935) 48

Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 41 (1935) 388.

Philipp-Christian Wachs, Der Fall Theodor Oberländer(1905 - 1998) ein Lehrstück deutscher Geschichte (Frankfurt 2000) 137.49

Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus ‘Deutsche Geschichtswissenschaft und der “Volkstumskampf” im Osten (Osnabrück 2000) 110.50

�23

Page 26: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

Bedeutung der Ostseehäfen für die Donauländer (1944) und Das Wirtschaftswissenschaftliche

Oder-Donau-Institut zu Stettin (1944), die keine antisemitischen Äußerungen enthielten. Wenn man

sich alle Werken ansieht, die Seraphim zwischen den Anfang seiner wissenschaftlichen Karriere bis

1945 geschrieben hat, kann man sagen, dass Seraphim sich wahrscheinlich auch der

‘Judenforschung’ zuwandte, um sich die Chance auf einen wissenschaftlichen Arbeitsplatz zu

sichern und um eine Dozentur zu erhalten. Dies kann aber nur eine Teilmotivation gewesen sein,

denn Das Judentum im osteuropäischen Raum ist zu umfangreich und detailliert, um nur wegen

besserer Karriereaussichten geschrieben zu sein. Nach seiner umfangreichen Arbeit wurde ihm im August 1939 von der Wehrmacht befohlen, sich in

Berlin beim Wehrwirtschaftsstab des OKW zu melden. Wegen der Erfahrungen im Ersten Weltkrieg

wurde ihm die Koordination der nationalsozialistischen Aufrüstungspolitik auferlegt. Seine Arbeit

bestand darin, einen Überblick über die Rohstoffe und industriellen Kapazitäten der okkupierten

Länder zu schaffen, um sie vor Beschädigungen zu schützen und sie unter der Prämisse des

wirtschaftlich und militärisch Notwendigen zu nutzen. Nach anderthalb Jahren wurde er Mitte Dezember 1940 von seinem Dienst als

Kriegsverwaltungsrat freigestellt. Daraufhin bekam er die Möglichkeit, einen Lehrstuhl für

Volkswirtschaft an der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-

Universität in Greifswald zu erhalten. Doch schon nach einem halben Jahr wurde Seraphim wegen

der Angriffe auf die Sowjetunion erneut zum aktiven Wehrdienst einberufen und trat als Leiter der

Wirtschaftsinspektion zur besonderen Verfügung in Hessen an. Sie war wichtig für den Krieg gegen

die Sowjetunion, da es dabei um die Versorgung der Wehrmacht ging. Die Arbeit fand vor allem in

der Ukraine statt. Seine Tätigkeit bei der Wirtschaftsinspektion dauerte nicht lang. Schon Anfang Dezember

1941 wurde er aus unbekannten Gründen aus dem Dienst entlassen und konnte nach Greifswald

zurückkehren. Die Gründe lagen vermutlich unter anderem in seinem eigenen Wunsch, wieder

wissenschaftlich zu arbeiten.

Neben seiner ‘wissenschaftlichen’ Arbeit in Greifswald arbeitete er seit 1943 als geschäftsführender

Direktor des Oder-Donau-Instituts in Stettin wovon er auch Gründer war. Dieses Institut diente als

Informationsanbieter für die Kriegswirtschaft. Es konnte Unterlagen über die Wirtschaft

Südeuropas in Form von vertraulichen und geheimen Berichten auswerten. Bis kurz vor Kriegsende

wurde das Institut von Seraphim aufrechterhalten. Nach dem Krieg befand er sich aufgrund seiner Kenntnisse über Osteuropa in einer

bevorzugten Position und wurde aus diesem Grund am Mai 1945 nach seiner Gefangennahme durch

amerikanische Soldaten in die USA gebracht. Zuerst befragte die USA ihn im Camp Ritchie bei

Washington, wobei sich die Amerikaner besonders für seine Kenntnisse über die Infrastruktur, �24

Page 27: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

Wirtschaft und die Bevölkerung Osteuropas interessierten. Im Sommer 1946 wurde er wieder

freigelassen und durfte nach Westdeutschland umziehen. Angekommen in West-Deutschland wurde

er als ‘Mitläufer’ entnazifiziert und arbeitete er drei Jahre bei der Organisation Gehlen, dem ersten

Geheimdienst von Westdeutschland, errichtet von den Amerikanern. Danach kehrte er zurück in die

Wissenschaft und publizierte 1949 ein grosses Werk über Osteuropa: Ostwärts der Oder und Neiße.

Tatsachen aus Geschichte–Wirtschaft–Recht (1949). Dabei arbeitete er zusammen mit dem Juristen

Reinhart Maurach(1902-1976), der als außerordentlichen Professor zwischen 1941-1945 tätig war

in Königsberg wo er das Institut für osteuropäisches Recht gründete. Seraphim beschäftigte sich in

der Nachkriegszeit anstatt mit dem Feindbild der Juden vor allem mit dem Kommunismus. Er

schrieb unzählige Werke über Osteuropa und die DDR. Ab 1954 wurde er Studienleiter bei der

Universität Bochum in Wirtschaftsbereich, was er bis 1967 ausübte.

2.2. Der Weg Seraphims zum Antisemitismus und Nationalsozialismus

Wenn man sich den Weg zum Antisemitismus von Peter-Heinz Seraphim ansieht, muss man die

wichtigsten Ereignisse und Personen einbeziehen, die einen Einfluss auf ihn hatten und dazu

beitrugen, dass er zu einem erfolgreichen antisemitischen ‘Judenforscher’ wurde. In diesem Kapitel

wird gezeigt, welche Einflüsse und welche Ereignisse Seraphim zu einem ‘Judenforscher’ gemacht

haben.

Wie schon vorher im biografischen Teil gesagt wurde, wuchs Seraphim trotz wiederholter

Umzüge vom Land in die Stadt und der verschiedenen Wohnorte kontinuierlich in einer von

Deutschen dominierten Umgebung auf. In den Schulen, die Seraphim besucht hatte, wie zum

Beispiel der Rigaer Albertschule, bestand überwiegend Kontakt mit Deutschen. Nichtdeutsche

Freunde oder Bekannte existierten kaum. Dies zeigt, dass er eindimensional und mit viel

Kontinuität aufgezogen wurde. Eine der wichtigsten Personen in seiner Kindheit und Jugend war 51

sein Vater Ernst. Er sorgte für ein hohes Maß an ideologischer Konstanz in der Kindheit von

Seraphim. Er war ein nationalistischer, deutsch-baltischer, traditioneller Familienvater der ein

monarchisches Deutschland bevorzugte und in der Kinder- und Jugendzeit das gesellschaftliche und

häusliche Leben von Peter-Heinz dominierte. Ernst Seraphim traf, wie es damals üblich war, die

wichtigen Entscheidungen, wie zum Beispiel hinsichtlich von Umzügen oder der schulischen

Ausbildung der, oder er erteilte selbst Privatunterricht und schuf damit den ideologischen

Hintergrund für die Familie.

Ernst Seraphim war ein deutsch-baltischer Historiker, Lehrer und Journalist. Er hatte als

Redakteur und Herausgeber bei verschiedenen Zeitungen gearbeitet, zum Beispiel Düna, Rigaer

Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik (2007) 342.51

�25

Page 28: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

Tageblatt und Königsberger Allgemeiner Zeitung, die eine der größten Zeitungen der

Provinzhauptstadt und politisch an die Deutsche Volkspartei (DVP) gekoppelt war. Es war also

nicht überraschend, dass er stark nationalistische Ideen darüber hatte, wie die Gesellschaft im

Baltikum beschaffen sein sollte. Er war davon überzeugt, dass in einer ‘modernen’ Gesellschaft, die

sich immer mehr industrialisierte, die Privilegien der Minderheiten (deutsch-baltischen

Oberschicht) “gegen andere soziale oder nationale Ansprüche verteidigt und bewahrt werden”

sollten. Er lehnte alles ab, was nicht deutsch war, insbesondere alles Russische. Ein Beispiel war 52

eine Erinnerung seines Sohnes über die Ablehnung eines Ostertischs in Form eines traditionellen

kalten russischen Buffets. Auch die ‘Tradition’ von Ernst Seraphim, nur durch West- und 53

Südosteuropa zu reisen, aber nie innerhalb Russlands (Ausnahme war ein Besuch bei Verwandten

auf der Krim), war ein Beispiel seiner ablehnenden Haltung gegenüber allem, was nicht deutsch

war. Auf diese Weise musste ihm das baltische Land, in dem er einige Jahre lebte, fremd bleiben. 54

Nationalistische Ideen versuchte Ernst aktiv zu unterstützen, indem er Ende des 19. Jahrhunderts

Mitglied und Vorsitzender der Rigaer Ortsgruppe des Alldeutschen Verbandes wurde. Der Verband

wurde mit dem Ziel gegründet, die deutschen Kolonialinteressen zu fördern. Ernst Seraphim sorgte

dafür, dass der Alldeutsche Verband unter seiner Leitung zu einem Zentrum der alldeutschen

Bewegung innerhalb des Russischen Kaiserreiches wurde. Außer ein wichtiger Vertreter des

deutschen Minderheitsnationalismus im Baltikum war er auch ein prominenter Historiker und

Journalist, der mehrere Bücher über die deutsch-baltische Geschichte schrieb. Darin bemühte er

sich um eine Abtrennung der baltischen Provinzen vom russischen Machtbereich und ihren

Anschluss an das deutsche Kaiserreich. Was ferner wichtig für die Frage des Entstehens der

antisemitischen Haltung von Peter-Heinz Seraphim ist, ist, dass sein Vater Ernst vor der

Machtergreifung 1933 einige große und wichtige Werken veröffentlicht hatte, die nicht nur stark

nationalistisch waren, sondern auch antisemitisch. So schrieb er in der deutsch-baltischen Zeitung 55

Düna 1911, dass die:

”Juden als Fremdlinge beschrieben werden, die durch eine kosmopolitische Gesinnung sowie eine

Neigung zu Radikalismus und Materialismus geprägt seien. Durch sein rastloses Jagen nach

Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik (2007) 40.52

Ibidem 48.53

Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik (2007) 93.54

Steinweis, Studying the Jew (2006) 144.55

�26

Page 29: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

Gewinn und Reichtum sowie seine Skrupellosigkeit habe das Judentum ein Übergewicht erlangt…

das drückend empfunden wird und schädigend auf Sitte und Charakter weiter Kreise wirkt.” 56

Ernst Seraphim sah die Juden als eine Bedrohung bürgerlichen Deutschen im Baltikum. Sie waren

für ihn die Verkörperung der liberalen und linken Bewegungen. Diese Auffassungen standen, wie

bereits im zweiten Kapitel festgestellt, in einem engen inhaltlichen Verhältnis zu der ‘Tradition der

deutschen ‘Kulturträger’-Theorie, die über die Ordnung und Zivilisation im östlichen Europa Werke

produzierte. Die wesentlichen Argumente stimmten mit denen von Ernst Seraphim überein. Man

muss dabei aber erwähnen, dass die Äußerungen in dem Werk von Ernst nicht denselben Platz

einnahmen wie bei seinem Sohn, für den ‘der Jude’, erst nach einem bestimmten Moment, das

zentrale Thema wurde. Diese Äuβerungen von Ernst Seraphim wurden durch die Mitgliedschaft im

‘Alldeutschen Verband’ verstärkt und bekamen dort eine Platform. In diesem Zusammenhang spielt

die antisemitische, stereotype Propaganda seit der Jahrhundertwende eine wichtige Rolle. Dies sieht

man auch an seinen historischen Werken wie der von ihm geschriebenen Familiengeschichte, in der

die jüdische Bevölkerung des Baltikums jedoch nur eine beiläufige Rolle spielt. Insgesamt bleibt

aber festzustellen, dass der Vater ein judenfeindliches Weltbild vertrat. Seine antisemitischen 57

Äuβerungen brachten ihm keine Probleme ein, im Gegensatz zu den nationalistischen. Diese

sorgten für die Verhaftung des Vaters im Frühjahr 1915 und seine Verbannung nach Sibirien. Die

Begründung war:

„wegen offener Hinneigung zum Deutschtum, schroffer Germanophilie und Agitation für die

Abtrennung des baltischen Gebiets von Russland.“58

In den Augen von Ernst Seraphim war auch die Weimarer Republik schuld an der Lage der

Deutschen im Baltikum. Das Kaiserreich hätte sich einsetzen müssen den Baltikum Teil des

Deutschen Kaiserreich zu machen. Mit seinen konservativen Auffassungen verlangte er das alte

Kaiserreich anstatt der jungen demokratischen Weimarer Republik zurück. Diese Auffassungen von

Ernst Seraphim sorgten dafür, dass der junge Peter-Heinz schon früh mit Begriffen wie ‘völkisch’

und ‘konservative Revolution’ in Kontakt kam. All dies waren Begriffe, die am Ende auch gegen

das junge demokratische System gerichtet waren und die Peter-Heinz und Ernst Seraphim mit den

Entwicklungen des Nationalsozialismus verbanden. Beide wollten eine grundlegende Umwälzung

Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik (2007) 95.56

Ibidem 44-45.57

Steinweis, Studying the Jew (2006) 142.58

�27

Page 30: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

des Status quo. Zwar wollte Peter-Heinz nicht zurück zu kaiserlichen Zeiten, sondern hin zu einem

deutschen ‚Wiederaufstieg’, zu einem völkisch-autoritären System. Bei beiden sollte das Volk die

entscheidende Rolle spielen, um dem neuen Regime die Freiheit zu geben, die Vereinigung des

‘Deutschtums’ diesseits und jenseits der Grenzen des Deutschen Reiches zu realisieren. Beide

hatten Sehnsucht nach einem starken Führer, der eine in Form eines Kaisers, der andere in Form

eines Unbekannten, der am Ende Hitler sein würde. Die Weimarer Republik galt aus dieser

Perspektive als ein defizitäres System.

Selber betrachtete der Vater Peter-Heinz den aufstrebenden Nationalsozialismus nicht als die

richtige Antwort auf seine Wünsche, denn aus der Sicht der deutsch-baltischen Elite war die

nationalsozialistische Bewegung eine proletarische Bewegung und damit eine Bedrohung für die

bürgerliche Welt. Dies könnte erklären, warum auch Peter-Heinz nicht sofort die Lösung der 59

‘deutschen’ Probleme in den Personen von Adolf Hitler oder Joseph Goebbels sah und daher erst

nach der Machtergreifung der NSDAP beitrat.60

Die freiwillige Meldung von Peter-Heinz Seraphim zur Baltischen Landeswehr in 1919

schien eine logische Entscheidung zu sein, wenn man die nationalistischen Äuβerungen des Vaters

in Betracht zieht. Auch die direkte Verbindung des Vaters zur Baltischen Landeswehr, da er

zwischen März und Oktober 1919 dort für kurze Zeit Presseoffizier war, hatte vermutlich einen

großen Einfluss auf die Entscheidung von Peter-Heinz, sich dafür zu melden. Auch seine Brüder

hatten sich schon der Landeswehr angeschlossen, ebenso wie die anderen Osteuropahistoriker und

Ostforscher, etwa Reinhard Wittram, der später ein Kollege von Peter-Heinz Seraphim wurde. Auch

diese späteren Ostforscher waren auf irgendeiner Weise verbunden mit der Baltischen Landeswehr.

Auf diese Art bekam Peter-Heinz wie viele seiner Altersgenossen trotz des Endes des Ersten

Weltkriegs bereits in jungen Jahren eine charakteristische Kriegserfahrung. Diese späteren

Nationalsozialisten entwickelte damit auch schon früh einen Widerwillen gegen die ‘rote Flut’, die

angeblich die deutsche Kultur vernichten wollte.

Nach dem Verlust von Riga zog die Familie nach Königsberg. Dies war ein wichtiges

Ereignis in der Jugendzeit von Seraphim, das ihn auch später bei seiner Arbeit als Wissenschaftler

formte. Er verließ nämlich nicht nur eine bekannte Umgebung, sondern ließ auch seine Jugendzeit

hinter sich und kehrte nie wieder an den Ort seiner Jugend zurück. Der Ortswechsel nach

Königsberg hatte noch eine andere wichtige und ‘positive’ Bedeutung in seinem Leben. Er war

nicht länger Teil einer Minderheit in einem neuen Land, sondern wurde als deutscher Bewohner des

deutschen Reiches Teil der Mehrheit. Es gab für ihn und seine Familie nicht mehr den Kampf um

Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik (2007) 201.59

Ibidem 149.60

�28

Page 31: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

die Verteidigung der Traditionen und Privilegien, sondern eher eine stets präsente Konfrontation mit

dem polnischen Nachbarstaat sowie den polnischen Minderheiten, die eine Revision der neuen

Grenzen forderten. Es ist wichtig zu benennen, dass Seraphim auch in dieser Zeit in Königsberg ein

Umfeld hatte, das baltisch geprägt war. Die Kreise, in denen er sich bewegte, hatten im

Allgemeinen das Ziel der ‘Neuordnung’ des Ostens unter deutscher Vorherrschaft. Auch in Breslau,

wo er später noch einige Jahre arbeiten und studieren würde, gab es Parallelen zu der Zeit im

Baltikum und in Königsberg. An beiden Orten bewegte er sich in Kreisen, die sich eine 61

Neuordnung des Ostens vorstellten und dies als ein Ziel der deutschen Regierung sahen. Seraphims

Umfeld war ein wichtiger Faktor bei dessen Politisierung.

