CINQUECENTO - Museo Casa Console · 2020. 11. 17. · CINQUECENTO IN POSCHIAVO Domenico Cazzanore...

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Die Renaissance-Glasgemälde von San Vittore Mauro im Schweizerischen Nationalmuseum 21. Dezember 2019 – 31. Oktober 2020 CINQUECENTO IN POSCHIAVO Domenico Cazzanore (?) nach Entwurfskarton eines Malers aus dem Zenale-Umkreis, Gottvater Johannes der Täufer Hl. Petrus Stifter Thronende Muttergottes mit Kind (Titelseite) um 1503, Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich Museo d’Arte Casa Console Via da Mezz 41 CH - 7742 Poschiavo [email protected] www.museocasaconsole.ch Tel. +41 81 844 00 40 Ausser montags täglich von 11.00 bis 16.00 Uhr geöffnet Kelch, um 1550, Le Prese, Beneficio San Francesco Renaissance-Intarsientruhe, 1590, Poschiavo, Privatbesitz Anonymer lombardischer Bildhauer, Kopie aus dem Seicento der Assunta von Annibale Fontana (1586), Poschiavo, Katholische Pfarrei San Vittore Mauro

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  • Fotografie: MASI Museo d’arte della Svizzera Italiana, Lugano (foto: Dona De Carli, Locarno); Pinacoteca cantonale Giovanni Züst, Rancate; Pierluigi Crameri, Poschiavo (opere della Galleria Poma e del Museo Maina)Grafica: Pierluigi CrameriStampa: Tipografia Menghini, Poschiavo

    Die Renaissance-Glasgemälde von San Vittore Mauro im Schweizerischen Nationalmuseum

    21. Dezember 2019 – 31. Oktober 2020

    CINQUECENTOIN POSCHIAVO

    Domenico Cazzanore (?) nach Entwurfskarton eines Malers aus dem Zenale-Umkreis,

    Gottvater • Johannes der TäuferHl. Petrus • Stifter

    Thronende Muttergottes mit Kind (Titelseite)um 1503, Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich

    Museo d’Arte Casa ConsoleVia da Mezz 41

    CH - 7742 [email protected]

    Tel. +41 81 844 00 40Ausser montags täglich von 11.00 bis 16.00 Uhr geöffnet

    Kelch, um 1550, Le Prese, Beneficio San Francesco

    Renaissance-Intarsientruhe, 1590, Poschiavo, Privatbesitz

    Anonymer lombardischer Bildhauer, Kopie aus dem Seicento der Assunta von Annibale Fontana (1586), Poschiavo, Katholische Pfarrei San Vittore Mauro

  • Himmlische Polychromie, göttliches Licht und irdische Schönheit konzentrieren sich in den im Schweizerischen Nationalmuseum in Zürich bewahrten Renaissance-Glas-gemälden aus der Kirche San Vittore in Poschiavo. Die Domenico Cazzanore oder einem seiner engen Mitar-beitern zugeschriebenen fünf Glasbilder waren ursprünglich in Form eines Kreuzes angeordnet. Das zentrale Bild ist der Madonna mit Kind gewidmet, das obere Gottvater, die beiden seitlichen stellen Johannes den Täufer und den hl. Petrus dar, das untere eine Gruppe von Betenden. Jedes Bildfeld wird von einem einfachen Zierband mit Windun-gen, Flechtwerk oder Perlen umrahmt.

    Die blonde Maria sitzt frontal auf einem goldenen, mit Renaissance-Ornamenten in Form von Kandelabern verzierten Thron. Die monumentale Himmelskönigin ist rot gekleidet und in einen blauen, grün gefütterten und mit Perlen besetzten Mantel gehüllt. Das Jesuskind mit Kreuz-nimbus trägt eine weisse Tunika und steht auf dem rechten

    Knie der Jungfrau, die es liebevoll hält und ihm die Hand gibt, in einem Ausdruck zwischen Vorahnung der und Erinnerung an die Passion Christi. Ihr von einem strahlenden Heiligen-schein umgebenes Haupt wird durch einen roten Damast-Hintergrund betont. Von den beiden kleinen die Darstellung mit Musik begleitenden, diademgeschmückten Engeln schlägt der eine die Laute, der andere spielt die Bratsche.