Seraphims in die NSDAP im April 1933 könnte als ‘typisch’ für seine

‘Selbstgleichschaltung’ bezeichnet werden. Wie viele andere Parteimitglieder war er Teil eines

Freikorps, der Baltischen Landeswehr, und sein Umfeld war geprägt durch verschiedene

nationalistische, völkische Ideen in Kombination mit einer akademischen Erziehung. Zuerst bestand

seine Mitgliedschaft vor allem aus beruflichen Gründen, wie bei den meisten Akademikern nach der

nationalsozialistischen Machtergreifung. Auch für Seraphim galt, dass seine Berufsethik schon in

1933 versagt hatte, als er stillschweigend die Vertreibung seiner rassisch oder politisch verfolgten

Kollegen hinnahm. Viele profitierten nämlich von den Verhaftungen oder dem Berufsverbot der 62

Kollegen, wie auch deutlich in der Kurzbiografie von Seraphim zu lesen ist:

“Da leider Lehrkräfte, die die erforderliche Kenntnis der Randstaaten in sprachlicher und

wirtschaftlicher Hinsicht besitzen [...] ausserordentlich selten sind…”63

Damit war Seraphim keine Ausnahme hinsichtlich der Gleichschaltung der Wissenschaftler im

Deutschen Reich und bestätigte eher die Regel. Doch es bleibt die Frage, ob sich Seraphims

Karriere zwangsläufig ergab oder ob er sie selbst wählte, etwa aus einem Engagement für den neuen

Staat heraus.

Mit der Karriere im nationalsozialistischen Reich sah es für Seraphim aufgrund seiner

vermeintlichen jüdischer Abstammung lange Zeit nicht gut aus. Daher dauerte es einige Jahre, bis

seine Karriere als Dozent und auch seine Habilitation abgeschlossen waren. Man könnte also sagen,

Götz Aly und Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung ‘Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung’ (Frankfurt 1993) 61

216.

Aly und Heim, Vordenker der Vernichtung (1993) 301.62

Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik (2007) 117.63

�29

Page 32: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

dass er sich mit der Hinwendung zur ‘Judenforschung’ bewusst einen Karriereaufstieg verschaffte,

indem er damit von den Anschuldigungen einer jüdischen Abstammung ablenkte. 64

Doch seinem Fachgebiet der ‘Judenforschung’ blieb er bis zum Kriegsende völlig treu und

exponierte sich sogar in diesem Feld. Auch als er eine gesicherte Stelle als Professor in Greifswald

hatte, behielt er es bei. Deswegen lässt sich vermuten, dass er seinen Fachgebietswechsel nicht nur

aufgrund der Gefahr für seine Wissenschaftlerkarriere vollzog. Man könnte sagen, dass es nicht 65

die wichtigste Motivation für den Wechsel seiner wissenschaftlichen Orientierung war. Dafür gibt

es verschiedene Gründe. Die Schlussfolgerungen seiner Arbeit zum Beispiel sprechen für eine

gewisse Distanz zur nationalsozialistischen Politik. So argumentierte er, dass die Ghettoisierung der

Juden nicht im Sinne der deutschen Bevölkerung war. Obwohl viele Ostforscher sich nicht an die

Kritik der Thematik der Ghettoisierung heranwagten, hielt Peter-Heinz lange Zeit an dieser Ansicht

fest. Dies zeigt deutlich, dass man seinen Karrierewandel nicht als zwangsläufig sehen kann. Ein

anderes Beispiel waren seine Proteste gegen die Massenmorde im Ukraine, was später in diesem

Kapitel noch erläutert wird. Das alles zeigt, dass man von einer bewussten Selbstfunktionalisierung

Seraphims sprechen kann. Für eine solche Eigenständigkeit sprechen vor allem auch seine 66

kritischen Ansichten zur Ghettoisierungspolitik. Dementsprechend ist er auch verantwortlich für die

Verbrechen der Nazis, vor allem weil er er die Möglichkeit hatte, sich gegen die verbrecherischen

Taten auszusprechen, diese jedoch nicht nutzte. Es ist aber schwierig Seraphim direkt zu verurteilen

für den Massenmord an den Juden, unter anderem weil er keine Kontakte hatte zu der SS. Trotzdem

war er einer der ersten der sich als ‘Judenforscher’ schon im März 1941 öffentlich für die

Gesamtlösung der ‘Judenfrage’ einsetzte. Weil die Frage der Schuld Seraphims eine schwierige 67

ist, wird diese Antwort im Kapitel 3.2 weiter erörtert und begründet.

Man kann also von einer natürlichen Radikalisierung sprechen, wobei die Basis schon in

seiner Erziehung gefunden werden kann. Vor allem sein Antisemitismus ist auf seinen

radikalnationalistischen Vater zurückzuführen. Die Motivation für sein Werk zeigt auch, dass er sich

nicht gezwungen fühlte, die Juden im Osten-Europas zum zentralen Thema zu machen. Denn er

schreibt am Anfang seines Buches, dass er es nicht verfasst habe, um sich mit der jüdischen Frage

zu befassen:

Martin Burkert, Die Ostwissenschaften im Dritten Reich, Teil I: Zwischen Verbot und Duldung., ‘Die schwierige Gratwanderung der 64

Ostwissenschaften zwischen 1933 und 1939’ (Wiesbaden 2000) Bd. 55, 284.

Burkert, Die Ostwissenschaften im Dritten Reich (2000) 285.65

Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik (2007) 342.66

Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus (2000) 351.67

�30

Page 33: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

“Der Verfasser ist an dieser Arbeit über das Judenproblem in Ost-europa zunächst eigentlich nicht

vom Gesichtspunkt der angedeuteten gesamtjüdischen Fragestellung herangetreten.”68

Sondern, so schreibt er in der Einleitung seines großes Werkes, dass er bei der jahrelangen Arbeit in

der Volkswirtschaft

„immer wieder auf die Juden als eine für das wirtschaftliche Leben in diesem Raum äußerst

wichtige und einflussreiche Gruppe“

gestoßen sei. 69

Damit zeigen seine eigene Entscheidungen, sich für das Dritte Reich als ‘Judenforscher’

einzusetzen und einige seiner außergewöhnlichen Schlussfolgerungen, die sich gegen die Politik der

Nazis stellten, dass Peter-Heinz Seraphim ein aus eigenem Antrieb funktionierender

nationalsozialistischer ‘Wissenschaftler’ war.

Peter-Heinz Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (Essen 1938) 10.68

Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 10.69

�31

Page 34: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

3: Ansatz und Einflüsse: Seraphims nationalsozialistischer ‘Judenforschung’

3.1 ‘Judenforschung’: Seraphims wissenschaftlicher Ansatz

Wie bereits gesagt, war der ursprünglich deutsch-baltische politische Volkswirt Peter-Heinz

Seraphim einer der meist geachteten ‘Judenexperten’ und einer der führenden ‘Wissenschaftler’ auf

dem Gebiet der osteuropäischen Juden im Dritten Reich. 70

Seine Werke haben verschiedene wissenschaftliche Merkmale, die mit den anderen

einschlägigen Wissenschaftlern übereinstimmten, wie zum Beispiel das Streben nach

‘wissenschaftlicher Legitimität‘, der Vorwand einer ‘intellektuellen Objektivität‘, die

‘Selbstentfernung‘ der antijüdischen Propaganda des Nationalsozialismus, das Verlangen nach

‘wissenschaftlichen’ Erkenntnissen, die produziert wurden, um den Entscheidungsträgern der Nazis

zu nützen, und vor allem die Begeisterung darüber, die eigenen Kenntnisse über das Judentum

weiterzugeben. Es gab sowohl bei den ‘Judenforschern’ als auch bei Seraphim viele Punkte, die 71

ihre Legitimität und Objektivität fragwürdig machten. Der Begriff ‘Objektivität’ bedeutetet für sie 72

nicht weltanschauliche Neutralität. Das Verständnis ‘des deutschen Volkes’ und auch des ‘deutschen

Ostens’ wurden stets als zentraler Ausgangspunkt verwendet. Man ging davon aus, dass die

Deutschen im östlichen Europa Träger einer höheren Kultur und einer höheren ökonomischen

Produktivität waren. Trotz dieser Fragwürdigkeit der Objektivität und damit auch des 73

Wissenschaftsbegriffes der ‘Judenforscher’ war es für die Forscher wichtig, diese Begriffe

ordentlich zu formulieren. Seraphim erklärte den Wissenschaftsbegriff der ‘Judenforschung’

inhaltlich sehr stark, indem er sich vom Wissenschaftsbegriff des Volkswirts und Soziologen Werner

Sombart (1863–1941) abgrenzte. Die Werke von Sombart, wie zum Beispiel Die Juden und das

Wirtschaftsleben (1911), zählten zu den zentralen Texten, auf die Seraphim immer wieder Bezug

nahm. Bei einer Rede zum Thema des Wissenschaftsbegriffs erklärte er:

„Diese Ausführungen Sombarts sind typisch für die pointierte ‘voraussetzungslose sachlich-

wissenschaftliche’ Betrachtung der Zeit, in der Sombart schrieb. Wir Heutigen stehen anders

dazu! Auch wir anerkennen kein ‘Dogma’, innerhalb dessen Grenzen oder nach dessen

Richtlinien geforscht werden könnte. Ebenso wenig ist für uns Wissenschaft ein

nachträglicher Beweis der Richtigkeit staatspolitischer Entscheidungen. Freiheit

Dan Michman, Die Angst vor den ‘Ostjuden’ (Frankfurt an Main 2011) 43.70

Steinweis, Antisemitic Scholarship in the Third Reich and the Case of Peter-Heinz Seraphim (2003) 71.71

Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik (2007) 344.72

Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik (2007) 343.73

�32

Page 35: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

wissenschaftlicher Forschung und Urteilsfindung nehmen wir in vollem Umfang für uns in

Anspruch. Aber wir sublimieren und vergöttern nicht den Begriff der Objektivität, sondern

für uns ist wissenschaftliches Forschen und Wirken nur sinnvoll im Rahmen der Volkheit und

für sie, in die wir hereingeboren und hereingestellt sind. Auf die Judenfrage exemplifiziert

heißt das: den Leser präokkupierende Werturteile, billige Schlagworte, unsachliche

Unterschiebungen gehören am allerwenigsten zu der Behandlung eines

Forschungsgegenstandes, der so stark im Bereich der politischen Diskussion steht. Die

Sombartschen Prämissen von der ‘Gleichwertigkeit der Rassen und Völker’ sind aber für

uns nicht nur als Ausgangspunkte unserer wissenschaftlichen Forschungsarbeit

indiskutabel, sie sind überhaupt gedanklich ‘objektiv-wissenschaftlich’ unrichtig. Dass ein

Volk, eine Gruppe von Völkern, eine Rasse oder eine bestimmte Rassenmischung ‚höhere’,

ein anderes Volk, eine andere Rasse oder eine bestimmte Rassenverbindung ‘geringere’

Leistungen vollbringt, ist exakt erweisbar - es sei denn, dass man zu einer solchen

‘Objektivierung der Wertbegriffe’ kommt, dass man bestreitet, dass ein Bildwerk

Michelangelos oder eine Symphonie Beethovens ‘mehr’ ist als die Götzenstatue eines

Buschmannes oder der Kriegstanz eines Kaffern.“74

Diese Erklärung zeigt Kennzeichen des nationalsozialistischen Wissenschaftsbegriffs: die

Ablehnung der Idee einer ‘voraussetzungslosen Wissenschaft’, die Aufhebung der Trennung von

Wissenschaft und Leben, der Rassenbegriff als Kernstück wissenschaftlicher Forschung sowie die

Ablehnung des internationalen Charakters der Wissenschaft und der Fokus auf das eigene Volkstum.

Doch Seraphims Theorie zeigte auch große andere Unterschiede gegenüber den Aussagen

anderer ‘Judenforscher’ über wissenschaftliche Objektivität. Die allgemeine ‘Judenforschung’ war

zum Beispiel ‘einfach’ und ‘nützlich’ für die Propaganda. Es waren oft rein propagandistische

Traktate, die die ideologischen national-sozialistischen Ziele unterstützen sollten. Seraphims Werk 75

war im Gegensatz dazu ‘wissenschaftlich’ viel umfangreicher und enthielt stark analytisch

formulierte Ergebnisse, die mit demographischen, sozialistischen, aber auch politischen

Argumenten sowie mit Statistiken, Karten und Graphiken untermauert wurden. Im Gegensatz zu

anderen ‘Judenforschern’ bot Seraphim verwendungsfähige Informationen aufgrund einer

besonderen Verschmelzung von Antisemitismus und Sozialwissenschaften. Das Ziel seines großen 76

Werkes war es, seine Leser mit verschiedenen Quellen und Daten, die er zusammengefügt hatte, zu

Peter-Heinz Seraphim, Zum Tode Werner Sombarts (19.5.1941), in: Weltkampf 1 (1941), H. 3, S. 177-181, S. 181. 74

Rupnow, ‘Judenforschung’ im Dritten Reich (2009) 271.75

Steinweiss, Studying the Jew (2006) 142-143.76

�33

Page 36: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

informieren. So stellt er in seiner Einleitung dar, dass es seine Absicht war, kein Werturteil zu

seinem Thema zu geben:

„Ein Werturteil mögen die Leser dieses Buches in den Ergebnissen der wissenschaftlichen

Beweisführungen finden - der Verfasser hat sich eines solchen Werturteils in vollem Bewußtsein

einer besonderen wissenschaftlichen Verantwortung bei einem so ‘aktuellen’ Thema enthalten.“ 77

Dies war eines der Kennzeichen seines Werkes, wobei er sich verpflichtete, ‘strengste Sachlichkeit’

zu wahren. Diese eigene Verpflichtung, der Sachlichkeit einen wichtigen Platz in seinen Werken zu

geben, wiederholte er an verschiedenen Stellen in seinem Werk. Ein Beispiel für Seraphims

Versuch, große Objektivität zu erreichen, gibt es im dritten Teil des Buches in Kapitel 1 Zahl und

Verteilung der Juden in Osteuropa. Hier fragt er sich, ,,wer ist Jude?“. Er beantwortet in diesem

Kapitel die Frage nicht mit rassischen Gesichtspunkten, sondern versucht, andere Kriterien

anzugeben, weil es laut Seraphim keine wissenschaftlichen Beweise gibt, die einen Juden

beschreiben konnten:

„Wer blutsmäßig von jüdischen Eltern oder Voreltern abstammt, muß als Jude gelten.

Diesen rassischen Gesichtspunkt kann man aber praktisch hier deshalb nicht anwenden,

weil sämtliche erfaßbaren Unterlagen niemals den rassischen Juden zum Gegenstand

haben. Vielmehr sind alle möglichen anderen Kriterien zur Feststellung herangezogen, und

zwar vorwiegend das Religionsbekenntnis, die Sprache oder die Volkstumszugehörigkeit.“78

Diese scheinbare Objektivität wiederholt er erneut im fünften Kapitel Die Ostjuden als rassische

Gruppe im dritten Teil des Buches. Er erzählt dabei, dass davon abgesehen werden muss, den Juden

den Begriff ‘Rassejuden’ zugrunde zu legen, weil keine „…Ermittlungen über die osteuropäischen

Rassejuden vorliegen…“. Trotzdem will er aber nicht davon sprechen, dass man die Juden Ost-79

Europas nicht unter dem rassischen Gesichtspunkt betrachten kann. Er will damit nur zeigen, dass

seine Arbeit über die Juden in Osteuropa keine Rassenkunde umfasst, weil er die Validität der

wissenschaftlichen Daten dazu nicht garantieren kann:

Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 14.77

Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 281.78

Ibidem 40579

�34

Page 37: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

„Selbstverständlich kann und soll aber im folgenden nicht der Versuch gemacht werden, eine solche

kann nur Gegenstand einer fachlichen wissenschaftlichen Arbeit auf Grund umfangreichen

anthropologischen Materials sein, als vielmehr auf einige Grundtatsachen der ostjüdischen

Rassenzusammensetzung und Rassengliederung hinzuweisen.“ 80

Diese verschiedenen Aussagen zeigen wichtige Kennzeichen von Seraphims wissenschaftlicher

Methode und Arbeit. Zum einen unterscheidet er sich hiermit sehr stark von anderen

‘Judenforschern’ und vor allem auch von den Rassenforschern im Dritten Reich. Die allgemeine

‘Judenforschung’ in Nazi-Deutschland war oft durchdrungen von rassistischen, anthropologischen

und propagandistischen Studien. Es ist an der Vorgangsweise von Seraphims Hauptwerk 81

bemerkenswert, dass er wenig rassische ‘Wissenschaft’ gebraucht. Er vertritt verschiedene

Argumente, wobei er den Juden bestimmte Charaktereigenschaften zuordnet. In seinem fünften

Kapitel Die Ostjuden als rassische Gruppe im zweiten Teil des Buches verwendet er jedoch nur

zehn Seiten für die Erläuterung der jüdischen Rasse. Damit zeigt sich, dass die Rassenlehre nicht

seine Spezialität war und auch nicht sein Schwerpunkt. Dies war unter den ‘Judenforschern’ keine

Ausnahme, bedeutete aber erneut nicht, dass Seraphim der Rassenlehre nicht anhing, sondern im

Gegenteil. Seraphim kritisierte sein Vorbild Sombart für dessen Zurückhaltung, ein rassistisches 82

Argument für das jüdische Wirtschaftsverhalten zu akzeptieren. Am Ende rechtfertigte er das Werk

von Sombart trotzdem noch, indem er behauptete, dass Sombart wegen des Mangels an Quellen

nicht in der Lage gewesen sei, tiefer in die Sache einzudringen. Auch hier zeigt sich seine 83

scheinbare Objektivität.