    Gottvater erscheint als Halbfigur und ist von einem Strah-lenkranz aus Cherubköpfen umgeben. Umhüllt von einem rustikalen Vlies, dessen Knoten mit einer Kamelpfote geschlossen ist, weist Johannes der Täufer auf das Jesus-kind; der hl. Petrus in Tunika und Mantel ist mit Buch und Schlüssel dargestellt. In einem typologischen Vergleich von Altem und Neuem Testament sind die beiden Heiligen als Vorläufer und Nachfolger Christi zu deuten.

    Die nach Geschlechtern getrennte Gruppe der Stifter in zeitgenössisch modischer Kleidung kniet auf einem an

    die perspektivische Kultur des 15. Jahrhunderts erinnern-den Renaissance-Boden, vor einer Mauer, hinter der eine Waldlandschaft sichtbar wird. Zwei Lichtflächen über-strahlen die prächtige, in der Art einer Sacra Conversazione angeordnete Gruppe der Gläubigen.

    Die Glasgemälde von Poschiavo sind von grosser kolo-ristischer Qualität, der chromatische Effekt basiert auf klingenden Kontrasten. Es dominieren die drei primären Farben der himmlischen Triade: Blau, Rot und – besonders prominent – Gelb. Die Buntglasfenster sind als Malerei auf einem Lichtschirm zu verstehen, als Bilder im Licht, die ihren materiellen Charakter verklären.

    Eine radikale spätgotische Umgestaltung der in karolingi-sche und romanische Zeit zurückreichenden Kirche San Vittore fand zwischen 1497 und 1503 statt. Für den Chor zeichnete Meister Andreas Bühler aus Gmünd in Kärnten verantwortlich, für das Kirchenschiff ein Meister Sebold aus

    Westfalen. Am Ende der Bauarbeiten müssen die von Dome-nico Cazzanore – einem von 1488 bis 1535 dokumentier-ten lombardischen Meister – nach Entwurf eines Malers aus dem Umkreis von Zenale oder Bergognone geschaffenen Glasfenster im Renaissancestil platziert worden sein. Auffal-lend ist die Internationalität des Unternehmens: Wie in einem Brennspiegel treffen in Poschiavo Einflüsse diverser ferner europäischer Regionen in einer faszinierenden Syn-these allgemein als wenig vereinbar geltender Strömungen zusammen. Im nahen Veltlin wurde 1505 der Grundstein für eines der Meisterwerke der lombardischen Renaissance gelegt, die Wallfahrtskirche Madonna di Tirano. Die Glasscheiben stammen aus einer Zeit, als die Lombardei ein zentraler Ort der europäischen Bildkultur war. Sie zählen zu den Höhepunkten der comaskisch-veltliner Glasmalerei im frühen Cinquecento und basieren auf damals überaus modernen, von der Avantgarde der lombardischen Kunst im späten Quattrocento begründeten Modellen und Schemata. Die fünf Glasbilder wurden höchstwahrscheinlich in Como

    Li Statuti di Valtellina, Druckerei Dolfino Landolfi, Poschiavo, 1549, Chur, Kantonsbibliothek Graubünden

    Banner des Hochgerichts Poschiavo, um 1500, Chur, Rätisches Museum

    hergestellt, in einem Schmelzofen der Dombauhütte. Poschiavo war bis 1871 Teil der Diözese Como.1898 sind die Glasbilder entfernt und an das im selben Jahr eingeweihte, damals im Mittelpunkt der helvetischen Aufmerksamkeit stehende Schweizerische Landesmuseum in Zürich verkauft worden. In Poschiavo wurden die italie-nischen Glasgemälde 1903 durch einen neuen Zyklus von Glasbildern ersetzt, der sich über die gesamte Kirche er-streckt, wo inzwischen neue Fenster nach Norden geöffnet worden waren. Die von der Innsbrucker Firma Neuhauser-Jele produzierten Werke von historistisch-neugotischer Prägung verweisen auf die deutsche und oberrheinische Kunst um 1500, genauer auf Schongauer, Holbein, Dürer.

    Weitere kostbare Exponate tragen dazu bei, das Bild des Cinquecento in Poschiavo abzurunden. Aus der gleichen Zeit wie die Glasgemälde ist das Banner des Hochgerichts Poschiavo mit den beiden auf rotem Grund schräg gekreuzten Schlüsseln in Silber und Gold, gemalt von einem anonymen, wohl lombardischen Maler auf vielleicht venezianischer, mit Blumenvasen ornamentierter Brokatseide. Auffallend ist die Drehung der heraldischen Darstellung um 90 Grad im Vergleich zum Hintergrundsmuster.