Durch eine bestimmte ‘Selbstentfernung’ von großen Formen der nationalsozialistischen

antijüdischen Propaganda, wie der rassistischen Propaganda, wurde der damalige politische

Ökonom Seraphim als der ‘professionellste und intellektuellste Judenexperte’ in Nazi-Deutschland

betrachtet. Diese Selbstentfernung zeigte er unter anderem dadurch, dass er Forschungen stets von

sich aus anstieß und seine Arbeit selbst organisierte. Auch die Arbeit Das Judentum im

osteuropäischen Raum war eine Forschung auf Eigeninitiative, die von der BDO finanziert wurde. 84

Seine Bemühungen, eine scheinbare Objektivität in seinem Werk zu kreieren, wovon er selbst völlig

überzeugt war, wurden von verschiedenen Wissenschaftlern auch noch später anerkannt. Der

Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 405.80

Michael Burleigh, Germany turns eastwards: ‘a study of Ostforschung in the Third Reich’ (Cambrigde 1988) 189.81

Steinweis, Studying the Jew (2006) 158.82

Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 405.83

Aly und Heim, Vordenker der Vernichtung (1993) 95.84

�35

Page 38: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

Historiker und Ostexperte Gottfried Schramm bestätigte zum Beispiel die ‘Objektivität’ von

Seraphim und nannte dessen ‘Meisterwerk’ 1968 ‘erfreulich objektiv’. Auch die Götz Aly und

Susanne Heim betonten, dass das Werk von Seraphim ‘wissenschaftlich’ zu der damaligen Zeit

außerordentlich und modern war. 85

Es gab aber auch einige weitere Charakteristiken, durch die sich Seraphims Arbeit von

anderen Werken der ‘Judenforschung’ in der Nazi-Zeit unterschied. Zunächst war dies der Umfang

seiner Werke. Ein Beispiel ist das Werk Das Judentum in osteuropäischen Raum (1938), das kurz

nach seinem Erscheinen als Standardwerk für die ‘Judenforschung’ galt. Es hatte 732 Seiten, 197

statistische Grafiken und Diagramme, eine Bibliographie mit 563 Titeln, mehr als 2000 Fußnoten

und beschrieb einen Zeitraum von ungefähr 1000 Jahren Geschichte zum „Eindringen der

Jüdischen Bevölkerung in Osteuropa“. Weiter produzierte er als ‘Forscher’ eine größere Anzahl 86

von Artikeln, Monographien und detailliertere sowie umfangreichere Grafiken als jeder andere.

Auch die Kollegen von Seraphim waren vom ‘Meisterwerk’ über das ‘Judentum’ beeindruckt, wie

viele positive Rezensionen aus der nationalsozialistischen ‘wissenschaftlichen’ Zeitschrift Der

Weltkampf zeigen. Die ‘Sachlichkeit’ seiner Schlussfolgerungen, die Untersuchung einer breiten 87

Datenbasis und die anschauliche Darstellung wurden in verschiedenen deutschen, aber auch

internationalen Rezensionen in Fachzeitschriften lobend erwähnt. Damit war Seraphim ein national

wie auch international anerkannter Wissenschaftler – ein Status, den keiner der ‘Judenforscher’ zu

seiner Zeit hatte. Auch Sommerfeldt betonte in einer Rezension über Seraphims großes Werk Das Judentum im

osteuropäischen Raum, dass er vom Umgang mit den Quellen sehr begeistert war und:

„dass Hauptverdienst dieses Verfassers nicht in der Erschließung und Ausschöpfung neuer Quellen,

sondern in der neuen Sicht und Ordnung der zum größten Teil von jüdischer Wissenschaftlern

zusammengetragenen, bereits bekannten Forschungsergebnisse liege“.88

In seinen Arbeiten und vor allem im Werk Das Judentum im osteuropäischen Raum wurde der

Antisemitismus weder als weltanschauliche Basis genannt noch als epistemischer Ausgangspunkt

betont wie bei den anderen ‚Judenforscher‘. Man darf sich aber nicht vorstellen, dass die Sprache

Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 101.85

Ibidem 97.86

Der Weltkampf, Monatsschrift für Weltpolitik, völkische Kultur und die Judenfrage aller Länder, ausgegeben von Alfred Rosenberg seit 1924.87

Rupnow, ‘Judenforschung’ im Drittenreich (2009) 158.88

�36

Page 39: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

und Bildwelt des Antisemitismus nicht im Werk präsent ist. Sie ist aber stets zurückgenommen,

beschränkt, beiläufig und wirkt im Text sehr natürlich.89

Dafür gibt es verschiedene Beispiele. Im ersten Teil des Buches in Kapitel 1 Hauptzüge der

Geschichte der Juden in Osteuropa bis zur Teilung des Polnischen Reiches wird dieser suggestive

Antisemitismus gut dargestellt. Er spricht hier über die Gründe der Juden für das Umziehen von

verschiedenen Orten in Europa nach Osteuropa. Ein Grund, von dem er spricht, ist der jüdische

Bevölkerungsüberschuss in Europa, wobei sie Auswege suchen mussten und diese in Osteuropa

fanden. Doch sie zogen laut Seraphim erst um, nachdem die Deutschen das Land Ost-Europas

‘kolonisiert’ hatten. Seraphim stellt damit fest, dass die Juden daher keine Pioniere waren, sondern

er versucht hier, das Bild eines jüdischen Parasiten zu zeigen, der vor allem auf Kosten anderer

Völker existierte.

„[…] sondern erst nachdem die deutsche Ostwanderung das Pionierstadium der Kolonisation

überwunden hatte, massenweise in dieses Gebiet ein strömten“. 90

Weiter sagt Seraphim über die Juden, dass sie einen innewohnenden Wandertrieb haben. Dieser

Wandertrieb der Juden machte die Juden zu einem wurzellosen Volk – „Anreizend auf die

wanderlustigen Juden Westeuropas“. Durch das Nichtvorhandensein der Wurzeln der Juden 91

erhielten die Juden die Kennzeichen eines Parasiten. Laut Seraphim gehörten sie nicht zur Blut-und-

Boden-Theorie der Nationalsozialisten und könnten damit das Gefühl der Einheit im Dritten Reich

zerstören. Dazu kommt, dass er im selben Absatz über die Juden als eine ‘Überbevölkerung’

schreibt und Begriffe wie ‘Bevölkerungsüberschuss’ und ‘jüdische Massenauswanderungen’

gebraucht, womit er die Juden zu kollektiven Größen macht, die demzufolge nur noch als Variablen

im Werk anwesend sind. Dies hatte zur Folge, dass die Juden zu einer zu verschiebenden Masse

gemacht wurden und damit nicht mehr als individuelle Menschen betrachtet wurden. 92

Im ersten Teil des Buches im fünften Kapitel Geistige und religiöse Bewegungen im Polnisch-

litauischen Judentum bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts schreibt Seraphim kurz nebenbei einige

sogenannte stereotypische Kennzeichen des ‘intellektuellen’ Juden. So stellt Seraphim fest, dass die

Juden sehr gut im Gebrauch der Sprache sind.

Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 272.89

Ibidem 28.90

Ibidem 26.91

Ibidem 27.92

�37

Page 40: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

„Diese Entwicklung des talmudischen Schrifttums war gerade in der Zeit der Einwanderung

der Juden nach Osteuropa in ihrer Einseitigkeit bis zu einem Höchstmaß gediehen: an die

Stelle der Kodifikation trat eine rein haarspalterische dialektische Wortinterpretation. Diese

Methode der sogenannten “Pilpul” artete in reine Sophisterei aus und führte dazu, daß an

Stelle des wahrheitsuchenden Forschers der klügelnde, spitzfindige Geistesjongleur trat.“93

Mit dieser reinen Sophisterei meint er, dass die Juden mit Wörtern spielen können, wobei aber keine

Substanz dahintersteckt, was sie genau sagen und deuten wollen. Sie können einem Menschen laut

Seraphim etwas einreden und ihn manipulieren, zum Beispiel, dass er ein Sozialist oder Kommunist

ist oder werden muss. Seraphim stellt sie damit indirekt als Gefahr für ‘gute’ Deutsche dar. 94

Er stellt auch fest, dass die Juden eine Tradition der Bestechung im polnisch-litauischen Reich

besitzen und dass sie

„im Kampf um ihre jüdischen Sondervorrechte wie in der Ausnutzung ihrer Geschäftsführer-

und Pächtertätigkeit bei den polnischen Panen, oder zu Erhaltung und Erweiterung ihrer

Niederlassungs- und Handelsrechte in den Städten das Mittel der Bestechung mit ebenso

viel Virtuosität wie erfolgt angewandt hatten.“95

Hier sieht man den Antisemitismus sehr deutlich. Was aber weiter auffällt, ist, dass sich der Absatz

im zweiten Teil des Buches bei Kapitel 2 der Ostjuden vom Rest des Kapitels unterscheidet, weil er

ohne deutliche Begründung als Wahrheit angenommen wird. Auch bei den nächsten Aussagen fällt

auf, dass er auf die gleiche Weise mit seiner Objektivität umgeht. So sagt er, dass es die Mentalität

der Ostjuden war,

„eine Angelegenheit ohne Formalität, schnell unter der Hand zu erledigen, um die Entscheidung

ohne den Instanzenweg mit seinen Verzögerungen herbeizuführen und sich gegebenenfalls auch

Vorteile zu sichern, die der gesetzliche Weg nicht bietet.“96

Weiter zeigt er, wie der handelnde Jude sich trotz der großen Ähnlichkeiten von den Deutschen

unterscheidet. Dies macht er, indem er behauptet, dass die Juden immer Händler sein wollten, doch

dass sie andere Händler waren als die meisten ‘deutschen’ Händler:

„Ebenso wie das jüdische Handwerk ist auch der jüdische Handel in Osteuropa mit dem

Handel in Mittel- und Westeuropa unvergleichbar. Er weist vielmehr ganz spezifische Züge

Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 79.93

Ibidem 79.94

Ibidem 100.95

Ibidem 100.96

�38

Page 41: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

und Erscheinungsformen auf. So stark zweifellos gerade im Handel mehr als in anderen

Berufen ein “Erwerbsinteresse” vorausgesetzt ist und das Werkinteresse zurücktritt, so sehr

es dem Handeltreibenden eigen ist, daß er “in Geldwerten denkt”, so ist doch sein Wesen

keineswegs im reinen Bereicherungsziel beschlossen. Es braucht nur an den Typ des

“königlichen Kaufherrn” des Mittelalters oder an die pionierhafte Handelsleistung und die

Machtballung in modernen Handelsinstituten erinnert zu werden, um zu erkennen, daß auch

dem Handel ein ‘Sachinteresse’ eigen sein kann, eine Leistungsaufgabe die auch bei

notwendiger kleinlichster Rechenhaftigkeit in der einzelnen Transaktion vom

Handeltreibenden empfunden werden kann.“97

Nach Seraphims Behauptungen

„ist der Handel für den Juden das geeignetste Mittel, seine Gaben zu entfalten, der gegebene Beruf

um zu Wohlstand und Reichtum zu gelangen.“98

Seraphim behauptet damit, dass für den Juden nur das Reich werden wichtig war, und dass sie

materialistisch sind. Ein Händler muss offensichtlich in Geldwerten denken, aber er will sich eben

nicht nur bereichern. Ein Händler ist laut Seraphim auch an der Tradition und an dem Produkt

interessiert, es geht für ihn mehr als nur um das Geld. Jüdischen Händlern dagegen fehlt eine solche

Haltung; der Handel ist für sie nur ein Mittel, um zum Reichtum zu gelangen.

Diesen Reichtum koppelt er auch an seine Behauptung, dass das Gleichheitsprinzip in der jüdischen

Religion nicht auf Wahrheit beruhe. Er sagt, dass das Judentum auf alles andere als auf das

Gleichheitsprinzip gebaut ist, anders als es ihre Religion suggeriere:

„vielmehr heben sich einzelne Gemeindemitglieder durch Wissen, Reichtum und Alter heraus.“99

Dies wiederum koppelt er an den Grund, warum viele Juden sich intellektuell entwickeln wollen.

Sie tun dies, weil sie damit, wie schon erwähnt, mehr Macht und Reichtum erlangen können.

Diese Begriffe von Reichtum und Wissen koppelt er wieder an etwas anderes. Seraphim stellt mit

seinen eigenen Daten fest, dass Juden sehr verschiedene Berufe ausüben. Laut Seraphim sorgt der

Drang nach Reichtum in Kombination mit dem Wissen dafür, dass sie sehr flexibel sind. Aber dies

sieht Seraphim nicht als etwas Positives, da ‘der’ Jude damit wie folgt beschrieben wird.

Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 629.97

Ibidem 629.98

Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 201.99

�39

Page 42: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

„in alle Poren des wirtschaftlichen Organismus eingedrungen, er ist beruflich atomisiert und

Schankwirt, Kleinhändler, Wechsler oder Hausierer und Handwerker oder Makler und

Wucherer in einer Person. Er ist proletarisiert in des Wortes weitester Bedeutung; er lebt

von der Hand in den Mund, er lebt von Luft, ergreift alle Berufe - und bleibt doch absolut

beherrschend für den Gesamtmechanismus der Wirtschaft.“ 100

Seraphim verbindet dies mit seinen eigenen Behauptungen über die Juden, dass es bei diesen an

einer Bindung an einen ‚Raum‘ fehlt, in dem sie leben, und dass es deswegen leichter ist, als

jüdischer Händler vom Kohlenhandel zum Eieraufkauf zu wechseln.

Wie schon erwähnt, sagt er, dass die Juden als Nomaden gelten – oder besser gesagt – als

Menschen mit hoher ‚Mobilität‘. Diese Mobilität verbindet er mit seiner Behauptung, dass die

Juden sich einfach anpassen können, weil sie sich nicht mit dem ‚Boden‘ – mit dem Land, der

Kultur und den Menschen, wo sie leben oder herkommen – verbinden:

„Der Jude auf dem Lande war von vornherein ein auf dem Lande wohnender Städter. Er

braucht nicht wie der Bauer sich von einer ihm familienhaft oder sippenmäßig festhaltenden

Umgebung zu lösen, nicht einen Berufswechsel vorzunehmen. Für den Juden war die

Verpflanzung vom Lande in die Stadt nichts anderes als ein Wohnortwechsel, nicht mehr als

eine Geschäftsverlegung.“ 101

Er betont diese Mobilität erneut, indem er sagt, dass „die Juden als Handeltreibende und daher als

leicht bewegliches Element durch Wohnsitzwechsel zugleich schwerer erfaßbar sind als etwa

organisierte Handwerker oder bodengebundene Landwirte.“ Der Jude sei „überall ein 102

Fremder“. Er is laut Seraphim wurzellos:

„Dem Gastvolk gegenüber ist der Jude immer fremd, als Ersatz dafür ist es aber in seinem eigenen

Volke überall zu Hause […] der Jude, der an sich überall ein Fremder ist, innerlich nicht irgendwie

bedeutsam an der Umwelt als solcher interessiert […]“103

Seraphim sagt, dass ‘der’ Jude nicht mit der Scholle verbunden ist. Auch hier kommt die Rolle eines

Juden als Parasit im Gastvolk deutlich zum tragen, da ein Parasit von den anderen lebt und daher

Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 76.100

Ibidem 326-327.101

Ibidem 282.102

Ibidem 327- 328.103

�40

Page 43: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

von Veränderungen nur wenig betroffen ist. So meint Seraphim, dass ihre Flexibilität den Juden bei

einer schlechten Wirtschaftslage Vorteile geben würde, weil sie sich leicht umstellen könnten.

„Seine gekennzeichnete ‘Allgemeine Berufslabilität’ seine Wendigkeit und Anpassungsfähigkeit

[…]. Der Jude besitzt ein “allseitiges” Handelstalent, er wird in der Regel bei einem Wechsel der

Konjunktur leicht in der Lage sein, sich umzustellen […]“104

Kennzeichnend ist die Aussage von Seraphim am Anfang vom vierten Teil des Buches, Kapitel 3

Die Juden und das Geistesleben in Osteuropa. Hier bezichtigt er die Juden, nach einer langen

Isolation aus dem Geistesleben ihrer Umweltvölker im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts

in die Sphäre des geistigen Lebens ihrer Umwelt eingedrungen zu sein. Diese Entwicklung kam 105

in Gang, indem es am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts zu einer Verallgemeinerung des

Schulzwanges kam und einen ‘Zudrang’ von Juden zu den staatlichen nichtjüdischen Schulen und

noch mehr an den Hochschulen entstand. Diese für große Mengen jüdischer Akademiker, die zu –

hier zeigt Seraphim erneut seine raffinierte Weise, zwischendurch suggestive Behauptungen zu

machen, die er für objektiv hält – „eine[r] außerordentliche[n] jüdische[n] Überfremdung der

Hochschulen“ führte, „die im Geistesleben oder in der Wirtschaft der Gaststaaten Unterkunft und

Betätigung suchen.“ ‘Überfremdung’ ist vor allem das Wort, das zeigt, wie er suggestiv die 106

negativen Folgen einer Immigration der Juden aufzeigt. Auch hier wird ‘der’ Jude indirekt als

unerwünscht gezeigt. Das Wort ‘Parasit’ wird auch hier nicht genannt, doch passt es zu Seraphims

Aussagen, da nur ein Parasit die Entwicklung eines ‘Gastvolkes’ hindern oder zerstören könnte.

Eine andere suggestive Aussage, wobei auch die Rolle des Juden als Parasit im Gastvolk deutlich

gemacht wird, wird im selben Kapitel gemacht. In diesem Teil werden die Änderungen der Macht

der Schlachta, des polnischen Adels, gegenüber dem polnischen König im 14. Jahrhundert

beschrieben. Seraphim stellt dabei fest, dass

„den Juden mußte naturgemäß viel daran liegen, die Fäden zur Krone nicht abreißen zu lassen, um

auf die Lage der Königsjuden direkt, auf die Lage der übrigen Judenschaft im gegebenen Falle in

Form einer königlichen Intervention einwirken zu können.“ 107

Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 630.104

Ibidem 631.105

Ibidem (1938) 506.106

Ibidem 189.107

�41

Page 44: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

Die Juden hatten sich laut Seraphim beim König eingeschmeichelt. Dabei suggeriert er eine

bestimme Abhängigkeit, die nur zum Überleben da war. Er erklärt auch, dass die Juden den

‘Wahlkönigen’ bei jeder Neuwahl viel Geld beschaffen konnten, um so die Wahlspesen bezahlen zu

können. Seraphim zeigt hier eine antisemitischen Stereotyp indem er sagt, dass ‘der Jude’ einen 108

bestimmten Machtopportunismus in sich trage. Diesen Machtopportunismus zeigt er auch an einem

anderen Beispiel. Bei der Schwedischen Okkupationszeit von Groß- und Kleinpolen im 17.

Jahrhundert urteilt Seraphim über die Juden:

„bemühten sich (die Juden) wie immer der momentan herrschenden Macht zu paktieren und zeigten

offen pro-schwedische Sympathien.“ 109

Was nicht direkt den Juden zugeschrieben wird, aber was auch ein sehr suggestives Beispiel ist,

wobei der Jude als ein Volk beschrieben wird, das versucht, andere Völker abzulösen, ist die

Erklärung von Seraphim, warum es in Osteuropa überhaupt so viele Juden gab. Er schreibt darüber:

„Das Vordringen der Juden im Bereich des wirtschaftlichen Sektor, die fast widerstandslose

Übereignung der wichtigsten Machtpositionen der Wirtschaft an die Juden sind zweifellos

keine zufälligen Erscheinungen, sondern eben eine Folge der Unterlegenheit des polnischen

Menschen gerade in dieser Richtung. Nicht nur weil der Jude gewandt, gerieben, zäh,

fleißig, zielstrebig war, sondern auch weil der Pole es in ungleich geringerem Maße war

übernahm gerade in Polen-Litauen der Jude die Führung und Lenkung der Wirtschaft.“110

Was am meisten an diesem Absatz auffällt, ist, wie kennzeichnend diese Aussage für Seraphims

Werk ist. Er gebraucht verschiedene subjektive Formulierungen für den Juden und die meisten sind

recht positiv: „gewandt, gerieben, zäh, fleißig, zielstrebig“. Doch zwischen diesen fünf subjektiven

Formulierungen gebraucht er das Wort ‘gerieben’, was eine kurze beiläufige Erwähnung eines

niederträchtigen Charakterzugs darstellt. Genau diese beiläufige Diskriminierung macht Seraphim auch mit den Fotos von

verschiedenen Typen von Juden, die er in seinem Buch zeigt. Im ersten Augenblick sehen diese 111

Fotos harmlos aus, da er auch schreibt, dass er begründen möchte, dass die Juden ein

Rassengemisch seien und es damit verschiedene Juden in der Welt gebe. Er sagt dazu, dass die

rassische Verschiedenheit der Ostjuden, durch Rassenkreuzungen und Mischungen hervorgerufen,

Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 45.108

Ibidem 190.109

Ibidem 546.110

Ibidem 64.111

�42

Page 45: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

„eine anthropologische Typenvielheit im Gefolge hat, die es verbietet, von einem bestimmenden

Judentypus zu sprechen“. Doch Seraphims Überschriften verurteilen die Juden zu einem 112

niederrangigen Volk, indem er sie in verschiedene Typen einteilt. Er nennt den orientalischen Typus,

den vorderasiatischen Typus, jüdische Fremdtypen, Mischtypen. Damit zeigt Seraphim mit seinen

Fotos eine Rassenanthropologie verschiedener Judentypen aus Nordostpolen, wobei äußerliche

Kennzeichen sehr deutlich gezeigt werden, die auch aus einem Buch über die Juden als Rasse

kommen könnten. Er versuchte immer, die Rassenanthropologie im Buch zu vermeiden, doch diese

Fotos widersprechen dem zum Teil. Er nutzt sie jedoch nicht, um die äußerlichen Merkmale der

Juden zu verdeutlichen oder zu erklären.113

Das umfangreiche Werk von Seraphim über die Juden in Osteuropa war unter anderem auch

besonders, weil es ein antisemitisches Werk war, das einen starken wissenschaftlich-soziologischen

Jargon hatte, was in der ‘Judenforschung’ auffiel. Diese Verschmelzung des nationalsozialistischen

Antisemitismus mit der Sozialwissenschaft war ein Kennzeichen von Seraphim. Weiter war das

Buch eine sehr präzise Arbeit bezüglich der Daten, was ihm durch seine Kenntnis der russischen

bzw. polnischen Sprache möglich war. Dabei hatte er auch mit seinem Opus Magnus ein Thema 114

gewählt, das sich seiner Zeit noch niemand zu seiner Zeit zugeeignet hatte. Die Beschreibungen 115

der inneren Organisation des Judentums, ihrer Verteilung im osteuropäischen Raum, ihrer Stellung

im Wirtschaftsleben, der Berufsgliederung und sozialen Lage und schließlich auch der antijüdischen

Bewegung in Osteuropa waren hier zentrale Themen. 116

Ein anderes Kennzeichen von Seraphim war die Art der Daten, die er in seinen Werken

gebrauchte. Sombart kritisierte sein eigenes Werk oft, weil es nach seiner Meinung an

verschiedenen statistischen Daten fehlte. Diese Daten wurden aber nach dem Werk von Sombart

gesammelt und waren in der Zeit von Seraphim reichlich vorhanden. Man könnte einfach 117

feststellen, dass die ‘Judenforscher’ in den 1930er Jahren viel mehr Daten zur Verfügung hatten als

ihre Vorgänger am Anfang des 20. Jahrhunderts, wodurch die Arbeit qualitativ besser wurde. Die

Werke von Seraphim waren durch intensive Textanalysen geprägt und enthielten dadurch eine

größere Anzahl vergleichender Texte und Daten als die früher verfassten Arbeiten von Sombart.

Diese Daten und Vergleichstexte waren oft von jüdischen Akademikern gesammelt worden; mehr

Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 412.112

Ibidem 64.113

Steinweis, Studying the Jew (2006) 146.114

Rupnow, ‘Judenforschung’ im Drittenreich (2009) 40.115

Rupnow, ‘Judenforschung’ im Drittenreich (2009) 271.116

Hans-Christian Petersen, ‘Ordnung schaffen’ durch Bevölkerungs verschiebung: ‘Peter-Heinz Seraphim oder der Zusammenhang zwischen 117

'Bevölkerungsfragen' und Social Engineering’ in: Historical Social Research (2006) vo.l 31, 298.

�43

Page 46: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

als die Hälfte der Quellen war ‚jüdisch‘. Auch das war eines der Kennzeichen von Seraphims Werk,

was aber auch gleichzeitig eine der Kritiken von Jozef Sommerfeldt war. Er erkannte das Werk von

Seraphim als Handbuch des Fachgebietes an. Doch er betrachtete es nur als Auftakt zu einer

fundamentalen Erforschung des Judentums in Osteuropa, da seiner Meinung nach zu viele jüdische

Quellen benutzt wurden. Wie der IDO selbst behauptete, sollte man jüdische Literatur und Quellen

möglichst ausschließen, um möglichst wenig unverfälschtes Material für eine Geschichte der

‘Judenfragen’ in Polen zu haben. 118

Seraphim gebrauchte viele Quellen, Texte und Daten, die jüdische Akademiker vor ihm

zusammengetragen hatten. Dies wird auch an den vielen Sätzen in seinem Werk deutlich, die

anfangen mit: ‚Nach Angaben jüdischer Quelle‘. An der Bibliographie kann man auch sehen, dass

ungefähr 61 % mit einem ‘J’ markiert sind und damit als Literatur von jüdischen Autoren

bezeichnet wurden. Dies war aber keine Ausnahme. Schon vor Seraphims großer Arbeit wurden 119

ausgerechnet jüdische Werke als Basis für die antisemitische Kritik an der jüdischen Rasse

verwendet. Was besonders war, war die Weise, wie Seraphim mit diesen Quellen umging. Viele der

jüdischen Werke wurden nach Seraphims Meinung aus einer zionistischen oder reformistischen

Sicht mit dem Ziel kreiert, die Lage der damaligen jüdischen Gemeinschaft zu verbessern. Die

tragische Ironie war aber, dass die Werke später gebraucht wurden, um den Antisemitismus

wissenschaftlich zu unterstützen. Nach Seraphims Angaben verbesserte er die Schlussfolgerungen

aus den von jüdischen Forschern gesammelten Daten, indem er sie neu interpretierte. 120

Um ein tieferes Verständnis von Seraphims Vorgangsweise bezüglich der jüdischen Quellen zu

erhalten, soll ein spezifisches Beispiel herangezogen werden: Der ‘Judenforscher’ verwendete viele

Werken von Arthur Ruppin (1876–1943), einem jüdischen Soziologen und Zionisten. Vor allem

wurde aus seinen Werken Juden der Gegenwart (1911) und Soziologie der Juden (1931) für Kapitel

5 Die Juden im Wirtschaftsleben der Völker Osteuropas zitiert. Was Seraphim anders machte als

seine Kollegen, war, dass er die Quellen von Ruppin mit großem Respekt behandelte, indem er ihn

als fähigen Wissenschaftler würdigte, der einen wichtigen Beitrag zur jüdischen Gemeinschaft

geliefert habe. Weiter vertraute er auf die Statistiken, die Ruppin ihm verschaffte. Dabei muss man

aber verstehen, dass die Daten gut zu den Überzeugungen und den ideologischen Interessen von

Seraphim passten. Er brauchte sie nicht auf irgendeine Weise zu kritisieren und konnte die Quellen,

Daten und statistischen Tabellen direkt verwenden, um zum Beispiel die ‘jüdische kapitalistische

Dominanz‘ in der osteuropäischen Gesellschaft zu zeigen. Doch wenn er die jüdischen Akademiker

Rupnow, ‘Judenforschung’ im Dritten Reich (2009) 159.118

Steinweis, Antisemtic Scholarship in the Third Reich and the Case of Peter-Heinz Seraphim (2003) 71.119

John Efron, Defenders of the Race: ‘Jewish Doctors and Race Science in Fin-de-Siecle Europe’ (Yale 1994) 169.120

�44

Page 47: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

oder Daten kritisierte, war die Kritik immer dieselbe: Man könne bei einer jüdischen Gemeinschaft

nicht von der Objektivität der Daten ausgehen. Im Gegensatz zu anderen ‘Judenforschern’

akzeptierte Seraphim die gesammelten Daten und Quellen, jedoch nicht die Erklärungen und

Schlussfolgerungen, die Ruppin aus seinen Daten zog. Seraphim betonte in seiner Einleitung, dass

er ohne die jüdischen Quellen nicht weit gekommen wäre und deswegen abhängig von den dort

enthaltenen Informationen sei, er jedoch nicht hinter den Schlussfolgerungen daraus stehe:

„Es ist darum doppelt notwendig, daß nichtjüdische Wissenschaftler sich der Bearbeitung

jüdischer Fragen zuwenden, will man endlich aus dem gerade durch diese Jüdischen

Schriftsteller eingefahrenen Gleis, aus der schematischen Vorstellungswelt herauskommen

und die geschichtlichen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Fragen, die mit dem

Judentum zusammenhängen, anders, neu und richtiger sehen als bisher.“121

In den Augen von Seraphim war Ruppin ein Gefangener seiner eigenen jüdischen ‘Brille’, von dem

nicht erwartet werden konnte, sich selbst zu korrigieren. Er akzeptierte bei Ruppin gefundenen

Quellen, interpretierte sie jedoch auf seine Weise, wobei er stets einen gewissen ‘Respekt’ für den

Wissenschaftler Ruppin behielt. Unter den ‘Judenforschern’ war dies eine Ausnahme. Dieses

‘schmematisches’ Denken war aber immerhin ein antisemitischen Vorurteil. Ein anderes Beispiel, in dem Seraphim sich als ‘Judenforscher’ im Gebrauch der Analysen eines

jüdischen Wissenschaftlers von anderen unterscheidet, ist das zweite Kapitel des dritten Teils in

seinem Werk Der Verstädterungsprozeß der Juden Osteuropas. Hier zitiert Seraphim Ruppin und

zieht seine eigenen Schlussfolgerungen aus der Geschichte. In diesem Teil geht es um die Folgen

der Modernisierung und die Konsequenzen der Urbanisierungsprozesse der Juden im 19. und

Anfang des 20. Jahrhunderts. Ruppin zieht dabei die Schlussfolgerung, die Urbanisierung habe

dafür gesorgt, dass es innerhalb der jüdischen Gemeinschaft nicht nur zu einer ,,Auflösung des

engen Gemeinschaftslebens’’ kam, sondern zu einem

„erleichterte[n] Zugang zu höherer Bildung, Anreiz zu gewagten Geschäften, Beschränkung der

Geburtenzahl, erleichterte[m] Verkehr mit Nichtjuden und Abkehr von der religiösen Tradition“.