    Besonderer Stolz und bis heute Ansporn für kulturelle Aktivitäten im Puschlav ist die ab 1547 in Poschiavo tätig gewesene Druckerei Landolfi. Diese erste Druckerei Alt Fry Rätiens, die für die Geschichte weltlicher und spiritueller Belange von grösster Bedeutung ist, wurde vom Puschlaver Dolfino Landolfi gegründet. Sie entstand im Klima der pro-testantischen Reformation um einen Kreis von Humanisten und italienischen Glaubensflüchtlingen: Nebst Giulio da Milano della Rovere, dem ersten Prediger in Poschiavo, war die Anwesenheit des ehemaligen apostolischen Nuntius und Bischofs von Capodistria (Koper) Pier Paolo Vergerio von entscheidender Bedeutung. Beide Reformatoren veröffentlichten bei Landolfi und nutzten die strategische Position von Poschiavo – einem Vorposten des Protestan-tismus südlich der Alpen –, um ihre Werke klandestin in Italien, insbesondere im Gebiet von Venedig und Mailand zu verbreiten. 1552 publizierte Jachian Bifrun, der Pionier des Rätoromanischen als Schriftsprache, bei Landolfi die Fuorma, den ersten auf Ladinisch gedruckten Text.

    Beispiele für hohe und früheste Buchkunst in Graubünden sind die Statuti di Valtellina von 1549, herausgegeben von Landolfi, auf die 1550 die Statuti di Poschiavo folgten. In Italienisch führen letztere die Tradition der ersten, 1388 in Latein verfassten Puschlaver Statuten weiter und sind quasi ein Handbuch für die gute Regierung. Sie beginnen mit dem Eid des Podestà zu seiner Amstseinsetzung und enden mit dem Druckersignet – von klarem venezianischem Einfluss und begleitet von verschiedenen Motti – mit der das Meer auf einem Delfin überquerenden Glücksgöttin Fortuna, eine geistreiche Anspielung auf den Vornamen des Druckers. Ein weiterer Höhepunkt der Druckkunst in Poschiavo wird 1782 erreicht werden, mit der Publikation der ersten italienischen Übersetzung von Goethes Die Leiden des jungen Werther.

    Eine aus der Stiftskirche San Vittore stammende, nunmehr im Oratorio Sant’Anna befindliche Madonna aus dem Sei-cento ist die noble hölzerne Kopie der berühmten marmor-nen Assunta von Annibale Fontana (1586) in der Mailänder Kirche Santa Maria dei Miracoli bei San Celso und stellt ein bedeutsames Beispiel von Marien-Ikonografie in Poschiavo dar. In der lombardischen Cinquecento-Skulptur ragt Fontana durch seine an Michelangelo mahnende Manier heraus. Der silberne Kelch des Beneficio San Francesco in Le Preseist in die Mitte des 16. Jahrhunderts zu datieren. Es handelt sich um ein in der Eucharistiefeier verwendetes rares litur-gisches Objekt aus vorbarocker Zeit, das sich im Puschlav erhalten hat. Der Sechspassfuss trägt Medaillons mit einer Kreuzigung, dem Wappen der Familie Lossio sowie Blumen.

    Kaum ein Möbel aus dem Cinquecento hat sich in Poschiavo erhalten. Eine Ausnahme bildet die in einem Privathaus gehütete, in ihrem Stil eher lombardisch als bündnerisch anmutende Renaissance-Intarsientruhe von 1590. Repräsentative Möbel dieser Art wurden in der Regel im Schlafzimmer aufgestellt und dienten zur Aufbewahrung der bräutlichen Mitgift oder allgemein von Kleidern und Wäsche; sie können als erlesenes Zeugnis des Alltagslebens im Borgo gelten.

    Die Ausstellung wurde von Gian Casper Bott kuratiert und Guido Lardi koordiniert. Tech. Mitarbeiter: Renzo VolpatoGrafiker: Pierluigi CrameriAdministration: Annelies Stöckli und Giada Tuena

    Grosser Dank gebührt den Personen und Institutionen, die Dokumente und Exponate zur Verfügung gestellt haben, insbesondere dem Schweizerischen Nationalmuseum Zürich.

    Fotos: Schweizerisches Landesmuseum Zürich, Rätisches Museum Chur, Pierluigi Crameri, PoschiavoDruck: Tipografia Menghini, Poschiavo

    Die Glücksgöttin Fortuna segelt auf einem Delfin, Druckersignet von Dolfino Landolfi, Poschiavo 1549, Roberto Lanfranchi