Seraphim bestätigt dies und sagt, dass solche Schlussfolgerungen nicht an sich falsch seien:

„die genannten Folgen können eintreten, und sie treten auch in vielen Fällen ein“. 122

Aber er fügt hinzu, dass es noch zu einer anderen Schlussfolgerung komme, und zwar, dass die

jüdische Selbstkonzentration eine bestimmte Reaktion der ‘jüdischen’ Angst vor einem Verlust der

Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (Essen 1938) 9.121

Ibidem 354.122

�45

Page 48: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

eigenen Kultur durch Assimilation an andere Bevölkerungsgruppen sei und dies in der Bildung

ethnischer Ghettos in den großen städtischen Gebieten resultiere.123

„Das Getto - natürlich im Sinne einer durchaus freiwilligen jüdischen Wohngemeinschaft -

ist die unbewußte Abwehrmaßnahme der Juden gegen die Gefahr der Auflösung der

religiösen Tradition, der jiddischen Sprache, des jüdischen Volkstums. Wanderung und Getto

sind die zwei Seiten des jüdischen Lebens - nicht nur äußerlich im Sinne der Bewegung und

der Siedlungsform des jüdischen Volkes, sondern auch innerlich im Sinne der

Assimilationsgefahr und der Assimilationsabwehr“124

Seraphim bestätigt also die Schlussfolgerungen von Ruppin und behauptet zudem, dass Angst ein

wichtiger Faktor für die Ghettoisierung sei. Diese Weise, wie er mit dem Material von Ruppin

umgeht, ist kennzeichnend für seine ‘Judenforschung’. Das Konzept des osteuropäischen Ghettos war ein wichtiger Teil von Seraphims Arbeit,

schon bevor die Nationalsozialisten 1939 über eine mögliche Ghettoisierung der polnischen Juden

sprachen. Seraphim kam zu dem Ergebnis, dass genau diese Ghettos die Basis sowohl auf ethnisch-

wirtschaftlicher als auch auf kultureller Ebene für die jüdische Expansion waren. Er betonte, dass 125

‘normalerweise’ eine Urbanisierung einer ethnischen Gruppe eine auflösende Wirkung für

bestimmte traditionelle Strukturen hätte. Doch bei den Juden sei das Gegenteil der Fall. Die 126

Juden waren für Seraphimein städtisches Volk, das nicht in einem bestimmten ‚Boden‘ verwurzelt

war, wodurch die Urbanisierung in Kombination mit der Ghettoisierung die ethnische Gruppierung

verstärkte. Mit dieser Behauptung und mit den Quellen von Ruppin versuchte Seraphim zu zeigen

und zu betonen, welche Gefahr eine jüdische Urbanisierung für die nichtjüdische Bevölkerung in

diesen Regionen bedeuten würde. Er gab zu, dass ein Teil der Assimilation der Juden schon 127

stattgefunden hatte, doch er wollte die Schlussfolgerungen Ruppins umdrehen und benutzte dessen

eigenen Statistiken, um zu beweisen, dass sich die meisten osteuropäischen Juden nicht assimiliert

hatten. Während Ruppin, der Zionist, argumentierte, dass die Assimilation mit Nichtjuden für die 128

Juden schlecht sei und schon häufig stattgefunden habe, sagte Seraphim, dass die semitische Kultur

schlecht für die deutsche Bevölkerung war. Damit behauptete Seraphim, dass die Assimilierung

Steinweis, Antisemtic Scholarship in the Third Reich and the Case of Peter-Heinz Seraphim (2003) 74.123

Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 355.124

Ibidem 355.125

Ibidem 355-356.126

Steinweis, Antisemtic Scholarship in the Third Reich and the Case of Peter-Heinz Seraphim (2003) 75.127

Steinweis, Studying the Jew (2006) 147.128

�46

Page 49: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

eher umgekehrt stattgefunden habe. Die jüdische Gemeinschaft als Minderheit war schlecht für die

deutsche Identität.

„In diesem Sinne, nicht aber in architektonisch-städtebaulicher Hinsicht, kann von einer

unverkennbaren und nachhaltigen jüdischen Beeinflussung der osteuropäischen Stadt gesprochen

werden.“129

Auch hier gebraucht Seraphim die Daten und Quellen der jüdischen Wissenschaftler, gibt ihnen

aber eine eigene Wendung, indem er neue Schlussfolgerungen zieht.

Ähnlich war die Analyse zur Frage, warum die Juden im ‘Allgemeinen’ eine gewisse ‘Dominanz’ in

der kommerziellen Wirtschaft von Osteuropa hatten. Diese Frage beantwortete Ruppin, indem er

schrieb,

„dass die Juden im Grunde ein lebensbejahendes Volks seien, jedenfalls im Gegensatz zu den

minder lebensfrohen nordeuropäischen Völkern“. 130

Ruppin behauptete, dass der Kapitalismus zur Natur der jüdischen Kultur gehöre. Seraphim

hingegen behauptete, dass eine jüdische Abneigung gegen die körperliche Arbeit eine weitaus

wahrscheinlichere Erklärung sei.131

„Wir zeigen auf, daß die Gründe, die den Juden zum Handelsberuf treiben, zweifellos in der

Abneigung gegen körperliche Arbeit in dem ihm immanenten Erwerbstrieb, seiner

Risikofreude, Wendigkeit und Anpassungsfähigkeit liegen, daß er zugleich auch nach Anlage

und Tradition zu diesem Beruf besonders geeignet ist.“132

Eine ähnliche Vorgangsweise, wobei er die Dateninterpretation jüdischer Wissenschaftler korrigiert,

ist die Beschreibung der Gründe für die Auswanderung der Juden nach Osteuropa. Er ist mit der

Meinung der jüdischen Historiker einverstanden, dass der Osten die jüdische Migration sehr

geschätzt habe. Diese Region war sehr ‘judenfreundlich’ und war von den gelegentlichen Tumulten

und Judenvertreibungen, die es in Frankreich und Deutschland gegeben hatte, verschont. Seraphim

stellt aber noch etwas anderes fest und fügt hinzu, dass sie nicht nur deswegen in den Osten

umzogen. Neben diesem Motiv solle es auch unter anderem in Deutschland und Frankreich

Reaktionsbewegungender Landbevölkerung gegen die Juden mit dem Grund, mit der ‘unerträglich

Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 372.129

Ibidem 628.130

Steinweis, Antisemtic Scholarship in the Third Reich and the Case of Peter-Heinz Seraphim (2003) 75.131

Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 629.132

�47

Page 50: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

empfundene wirtschaftliche Machtstellung der Juden’ unzufrieden zu sein, gegeben haben. Mit 133

dieser Feststellung von Seraphim versucht er eine Rechtfertigung oder Relativierung für die

Demonstration und Judenvertreibungen in diesen Ländern, indem er schreibt, dass es hier um eine

unerträgliche Macht gegangen sei.

Ähnlich agiert Seraphim auch im ersten Teil des Buches Kapitel 5, in dem er das Wachsen

der katholischen Aktivität sowie die Reformation und die Gegenreformation im 17. und 18.

Jahrhundert in Osteuropa beschreibt. Er zeigt diese Entwicklungen als eine Bedrohung für die

fremde jüdische Religionsgemeinschaft. So kam es oft zu antijüdischen Kundgebungen und

Ritualmordprozessen. Er beschreibt, wie die Juden sich gegen diese Prozesse und Verurteilungen

wehrten, indem sie unter anderem den Papst gegen die polnischen Bischöfe mobilisierten. Seraphim

verurteilt diese Handlung der Juden, indem er sie der Geziertheit bezichtigt. Neben den Juden

wurden auch andere Religionsgemeinschaften wie Griechisch-Orthodoxe, Lutheraner oder andere

außerkirchliche Sekten von der Geistlichkeit angegriffen und diese Dissidenten waren laut

Seraphim „noch schlimmer dran als die Juden. […] Sie konnten sich nicht an den Papst in Rom

wenden und um Abhilfe bitten, sie sind auch nicht wie die Juden als Gutsverwalter, Pächter,

Händler und Vermittler den Schlachtizen und den Bischöfen als Grundherren unentbehrlich.“134

Die Juden konnten diesen Verfolgungen oft wegen ihren wirtschaftlichen Machtpositionen

entkommen, so Seraphim. Doch dieses Bild hätten die jüdischen Historiker nie gezeichnet, da sie

mit dem Überreichen der Prozessakten und des Flugschriftenmaterials das Bild schufen, als ob die

Juden zwei Jahrhunderte lang unaufhörlich verfolgt und verhetzt worden seien. Damit haben sie laut

Seraphim die Welt des 19. und 20. Jahrhunderts mit Hilfe der Geschichtsschreibung glauben lassen,

dass die Juden durch die Misshandlungen oder Ermordungen ihrer Glaubensgenossen sehr gelitten

hätten. Laut Seraphim behaupten die Juden, dass Antisemitismus in der Geschichte der Juden

bedeuten sei, doch es fänden sich auch Kompromisse mit den Regierungen und den Eliten. Damit

stellt Seraphim die Juden als opportunistisch und schlau dar. Sie versuchten, sich jede Umgebung so

zu gestalten, dass es zu ihrem eigenen Vorteil führte. Dies konnten sie auch, da die Juden laut

Seraphim keine bestimmte Weltanschauung hatten, wodurch sich der Vorteil ergab, sich einfach zu

ihren eigenen Gunsten anpassen zu können.

Seraphim sagt weiter, dass der Jude das Wissen sehr hoch schätze, und er ist mit den

jüdischen Historikern einverstanden, dass die Juden im Allgemeinen hochgebildet seien. Doch er

koppelt an dieses Streben nach Wissen ein sehr hinterlistiges Kennzeichen des Juden und stellt fest:

Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 26.133

Ibidem 60.134

�48

Page 51: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

„Jüdische Soziologen sprechen die Tatsache des verstärkten Zudranges der Juden Osteuropas zu

der höheren und Hochschulbildung als immanenten Lerntrieb dieses Volkes an, das damit

intellektuell eine höhere Stufe einnehme als die sie umgebenden Gastvölker.“135

Laut Seraphim macht dies der Jude nur, um mehr wirtschaftliche Erfolge, einflussreiche Berufe und

damit mehr Macht zu bekommen.

„Die Eignung der Juden gerade für einige dieser Berufe soll nicht bestritten werden, aber

unbezweifelbar bleibt doch, daß der Wunsch, zu Macht und Einfluss zu gelangen, das

Bildungsstreben der Juden kräftig angereizt hat.“136

Seraphim kreiert auch hier einen ‘neuen’ Blick auf bestehende Aussagen von verschiedenen

jüdischen Soziologen. Sie sprechen von der Tatsache, dass die Juden im Allgemeinen hochgebildet

sind und dass sie deshalb in den Gebieten Osteuropas eine höhere Stufe als die umgebenen Völker

einnehmen. Seraphim bestätigt dies, sagt aber, dass es einen anderen Grund gibt, warum sie diese

wichtigen Plätze in der Wissenschaft und im Intellektuellen einnehmen. Sie begehrten die Macht

und wollten nach Seraphims Argument mit diesem ‘Wissen’ die Macht nehmen, um wirtschaftliche

Erfolge und einflussreiche Berufe zu bekommen. Sie täten es nicht wegen der Wissenschaft oder

wegen des Strebens nach mehr Wissen über die Welt, sondern weil sie sich mit dem Wissen die

Macht für ihr eigenes Volk aneignen können. 137

Damit haben die Juden für die anderen Völker und Gastvölker laut Seraphim

„die spezifischen Eigenheiten ihrer Geisteshaltung und ihrer Denkweise als bestimmendes Moment

in das geistige Leben dieser Gastvölker hineintragen, zumal die den intellektuellen Schichten

angehörenden Juden sich ihrer Umgebung auf das vollständigste äußerlich anzupassen bestrebt

sind.“138

Weiter sagt er, dass die Juden, wie die jüdischen Soziologen erwähnen, ein intellektuelles Volk sind.

Doch Seraphim meint mit intellektuell nicht etwas Besonderes, sondern eher etwas Schlechtes. Die

Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 504.135

Ibidem 505.136

Ibidem 505.137

Ibidem 505.138

�49

Page 52: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

Deutschen waren laut Seraphim geistig und schöpferisch, die Juden waren im Gegensatz dazu nur

intellektuell. Sie waren gelernt, konnten aber selbst nichts Neues schöpfen. 139

Das Kapitel über die ‘Ostjuden’ zeigt noch andere Beispiele für Seraphims Gebrauch der jüdischen

Quellen. Auch in diesem Kapitel benutzte er die Quellen der jüdischen Gelehrten zum Beweis

seiner Behauptungen, und um darzulegen, dass man von einer ‚jüdischen‘ Rasse sprechen könne.

Ein Beispiel ist eine Fußnote zu Beginn des Kapitels, in der er eine Diskussion der jüdischen

Gelehrten Elias Auerbach, Ignaz Zollschan und Samuel Weissenberg erwähnt. Sie diskutieren die

Frage, ob die Juden nur eine einzige Rasse darstellten oder eine Mischung aus verschiedenen

Rassen seien. Sie verwenden als Beispiel die ‘aschkenazischen’ Juden, die größte sich

unterscheidende Gruppe innerhalb des Judentums, und stellen fest, dass verschiedene Quellen

darauf hinweisen, dass es um ein ‘Rassengemisch’ ginge:

„[…] weisen auf die vielseitigen europäischen und außereuropäischen Rassenkomponenten der

aschkenazischen Juden hin, und Spidbaum erklärt die Juden Osteuropas für ein ausgesprochenes

Rassengemisch.“140

Seraphim zieht daraus seine Schlussfolgerung und behauptet, dass diese Auffassung unter den

jüdischen Rassenforschern allgemein anerkannt sei, woraufhin er das Buch Stammeskunde der

Juden (1925) des jüdischen Sprachwissenschaftlers Sigmund Feist (1865–1943) zitiert, um seine

Aussage zu bestätigen:

„die Aschkenazischen Juden eine Mischung verschiedenartigster Menschenarten darstellen, die

durch eine gemeinsame Kultur und übereinstimmende Lebensbedingungen zu einen Typus

verschmolzen sind, der äußerlich eine gewisse Gleichmäßigkeit zeigt, in der die grundlegenden

Verschiedenheiten seiner einzelnen Komponenten für den oberflächlichen Betrachter verwischt

werden.“141

Er gebraucht also die jüdischen Akademiker und die jüdischen Quellen, um die Rassenlehre der

Nazis zu untermauern, und zeigt, dass die Juden sich selbst bereits einer bestimmten

Rassenkategorie zuteilten.

Weiter fällt auf, dass Seraphim beim Nachweisen der Rassenlehre die jüdischen Quellen gegenüber

den Quellen von anderen nationalsozialistischen Akademikern bevorzugt. Seraphim erwähnt viel

Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 505, 532.139

Ibidem 405.140

Ibidem 405-406.141

�50

Page 53: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

häufiger jüdische Quellen als zum Beispiel Quellen des Rassenforschers Hans Friedrich Karl

Günther (1891–1968), auch ‚Rassenpapst‘ oder ‘Rassengünther’ genannt, der einer der Begründer

der nationalsozialistischen Rassenideologie war. Es ist möglich, dass Seraphim die jüdischen

Quellen für zuverlässiger hielt als die von Günther und dass er als ‘Wissenschaftler’ so nah wie

möglich an den Quellen bleiben wollte. Steinweis behauptet aber, dass er vor allem den Punkt der 142

Nazi-Propaganda bestätigen wollte, indem er die in den 1930er Jahren verkündete Theorie, die

Juden hätten selbst ein starkes Rassenbewusstsein, beweisen wollte. Ein anderer Unterschied 143

zwischen Seraphim und den ‘gewöhnlichen Judenforschern’ war die Lösung, die er für die

‘Judenfrage’ fand. Wo andere ‘Judenforscher’ die Ghettoisierung unterstützten, war er der Meinung,

dass dies nicht die Antwort auf das ‚Judenproblem‘ sein könne. Die Ghettoisierung würde die

jüdische Gemeinschaft verstärken und am Ende auch die deutsche Bevölkerung beeinflussen. An

dieser Überzeugung hielt er lange Zeit fest und entwarf deshalb andere ‘Lösungen’ für die

‘Judenfrage’. So hatte er drei verschiedene Antworten:

„1. Ihre Dissimilierung ohne äußerlich-räumliche Ausgliederung aus dem Gastvolk. 2. Ihre Ghettoisierung, sei es in einzelnen Stadtghetti, sei es in einem Bereich Osteuropas, wohin

zunächst die Juden Osteuropas, in der Folgezeit die Juden Gesamteuropas zu überführen seien.

3. Ihre Entfernung aus Europa durch Einleitung einer planmäßigen Umsiedlungsaktion.“144

Er fügte hinzu, dass eine Dissimilierung keine Möglichkeit sei, da bei ihr:

„das Judentum als fremder Volkskörper erhalten bleibt, und zwar zwischen den bodenständigen

Völkern“.145

‘Der’ Jude würde damit nicht beseitigt und die ‘Judenfrage’ würde ungelöst bleiben.

„Soziale Verelendung und Umschichtung der Juden kann die Folge sein, keineswegs aber eine

physische Selbstauflösung des Judentums, denn Volkstod ist nie schneller Tod, sondern eine

Entwicklung von Jahrhunderten, zumal wenn es sich nicht um eine Volksgruppe von einigen tausend

oder zehntausend, sondern um 5,3 Millionen in Europa handelt.“146

Aly und Heim, Vordenker der Vernichtung (1993) 290.142

Steinweis, Antisemtic Scholarship in the Third Reich and the Case of Peter-Heinz Seraphim (2003) 79.143

Peter-Heinz Seraphim, Bevölkerungs- und wirtschaftspolitische Probleme einer europäischen Gesamtlösung der Judenfrage, in: Weltkampf 1 144

(1941), H. 1/2, 45.

Seraphim, Bevölkerungs- und wirtschaftspolitische Probleme einer europäischen Gesamtlösung der Judenfrage (1941) 45.145

Ibidem 45. 146

�51

Page 54: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

Dabei war die Ghettoisierung in Form einer Groß-Ghetto-Lösung mehr als Zwischenstation

gedacht, wobei Madagaskar als eine mögliche Endstation dargestellt wurde.147

Das große Werk von Peter-Heinz Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum, das kurz nach

der Erscheinung zum Standardwerk wurde, hat dazu beigetragen, dass Seraphim ohne Zweifel als

wichtigster ‘Judenexperte’ und ‘Judenforscher’ galt. Er wurde für verschiedene Konferenzen als 148

Sprecher engagiert und trat oft als Berater für wissenschaftliche Zeitschriften auf. 1940 wurde er

sogar zum Wirtschaftsberater der Rüstungsinspektion der Wehrmacht in Polen befördert und

knüpfte eine Verbindung zwischen der Wehrmacht und dem Institut für deutsche Ostarbeit, die

General-Gouverneur Hans Frank in Krakau gegründet hatte. Weiter veröffentlichte Seraphim 149

verschiedene Artikel und Monographien über die wirtschaftlichen Bedingungen im

Generalgouvernement. Er unterstützte Hans Frank in seiner Beschwerde über die Massen an Juden,

die in sein General-Gouvernement gebracht wurden, mit seinem ‘Meisterwerk‘ aus dem Jahr 1938,

worin er vor der radikalen Ghettoisierung auf deutschem Boden warnte. Hans Frank sah die

Probleme vor allem in der Infrastruktur. Die Verschiebung der Massen an Juden war für Seraphim

keine langfristige Lösung der ‘Judenfrage’, sondern verursachte eher größere Probleme in der

Zukunft. Damit machte er sich zu einem wichtigen und ‚außerordentlichen‘ nationalsozialistischen

‘Judenforscher’.

3.2 Einfluss der ‘Judenforschung’ von Peter-Heinz Seraphim auf die ‘Judenpolitik’ des Dritten Reiches

Peter-Heinz Seraphim war in verschiedenen Instituten tätig, etwa beim Institut für Deutsche

Ostarbeit in Krakau. Er war Schriftleiter der Zeitschrift Der Weltkampf und Leiter des Amtes für

Wehrwirtschaft und Rüstung sowie Direktor des Oder-Donau-Instituts. Bei einigen konnte er mehr

erreichen als bei anderen. In jeder Position vertrat Seraphim die Meinung, dass die ‘Judenfrage’

eine wichtige Frage für die Zukunft der Nationalsozialisten sei. Osteuropa sei ”in den ersten drei 150

Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in den Zustand einer Gärung und Zersetzung geraten” und habe

ein enormes Überbevölkerungsproblem, das unmittelbar mit dem ‘Judenproblem’

zusammenhinge. Er wollte für diese Problematik eine endgültige Lösung finden. Doch die Frage 151

ist, inwieweit er Einfluss auf die Beschlüsse über die Lösung der ‘Judenfrage’ nahm.

Seraphim, Bevölkerungs- und wirtschaftspolitische Probleme einer europäischen Gesamtlösung der Judenfrage (1941) 43.147

Aly und Heim, Vordenker der Vernichtung (1993) 290.148

Ibidem 100.149

Aly und Heim, Vordenker der Vernichtung (1993) 99.150

Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 224.151

�52

Page 55: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

Im Oktober 1940, ein Jahr nachdem die Deutschen in Polen einmarschiert waren, versuchte Hans

Frank Hitler davon zu überzeugen, dass die Lösung der ‘Judenfrage’ nicht in seinem

Generalgouvernement gefunden werden könne. Er versuchte, weitere Umsiedlungen zu verhindern,

weil die Anzahl der Juden zu groß werde. Zum gleichen Zeitpunkt veröffentlichte Peter-Heinz

Seraphim in der Vierteljahresschrift des Instituts für Deutsche Ostarbeit, Die Burg, den Text Die

Judenfrage im Generalgouvernement als Bevölkerungsproblem (1940). In dieser Zeitschrift 152

erklärte er, dass das Generalgouvernement “im Laufe des letzten Jahres gegen 350.000 Juden aus

den ins Reich rückgegliederten Gebieten übernommen” habe, und erklärte, dass dies in einem schon

‘judenübersättigten’ Gebiet zu viel sei, was in der Zukunft für große Probleme sorgen würde:

“und in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht eine schwere Belastung für das

Generalgouvernement bedeuten. Damit ist die ‘Judenfrage’… zu einem bevölkerungspolitischen

Massenproblem erster Ordnung geworden.”153

Seraphim empfahl daraufhin ,,weiterer Zuströme jüdischen Bevölkerungselements in den Raum des

Generalgouvernements” anzuhalten, und weiter, dass das Generalgouvernement damit selbst die

Chance bekam, eine Reinigung auf Volksebene durchzuführen, um es daraufhin wirtschaftlich zu

entwickeln. Unter anderem wegen dieser Arbeit wurde Seraphim Ende des Jahres 1940 als 154

Offizier des Kriegsverwaltungsrats der Rüstungsinspektion Ober-Ost von Hans Frank angestellt, mit

der Aufgabe sich sofort mit dem Überbevölkerungsproblem zu beschäftigen. Hans Frank konnte 155

die wissenschaftlichen Daten und Legitimationen gut für sein Bevölkerungsproblem gebrauchen.

Seraphim arbeitete in Krakau und war auch für die Beobachtung der Wirtschaftspolitik im

Generalgouvernement Polen zuständig. Er unterschrieb damals, als er in Krakau arbeitete, in

verschiedenen Untersuchungen “[…] dass Deutschland eines Tages eine konstruktive Lösung im

nationalsozialistischen Sinne finden wird […]” für die ‘Judenfrage’. Schon im März 1941 156

veröffentlichte Seraphim im Verlag des Instituts für Deutsche Ostarbeit in Krakau das Buch Die

Wirtschaftsstruktur des Generalgouvernements (1941), worin er eine grundlegende Umformung des

Generalgouvernements und eine Gesamtlösung der ‘Judenfrage’ im gesamten europäischen Raum

forderte. Dazu betonte er nochmals die negativen Folgen einer Ghettoisierung. Dieses Beispiel zeigt

Seraphim, Bevölkerungs- und wirtschaftspolitische Probleme einer europäischen Gesamtlösung der Judenfrage (1941) 63.152

Aly und Heim, Vordenker der Vernichtung (1993) 279.153

Aly und Heim, Vordenker der Vernichtung (1993) 279.154

Ibidem 101.155

Ibidem 221.156

�53

Page 56: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

offensichtlich nicht den Einfluss, den Seraphim auf die anti-semitische Beschlüsse’ hatte, sondern

vor allem seine Nützlichkeit für die NS-Judenpolitik. Er war nämlich in der Lage, relativ schnell

gründliche und scheinbar objektive Studien anzufertigen. Diese lieferten Informationen, aber auch

Munition für bestimmte Standpunkte wie denjenigen Hans Franks. Anders als Seraphim hätte ein

übermotivierter Nationalsozialist und ein fanatischerer Antisemit diese Rolle wahrscheinlich nicht

auf diese Weise erfüllen können. Für den Naziführer in dem Generalgouvernement Polen war die Ghettoisierung der jüdischen

Bevölkerung von Anfang an eine Übergangsmaßnahme. Auch er war sich dessen bewusst, dass die

Bewachung und Versorgung der eingesperrten Juden auf Dauer für große Probleme sorgen würden,

wie Peter-Heinz Seraphim schon in seinem Werk von 1941 betont hatte. Seraphim wusste aber

auch, dass das ‘Judenproblem’ eine sehr schwierige Angelegenheit war und nicht einfach zu lösen

war:

“Da das ‘Judenproblem’ in diesen Gebieten nicht nur eine Wirtschaftsfrage, sondern auch eine

bevölkerungspolitische Massenfrage ist, ist seine endgültige Lösung so sehr schwierig. Die

endgültige Lösung auch der osteuropäischen ‘Judenfrage’ kann sowohl im Interesse des

nichtjüdischen Bevölkerungsteiles wie im Sinne der Juden selbst, denen zur Zeit die wirtschaftliche

Basis in ihrem Wohngebiet fehlt, nur durch Einleitung einer planmäßigen Massenumsiedlung der

Ostjuden des großdeutschen Herrschaftsbereiches in ein überseeisches Wohngebiet der Juden

gesehen werden.”157

Die nationalsozialistische Führung hatte schon im Juni 1940 erwogen die territoriale Lösung der

jüdischen Frage in Madagaskar und im Lubliner Bezirk zu lösen. Diese Lösung erwähnte auch

Seraphim in seinem Werk Die Wirtschaftsstruktur des Generalgouvernements. Zwar sprach er

explizit über den Lublin-Plan und nicht ausdrücklich von Madagaskar, aber trotzdem sah auch er

die Auswanderung der Juden aus Europa als Teil der besten Lösung. Es sollte schon ein gutes

Gebiet sein, was keine entscheidende Rohstoffe besaß und dünn besiedelt war. Doch kurz 158

nachdem er die Arbeit über die Wirtschaftsstruktur des Generalgouvernements veröffentlichte mit

seinen Empfehlungen, waren die Projekte Madagaskar und Lublin bereits obsolet geworden. Vor

allem Madagaskar war keine Option mehr, weil es nicht mehr erreicht und erobert werden

konnte. 159

Peter-Heinz Seraphim, Das Judentum: ‘seine Rolle und Bedeutung in Vergangenheit und Gegenwart’ (München 1942) 52.157

Rupnow, Judenforschung im Dritten Reich (2009) 263.158

Ibidem 280.159

�54

Page 57: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

Diese Vorfälle, wobei Seraphim sowohl eine Lösung formulierte und wissenschaftlichen

Daten in sogenannten Studien anfertigte, in dem er unter anderem eine Isolierung der Juden in

Europa oder im Ostgebiet empfahl und das daraus folgende Scheitern dieses Plans zeigen vor allem

eines: Der Einfluss von Seraphim, trotz der wichtigen Positionen, die er bekleidete, auf die

nationalsozialistische Judenpolitik blieb beschränkt. Denn seine verschiedenen ‘wissenschaftlichen’

Warnungen und möglichen Lösungen der ‘Judenfrage’ konnten nicht befolgt werden, oder wurden

nicht als wichtig betrachtet. Ein anderes Beispiel für seinen Einfluss ist eine Reise im Auftrag von Rosenberg unter

anderem nach Litzmannsstadt. Seraphim sollte dort im März 1942 erforschen, ob es möglich und

sinnvoll wäre, im polnisch-russischen Grenzraum eine neue Siedlung für die europäischen Juden zu

errichten. Nach seinem Besuch und seiner daran gekoppelten Forschung in diesem Gebiet kam er zu

der Schlussfolgerung, dass dies unmöglich sei. Die bereits existierenden Ghettos blieben aber 160

noch mindestens bis 1944 bestehen. Auch dies zeigte den beschränkten Einfluss von Peter-Heinz

Seraphim auf die ‘Judenpolitik’ der Nazis, denn auch hier wurden die Empfehlungen nicht befolgt:

statt überseeischer Umsiedlungen wurde die Vernichtung der Juden als Lösung angestrebt. Schon

im Frühjahr 1942 gingen die Nationalsozialisten dazu über, keine Umsiedlungsszenarien mehr zu

verfolgen und stattdessen einen industriellen Massenmord einzuleiten. Der Auftrag, den er erhalten

hatte, war also von Anfang an fragwürdig. Eine mögliche Absicht der Nationalsozialisten war, den

Status der existierenden Ghettos zu erfahren, ohne Verdacht auf einen zukünftigen Massenmord zu

erregen. Mit dieser Information konnte wahrscheinlich weiter überlegt werden, in welchem Ausmaß

die Massenvernichtung stattfinden sollte.

Doch abgesehen von den bereits genannten Argumenten und Gegenargumenten gibt es noch

mehr Möglichkeiten, um die Frage zu beantworten, ob Seraphim, wie Götz Aly und Susanne Heim

in ihrem Buch Vordenker des Vernichtung formulieren, ein Vordenker der Vernichtung oder ein

bloßer Beobachter der ‘Verschiebung’ der Juden war. Beispielsweise ist festzustellen, dass der Höhepunkt seiner Karriere in der Nazizeit lag und dass er

weder zuvor noch danach ein vergleichbar ‘erfolgreiches’ Material geschaffen hatte. Die

Nationalsozialisten gaben ihm die Möglichkeit, seine eigenen Forschungen auszudehnen. Im

Gegenzug trug Seraphim mit seinen wissenschaftlichen Untersuchungen dazu bei, die mörderische

Judenbeseitigung zu rechtfertigen. Auch dies war jedoch nur indirekt und zeigt keine 161

unmittelbare Verbindung zum Massenmord. Ein anderes auffallendes Beispiel die eine direkte Verbindung zu der Beseitigung des

Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik (2007) 213.160

Ibidem 352.161

�55

Page 58: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

Judentums zeigt, sind die Formulierungen über die neue Strukturierung von Osteuropa in Das

Judentum im osteuropäischen Raum. Darin schrieb Seraphim, dass der Osten eine Tabula Rasa sei,

deren Grenzen nicht bekannt seien, weshalb dieser ohne Rücksicht auf Konsequenzen erforscht und

neu strukturiert werden müsse. Diese Großraumideen, die Seraphim in seinem Werk über die 162

Neuordnung des Ostens aussprach, waren für die Nazis eine Bestätigung, um verschiedene große

Projekte im Osten ausführen zu dürfen, wie zum Beispiel den Bau eines Oder-Donau-Kanals 1939.

Seraphim lieferte für die Nationalsozialisten mit seinen Werken interessante und verlässliche Daten

über soziale und wirtschaftliche Strukturen im Osten mit dem Ziel, diesen neu zu strukturieren und

das Land für Umsiedlungen zu gebrauchen. An diesem Beispiel sieht man seine Nützlichkeit für die

NS-Judenpolitik und kann Seraphim vorwerfen, ein Vordenker für die nationalsozialistische Politik

gewesen zu sein. Auch die Vorstellungen in seinen Texten über das Judentum als einer Gefahr und

Begriffe wie “Massenfrage” und “Entleerung” beförderten die staatlichen Propaganda und stellten

die Juden als ein rein quantitatives ‘Problem’ dar. Sie liefern aber keine direkte Beweise für einen

direkten Einfluss auf deren Vernichtung. Hans Christian Petersen ist der Meinung, dass es nicht angemessen sei, Seraphim eine

direkte Schuld an der Vernichtung der Juden zu geben. Petersen sieht keine gerade Linie von

Werken, die das Streben nach Lebensraum legitimieren sollten, zur Lösen der ‘Judenfrage’ und dem

späteren Genozid, zumal von ihm selbst keine direkten Äußerungen zum Massenmord überliefert

seien. Dagegen gibt es Äuβerungen, die Seraphim als Gegner der Massenmorde im Osten zeigen,

beispielsweise, als er zum ersten Mal von den Ereignissen in der Nähe der westukrainischen Stadt

Rowno, dem Sitz der Rüstungsinspektion, erfuhr. Seraphim richtete sich kurz nach seinen

Erfahrungen in Dezember 1941 mit den Massenmorden an Georg Thomas (1890-1946), den Chef

des Wirtschafts- und Rüstungsamtes der Wehrmacht von Osteuropa. Er protestierte gegen die

Ermordung von “150.000 bis 200.00 Juden” und dagegen, dass dies “ohne Berücksichtigung von

wirtschaftlichen Konsequenzen durchgeführt worden seien”. Zwar wurde ein großer “Überflüssiger

Esser beseitigt”, doch dies stand nach Seraphims Behauptungen nicht im ‘Gleichgewicht’ mit der

wirtschaftlichen Konsequenzen. Weiter fand er es als Augenzeuge Massenerschieβungen “die 163

Methode dieser Handlungen, die die Menschen, die Alten, die Frauen und die Kinder aller Zeiten

umfaßte” erschreckend. Er verglich sie mit den Methoden, die bisher in der Sowjetunion 164

stattgefunden hatten, und behauptete, dass was in der Ukraine passiert war, viel schrecklicher und

grauenhafter war als das, was die Russen getan hätten. Dabei war er auch beunruhigt, dass diese Art

Aly und Heim, Vordenker der Vernichtung (1993) 346.162

Haar, Historiker im Nationalsozialismus (2000) 352.163

Rupnow, ;Judenforschung’ im Dritten Reich (2009) 268.164

�56

Page 59: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

von Tötungen, die vor allem von der deutschen Wehrmacht und ukrainischen Milizen erledigt

wurden, zu einer Verrohung der Truppen führen würde.165

Weiter sprach er auch über die möglichen negativen Konsequenzen der Eliminierung der

vielen Juden, die keine wirkliche Bedrohung für die deutsche Wehrmacht seien, und sprach davon,

deren Potenzial zu nutzen, indem man sie als produktive Fachkräfte einsetzte. Seraphim fragte sich:

“Wer soll in der ganzen Welt dann hier etwas Wertvolles produzieren?”. Seraphim wollte also 166

keine Erschießungen, nicht nur weil sie aus menschlichen und emotionalen Gründen negative

Folgen haben konnten für die Truppen, sondern auch und vor allem aus wirtschaftlichen

Erwägungen. Er empfahl darum: “Der Jude muß weichen, wenn ein gleichqualifizierter Nicht-Jude zur Verfügung

steht!167

Wenn man sich diese Äuβerungen ansieht, wird deutlich dass Seraphim kein Befürworter

der Judenermordung war. Aus diesen zugegebenermaßen skizzenhaften Beweisen kann man

folgern, dass Seraphim den Massenmord an den Juden eher problematisch fand, was zeigt, dass

seine Lösung der ‘Judenfrage’ differenzierter ist als eine einfache Beseitigung der Juden. 168

Die Wirklichkeit der ‘Endlösung’ schockierte ihn. Seine Förderung der physischen Beseitigung der

Juden aus Europa war also nicht als Gedanke eines Massenmordes zu verstehen. Ideen wie zum

Beispiel die überseeische Umsiedlung wäre für Seraphim weitaus sinnvoller gewesen. Diese verschiedene Aussagen, die Kritik an der Massenermordung, die nicht befolgten

Empfehlungen und die vielen indirekten Nutzungen der Daten von Seraphim durch die

Nationalsozialisten zeigen, dass Seraphim keinen direkten Einfluss auf die Lösung der ‘Judenfrage’

hatte. Man sieht, dass im Dritten Reich die wichtigen Entschlüsse nur von der Regierung getroffen

wurden und ‘wissenschaftlichen’ Vorschlägen oft nicht gefolgt wurde. Das zeigt zum Beispiel der

Vorschlag von Seraphim, die Juden an einen ausländischen Ort zu bringen, die von der Regierung

nicht übernommen wurde, indem schon 1942 einige Millionen Juden auf industrielle Weise

ermordet wurden. 169

Doch diese Schlussfolgerungen ändern nicht die Tatsache, dass Seraphim einen wichtigen

Anteil hatte am Prozess der nationalsozialistischen ‘Judenpolitik’. Er war zwar nicht direkt für die

Vernichtung verantwortlich, hatte aber einen massgeblichen Anteil am Prozess der Legitimierung

Rupnow, ‘Judenforschung’ im Dritten Reich (2009) 268.165

Ibidem 346.166

Rupnow, ‘Judenforschung’ im Dritten Reich (2009) 269. 167

Zitiert aus Peter-Heinz Seraphim, Bevölkerungs- und wirtschaftspolitische Probleme einer europäischen Gesamtlösung der Judenfrage (München 1943) 44.

Aly und Heim, Vordenker der Vernichtung (1993) 392.168

Steinweis, ‘Antisemtic Scholarship in the Third Reich and the Case of Peter-Heinz’ (2003) 77.169

�57

Page 60: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

des ‘Judenproblems’ und damit auch an der Vernichtung der Juden in Europa. Er sorgte dafür, dass

das ‘Judenproblem’ nicht nur ein abstraktes soziales Problem im Unterbewusstsein der Bevölkerung

blieb, sondern ‘objektivierte’ und ‘legitimierte’ dieses Problem auch, indem er als

‘wissenschaftlicher Experte’ von der Gemeinschaft eine ‘Lösung’ für das ‘Judenproblem’

verlangte. Der Ostforscher Seraphim hatte die Lösung des ‘Judenproblems’ in 170

Zwangsumsiedlungsszenarien außerhalb des Dritten Reiches gesehen, so dass die Vermischung mit

dem deutschen Volk vermieden werden konnte. Er zeigte damit aber den ersten Schritt in Richtung

einer zwangsläufigen Bereinigung. Dieser Schritt wurde praktischer, als er seine Arbeit im

Kriegsverwaltungsrat der Rüstungsinspektion fortsetzte und sich direkt mit den Umsiedlungsplänen

beschäftigte. In dieser Funktion stellte er sich nie die Frage, welche Folgen die zwangsläufige

Umsiedlung von Millionen von Menschen und die ‘Entjudung’ der Städte haben würde. Ihm konnte

nicht entgangen sein, dass dies nicht ohne Verlust an Menschenleben möglich wäre. Zudem

bedeutete die Idee der Massenumsiedlung eine Entmenschlichung der Betroffenen, indem diese

nicht als Individuen, sondern als quantitative Einheit betrachtet wurden. Er mag nicht an 171

Massenvernichtung gedacht haben, trug aber “unzweifelhaft zu der ‘Legitimierung’ der Ermordung

bei”. 172

Doch nicht Seraphims Legitimierung allein machte ihn verantwortlich für die

Massenvernichtung der Juden. So könnte man sagen, dass er nicht auf dem Laufenden war von der

eigentlichen Situation der Juden. Diese Argumentation geht aber für Seraphim nicht auf. Es gab

nämlich verschiedene Sitzungen der Abteilung Bevölkerungswesen und Fürsorge der Regierung des

Generalgouvernements von Polen, die die Lebensbedingungen der Juden zum Thema hatten. 173

Auch Seraphim nahm an Gesprächen mit der Abteilung mit Vertretern von jüdischer Organisationen

wie zum Beispiel der Jüdischen Sozialen Selbsthilfe (JSS) teil. Deshalb musste er sich darüber im

Klaren sein über die Situation der Juden, die von den Nationalsozialisten verschleppt wurden.

Seraphim nahm in einer Zeitspanne von April bis Mai 1940 teil an diesen Konferenzen. Die 174

Sitzungen fanden nach dem Überfall auf Polen statt und waren zusammen mit der von Himmler

geführten Festigung des deutschen Volkstums verantwortlich für die Zwangsumsiedlungspolitik. Bei

den Gesprächen wurde oft von der JSS wiederholt, dass die Mittel zur Ernährung der jüdischen

Bewohner fehlten. Aus den Notizen von Anfang Juli 1940 von der Leitung der JSS kann der

Aly und Heim, Vordenker der Vernichtung (1993) 486.170

Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik (2007) 352.171

Aly und Heim, Vordenker der Vernichtung (1993) 486.172

Ibidem 171.173

Ibidem 171.174

�58

Page 61: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

folgende Satz zitiert werden: “Wenn wir nicht in allernächster Zeit Hilfe erhalten, sind wir von

einem Zusammenbruch bedroht.” Auch ein Besuch in April 1940 zusammen mit den Präsidenten 175

der JSS Michael Weichert und Fritz Arlt in Kasimierz, ein Stadteil von Krakau wo viele Juden zu

damaligen Zeit wohnten und wohin weitere verschleppt wurden, zeigt, dass Seraphim sehr genau

informiert war über die Lage der jüdischen Bevölkerung. Ihm musste sowohl bei den Gesprächen

als bei dem Besuch im Stadtteil deutlich geworden sein, wie die Umstände der jüdischen Bewohner

waren. Er konnte mit eigenen Augen sehen, welche Folgen seine Formulierungen über die Juden als

überschüssige Bevölkerung hatten.

Auch Henrik Eberle in seiner Geschichte der Universität Greifswald im Nationalsozialismus

behauptet, dass Seraphim sehr wohl von der Situation der Juden wusste. So schreibt er, dass

Serpahim nach seiner Rückkehr in Januar 1942 aus Rowno nach Greifwald

“weiter publizierte über die Gesamtlösoung der Judenfrage obwohl er vom Genozid an den Juden

in Osteuropa wusste und “sogar auf Grund seiner statistischen Kenntnisse dessen Dimension

abschäten konnte”.176

Dabei blieb er bei seinem Standpunkt, die Lösung der ‘Judenfrage’ in einem Groß-Ghetto finden zu

können. Eberle geht noch ein Stück weiter, indem er sagt, dass er diese Lösung für sich selbst nach

dem Besuch an Rowno als Lüge präsentierte und behauptet:

“Da Seraphim wusste, dass es dazu nicht kommen konnte, weil der Völkermord bereits stattfand

kann das nur als vorsätzliche Verschleierung des Holocaust gedeutet werden.”177

Dan Michman argumentiert:

“Leider verfügen wir nicht über einen hieb- und stichfesten Beweis – ein von Heydrich oder einem

seiner engsten Mitarbeiter verfasstes Dokument oder eine Denkschrift, aus der eindeutig

hervorginge, dass ranghohe Mitarbeiter im Judenreferat in Berlin das Buch Seraphims gelesen

haben.”

Doch fügt er hinzu:

“Dennoch können wir dies indirekt schließen, zum einen aus Heydrichs Ausführungen während der

Besprechung vom 12 . November 1938 und aus der dokumentierten Benutzung des Buchs durch NS

-Amtsträger in Polen ein Jahr später.”178

So sagt er, dass Heydrich seine Auffassungen über die Juden-Ghettos, verändert hatte in November

1938:

Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik (2007) 172175

Hernrik Eberle, "Ein wertvolles Instrument": Die Universität Greifswald im Nationalsozialismus (Köln 2015) 432.176

Eberle, "Ein wertvolles Instrument” (2015) 432.177

Michman, Angst vor den ‘Ostjuden’ Die Entstehung der Ghettos während des Holocaust (2011) 46.178

�59

Page 62: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

“Als Heydrich sich im November 1938 gegen die Entwicklung (oder Schaffung)gegen die

Entwicklung (oder Schaffung) von Judenghettos in Deutschland aussprach, vertrat er eine Position,

die scheinbar seiner eigenen Initiative vom Februar 1937 widersprach, rechtliche Schritte für die

Schaffung eines »Ghettos« einzuleiten.”179

Michman behauptet das “Die einzige Erklärung für diesen Sinneswandel” sei, dass Heydrich unter

dem Einfluss der eingereichten Denkschriften von der Gestapo seine früheren Ideen revidierte. Eine

dieser Denkschriften sollte höchstwahrscheinlich auch die von Seraphim sein. Laut Michman wurde

nämlich zur selben Zeit das Werk Das Judentum im osteuropäischen Raum ausgegeben. Dies ist

eine interessante Beziehung, aber eine sehr indirekte, die, wie Michman selbst bestätigt, nicht

nachzuweisen ist. Michman hat aber weitere Beweise für den Gebrauch von Seraphims Daten für die Beseitigung des

Judentums. So sieht er

“eindeutige Belege, dass dieses Buch vom ersten Tag der Besatzung an den Beamten der

Militärverwaltung als Arbeitsgrundlage diente”180

So wurde im Spätfrühling 1939

“allgemein verständliche Versionen der Ansichten Seraphims und seiner Kollegen an Soldaten,

Beamte der Militärverwaltung in Polen und andere verteilt.”181

Auch werden interessante Punkte genannt, doch konkrete Beweise, was mit diesen Ansichten getan

wurde, gibt es nicht.

Ein ähnliches Argument macht Michman, indem er schreibt über eine im März 1941 in

Frankfurt am Main abgehaltene Konferenz zur Eröffnung des Instituts zur Erforschung der

‘Judenfrage’. Seraphim hielt dort einen Vortrag zum Thema Bevölkerungs- und

wirtschaftspolitische Probleme einer europäischen Gesamtlösung der Judenfrage, wobei drei

Schritte genannt wurden. Wie schon vorher erwähnt, waren dies: Dissimilierung, kurzzeitige

Ghettoisierung in Osteuropa und Entfernung aus Europa. Michman argumentiert, dass Rosenberg

“die Botschaft Seraphims (vernahm) und machte sie sich zu eigen”. Laut Michman wurde am 21. 182

April der Auftrag gegeben, Ghettos zu errichten in Krakau und Lublin, doch er kann hier die

Verbindung mit Seraphim nicht deutlich darstellen. Ghettoisierung war schon länger eine mögliche

temporäre Lösung der Nazis.

Michman, Angst vor den ‘Ostjuden’ Die Entstehung der Ghettos während des Holocaust (2011) 47.179

Ibidem 50.180

Ibidem 51.181

Ibidem 86.182

�60

Page 63: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

Götz Aly betont, dass es keinen Unterschied gebe zwischen jemandem wie Seraphim, der

entsprechende Massnahmen gegen die Juden forderte, Ideen über das Leben im Allgemeinen

publizierte und jemandem, der diese Maßnahmen selbst ausführte.183

“Beide Gruppen bedürfen jedoch unabdingbar einander, um den Arbeitsprozess zum gewünschten

Ergebnis zu bringen” 184

Damit formuliert Götz Aly ein wichtiges Argument zu der Schuldfrage von Peter-Heinz Seraphim,

nämlich dass seine Legitimierung des ‘Judenproblems’ und die Betonung der Beseitigung der Juden

aus Europa halfen, den Weg zum Völkermord vorzubereiten. Seraphims Arbeit unterstützte den

offiziellen wissenschaftlichen Antisemitismus und verschaffte diesem intellektuelle, soziale sowie

wissenschaftliche Legitimation. Hans Christian Petersen widerspricht dieser Aussage. Er bezweifelt,

dass Seraphim Aussagen in einem solchen Maß Einfluss gehabt haben. Das ist insofern plausibel,

als Seraphim keine direkten Kontakte zur SS hatte und lieber hinter seinem Schreibtisch sitzen blieb

als im Felde zu arbeiten.

Seraphim hat sich nach dem Krieg nie geäußert über die Schuld der Nationalsozialisten und

seinen eigenen Anteil daran. Stattdessen sorgte er dafür, dass er in die Gruppe V von ‘entlasteten’

oder in Gruppe IV als ‘Mitläufer’ eingestuft wurde, indem er sich unter anderem nach seiner Arbeit

in den USA als Ostexperte in Januar 1948 bei der Spruchkammer registrierte. Dafür nutzte er eine

Bescheinigung seines Vetters Reinhart Maurach, dass er als ständiger wissenschaftlicher Mitarbeiter

in dessen Sachverständigenbüro tätig gewesen sei – eine Darstellung die alles andere als richtig

war. Petersen behauptete, dass Seraphim diese Darstellung brauchte, weil er fürchtete nach der 185

Arbeit in den USA keinen Schutz mehr zu bekommen von den Amerikanern für seine

Vergangenheit. Dies schien zu funktionieren, denn fast ohne Probleme bekam er 1950 einen

Lehrauftrag für ‘Osteuropäische Wirtschaft’ an der Staatswirtschaftlichen Fakultät der Ludwig-

Maximilians-Universität München.

Doch 1959 war es die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), die Seraphim stark

angriff. Sie beschuldigten ihn, dass er zu

„den theoretischen Wegbereitern der Ausrottung der Juden des Ostens gehörte und darüber hinaus

in sehr praktischer Weise bei der Ermordung zehntausender jüdischer Kinder, Frauen und Männer

im Osten mitgewirkt hat.“186

Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik (2007) 352.183

Aly und Heim, Vordenker der Vernichtung (1993) 493.184

Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik (2007) 252.185

Ibidem 354.186

�61

Page 64: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

Daraufhin wurde er nochmals von der Spruchkammer untersucht, wobei neben seinen Werken auch

seine Reden analysiert wurden, wie zum Beispiel die Frankfurter Rede von 1941 März bei der

Eröffnung des Instituts zur Erforschung der ‘Judenfrage’. In dieser Rede spricht er von den

verschiedenen Möglichkeiten der Beseitigung der Juden. Zwei dieser Möglichkeiten seien

Vernichtung durch Arbeit oder aktive Verhinderung der Fortpflanzung der Juden. Doch die Frage 187

blieb aus der Sicht des Oberstaatsanwalts ob Seraphim physisch an der Endlösung teilgenommen

hatte, und dies war laut seiner Feststellung nicht der Fall. Trotz der antisemitischen Aussagen in

diesen Arbeiten und Reden stellte der Staatsanwalt fest, dass

„der Beschuldigte sich fast ausschließlich vom Standpunkt des wissenschaftlichen Forschers aus

mit dem jüdischen Problem, vornehmlich des Ostens, beschäftigt hat.“188

Weiter gibt er die folgenden Argumente warum er zu diesen Schluss kommt:

„Der Beschuldigte stellt in Abrede, in irgendeiner Form die gewaltsame Ausrottung der jüdischen

Bevölkerung im Osten gefördert zu haben. Er hat sich dahin eingelassen, dass er in Schriften und

Vorträgen die Probleme des Judentums im osteuropäischen Raum stets nur in der Form einer

exakten wissenschaftlichen Untersuchung behandelt habe. Mit der Judenpolitik Hitlers und ihrer

Praktizierung durch die Judenvernichtung habe er sich zu keiner Zeit beschäftigt und sie

infolgedessen nicht einmal theoretisch unterstützt. Soweit er während des Zweiten Weltkrieges

Vorschläge zur Lösung des jüdischen Problems im Osten gemacht habe, seien diese nicht darauf

gerichtet gewesen, die Juden in Ghettos zu verbringen und sie gar physisch auszurotten. Seine

Vorschläge hätten vielmehr darauf abgezielt, nach Ausgliederung der osteuropäischen Juden aus

dem Wirtschaftsleben ihnen die Möglichkeit einer geschlossenen Auswanderung in ein

außereuropäisches Land zu geben. Das wäre nach Lage der Dinge sogar die Rettung für die

osteuropäischen Juden gewesen. […] Seine Werke lassen an keiner Stelle erkennen, dass er sich

dem kompromisslosen Antisemitismus nationalsozialistischer Prägung angeschlossen hatte und

hinsichtlich der Lösung der Probleme eine Auffassung vertrat, die auch nur annähernd der späteren

vom Nationalsozialismus betriebenen ‚Endlösung’ der Judenfrage entsprach oder sie in etwa

vorbereitete. [...] Das Verfahren ist daher einzustellen.“189

Seraphims Entnazifizierung dauerte fast zwei Jahre. Die Vergangenheit folgte ihm aber auch nach

der offiziellen Einstufung als ‘Entlasteter’ weiterhin. Aus der DDR kamen in unregelmäßiger Folge

Vorwürfe, eng mit den Nazis zusammen gearbeitet zu haben. Eine Reaktion blieb bis zu seinem Tod

aus.

Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik (2007) 204.187

Ibidem 355.188

Ibidem 335-336.189

�62

Page 65: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

Man könnte sagen, das neue und weitere Untersuchungen notwendig sind, um festzustellen,

ob Seraphims Argumente und Empfehlungen von der Regierung des Dritten Reiches diskutiert oder

bei dem endgültigen Entschluss zur Lösung des ‘Judenproblems’ zumindest genannt wurden. Mann

könnte auch erneut untersuchen, inwieweit es Seraphims Ziel war, nur ‘objektive’ Wissenschaft zu

betreiben und damit unabhängig vom Nationalsozialismus zu arbeiten. Doch es steht fest, dass seine

Arbeit dem Nationalsozialismus diente. Allein die Arbeit als Schriftleiter der Zeitschrift der

Weltkampf, unterminiert die Behauptung des Oberstaatsanwalts dass Seraphim eine Scheidung von

Wissenschaft und Nationalsozialismus kannte. Der Weltkampf war nämlich ein wichtiges

Propagandamittel für die nationalsozialistische Wissenschaft. Auch die vielen Versuche, seine

Vergangenheit zu verschleiern, bewirkten ein grosses Misstrauen über Seraphims Rolle in der

nationalsozialistischen ‘Judenpolitik’. Weiter war sich Seraphim wegen der einzelnen Besuche in

zum Beispiel Kazimierz in Krakau im Klaren über die Lage der Juden. Ob seine Arbeiten Einfluss gehabt haben oder nicht, ob er nur das Ziel verfolgte, objektive

Wissenschaft zu betreiben oder ob er die Lage der Juden nach den Umsiedlungen kannte, spielt

meiner Meinung nach keine große Rolle. Seine Aussagen waren fokussiert auf das Ausschließen

von Menschen. Dies tat er auf einem wissenschaftlichen Niveau, das Ansehen und Status hatte im

nationalsozialistischen Deutschland. Diese Aussagen können nicht als harmlos angesehen werden,

weil sie inhaltlich übereinstimmten mit den politischen Planungen der Nationalsozialisten und diese

unterstützten. Seraphim kann zweifellos in die Kategorie der pragmatischen Legitimation eingeteilt

werden, doch diese Kategorie darf man nicht unterschätzen. Seraphim lieferte nämlich ‘sinnvolle’

‘volkswirtschaftliche’ und ‘bevölkerungssoziologische’ Gründe für einen Massenmord an den Juden

in den Osteuropa. Er lieferte ferner mit seinen Zwangsumsiedlungszenarien Unterstützung für die

nationalsozialistische Praxis. Die Objektivität, die er in seinem Werken beanspruchte, spricht

vielleicht gerade gegen den Beschluss, ihn als ‘entlastet’ einzustufen, weil sie für eine bestimmte

Entmenschlichung der Juden sorgte, indem sie ihn auf rein quantitative Einheiten reduzierte.

„Menschen verlieren die Eigenschaft des Menschseins, wenn sie auf Zahlen oder Nummern

reduziert werden.“190

Als Wissenschaftler oder sogar als Mensch gibt es eine Verantwortung für die eigenen

Aussagen: ‘Der Jude muß weichen’. Denn etwas was man sagt, kann man nicht so einfach

zurücknehmen. Ob man das will oder nicht, hat es Einfluss haben, wenn man es einmal

ausgesprochen hat. Vielleicht dachte er mit seinen Aussagen noch nicht an die spätere Vernichtung,

doch Seraphim trug zweifelsohne bei zur Beseitigung der Juden.

Bauman, Dialektik der Ordnung (2002) 117.190

�63

Page 66: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

FazitDiese Arbeit zeigt unter anderem, dass die ‘Judenforschung’ eine Forschung war, die nicht aus dem

Nichts entstand, sondern sich vor allem aus der Ostforschung entwickelte. Sie war einer der

wichtigsten schon bestehenden Forschungsrichtungen, die einen bedeutsamen Beitrag zu der

späteren Entwicklung der ‘Judenforschung’ und der damit verbundenen Institutionen lieferte. Die

meisten Akademiker der Ostforschung wurden nämlich von den Nazis für die ‘Judenforschung’

eingesetzt, und auch die Methodik und das Vokabular wurden wiederverwendet. Nach der

Machtergreifung war die Ostforschung auch wichtig für das Entstehen von verschiedenen

Institutionen. Die meisten schon bestehende, Institutionen die sich mit Ost-Europa beschäftigen,

wurden nach der Machtergreifung ein wichtiger Teil der Organisation der ‘Judenforschung’. Mit

Hilfe der Institutionen und etablierten Wissenschaftlern wurden neue Einrichtungen geschaffen, die

die ‘Judenforschung’ unterstützen sollten. So kam es im Dritten Reich innerhalb einer kurzen

Zeitspanne zu einer Gründungswelle von verschiedenen außeruniversitären Institutionen. Das Ziel

der neu errichteten Institutionen war vor allem, neue Lehrstühle zu errichten oder bestehende

Lehrstühle mit ‘Judenforschern’ zu besetzen. Ein wichtiges Ziel, welches die ‘Judenforschung’

verfolgte, war eine Legitimitation für die Lösung der ‘Judenfrage’ zu schaffen und dem deutschen

Volk eine wissenschaftliche Grundlage zu bieten für die Zukunft eines Neuen Deutschlands, in dem

es keine Juden mehr geben würde. Im scheinbaren Kontrast zwischen der Lösung der Judenfrage

einerseits und der Schaffung eines neuen Deutschlands andererseits sahen die Nazis ein Instrument

ihrer Politik. Denn bei ihnen herrschte die Überzeugung, dass die Beseitigung des Judentums für die

Bürger des Dritten Reiches ‘akzeptabler’ sein würde, wenn die Notwendigkeit, die ‘Judenfrage’ zu

lösen, wissenschaftlich fundiert war. Doch die meisten Versuche, Lehrstühle zu errichten,

scheiterten an praktisch-rechtlichen, budgetären oder hochschulpolitischen Vorgaben sowie

Rahmenbedingungen der Universitäten. Letztendlich misslangen sie wegen der fehlenden Zeit,

vollständige Lehrstühle zu realisieren – was banal erscheint, aber hierfür wichtig war.

Trotz der fehlenden Lehrstühle geht aus dieser Arbeit hervor, wie wichtig die

‘Judenforschung’ für die Nationalsozialisten war. Sie erhielt innerhalb kurzer Zeit eine zentrale

Rolle und rekrutierte junge und motivierte Akademiker, die sich mit voller Hingabe der neuen

‘Forschung’ widmeten. Sie waren davon überzeugt, die ‘Judenforschung’ zu einer Leitdisziplin

innerhalb einer genuin nationalsozialistischen Wissenschaft machen zu können, mit dem Ziel, die

‘heroischen’ antisemitischen Taten des Regimes durch das Feindbild des Juden zu legitimieren. Der

Nationalsozialismus schuf für diese ‘Forschung’ eine günstige Atmosphäre und

Rahmenbedingungen, dies ermöglichte, bedeutende Wissenschaftler an sich zu binden.

�64

Page 67: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

Einer dieser Wissenschaftler, Peter-Heinz Seraphim, gehörte zu dieser motivierten jungen

akademischen Gruppe. Aus dieser Arbeit geht hervor, dass Seraphim einer der wichtigsten

‘Judenforscher’ war. Seraphims Werk war im Gegensatz zu der allgemeinen ‘Judenforschung’

‘wissenschaftlich‘ umfangreicher und enthielt stark analytisch formulierte Ergebnisse, die mit

demographischen, soziologischen, aber auch politischen Argumenten sowie mit Statistiken, Karten

und Graphiken untermauert wurden. Dabei waren im Gegensatz zu anderen ‘Judenforschern‘ die

Informationen in Seraphims Werk durchaus in der damaligen Gegenwart gebrauchs- und

verwendungsfähig, aufgrund der einen besonderen Verschmelzung von Antisemitismus und

Sozialwissenschaften. Mit verschiedenen Quellen und Daten, die er zusammenfügte, informierte er

seine Leser reichlich. Die allgemeine ‘Judenforschung‘ war im Gegenzug dazu ‘einfach’ und

‘nützlich’ für die Propaganda. Es waren oft rein propagandistische Werke, die fast nur die

ideologischen nationalsozialistischen Ziele unterstützen sollten.

Weiter bestand ein großer Unterschied zu der allgemeinen ‘Judenforschung’ in seiner

scheinbaren Objektivität, von der er selbst völlig überzeugt war. Seraphim meinte selber, dass er die

nationalsozialistische Propaganda als ‚neutraler Wissenschaftler’ nicht mit seiner Forschung

vermischen wollte. Er behauptete, dass es sein Ziel sei, eine Wissenschaft zu kreieren auf Basis von

Fakten. So wollte er mit seinem Buch Das Judentum in osteuropäischen Raum keine Rassenlehre

schreiben, weil es nach seiner Meinung keine richtigen wissenschaftlichen Erkenntnisse gab, die die

Juden als Rasse identifizierten. Diese scheinbare ‘Objektivität’ wurden von verschiedenen

Wissenschaftlern später auch anerkannt und war ein wichtiges Kennzeichen in der Beurteilung

seiner Forschung. Die allgemeine ‘Judenforschung‘ in Nazi-Deutschland war im Gegensatz dazu oft

durchdrungen von rassistischen, anthropologischen (rassenkundlich) und propagandistischen

Studien. Man darf sich aber darüber nicht täuschen, dass die Sprache und Bildwelt des

Antisemitismus im Werk Seraphims durchaus präsent ist, denn in dem Werk Das Judentum im

osteuropäischen Raum findet man viele einseitige und pauschale Behauptungen, die ‘andere

Bevölkerungsgruppen’ zum Feind machten, weil sie der Entwicklung des Deutschen Volkes im

Wege stünden. Aus dieser Arbeit geht hervor, dass der Antisemitismus stets zurückgenommen,

eingeschränkt, beiläufig und im Text sehr natürlich eingefügt war. Durch seine ‘Selbstdistanzierung’

von großen Formen der nationalsozialistischen antijüdischen Propaganda und in dem Umgang mit

jüdischer Literatur und Quellen unterschied Seraphim sich von den anderen ‘Judenforschern’ und

wurde als der professionellste und intellektuellste Vertreter dieser Richtung in Nazi-Deutschland

gesehen. Damit zeigt diese Arbeit an verschiedenen Beispielen, dass in Seraphims Werk Das

Judentum in osteuropäischen Raum eine ‘rationalistische Wissenschaft’ betrieben wird, denn bei

Seraphim geht es oft um bestimmte wissenschaftliche Ansprüche, die er als universell betrachtete �65

Page 68: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

und die nach seiner Meinung nicht zur Diskussion standen. Seine wissenschaftlichen Erkenntnisse

waren damit an ‘Blut und Boden’ gebunden. Dazu ist Sombarts Behauptung, dass Seraphims Werk

wie ein bloßes ein Handbuch wirkt, falsch. Ein großer Teil seiner Arbeit basierte auf Daten und

Grafiken die in der damaligen Zeit, aber vielleicht auch heute noch, den Anschein der Richtigkeit

hervorrufen.

Doch Seraphim verlieh den Daten an verschiedenen Stellen seine eigene ‘rationalistische’

Interpretation, weil er davon überzeugt war, einen besseren Blickwinkel zu diesem Thema zu haben.

Trotz der Anerkennung von vielen damaligen ‘Forschern’ war der Einfluss von Seraphim auf die

Lösung der ‘Judenfragen’ beschränkt, denn seine verschiedenen ‘wissenschaftlichen’ Warnungen

und möglichen Lösungen wurden weder befolgt noch als wichtig betrachtet. Hinzu kommt, dass es

heutzutage schwierig festzustellen ist, ob seine Pläne von der SS-Führung gebraucht und gelesen

wurden. Auch andere interessante Punkte, wie der Besuch an Kazimierz in Krakau und seine

Reaktion auf die Massenmord in Rowno, sind keine konkreten Beweise dafür, dass er direkt in

Verbindung stand Massenvernichtung. Petersen und Steinweis behaupten, dass Seraphims Einfluss gering war, da seine

verschiedene Pläne nicht befolgt worden seien. Deswegen beschreiben sie ihn eher als einen

‘Schreibtischmörder’, der keinen oder geringen Einfluss hatte auf die Lösung der Judenfrage der

Nationalsozialisten. Eberle sagt aber, dass Seraphim sehr wohl wusste was mit den Juden passierte,

und behauptet, dass Seraphin dieses Wissen auch verheimlichen wollte. Auch Michman behauptet,

das Seraphim einen bestimmten Einfluss gehabt haben müsse, denn seine Pläne seien schon gelesen

worden von der SS-Führung; doch auch er räumt ein, dass man nicht genau weiß, was mit diesen

Ansichten getan wurde. Aly betont wieder, dass es keinen Unterschied gebe zwischen jemandem

wie Seraphim, der entsprechende Massnahmen gegen die Juden forderte und jemandem, der diese

Maßnahmen selbst ausführte.

Seraphim selbst hatte immer beansprucht, für die ‘Reinheit der Wissenschaft’ zu arbeiten

und sich von der Rassenlehre fernzuhalten. Nach dem Krieg behauptete er, dass er alles getan habe,

um die NS-Politik zu durchkreuzen. Deswegen wurde er in der Entnazifizierung als ‘Mitläufer’

eingestuft, was, wie aus dieser Arbeit hervor geht, faktisch nicht stimmt. Zwar fehlen konkrete

Beweise, die ihn zum Schuldigen ausweisen. Aber wie gesagt, war Seraphim mit seine

Legitimierung der Beseitigung der Juden ein wichtiger intellektueller Vorbereiter des Massenmords.

Diese Arbeit hat versucht, ein ausgewogenes Bild von Seraphim als ‘Wissenschaftler’ zu erarbeiten

Einblicke zu geben in die allgemeine ‘Judenforschung’ des Dritten Reiches. Dabei wurde auch der

Versuch unternommen, eine Antwort zu geben auf die Frage inwieweit ein individueller

Wissenschaftler sich unterscheiden konnte in der nationalsozialistischen wissenschaftlichen Welt.

�66

Page 69: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

Diese Arbeit hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, die ‘vermeintlichen’ wissenschaftlichen Methoden

der Geisteswissenschaften sowie die eigene Beurteilung und Interpretation der gesammelten Fakten

immer wieder zu analysieren. Es hat mich nämlich überrascht, wie scheinbar unschuldige

‘wissenschaftliche’ Werke einen Beitrag zur Legitimierung eines der größten Verbrechens der

Menschheit liefern konnten, ohne dass diese in der damaligen Zeit als Pseudo-Wissenschaft erkannt

wurde. Es war erstaunlich zu sehen, wie Seraphim seine ‘scheinbare Objektivität’ sehr schätzte,

trotz der vielen pauschalen und stereotypen Äusserungen, die er beiläufig in seine Texte einfügte. Meiner Meinung nach hat Seraphim mit seinen pseudo-wissenschaftlichen Aussagen einen Beitrag

geliefert zu der geistigen Beseitigung des Judentums und damit zum Massenmord beigetragen. Die

Nationalsozialisten bekamen eine ‘wissenschaftliche’ Legitimation für ihre Politik. Wir wissen von Seraphim, dass seine Arbeit einen bestimmten Einfluss hatte, aber konkrete

Beweise gibt es zu wenig. Trotzdem: Seraphim war nicht nur ein Mitläufer, er war, wie diese Arbeit

zeigt auch ein Mit-Macher. Ein bekannter und anerkannter Wissenschaftler kann sich nicht aus

seiner Verantwortung stehlen. Seraphin wusste vom Massenmord und um seine Position als

Wissenschaftler. Weitere Forschungen sollten der Frage nachgehen, welchen Einfluss die

verschiedenen ‘Judenforscher’ im Dritten Reich tatsächlich hatten.

�67

Page 70: Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)

BibliographieBilder Vorderseite

Peter-Heinz Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (Essen 1938).

Links oben: S. 365

Rechts oben: S. 507

Links unten: S. 353

rechts unten: S. 618

Primärliteratur:

Peter-Heinz Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (Essen 1938).

Peter-Heinz Seraphim, Bevölkerungs- und wirtschaftspolitische Probleme einer

europäischen Gesamtlösung der Judenfrage, in: Weltkampf 1 (1941), H. 1/2, S. 43-51.

Peter-Heinz Seraphim, Wirkungen der Neustaatenbildung in Nachkriegseuropa auf

Wirtschaftsstruktur und Wirtschaftsniveau Königsberg: in Weltwirtschaftliches

Archiv(1935), Bd. 41 (1935) 388.

Peter-Heinz Seraphim, Das Judentum: ‘seine Rolle und Bedeutung in Vergangenheit und

Gegenwart’ (München 1942.)

Sekundärliteratur:

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- Götz Aly und Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung ‘Auschwitz und die deutschen Pläne für

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- Hans-Christian Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik, ‘Eine biographische

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